Die katholische Kirche kann sich nicht reformieren.

Franziskus ist „Der Papst der Enttäuschungen“.
Ein Buch – Hinweis von Christian Modehn am 27. Okt. 2024.

1.
Wer die katholische Kirche verstehen will, muss sich immer mit dem Papsttum und den Päpsten und der Klerus – Hierarchie befassen. Das gilt auch jetzt, nach dem Ende der so genannten „Weltsynode“ in Rom.

2.
Über Papst Franziskus muss also gesprochen werden: Aber jenseits von illusorischen Hoffnungen und Erwartungen der verschiedenen katholischen „Reform-Gruppen“ wie auch jenseits der expliziten Gegner, wenn nicht Feinde von Papst Franziskus aus dem sehr konservativen, wenn nicht reaktionären Lager, zu dem bekanntlich auch einige Kardinäle gehören (man denke an Kardinal Gerhard Ludwig Müller)…

3.
Der Theologe und Journalist Michael Meier, lange Jahre Redakteur beim angesehenen „Tages-Anzeiger“ in Zürich, bietet in seinem grundlegenden Buch, das er bescheiden „Essay“ nennt, einen wichtigen und ab sofort zweifellos maßgeblichen Zugang zur Persönlichkeit, zur Theologie und Spiritualität von Papst Franziskus in 11 Kapiteln, leicht nachvollziehbar und trotz aller Erschütterungen im katholischen Inhalt schön zu lesen.… „Der Papst der Enttäuschungen“ ist der Titel. „Warum Franziskus kein Reformer ist“ der Untertitel.
Michael Meier kennt sich bestens in der katholischen Kirche, ihren Theologien und Machtverhältnissen aus. Aber er hat nicht die Hemmung und Angst, die nur allzu oft katholische Autoren im Umgang mit Papst Franziskus haben: Michael Meier ist reformierter Christ, hat aber auch in Rom und in Fribourg (CH) katholische Theologie studiert.

4.
Die grundlegende, reich dokumentierte Erkenntnis Michael Meiers heißt: Papst Franziskus ist kein Reform-Papst, er ist also kein „Pontifex Maximus“, der wirklich seine Kirche mit einem großen Sprung endlich nach vorn, in die Moderne, mit der auch in der Kirche geltenden Menschenrechten und Frauenrechten (!), führen will: Papst Franziskus ist für den Autor vor allem der Seelsorger, durchaus populär orientiert, leutselig oft manches daher plaudernd, immer aber auch mit dem Wunsch, in den Medien groß „rauszukommen“.
Aber als Jesuit will der Papst mit allem Eifer bis zum Einsatz der allerletzten physischen Kräften „allen alles werden“, ein eigentlich unmögliches Unternehmen! Aber selbstverständlich will der Seelsorger – Papst besonders den Frommen alles recht machen: Darum des Papstes heftige Vorliebe für die Marien-Verehrung, für den Ablass (Martin Luther dreht sich im Grabe mehrfach um), für das Bittgebet, für die Reliquien, für das „heilige Jahr“, ja letztlich auch für den herausgehobenen Stand der Kleriker: Selbst wenn der Papst manchmal heftig den Klerikalismus etwa im Vatikan kritisiert: Abgeschafft hat er die Sonderstellung des Klerus nicht. Er könnte als Papst so viele sinnlose Kirchengesetze sofort abschaffen, wie das Zölibatsgesetz für Priester, aber macht es nicht. Auch für die Ordination von Frauen sei „die Zeit nicht reif“, sagt er: Woher er das weiß, bleibt offen, aber ein Papst lebt davon, einen besonderen Draht zum Geist (der Zeit) in der Kirche zu haben. Hinter solchen Sprüchen des Papstes verbergen sich Macht – Ansprüche. „Die große Öffentlichkeit nimmt nicht wahr, dass der Papst mit zwei Zungen spricht: Als barmherziger Reformer und Seelsorger in Interviews, als Hüter der Lehre in lehramtlichen Schreiben. Die zentnerschwere Tradition und Lehre ist es, die den mehr praxisorientierten und wenig intellektuellen Papst an Reformen hindert, nicht die halsstarrige Kurie.“ (S. 171.)

5.
Damit ist schon in etwa das weite Feld angedeutet, in dem sich die Studien und Erkenntnisse von Michael Meier in seinem Buch zeigen. Der Autor folgt der chronologischen Achse der Regierungszeit seit 2013 bis heute. Dabei schaut Michael Maier genau hin, etwa wenn er das Interview des Papstes mit dem Jesuiten Antonio Spadaro für die Jesuiten – Zeitschrift “Civiltà Cattolica“ von Juni 2013 besonders wichtig findet oder aber auch die große Gruppe der römischen Vatikanologen kritisch betrachtet: „Die vom Vatikanologen und Journalisten Marco Politi geprägte Lesart von dem an der Kurie gescheiterten Reformer Papst Franziskus hält sich hartnäckig, und Politi hält hartnäckig an ihr fest. Je weniger Franziskus seine versprochenen oder angedeuteten Reformen umsetzt, umso aggressiver lässt Politi dessen Gegner auftreten. An der Kurie tobt ein Bürgerkrieg, wiederholt er heute mantraartig. Politi und die anderen Macher des Images vom bekämpften Reformer sind sich kaum bewusst, dass sie mit ihrem Narrativ einem gängigen Mythos aufsitzen.“ (S. 174.)

6.
Wenn Papst Franziskus Reformen einleitet, sind das immer kleine Reförmchen, das muss man als objektiver Beobachter sagen: „Franziskus hat erheblich mehr Frauen mit Leitungsaufgaben betraut als jeder andere Papst vor ihm. Solange er aber Frauen nicht zur Weihe zulässt, kann man nicht von einer wirklichen Reform oder von einem qualitativen Sprung sprechen. Obwohl neuerdings in der Kirche von einer teilweisen Entkoppelung von Weihe und Verantwortung gesprochen wird, bleibt die Leitungsvollmacht an die den Männern vorbehaltene Weihe gebunden.“ (S 106.) Oder: Man denke an die nun erlaubte Möglichkeit, dass sich katholische Homosexuellen – Paare segnen lassen dürfen: Aber nicht etwa in einem eigenen feierlichen Gottesdienst im Kirchengebäude… so soll jegliche Verwechslung mit der für heilig und normativ gehaltenen Ehe von Heterosexuellen ausgeschlossen werden. Diese Segnung – Angebote des Vatikans kommen mindestens 50 Jahre zu spät: In Europa interessiert sich kaum noch ein katholisch verbliebener Homosexueller für solche Aktionen, zumal dann vielleicht Priester segnen, die in ihrem Herzen eher gar nicht so „gay-friedly“ sind. Oder es bedauerlich finden, dass sie selbst mit ihrem (heimlichen) Partner nicht auch gesegnet werden dürfen…

7.
Bei der Lektüre des wichtigen, inspirierenden Buches „Der Papst der Enttäuschungen“ von Michael Meier stellt sich immer wieder die weiterfühernde Frage: Kann es bzw. darf es eine letztlich uniform klerikale Kirche wie die römisch – katholische mit einem Papst an der Spitze angesichts der Pluralität dieser Welt und ihrer Kulturen eigentlich noch geben? Kann ein Papst für 1,4 Milliarden in allen Ländern dieser Erde der „Papa“ sein? Wie behält der jetzt 87 Jährige Greis den Überblick? Sollte die katholische Kirche sich nicht besser in 5 bis 6 Zentren mit Patriarchen bzw. Matriarchinnen (wenn es das Wort überhaupt geben darf) auflösen? Das wären Themen…

