Ein Hinweis auf die Strategie der „Verlust-Zahlen von Zivilisten“ im Krieg
Von Christian Modehn am 18.März 2025
Ein Vorwort:
Im Krieg werden Menschen zu Objekten, zu Zahlen, zu Ziffern einer „Opfer“ – Statistik. Der völligen Entmenschlichung bzw. Versachlichung des technischen, maschinellen Kriegs – Geschehens entspricht die unwahre, Realität verschleiernde Sprache. Man denke nur an den Putin – Begriff der „Spezialoperation“. Der nun auch in Deutschland wieder übliche Begriff „Kriegswirtschaft“ wird ins Harmlose gewendet und kann/soll Assoziationen wecken etwa an die erfreuliche „Ökowirtschaft“. Und man soll nun dankbar sein, dass Arbeitslosigkeit jetzt kompensiert wird durch die Suche nach „Arbeitskräften“ in der nun aufblühenden Rüstungsindustrie. Allein das übliche Wort „Gefallene“ ist eine Beschönigung. Alle Welt sollte von „ermordeten Soldaten“ sprechen, Ermordete statt „Gefallene“.
Nur wenige Mensch sprechen offen davon, dass die dringend benötige Munition für Kriegsparteien einzig den Zweck hat, Soldaten und „nebenbei“ „leider“ auch unschuldige Opfer als „Kollateralschaden“ zu töten.
Etwas Aufklärung bieten wir hier zu dem eher wenig beachteten, durchaus rassistisch gefärbten Wort „Opferschnittwert“ unter den Nicht – Kämpfenden, also den „Zivilisten“, den hilflosen Bürgern inmitten der Kriege. Dieser „Durchschnitts – Wert“ könnte wert – voll werden fürs Verstehen unserer vom Krieg geprägten Gegenwart, wenn er ideologiekritisch verstanden wird.
1.
Es gilt also, einen so genannten „Wert“, und das kann im Krieg nur „eine wichtige Zahl“ sein, kritisch wahrzunehmen: Es geht um den „Nicht-kämpferischen Opferwert“ , in mühsamer deutscher Übersetzung „Nicht – kombattierender und ziviler Opferdurchschnittwert“ genannt. Auf Englisch ist der Begriff üblich: „Non combattant casuality value“ (NCV). Diese schwierige Formel wird oft auch etwas ausführlicher umschrieben mit „Zufällig erzeugte Verlustzahl von Nichtkombattanten“ oder „Zufälliger Wert (d.h. aber Zahl, Ziffer) der nicht-kämpfenden Opfer“, also der „Zivilisten“.
2.
Ein Krieg führender Staat legt von sich aus fest, wie viele „Zivilpersonen“ möglicherweise sterben, das heißt getötet werden dürfen gemäß dem Kriegsrecht. Es gibt ja bekanntlich ein auf dem Papier stehendes Kriegsrecht, unter anderem das Haager Abkommen oder die die Genfer Konvention. Darin wird geregelt, wie menschenwürdig Kriegsgefangene behandelt werden sollen oder dass Zivilisten nicht gefangen genommen werden dürfen. Nun ist die moderne Kriegsführung (vor allem auch durch den Einsatz von KI) in der Lage vorauszusagen, wie viele Zivilisten bei einer Attacke ums Leben kommen. Das heißt: Der Tod von Zivilisten ist bei bestimmten Attacken durchaus beabsichtigt, selbst wenn er von den Kriegsherren als unvermeidlich dargestellt wird. Um die Zahl dieser zivilen Opfer also handelt dieser genannte „Wert“ , der „Non combattant casuality value“ (NCV). Dieser „Wert“ ist nichts als eine Ziffer der im Krieg „leider“ nebenbei Ermordeten, der unschuldigen Menschen, die vernichtet werden etwa bei einem Bombardement auf ein Krankenhaus, in dem sich (angeblich) immer sehr viele Terroristen verstecken.
3.
Dem „Römischen Statut“ folgend, kann von einem Kriegs- Verbrechen erst dann die Rede sein, wenn ein bewusster und gezielter Angriff auf Zivilisten durchgeführt wird. Das „Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs“ ist die Vertrags – Grundlage des „Internationalen Strafgerichtshofes“ mit Sitz in Den Haag.
„Generell darf man Zivilpersonen per se nicht unter Beschuss nehmen, und die zivilen Opfer dürfen im Vergleich zum erwünschten militärischen Vorteil nicht unverhältnismäßig sein“, berichtet der Spezialist für dieses Thema, der Politologe Prof. Mathias Delori in „Le Monde diplomatique“, März 2025, deutsche Ausgabe, Seite 9.
4.