8.
Auch das dunkle, kaum ausgeleuchtete Thema „Papst Franziskus alias Jesuitenpater Bergoglio und die Jesuiten“ wird von Michael Meier angesprochen. Er nennt etwa Konflikte Bergoglio mit dem Orden, auch mir dem damaligen Ordensoberen Pater Arrupe (S. 151).
Michael Meier zeigt auch die große Vorliebe des Papstes für den Patriarchen Kyrill von Moskau, den Putin – Ideologen und Kriegs – Treiber (S 136, 139), Moskau und sein Patriarch ist dem Papst wichtiger als die Ukraine. Warum? Weil der Patriarch von Moskau letztlich für ein ökumenisches Arrangement mit dem Katolizismus wichtiger ist…Schon der polnische Papst liebte doch die Orthodoxen viel mehr als die „häretischen Protestanten…

9.
Michael Meier kann natürlich nicht alle drängenden Fragen im Zusammenhang mit Papst Franziskus umfassend untersuchen. Etwa: Mit welcher Inbrunst wird der Papst die nicht mehr nachvollziehbaren Konzilsbeschlüsse und Glaubens – Bekenntnisse von Nizäa 325, also vor 1.700 Jahren, repetieren und abermals durchkauen und selbstverständlich als weiterhin absolut gültig für Katholiken von Island bis Papua – Neuguinea empfehlen? Eine neue, zeitgemäße und der theologischen Wissenschaft entsprechende Christologie als Jesulogie ist von ihm nicht zu erwarten. So werden die Katholiken zwischen Island und Neu – Guinea nach wie vor bekennen d.h. bloß daher – reden: „Christus ist gezeugt, aber nicht geschaffen“ und so weiter…
Es müßte also die Dogmatik (und der “Codex Iuris Canonici” sowieso) endlich entrümpelt werden: Etwa: Warum ist es verboten, ein Christentum ohne Erbsünde zu denken? Darüber lohnen sich Debatten. Weil nämlich die Taufe nicht mehr heilsnotwendig ist und damit der Stand der die Taufe spendenden Kleriker.

10.
Wenn in Europa seit Jahren viele Millionen die katholische Kirche verlassen, dann doch nicht (nur) wegen des Leidens an strukturellen Problemen dieser Kirche. Nein. Unsere Meinung: Sie wollen nicht mehr auf die uralte und veraltete Theologie der ewig wiederholten Glaubensbekenntnisse verpflichtet werden. Wer hat denn befohlen, dass alle Konzilsbeschlüsse, oft nicht mehr als politische Veranstaltungen der Kaiser, auf ewig gelten müssen? Das sagt nur die Klerus-Kirche, die alle theologische Deutungshoheit an sich gerissen hat und unbedingt an ihrer Macht und Vorrangstellung absolut festhalten will. Letztlich ruht die katholische Kirche mit ihrem absolut zentralen Papstamt auf einem fundamentalistischen Missverständnis: „Du bist Petrus der Fels, auf den will ich meine Kirche gründen“, soll Jesus von Nazareth den Autoren des Neuen Testaments folgend gesagt haben. Aber der Prophet Jesus von Nazareth dachte an alles andere als an die Gründung einer bzw. seiner Kirche. Und wer die Päpste genauer studiert, ist absolut gar nicht als begeistert von deren menschlicher Qualität und deren theologischem Niveau. Es ist schon absolut schwierig, katholisch und Papst – treu zu sein, wenn man nur die Papstgeschichte studiert voller seltsamer, eher abstoßender Gestalten. Ein intellektueller und menschlicher Lichtblick für mich ist – neben Papst Johannes XXIII. – Papst Benedikt der Vierzehnte (1740 – 1758). Die Päpste des 19. Jahrhunderts z.B. waren heftigste Antisemiten, wie der große Historiker David L. Ketzer in seiner Studie „Die Päpste gegen die Juden“ (Propyläen – Verlag, 2001, 447 Seiten) gezeigt hat. Und Verteidiger der Menschenrechte und der Demokratie waren diese obersten Hirten in Rom absolut nicht. Man kann es also verstehen, dass sich viele – als Katholiken – nicht mehr in eine solche Traditionslinie des Papsttums einreihen wollen. Oder sich gar zu dieser belasteten Traditionslinie als Papst -Freunde bekennen. Und die nun, durch Michael Meier, nachgewiesen erleben: Auch ein Papst im Jahr 2024, Franziskus, der eigentlich wirkliche Reformen leisten könnte (Frauen – Gleichberechtigung ….) ziert sich und hängt trotz sympathischer Gesten dem Uralten an…

11.
Wenn man den Katholizismus soziologisch als Groß-Ideologie bezeichnet, muss man sagen: Wie viele Groß – Ideologien ist auch die bestehende Form des römischen Katholizismus – inhaltlich, spirituell, für nachdenkliche Menschen mindestens – vorbei. Spirituelle Verbindungen mit dem Göttlichen , Gott, und eine Hochschätzung Jesu von Nazareth lassen sich auch anderweitig gestalten und erleben. Das wäre mal ein – auch soziologisch zu dokumentierendes – Thema! Also: „Außerhalb der Kirche gibt es Heil“, um ein altes katholische Motto grundlegend abzuwandeln.

Michael Meier, Der Papst der Enttäuschungen. Warum Franziskus kein Reformer ist. Herder Verlag Freiburg i.Br., 2024, 208 Seiten, 20 €.

Copyright: Christian Modehn www.religionsphilosophischer-salon.de

 

 

 

Mehr als ein großer Theologe: Der Peruaner Gustavo Gutiérrez ist verstorben.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 23.10.2024

1.
Gustavo Gutiérrez hat die Theologie, nicht nur die katholische, grundsätzlich aus den engen Bindungen an die kapitalistische (Un-) Ordnung befreien wollen: Die Armen, Ausgebeuteten, Hungernden und Verhungernden Millionen Menschen sollten nicht länger Caritas – Objekte der Betreuung und der milden Spenden sein: Die Armen sollten selbst für Gerechtigkeit kämpfen – mit Unterstützung eben der Theologen, der Befreiungstheologen. Eigentlich skandalös dies sagen: Die Armen sind wertvolle Personen, die ihre Lebenserfahrungen kulturell ausdrücken sollten, auch in kritischer religiöser Sprache. Es gibt keine Herrenmenschen! Die Armen sind also auch theologisch schöpferisch, sie haben vieles Neue zu sagen, und zwar allen Menschen, auch denen im reichen Teil der Welt mit ihren reichen Kirchen. Aber das sind Projekte.

In den Basisgemeinden haben die Armen ihre Stimme entdeckt und gefunden, sehr zum Leidwesen des Vatikans. Denn die Laien der Basisgemeinden wollten berechtigterweise auch ihre Eucharistie selbst feiern. Schrecklich in den Augen der Klerus – Kirche.

2.
Am 22. Oktober 2024 ist der „Gründer“, d.h. der Inspirator und Begleiter der Befreiungstheologien gestorben. Er erreichte das hohe Alter von 96 Jahren! Der Religionsphilosophische Salon Berlin hat mehrfach auf Gustavo Gutiérrez hingewiesen, besonders auf sein grundlegendes Buch„teologia de la liberacion“, 1971 veröffentlicht, in vielen Sprachen übersetzt, auf Deutsch „Theologie der Befreiung“. LINK

Dass dieses grundlegende Buch (1971!) auch Mängel hat, ist klar: Es fehlt da etwa die Auseinandersetzung mit der Volksreligion, es fehlen ausführliche Reflexionen über die Rechte der Frauen in Kirche, Staat und Gesellschaft. Aber das Buch “Theologie der Befreiung” war ein Durchbruch. Ich will das Wort “Zeitenwende” eher nicht verwenden.

3.
Gustavo Gutiérrez gehörte mit seinem ersten Buch „Theologie der Befreiung“ und den folgenden Publikationen zu einer Art kritischen Bewegung innerhalb der lateinamerikanischen katholischen Kirche, zu denen auch Bischöfe gehörten, wie Dom Helder Camara in Recife LINK , Brasilien; Bischof Pedro Casaldaliga in Brasilien LINK ; Bischof Leonidas Proano in Ecuador, Erzbischof Oscar Romero in El Salvador LINK usw… Aber diese Bischöfe, die sich auch politisch auf die Seite der Unterdrückten stellten, waren letztlich innerhalb des katholischen Kirchen – Systems marginalisiert. Reaktionäre Bischöfe, wie der höchst einflußreiche Kolumbianer Lopez Trujillo vom Opus Dei LINK (Lopez Trujillo war ein Freund des polnischen Papstes) sorgten für die Marginalisierung und Verfolgung der Befreiungstheologen und Befreiungsbischöfen. Auch der deutsche Kardinal Franz Hengsbach (Essen) war nachgewiesen ein expliziter Feind der Befreiungstheologie: Diese Zusammenhänge werden von ADVENIAT, dem Hilfswerk der deutschen Katholiken für Lateinamerika, bis jetzt nicht öffentlich aufgearbeitet. LINK Zur Zeit geht es im Bistum Essen um anderes: Der so fromme Opus – Dei Freund Erzbischof und Kardinal (auch er ein Liebling des polnischen Papstes!) Franz Hengsbach war auch Täter des sexuellen Missbrauchs…Diese Verbrechen sollen in einigen Monaten freigelegt worden.

4.
Jetzt gilt es zunächst, des Lebens Gustavo Gutierrez dankbar zu gedenken und vor allem seine Bücher zu lesen, die bekanntlich nicht dazu führten, dass sich etwa die deutsche katholische Kirche auf die Seite der Armen stellte und entsprechend Strukturen, Sprache, Gottesdienste usw. änderte. Gustavo Gutierrez hat Wegweisendes geschrieben, aber … in den reichen Kirchen hat sich in seinem Sinne fast nichts verändert, d.h. verbessert. Eigentlich eine Schande bei dem persönlichen Engagements Gutiérrez. Der Umgang mit den Armen Lateinamerikas erschöpft sich in Europa nach wie vor weithin aufs Spenden…

5.
Über das aktuelle Gedenken der Trauer bleiben Fragen, die in nächster Zeit hoffentlich zu mehr Klarheit führen:
Gustavo Gutiérrez ist als Priester des Erzbistums Lima, Peru, spät (2001) in den Dominikanerorden eingetreten. Man sollte diesen Schritt interpretieren: Es war eine Flucht in eine sich oft progressiv verhaltende katholische Ordensgemeinschaft, also eine Flucht vor den Belästigungen durch Bischöfe. Der Kardinal von Lima, Juan Luis Cipriani (Erbischof dort 1999–2019) war ja ein bekanntes reaktionäres Opus Dei Mitglied und eben ein heftiger Feind der Befreiungstheologie und seines Priesters Gustavo Gutierrez. Er hatte in Lima sein Studienzentrum.

6.
Es wird in dem Zusammenhang endlich genau zu untersuchen sein, welchen Einfluß das Opus Dei in der Diskreditierung und Verfolgung von Befreiungstheologen (und Befreiungsbischöfen) gespielt hat und noch heute spielt. Das wären doch einmal wichtige Untersuchungen an katholisch – theologischen Fakultäten. Leonardo Boff in Brasilien lebt noch, er hat schon vieles berichtet vom Umgang Kardinal Ratzingers mit ihm als Befreiungstheologen… Vielleicht hat er noch neue, bislang unbekannte Dokumente?

7.
Nicht nur das Opus die hat die Befreiungstheologen zu zerstören versucht, auch die hierzulande wenig bekannte reaktionär katholische Organisation Sodalicium muss erwähnt werden: Deren Priester und Laien haben vor allem im Süden Perus alle Ansätze eines authentisch katholisch-indigenen Glaubens der Aymara und Quetchua zerstört. Eine wahre Leidensgeschichte. Jetzt wurden führende Leute dieser katholisch – reaktionären (aber politisch einflußreichen) Organisation des sexuellen Missbrauchs angeklagt… Das ist der Skandal: Jahre lang hat der Vatikan zugesehen, wie diese Leute des Sodalicium kirchliches Leben in Südperu stören und zerstören; jetzt erst merken die Herren in Rom, was das für ein Club ist! Der jetzige Erzbischof von Lima schlägt sogar ein Verbot dieses Sodalicium vor. Dabei ist diese Organisation aus Laien und Priestern nur eine von vielen neuen, sich oft charismatisch nennenden reaktionär- katholischen Gemeinschaften in Lateinamerika. Wer wird darüber investigativ arbeiten, wir sind gespannt. Zu den aktuellen Entwicklungen von Sodalicium: LINK

8.
Genauso gespannt sind wir, wann wirklich einmal die von Kardinal Gerhard Ludwig Müller so viel und so oft beschworene Freundschaft mit Gustavo Gutiérrez analysiert wird. Für viele ist es geradezu unvorstellbar, dass der Befreiungstheologe Gutiérrez mit einem doch immer schon sehr konservativen Kardinal befreundet sein könnte. LINK und LINK. Aber vielleicht hat Kardinal Müller seinen „Freund“ Gustavo Gutiérrez – aus welchen Gründen auch immer – vor schlimmer vatikanischer Verfolgung bewahrt? Wir sind gespannt, ob da jemals mehr Klarheit möglich ist und diese dann auch publiziert wird.

Ergänzung am 25. Oktober 2024:

8 a.
Kardinal Gerhard Ludwig Müller hat nach dem Tod von Gustavo Gutiérrez noch einmal am 24.10.2024 in einem Interview mit KNA zur Befreiungstheologie Stellung genommen: Dabei fällt auf, dass er die Befreiungstheologie von Gutiérrez „als eigentliche Befreiungstheologie“ hervorhebt und abhebt von anderen, die er als „marxistisch angehaucht im Sinne des ideologischen Progressismus“ deutet. Konkrete Namen nennt er nicht, es ist der übliche diffuse Vorwurf…

8 b.
Und Kardinal Müller ist „treuherzig” genug zu erklären, dass er „die“
Befreiungstheologie – also die in seiner Sicht vom Marxismus noch unbefleckte Befreiungstheologie von Gutiérrez – schätzt, weil er selbst die ziemlich alte katholische Soziallehre so liebt. Und weil diese alte Soziallehre der Befreiungstheologie von Gutiérrez offenbar entspricht…“Mich persönlich, der ich in der großen Tradition der europäischen Theologie gebildet bin, hat die Theologie der Befreiung Gustavos angesprochen, da ich als Mainzer von Jugend an auch mit Bischof Ketteler, dem Mitbegründer der katholischen Soziallehre, vertraut gewesen bin“ (KNA).
Der von Kardinal Müller, dem stolzen Mainzer, bewunderte Bischof Ketterer lebte von 1811 – 1877, er fiel durch antisemitische Äußerungen auf. Und auch durch die explizite Ablehnung von Sozialismus und sogar Liberalismus.

8 c.
Kardinal Müller hofft also, dass die aus Europa stammende katholische Soziallehre in Lateinamerika eine Hilfe sein könnte zur Überwindung der Armut, Ausbeutung und Unterdrückung der Massen.…
Befreiungstheologen hingegen gilt die alte katholische europäische Soziallehre als „ein abstraktes Lehrgebäude“, „das die wechselnden historischen Umstände nicht in ausreichender Weise berücksichtigt“, wie es der Jesuit Prof. Scannone (Argentinien) formulierte.
Die Katholische Soziallehre soll imSinne Müllers gelten, gerade weil sie nicht revolutionär ist, gerade weil sie nicht an einen Umsturz des Kapitalismus denkt, sie will nur das bestehende System korrigieren und für einen gewissen „Ausgleich“ sorgen.Diese katholische Soziallehre ist sozusagen grundsätzlich frei von den zentralen Vorschlägen von Karl Marx. Und dies glaubt Müller bei Gutiérrez zu finden.