Wie viele Zivilisten dürfen also – sozusagen mit guten Gewissen – von den Kriegsparteien getötet werden? Diese Zahl der Ermordeten legt eine kriegerische Nation selbst fest, und zwar in dem hier in Nr. 2 genannten „Non combattant casuality value“ (NCV). Hinsichtlich der akzeptierten Zahl „menschlicher Kollateralschäden“ gibt es große Nuancen unter den kriegerischen Staaten, berichtet der schon genannte Prof. Mathias Delori in „Le Monde diplomatique“. Eher verstörende „Werte“ legt Israel aktuell fest, Mathias Delors schreibt: „Die israelische Armee setzt die Zahl der zugelassenen getöteten Zivilisten seit Oktober 2025 sehr hoch an: Sie liegt bei 15 Zivilpersonen, die also getötet werden dürfen, wenn das Ziel des Angriffs nur ein einfaches Hamas-Mitglied ist. Bei einem führenden Hamas – Kader werden bis zu 100 zivile Opfer (der Palästinenser) in Kauf genommen.“ Von der damit gleichzeitigen Zerstörung von Sach- -Objekten, Häusern, Schulen, Krankenhäusern ist dabei gar keine Rede…
Das israelische Militär differenziert unter den palästinensischen Hamas-Feinden zwischen weniger wertvollen (als einfachen Hamas – Leuten) und wertvollen Menschen (Hamas Kader). Und Israel erlaubt sich, je nach (rassistischer?) Wertung mehr oder weniger Zivilisten als Kollateralschaden einzuplanen bzw. hinzunehmen.
Zum Vergleich mit den Kriegen der USA schreibt Prof. Mathias Delori: „Im Luftkrieg der US Airforce gegen den islamischen Staat (IS) lag der `NCV` – Wert“ fast bei NULL für einfache Dschihadisten` und zwischen 5 und 10 für Angriffe auf wertvolle IS Kader“. Darf man daraus auf eine etwas humanere Haltung der US – Streitkräfte im Vergleich zum israelischen Militär schließen? Sicher nicht.
5.
„Die Zahl der zivilen Opfer im Gaza-Streifen ist auch deshalb so hoch, weil die israelische Armee ihre Fähigkeit, militärische Ziele zu identifizieren , mittels Künstlicher Intelligenz (KI) entscheidend verbessert hat… Die neu Technik bietet rund 100 Ziele PRO TAG“, so Prof. Mathias Delori. Und weiter schreibt er: „ Die extrem hohe Zahl der Toten im Gazakrieg beträgt nach manchen Schätzungen 180.000 Menschen.“ Diese hohe Zahl der von der Armee Getöteten geht also auf den enormen technischen „Fortschritt“ mit IK zurück. Wieder einmal wird die dunkle Seite von technischem Fortschritt sichtbar…
6.
Zum Vergleich: Die Zahl der Todesopfer in Israel im Krieg gegen die Hamas seit dem 7. Oktober 2023 ist: 1.200 israelische und ausländische Todesopfer und 5.431 Verletzte in Israel. Diese äußerst geringen Opferzahlen Israels im Krieg sind auch durch die starke internationale militärische Unterstützung Israels bedingt. Quelle LINK
. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1417316/umfrage/opferzahlen-im-terrorkrieg-der-hamas-gegen-israel/
7.
Ideologischer Hintergrund für diese Bereitschaft etwa des israelischen Militärs, viele Zivilisten zu töten, ist die Vorstellung von „menschlichen Schutzschildern“, die von der HAMAS eingesetzt werden. „Damit rechtfertigt die israelische Regierung die hohe Zahl der zivilen Todesopfer in Gaza“, betont Prof. Mathias Delori. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hat die Ideologie des Staates Israel übernommen, als sie im November 2024 sagte: „Zivile Orte können ihren Schutzstatus verlieren, weil Terroristen diesen missbrauchen.“ Die TAZ berichtete darüber am 14.11.2024. In einem Interview in der TAZ bezog sich Tanya Boulakovski auf die Aussage von Baerbock. Tanya Boulakovski vertritt Fälle von Menschenrechtsverletzungen vor internationalen Menschenrechtsgremien und ist Menschenrechtsbeauftragte bei MENA Rights Group: Sie betonte: „Diese Rhetorik (Baerbocks) ist gefährlich und könnte den Weg dafür ebnen, weitere Angriffe auf die Zivilbevölkerung zu rechtfertigen, im Libanon oder in Gaza. Angriffe auf zivile Infrastruktur dürfen niemals gerechtfertigt oder normalisiert werden. Daher rufen wir alle gemeinsam Deutschland dazu auf, sich vielmehr für die Einhaltung der internationalen Gesetze zum Schutz der Zivilbevölkerung einsetzen.“ LINK (TAZ, https://taz.de/Menschenrechtsverletzungen-durch-Israel/!6049136/
Nicola Perugini und Neve Gordon schreiben (Fußnote 3) im „Journal of Palestine Studies“, „dass Israels Behauptungen, die Hamas habe ihr Hauptquartier unter dem Al-Schifa und dem Al – Quds Krankenhaus eingerichtet, erfunden waren. Die Behauptungen wurden dazu genutzt, Angriffe auf diese Krankenhäuser moralisch und juristisch zu rechtfertigen“, so zitiert Prof. Mathias Delori die beiden Wissenschaftler in dem genannten Beitrag in „Le Monde diplomatique“
8.