8 d.
Es ist der alte Vorwurf, der auch vom „Arbeitskreis Kirche und Befreiung“ schon vor 50 Jahren formuliert wurde: Diese Gruppe von 20 Theologen und Soziologen traf sich zum ersten Mal am 12. und 13. Oktober 1973 in der katholischen Akademie Wolfsburg in Mülheim auf Initiative von Essens Bischof Franz Hengsbach als Chef des Hilfswerkes Adveniat und dem schon erwähnten reaktionären Feind der Befreiungstheologie Bischof Alfonso Lopez Trujillo, damals noch vor seiner päpstlich geförderten Karriere als Weihbischof von Bogota, Kolumbien. Diese Tagung in Mülheim fand 5 Monate nach der Tagung „Theologie der Befreiung“ in der Hochschule SVD St. Augustin bei Bonn statt, die ich entscheidend organisiert hatte und die viel Respekt und Sympathie für die lateinamerikanische Befreiungstheologie zeigte. (Siehe Nr. 9).

8 e.
Im Vorwort des ersten Tagungsberichtes des Studienkreises „Kirche und Befreiung“ schreiben die beiden genannten Initiatoren: „Solche Theologie der Befreiung gerät leicht in die Gefahr, aus dem eigentlichen Kirchlichen herauszufallen ….“ (S. 8). Der Hintergrund ist: Es gibt für diese Herren der Kirche eine authentische, d.h echte und im Sinne des Papstes ungefährliche katholische Befreiungstheologie. Kardinal Müller glaubt auch offenbar daran. Aber er hat wohl nicht die heftige Kritik des höchst einflußreichen kolumbianischen Bischofs (und späterem Kardinals in Rom) Lopez Trujillo gelesen. Dieser hat nämlich in seiner Abrechnung mit den von ihm so titulierten „marxistischen Befreiungstheologen“ (Girardi, Comblin, Blanquart…) eben auch Gustavo Gutierrez angegriffen, und zwar schon 1975, als das Buch „Kirche und Befreiung“ erschien. Auf Seite 69 heißt es von Bischof/Kardinal Lopez Trujillo: „Verschiedene Kapitel des bedeutenden Werkes von Gustavo Gutiérrez (er meint das wichtige Buch „teologia de la liberacion“ von 1971) sind völlig durchdrungen vom Einfluß der Marxisten Girardi und Blanquart. Diese Kapitel stimmen genau mit ihren diskutiertesten und problematischsten Ausführungen überein, was Gutiérrez auch gar nicht verhehlen will.“ Auch an anderen Stellen wird Bischof/Kardinal Lopez Trujillo zum heftigen Kritiker von Gutierrez (etwa S. 10), dort findet er diese Worte von Gustavo Gutiérrez geradezu unerträglich: „ Sich in die Perspektive des Reiches Gottes stellen, heißt, am Kampf um die Befreiung der von anderen Menschen Unterdrückten teilzunehmen. Dies haben viele Christen zu leben begonnen als sie sich in dem lateinamerikanischen Revolutionsprozess engagierten“.

8 f.
Mit anderen Worten: Kardinal Müller ignoriert offenbar die Gutiérrez` kritischen Äußerungen seines „Mitbruders“ Kardinal Lopez Trujillo.
Oder ist Müller dann doch ein Verteidiger zumindest der ganzen (!) Befreiungstheologie im Sinne von Gustavo Gutiérrez. Unwahrscheinlich ist dies. Wir meinen: Es handelt sich bei Müller um eine Irreführung der Öffentlichkeit, um die Aufgeschlossenheit des heftigen Dogmatikers Kardinal Müller plausibel zu machen. Fürstin Gloria von Thurn und Taxis, die große konservativ treu – katholische Freundin Müllers , wird es ihm glauben. Wir glauben diese Müller Reden nicht.
Denn Müller möge bitte sagen und genau zeigen, welche Vorlesungen vom Inhalt her (!) er in den Priesterseminaren Perus einst gehalten hat: Hat er Kapitalismus – kritische, vielleicht gar Marx – freundliche Texte von Gutiérrez verwendet oder doch die uralte deutsche Dogmatik. Diese Frage zu klären ist mühsam, wenn nicht angesichts der Machtverhältnisse unmöglich. Gutiérrez schweigt jetzt. Eine Chance für Müller, sich als Gutiérrez – Freund weiter zu schmücken. Wer wird diese Anmaßung ein Problem, wenn nicht einen Skandal nennen? Gibt es noch Journalisten und katholische Theologen, die dies in einer investigativer Recherche noch beweisen können und noch wollen und noch dürfen???

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

9.

Nur nebenbei:

Zusammen mit einigen Mitstreitern hatte ich im Frühjahr 1973 in der Phil.Theol. Hochschule St. Augustin SVD (bei Bonn) die erste Tagung in Deutschland zur Befreiungstheologie organisiert: Über die Tagung hatte ich in der theologischen Zeitschrift ORIENTIERUNG in Zürich im Juni 1973 berichtet: Orientierung, Nr. 12 30. Juni 1973, LINK

Im Juli 1975 veröffentlichte ich dann meinen Vortrag zu Grundlegendem der Befreiungstheologie als Broschüre: “Der Gott, der befreit”. Kyrios – Verlag, Freising.

Und 1977 habe ich zusammen mit Karl Rahner SJ und Hans Zwiefelhofer SJ den Sammel -Band “Befreiende Theologie” bei Kohlhammer herausgegeben…usw…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon.de

 

 

 

 

Dantes Poesie: Hilfreich, heilsam, erlösend.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 6.10.2024 aus Anlass des neuen Buches von Fabio Stassi!

Pünktlich zur Frankfurter Buchmesse 2024: Etwas Neues über Dante!

1.
Dantes Poesie hat heilende Kraft, betont der Schriftsteller Fabio Stassi: Dante Alighieri (geb. 1265 in Florenz – gestorben 1321 in Ravenna) als inspirierenden, hilfreichen Dichter – Therapeuten entdecken: ein anspruchsvolles Unternehmen. Fabio Stassi, Autor zahlreicher Romane wie „Die Seele aller Zufälle“, arbeitet auch als Bibliothekar an der römischen Staats – Universität La Sapienza.

2.
Dante war ein mittelalterlicher, ein frommer, ein theologisch gebildeter, immer Papst-kritischer Mensch. Die Lektüre seiner Werke zeigt ihn als einen Dichter von HEUTE, meint Stassi, nicht nur, weil seine Texte körperliche wie seelische Leiden heilen bzw. wenigstens lindern, aber auch weil sie die zerrütteten politischen Verhältnisse freilegen. „Die Göttliche Komödie“ Dantes ist „ein Schrei nach radikaler Reform“, schreibt auch der Philosoph Kurt Flasch (Fußnote 1). Ergänzend zu Stassi sollte man wohl auch meinen: Dantes „Göttliche Komödie“ hält die Sehnsucht nach dem Himmel, dem Paradies Gottes – trotz oder wegen der Hölle – offen. Das war Dantes religiöse Überzeugung, ob man sie heute als „bloß mittelalterlich“ bewerten sollte und bewerten darf, ist die Frage.

3.
Zur Frankfurter Buchmesse 2024 mit dem Gastland Italien wird also eine herausfordernde These publiziert: „Wer sich auf die Poesie Dantes einlässt, wird ein neuer Mensch.“ Die „heilbringende Poesie“, so Fabio Stassi, kann die Vorstellung von religiöser Erlösung fördern! Stassis Bibliotherapie hat nun also höchste Ansprüche. Die noch etwas etwas bescheidenere Bibliotherapie, der Roman „Die Seele aller Zufälle“,  ist 2018 in Italien erschienen. Zur Bibliotherapie: LINK.

4.
Fabio Stassis leider etwas zu kurzer neuer, sehr persönlicher Essay erscheint auf Deutsch unter dem Titel: „Ich, ja ich werd` Sorge tragen für dich“, erschienen in der Edition Converso, Karlsruhe. LINK. Übersetzt man den italienischen Titel dann heißt das Buch: „Und ein schöner Vers heilt mich von allem Übel.“
Den Essay hat Stassi anläßlich eines Dante – Festival 2021 in Rom (auf dem Gelände der Basilica di Massenzio) verfasst.

5.
Dante selbst kennt seelische Qualen (den Verlust von Beatrice, seiner hoch verehrten Freundin) und er weiß aus eigener Erfahrung, was körperliche Leiden (Herzkrankheiten) an Unlust am Leben erzeugen. Aber Dante hat die Kraft, in seiner Poesie über das eigene Leiden hinauszuschauen, hinaus zu leben, möchte man sagen und die LeserInnen gerade deswegen zu trösten.

6.
Stassi bezieht sich in seinem Essay auf die Hauptwerke Dantes. Berühmt ist sein großes und großartiges Werk „Divina Comedia“ (1319), auf Deutsch „Göttliche Komödie“. Es liegen in deutscher Sprache fünfzig Übersetzungen des ganzen Werkes und siebenundzwanzig Teilübersetzungen vor. Das philosophische und politische Hauptwerk Dante „Über die Monarchie“ (1313) wird leider von Stasi nicht berücksichtigt.

7.
In der „Divina Comedia“ beschreibt Dante seinen eigenen Weg zum Paradies, er führt durch die Hölle und „Vorhölle“. Die Schilderung der Qualen der von Gott Bestraften und Verurteilten ist außergewöhnlich heftig und für die Leser anstrengend, schockierend: Aber Dante empfindet Mitleid für die Verdammten, betont Stassi (S. 17). Die Begegnung mit den Höllen Bewohnern soll wohl bei den LeserInnen eine heilsame Warnung haben, etwa: „Folgt nicht dem Lebensmodell der Übeltäter.“ Ob diese Warnung vor der Hölle auch heute noch wirksam ist, sei dahingestellt. Mit dem Glauben an einen Gott als den Weltenherrscher ist auch der Glaube an einen Gott als gerechten Richter aller Menschen verloren gegangen. Man hat den Eindruck: Verbrecher selbst aus so genannten christlichen Kulturen Europas (Putin nennt sich orthodoxer Christ, Hitler blieb sein ganzes Leben Mitglied der katholischen Kirche, General Franco war erz-katholisch usw.) haben offenbar überhaupt keine Angst vor einem ewigen Aufenthalt in der Hölle. Sonst würden sie sich anders verhalten. Dies nur das Rande, sozusagen als Fortführung der Gedanken Fabio Stassis.

8.
Dantes Poesie hat selbst in höchster Not, unter heftigster Lebensbedrohung, geradezu eine spirituelle Kraft. Stassi erinnert, dass der Schriftsteller Primo Levi im KZ Auschwitz einige Verse Dantes präsent hat und dadurch einen Mitgefangenen Italienisch lehrt…Stassi erinnert auch an den großen russischen Dante – Kenner Ossip Mandelstamm, er hatte noch in den Todes – Lagern Stalins einige Verse Dantes als eine Art letzten Trost im Gedächtnis.

9.
Dantes Poesie und Dichtung kann, wie er selbst in einem Brief schreibt, „die Lebendigen in diesem Leben (durch die Poesie) aus dem Zustand des Elends herausführen und zum Glück leiten“ (vgl. S. 79). Stassis Therapie durch Poesie hat politische Konsequenzen. Er nennt die Schmerzen seines Landes, „das seit Jahrhunderten unter den immer gleichen Übeln leidet: Jeder Aspekt des Nationalcharakters wird von Dante untersucht, Servilismus, Schmeichelei, Neigung zu Trägheit, Hochmut, abgründige Obsession der Fleischeslust“ (S. 60). Und Dante sagt im Blick auf seine Landsleute: „Die blinde Habgier hat euch ganz verhext! Ihr seid ja wie das Nuckelkind, das verhungert, aber die Amme wegstößt ( Paradies XXX, 139, zit. S 61 bei Stassi).

1o.
Sehr verständlich, wenn Stassi seinen Essay in einer gewissen Trauer und Melancholie beschließt: „Wenn die Dichter und die Schriftsteller und die anderen Bannerträger der Vernunft die Stimme verlieren, sind es die Diktatoren, die sie wiederfinden.“ (S 77)

11.
Mit Interesse werden die LeserInnen auch das Nachwort des Schweizers Autors und hervorragenden Dante – Spezialisten Ralph Dutli lesen (S. 107 ff.): “Die tiefste Hölle ist bekanntlich bei Dante kein übereifriges Heizungsunternehmen, sondern eine gigantische Kühltruhe.“ (S. 113). Vor allem Dutlis Hinweis auf den russischen Dante-Kenner Ossip Mandelstam ist wichtig: „In sein eigenes, anti-stalinistische Pamphlet, die `Vierte Prosa` von 1929/30, führte Mandelstamm gleichsam als Signal ein Dante Zitat ein, den Anfangsvers von Dantes Inferno – `Mitten auf unserer Lebensreise` – und Mandelstam bezeichnete damit seinen Eintritt in die Hölle der dreißiger Jahre unter Stalin… und die Beschwörung des Kannibalismus (bei Dante) ist bei Mandelstam eine Anspielung auf die ihre Kinder essenden Bauern während der von Stalin angeordneten Hungerkatastrophe des Holodomor (`Tötung durch Hunger`) 1931-1933 in der Ukraine“ (S. 120f.).

12.
Ich wünschte mir, dass Stassi bald erklärt, wie denn die Beziehungen der von ihm hoch gelobten hilfreichen Poesie zu den bekanntermaßen auch hilfreichen Weisheits – Sprüchen der griechischen Philosophie (Stoa, Epikur, Neoplatonismus) sind oder die Beziehungen zu den Weisheitssprüchen des Alten Testaments, dort etwa das Buch „Jesus Sirach“. Stassi lässt sich von seiner Überzeugung leiten: „Allein die Poesie, das sei nochmals betont, kann mehr als die Philosophie, mehr als die Religion und jedwede andere Disziplin den Menschen zur Heilung, zur Glückseligkeit und so letztendlich zur Gesundheit führen“ (S. 42). Zweifellos eine sehr steile These, wobei da noch zu fragen wäre, ob Glückseligkeit (“letztendlich”, nur?) Gesundheit ist.

13.
Ich suche in dem zweifellos kurzen Essay auch Hinweise auf die heftigste und allzu berechtigte Papstkritik, die Dante in den Kapiteln über die Hölle in der „Göttlichen Komödie“ äußert (und auch in dem schon erwähnten Buch „Über die Monarchie“). Man denke also an Dantes Verurteilung der in jeder Hinsicht unwürdigen und korrupten Päpste zu seiner Lebenszeit, also an Bonifaz VIII., Clemens V. oder Johannes XXII.