Wenn Zivilisten zur bloßen Zahl einer Statistik der offenbar mit gutem Gewissen getöteten „Kollateralschäden“ werden, sollte eigentlich die philosophische, die ethische Reflexion als Kritik beginnen: Aber soweit wir sehen, zieren sich PhilosophInnen bei diesem Thema. Man hat es ja mit einer Art Grauzone zu tun. Kollateralschaden gilt nur dann nicht als Kriegsverbrechen, wenn er bei einem Angriff auf ein militärisches Ziel als Tötung von Zivilisten als „Nebenwirkung“ entstanden ist und nicht beabsichtigt war. Wer soll das objektiv nachweisen?
Auch über die Entmenschlichung der Zivilisten wäre zu sprechen, sie werden zur Nummer, zur Zahl.
Und vor allem über eine Form des Rassismus wäre zu sprechen: Etwa über die Tatsache: Wenn im Inland ein westlicher Staat gegen Terror kämpft, ist der NCV Wert bei Null anzusetzen, denn es sind ja wertvolle westliche Menschen. Der Politologe Prof. Mathias Delori schreibt: „Wenn ein “terroristischer” Angriff auf dem Territorium eines westlichen Staates stattfindet, ist der von Polizei und Militär eingesetzte NCV nahe Null, was etwa konkret bedeutet, dass sie keinen westlichen Zivilisten gefährden wollen. Wenn Terroristen jedoch in der nicht-westlichen Welt tätig sind und dort westliche Menschen gefährden, steigt der NCV deutlich an. Es können Kollateralschaden unter der einheimischen Bevölkerung entstehen… Aus diesem Grund verwenden westliche Streitkräfte unterschiedliche Instrumente, je nachdem, ob sie in einem westlichen Land oder in anderen Teilen der Welt operieren. Konkret heißt das: Nur Elitekommandos vor Ort im europäischen Fall, bewaffnete Drohnen und Kampfbomber-Jets in letzteren, in der nicht – westlichen Welt“. (Fußnote 1)
9.
Auf eine kritische philosophische Reflexion zur Realität der „menschlichen Schutzschilder“ soll ausdrücklich hingewiesen werden: Die Philosophin Judith Butler hat gezeigt, dass der Begriff „menschliche Schutzschilder“ und deren bei Nichtbeachtung auch in Kauf genommene Tod vieler das Mitgefühl neutralisieren kann. Denn einige Menschen könnten ja Mitgefühl entwickeln, wenn wirklich von getöteten Menschen in dem Zusammenhang die Rede wäre. Judith Butler schreibt: „Wir sollen also glauben, dass Kinder (als menschliche Schutzschilder) nicht wirklich Kinder sind, nicht wirklich lebendig sind, sondern dass sie bereits zu Stahl als Schutzschilder geworden sind. Der Körper eines Kindes (als Schutzschild) wird also als ein militarisiertes Metallstück wahrgenommen“, dieses Metallstück (Kind) soll den Angreifer hemmen, das ist aber nur selten der Fall. (Fußnote 2).
10.
Unser Thema und unser Hinweis hier sind nur ein Element in der jetzt immer umfassender werdenden Kriegs – Gewöhnung auch in den noch verbliebenen Demokratien: Kriege treten mit aller Gewalt und, man möchte sagen, absolut in den Mittelpunkt der Politik. Alles dreht sich um Kriege. Die vielen Millionen Hungernder und Leidender im globalen armen Süden sind vergessen.
Das ist das universelle Leiden: Kriege belasten Geist und Seele der Menschen. Kriege sollen ja Geist und Seele aller verwirren, so wollen es die Kriegsverbrecher in den Diktaturen.
Ein Ausweg aus dieser Situation ist jetzt kaum zu sehen angesichts der Autokraten und Diktatoren, die nicht nur das internationale (Kriegs)Geschehen nach ihrer eigenen perfiden, perversen Laune steuern. Sie spielen sich wie ausgerastete wütende Götter auf, die die Zukunft unserer Welt systematisch zerstören.
Es ist der Nihilismus der heute herrschenden Autokraten, die in ihrem Wahn die Menschheit vergiften. Dieser Nihilismus zeigt sich als absoluter Nationalismus, der wiederum nichts anderes ist als ein ins Politische übersetzter Egoismus verwirrter Ideologen.
Fußnote 1:
Mathis Delori, „The Politics of Emoticons on Contemporary wars“ (“Die Politik der Gefühle in den heutigen Kriegen“). In: Handbook of Critical International Relations. Editor: Steven C. Coach, Edward Elgar Verlag. Dort S. 305– 323.
Fußnote 2:
Judith Butler, „Frames of War“, London, Verso-Editio, 2010. Vor allem das Einführende Kapitel. Auf Deutsch erschienen: „Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen“. Raster des Krieges. Campus, Frankfurt am Main 2010.
Fußnote 3: Die beiden Autoren in ihrem Aufsatz „Medical lawfare. The Nakba and Israels attacks on palestinian healthcare“, in :Journal of Palestine studies, 53/1.2024.
Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.