14.
Und weiter, um die Bibliotherapie Stassis im Sinne Dante weiter zu konkretisieren: Wäre es nicht auch eine Art Therapie, wenn Katholiken angesichts der vielen verbrecherischen Päpste aus der katholischen Kirche austreten und einfach sagen: Es reicht mir! Gibt es also einen heilsamen, befreienden Kirchenaustritt aufgrund von Dante Lektüren  auch heute?

15.
Irritierend bleibt, dass die Päpste des 20. Jahrhunderts bis hin zu Papst Franziskus voller Lob und beinahe überschwänglich auf Dante (den Papst – Feind) und sein Werk hinweisen. Papst Franziskus urteilt in seinem ausführlichen Dante – Text vom 25.3.2021 sehr milde und objektiv wohl auch falsch, wenn er schreibt: „Dante würde in einigen (sic) Bereichen der Kirche Verfallserscheinungen anprangern…“ Dabei war Dante DER mittelalterliche Kirchen – und Papstkritiker überhaupt! Und dies, obwohl – oder weil – alle seine Sehnsucht dem Himmel galt, dem Glanz des Ewigen, des Lichtes, dem Paradies, …vielleicht auch bloß der umfassend humanen Weltordnung? Siehe Fußnote 3: Papst Paul VI. über Dante!)

Fußnote 1:
Kurt Flasch, Kampfplätze der Philosophie“, Frankfurt M.-2008, S 184).

Fußnote 2:
Papst Franziskus über Dante zum 700. Todestag 202P: LINK. https://www.vatican.va/content/francesco/de/apost_letters/documents/papa-francesco-lettera-ap_20210325_centenario-dante.html

Fußnote 3:
Papst Paul VI. sagte über Dante manchmal in erstaunlicher Nähe zu Fabio Stassis These: »Die Göttliche Komödie ist von ihrer Zielsetzung her in erster Linie praktisch und transformativ. Sie will nicht bloß poetisch schön und moralisch gut sein, sondern sie möchte den Menschen radikal verändern und ihn von der Unordnung zur Weisheit, von der Sünde zur Heiligkeit, vom Elend zum Glück, von der furchterregenden Vision der Hölle zur selig machenden Schau des Paradieses geleiten«. (Papst Paul VI. In seinem Apostolischen Schreiben „altisssimi cantus“, 1966.)
………………
ZUM BUCH: Fabio Stassi,“ Ich, ja ich werd‘ Sorge tragen für dich. Kurze Abhandlung über Dante, die Dichtung und den Schmerz“ .
Aus dem Italienischen von Monika Lustig. Mit einem Nachwort von Ralph Dutli. 128 Seiten.
Verlag: Edition CONVERSO, Karlsruhe. 22,00 €

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon.de

Der schöne Schein von katholischer Modernität und die dunkle Realität heute.

Was man über die Entwicklungen im Katholizismus jetzt wissen sollte. Einige Fakten.
Hinweise von Christian Modehn.

1. “Klerikalismus ist Sünde” sagt der Papst.
Papst Franziskus ist wahrscheinlich der erste Papst, der den Klerikalismus aufs heftigste öffentlich kritisiert und explizit verurteilt. Der Papst ist als oberster Kleriker („heiliger Vater“) über die Verhaltensweisen und Ideologien der heute lebenden Kleriker, also der Priester in der römisch-katholischen Kirche, total empört. In seiner wohl Biographie zu nennenden Veröffentlichung mit den Titel „Leben. Meine Geschichte in der Geschichte“ (2024, ein in mehreren Sprachen herausgegebenes Buch, auf Deutsch bei HarperCollins) sagt Papst Franziskus: „Klerikalismus ist eine wahre Krankheit, eine Pest, Klerikalismus ist Sünde, eine Perversion, Klerikalismus habe die Macht, die Kirche zu zerstören usw…“ (die Belege auf den Seiten 256-257). Und dann auch dieses: „Klerikalismus ist das Gegenteil von Synodalität“, so auf Seite 257. Und der Leser denkt Ende September 2024 daran, dass ab 2. Oktober 2024 wieder die Weltsynode in Rom tagen wird: Und alle wissen schon jetzt: Synode im eigentlichen Sinne ist diese Veranstaltung nicht: Die Kleriker sind die große Mehrheit der Teilnehmer; Mehrheits-Entscheidungen der Synodalen haben keine Bedeutung, alle Entscheidungen der Synodalen müssen vom Papst gutheißen oder verworfen werden. Und der Anteil der Frauen unter den Synodalen ist sehr gering. Dabei sind mindestens eine halbe Milliarde der Katholiken weltweit Frauen! 45 Frauen unter den 368 Synodalen sind stimmberechtigt., berichtet katholisch.de am 1.10.2024. Anne Soupa, eine französische Historikerin und Theologin über die uralte Angst des Klerus vor den Frauen, diese Angst gilt auch für den Papst und seine Synode: LINK  Das Thema Diakonat für Frauen hat der Kleriker, Papst Franziskus, ausgeschlossen. Und die Presse ist bei den Synoden-Debatten nicht zugelassen. Von umfassender Demokratie ist auf der Weltsynode keine Spur. Der Klerikalismus, verstanden auch als päpstliche Allmacht, besteht also auch wie vor weiter. Was sollen dann aber diese Verbal – Attacke des Papstes gegen den Klerikalismus? Nur eine von anderen, schnell daher gesagten emotionalen päpstlichen Ausrutschern oder Launen? Wahrscheinlich ist das so.

2. Keine Analyse des “perversen Klerikalismus”.
Man beachte: Die Verurteilung des Klerikalismus, als, so wörtlich, Perversion, als Sünde, als Zerstörung der Kirche, als Pest usw. wird vom Papst nur kurz als Empörung ausgesprochen, sie wird von ihm nicht tiefer analysiert, geschweige denn überhaupt präzise definiert. Man könnte also den Eindruck haben: Der Papst äußert seine Klerikalismus – Empörung, um noch etwas Beifall in katholischen – progressiven Kreisen zu erhalten: Diese Gruppen sind ja bekanntlich mit sehr gutem Grund antiklerikal. Und diese sollen sich nun über einen verbal antiklerikalen Papst freuen…
Nebenbei: Es ist durchaus zum Schmunzeln, dass die Klerikalismus – Attacken des Papstes in einer Epoche stattfinden, in der die aus Europa selbst stammenden Kleriker de facto, also für alle nachweisbar, zu einer aussterbenden Berufs – Gruppe gehören. Der viel besprochene „enorme Priestermangel“ (und die Vergreisung des Klerus) in Europa kann nur noch durch den Import von vielen tausend Klerikern aus Afrika, Indien, den Philippinen, aus Polen auch noch vorläufig noch etwas ausgeglichen werden. Aber der Klerikalismus besteht auch mit wenigen Priestern fort.

3.
Schon im Jahr 2014 hatte Papst Franziskus in seiner Ansprache vor den Kardinälen den Klerikalismus aufs heftigste kritisiert und die in päpstlicher Sicht irregeleiteten Kardinäle und Bischöfe am päpstlichen Hof eigentlich verurteilt….LINK

4.
Aber entscheidend ist: Die heftigste Zurückweisung des Klerikalismus durch den Papst hat für ihn selbst und seine Theologie kaum praktische Konsequenzen. Der Papst könnte bei der Allmacht seines Amtes das unsägliche Zölibatsgesetz für Kleriker sofort abschaffen. Das wäre kirchenrechtlich möglich. Der Papst ahnt doch hoffentlich: Das Zölibatsgesetz, die Verpflichtung der Priester, sich ohne erotische – sexuelle Liebesbeziehung irgendwie „keusch“, vielleicht a- sexuell, vielleicht zunehmend homosexuell, durchs klerikale Leben zu schlagen, ist fraglos ein Grund fürs Entstehen des krankhaften, vom Papst pervers genannten Klerikalismus. Und der Klerikalismus zeigt sich in der Öffentlichkeit als neurotische Herrschaft, als Allmachtsgefühl, als Überzeugung von heiliger Auserwähltheit, als neurotischer Zwang, eigene, auffallende Priestergewänder (Talare etc.) in der Öffentlichkeit zu tragen… Man lese das Buch von Eugen Drewermann „Kleriker“ erneut!

5. Papst Franziskus hält gegen alle theologische Erkenntnis am Zölibat fest.
Selbstverständlich gibt es in dieser verrückt gewordenen Welt voller Rassismus und Rechtsextremismus und Ignoranz der Klimakatastrophe etc. philosophische dringendere Themen. Aber Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie also Religionskritik muss sich um dieses Thema kümmern. Einen kritischen Journalismus, also einen, der sich mit Kirchenfragen als Investigativer Journalismus befasst, gibt es bekanntlich nicht. Wir erinnern also an dieses Thema, weil der Papst aus seinem offenbar innersten Zorn auf den Klerikalismus heute keine wirksamen, praktischen Konsequenzen zieht.
2014 sagte er noch auf einer Pressekonferenz, „weil der Zölibat kein Dogma ist, ist die Tür (zur Aufhebung des Zölibates ) Immer offen“. Aber schon 2019 lehnte der Papst dann die Forderung der so genannten „Amazons – Synode“ im Vatikan ab, verheiratete Männer als Priester wenigstens für den Amazonas- Bereich zuzulassen. Und 2023 sagte er dem argentinischen Publikation „Perfil“: „Ich bin noch nicht bereit, das Zölibatsgesetz zu überprüfen“. In einem Brief an französische Seminaristen vom 1. 12. 2023 zeigte Papst Franziskus auch noch seine Bindung an eine fundamentalistische Bibelauslegung, als er behauptete: „Der Priester ist zölibatär, weil Jesus es war, ganz einfach.“ LINK
Und auch auf der Weltsynode, die am 2.Oktober 2024 in Rom beginnen wird, hat der Papst, nach wie vor allmächtig, das Zölibatsgesetz NICHT als Thema auf die Tagesordnung gesetzt. Und die synodalen Schäfchen folgen brav der päpstlichen Verfügung…

6. Nur Kleriker leiten die Kirche.
Papst Franziskus setzt also (trotz der vielen tausend Missbrauchs-Verbrechen durch den Klerus) das von ihm so verhasste klerikale System in aller Form fort, zum Schaden der ganzen Kirche und … auch der Gesellschaft: Denn neurotische Priester, möglicherweise pädosexuelle Täter, sind nun einmal keine guten Seelsorger… in schwierigen Zeiten zumal.
Sicherlich, es gibt einige päpstliche kosmetische Reförmchen: Zum Beispiel: Einige Frauen arbeiten jetzt in päpstlichen Behörden, einige Frauen arbeiten sozusagen als Notlösung in bischöflichen Bürokratien, Ordinariate genannt; einige wenige Frauen sind TeilnehmerInnen der Weltsynode im Oktober 2024. Im ganzen aber bleibt es dabei: Papst Franziskus unternimmt nichts Grundlegendes gegen die Macht des Klerus, die Leitung der Kirche bleibt absolut Kleriker-, also Männer Sache.

7. Katholische Kirche ist stolz, nicht demokratisch zu sein.
Und die katholische Kirchenführung betont jetzt erneut, wie stolz sie ist, keine Demokratie zu sein, keine demokratische Strukturen etc. zu haben und bei dem Ausschluss der Frauen vom Priester auch die universal geltenden Menschenrechte zu missachten. … Und all das sagt die Kirchenführung ungeniert, zu einer Zeit, in der in den wenigen noch verbliebenen Demokratien dann die Demokratie von Rechtsextremen abgeschafft werden wird.
Noch einmal: Die katholische Kirche tut so, als würde sie mit diesen Synoden einen modernen und demokratischen Anschein wecken. Die Realität ist anders: Papst Franziskus negierte in seinem Buch „Leben“ (Verlag HarperCollins 2024, Seite 64) jegliche Hoffnung auf eine demokratisch – katholische Kirche: „Die Kirche ist doch, wie ich häufig genug sage, kein Parlament!“

8. Fundamentalistische Theologie des Papstes
Aber der angeklagte, aber auch wie bestehende Klerikalismus zeigt seine Macht auch in seinen Weisungen zur spirituellen Praxis der Glaubenden, der Laien und der „einfachen Priester“. Und dieser Einfluß klerikaler Theologie, also meist fundamentalistischer Theologie. Siehe dazu die Bibelauslegung des Papstes, siehe dazu u.a jetzt wieder das Insistieren auf die absolute biologische Fixierung auf die zwei von Gott angeblich auf immer fest gelegten Geschlechter, so der Papst am 28.9. 2024 in Löwen, Belgien. Und von dieser fundamentalistischen Rede des Papstes hat sich die katholische Universität Löwen, Belgien, distanziert! LINK
Es geht also um die Vorherrschaft klerikaler Theologie und klerikaler Spiritualität heute. Der Papst unternimmt nichts, um abergläubische Praktiken der Frömmigkeit und Spiritualität zu unterbinden. Im Gegenteil, er unterstützt diese Formen abergläubischer Spiritualität sogar noch.
Zur theologischen Erinnerung: Religiöse Praktiken können nicht nur nach inner-religiösen oder inner-theologischen Kriterien beurteilt werden, sondern vor allem nach universell allgemeinen Grundsätzen der Vernunft. Diese selbstkritische Vernunft hat ihren Ausdruck in den universell gelten Menschenrechten. Deswegen ist die Kategorie „Aberglaube“ im religiösen Bereich auch in der katholischen Kirche berechtigt und notwendig. Das heißt: Ein vernünftiger Mensch kann nicht zulassen, dass die Religionen und Kirchen und Päpste etc. heute ausschließlich selbst definieren, was Religion, Glaube, Spiritualität ist.

9. Ablass wird propagiert: Von Martin Luther nichts gelernt.
Alte, theologisch längst obsolete Praktiken werden wieder propagiert: Das Jahr 2025 wird in der katholischen Kirche als „Heiliges Jahr“ gefeiert. Und das bedeutet: Etwa 25 Millionen Pilger werden in Rom erwartet. Sie werden zweifellos die leeren Kassen des Vatikans füllen: Denn der „heilige Stuhl“ hat ein Haushaltsdefizit von ca.80 Millionen Euro, wie der Papst vor dem Kardinalskollegium betonte, so wurde am am 20.9. 2024 berichtet.

Auch der Ablass wird wieder im heiligen Jahr besonders gewährt! Der Ablass ist keineswegs in den „Verließen“ des Vatikans verschwunden nach Luthers Kritik, nein, er wird nach wie vor offiziell propagiert. LINK.

10. An den Teufel glauben!
Der Glaube an den Teufel wird nach wie vor offiziell vom Papst gefördert und unterstützt: Am 25.9.2024 belehrte Papst Franziskus in seiner wöchentlichen Generalaudienz: „Der Teufel existiert, er verführt die Menschen dazu, seine Existenz abzulehnen.“
Der Exorzismus als katholischer Ritus, Menschen aus der Macht des Teufels zu befreien, wird nach wie vor von Priestern praktiziert, auch wenn die Kirchenführung jetzt, so der Papst in seiner Ansprache am 25.9.2024, etwas vorsichtiger vorgehe bei der rituellen Vertreibung des Teufels…
Auch dies: Exorzismus – Kurse finden an der Universität „Regina Apostolorum“ in Rom (unter der Leitung des höchst umstrittenen katholischen Ordens „Legionäre Christi) seit vielen Jahren regelmäßig statt. „Nach Schätzungen von Geistlichen sind allein in Italien rund 400 Exorzisten tätig.“ LINK
Wer etwa die Websites französischer Bistümer studiert, findet immer wieder den Hinweis auf die zuständigen Exorzisten. Etwa für das Erzbistum Paris LINK https://dioceseparis.fr/service-de-l-exorcisme.html. Oder ein Beitrag aus „Le Monde“ 2021: LINK

11. Die Kleriker sind absolut wichtig, weil nur sie die Messe zelebrieren dürfen!
Die absolute Vorrangstellung des Klerus in der Katholischen Kirche wird nach wie vor auch in der Spiritualität und der Glaubenslehre zementiert. Die Priester stehen an erster Stelle, weil nur sie die heilige Messe zelebrieren dürfen. Diese Messe wird als das absolut Höchste innerhalb der katholischen Spiritualität propagiert. Ohne Priester keine Messe, ohne Messe keine wahre Spiritualität. Wenn Priester fehlen, müssen „halt eben“ die überflüssigen Kirchengebäude geschlossen und verkauft werden. Das ist jetzt Praxis in Europa. Natürlich verlassen sehr viele Millionen nachdenkliche Menschen in Europa diese Kirche, so dass auch deswegen die Gebäude überflüssig werden…
Die ursprüngliche, biblische Mahlfeier der Gemeinde als Gedenken an Jesus von Nazareth wurde durch den Klerus zu einer kultischen Opferhandlung (zur Messe) umgewidmet, dieser kultischen Opferhandlung kann nur der geweihte Priester (ein Mann natürlich) vorstehen. (Vgl. den Beitrag des Theologen Helmut Jaschke „Das Eucharistieverständnis der katholischen Kirche ist überholt“ in Publik-Forum 17/2024, Seite 38.)

12. “Ich betete zur Mutter Gottes”.
Der Marien – Kult ist in der heutigen katholischen Kirche, Stand September 2024, kaum zu bremsen:
Papst Franziskus ist intensivster Verehrer der Jungfrau Maria. Seit jungen Jahren verehrt er besonders die wundertätige Jungfrau Maria mit dem Titel „Maria Knotenlöserin“: Der Papst sagt: „Ich hab mich Maria ganz hingegeben und gespürt, wie sie mir geholfen hat, alle meine Knoten zu lösen. ….Die Hingabe an die Mutter Gottes muss klar, schön, rein und schlicht sein, Maria und ihr Sohn (in dieser Reihenfolge, sic CM) müssen immer an erster Stelle stehen“, so in dem Buch des Papstes mit dem Titel „Leben“, Verlag HarperCollins. Seite 123. Dort war er auch sehr ehrlich: „Ich betete zur Mutter Gottes“ (Seite 73).

13. Maria erscheint auf Erden
Die überschwängliche Verehrung Mariens im Wallfahrtsort Medjugorje in Bosnien wird jetzt vom Papst anerkannt, selbst wenn er es verbietet, die monatlichen Äußerungen der dort aus dem Himmel hereinschwebenden Maria als Offenbarungen zu deuten. Quelle. Die Übernatürlichkeit, also Echtheit der Erscheinungen Marias auf bosnischem Boden, wird also vom Papst nicht bestätigt, so weit ist man theologisch schon gekommen. Um die vielen tausend Medjugorje – Pilger nicht zu brüskieren, drückt der Papst dann doch ein insgesamt positives Urteil über den Wallfahrtsort und die Botschaften Mariens dort aus: Insgesamt sei dieser Ort der Auftritte Mariens in Medjugorje „ein Schatz“ für die Frommen, den es zu pflegen gilt.
LINK
Die website katholisch.de nennt weitere Orte der Erscheinungen Mariens und angeblicher Wunder. „Zu nennen sind Trevignano bei Rom, Brescia und Como in der Lombardei, Kalabrien im Südwesten Italiens, gefolgt vom spanischen Wallfahrtsort Chandavila.“ LINK

14. Blutwunder als Spiritualität moderner Menschen.
Neben der höchst lebendigen Marien-Verehrung ist der so genannte mysteriöse, nicht mystische (!) Volksglaube vor allem in Italien, Spanien, Portugal, Lateinamerika sehr lebendig. Diese Frommen wollen das Göttliche oder ihren Gott und ihre Heiligen wirklich greifen, sehen, spüren, riechen…Bekannt ist die Vorliebe der Neapolitaner für das Blutwunder des heiligen Januarius (San Gennaro). Das Blut befindet sich in einer Ampulle, es darf sich aber erst verflüssigen nach einem zu Ehren des Heiligen gefeierten Messe. Aber im September 2024 war das Blut bereits vor der Messe verflüssigt, und das gilt als ein böses Omen. Aber der kompetente Blutwunder – Spezialist, der Erzbischof, beruhigte die nervösen und furchtsamen Frommen. Der katholische Aberglaube erzeugt Angst: Denn das Ausbleiben des Blutwunders wird in Verbindung gebracht mit den (bevorstehenden ?) vulkanischen Aktivitäten in der Nähe Neapels…

15.  Ein heilihger Scharlatan
Offiziell propagiert und fördert nach wie vor der Klerus auch eine exzessive Heiligen – und Reliquien- Verehrung. Über den Kapuziner-Pater Pio, den Scharlatan mit den Wundmalen Jesu an den Händen, wurde oft berichtet: Er ruht in einem Glassarg in San Giovanni Rotondo. Papst Franziskus holte die Kapuziner – Mumie in seinem Glassarg sogar in den Petersdom nach Rom. LINK

16. Das heilige Herz  auf Reisen.
Nicht weniger interessant ist die aktuelle Verehrung des jungen Heiligen Carlo Acutis (1991-2006), dessen Leiche im offenen Sarkophag in Assisi ausgestellt wird. Dem toten Körper hat man allerdings das jugendliche Herz entnommen (nicht für mögliche Transplantation), sondern: Die Kirche schickte dieses heilige konservierte Herz im Jahr 2024 auf Pilgerfahrt quer durch Europa. Selbst Katholiken fanden diese Rundreise eines Herzens geschmacklos. Um das Herz des jungen Toten wurde das Bekenntnis Carlo Acutis angebracht: „Die Eucharistie ist meine Autobahn zum Himmel“.

Nachtrag am 26.10.2024: Ende Oktober 2024 hat Papst Franziskus erneut eine Enzyklika veröffentlicht, ausgerechnet, um die Verehrung des Herzens Jesu zu fördern! Veröffentlicht zu einem Moment, als im Vatikan dreihundert Katholiken aus aller Welr, vor allem Kleriker, über die “Synodalität” der katholischen Kirche, also deren schwacher, möglicher Modernität und Demokratie, debattieren. Gibt es für Papst Franziskus wirklich kein dringenderes Thema für die bedrohte Menschheit von heute? Offenbar nicht.

Das Herz Jesu ist Gegenstand einer Frömmigkeit, die seit dem 19. Jahrhundert vor allem entleiblicht ist und nur das Herz Jesu bedenkt und pflegt, wenn nicht beweint, und gerade nicht umfassend dessen ganzes irdisches schwieriges, aber befreiendes Leben betrachtet. Es sind die  neuen geistlichen Gemeinschaften, wie die sehr konservative Bewegung “Emmanuel” in Paray-Le-Monial, die heute den Herz – Jesu – Kult fördern … für eine kleine Gruppe sehr frommer, sehr antimoderner Katholiken. Aber denen entspricht die Enzyklika.

17. Psychiater vermeiden im Apostolischen Palast
Papst Franziskus hasst also den perversen, sündigen Klerikalismus. Aber er hasst offenbar nicht die Kleriker. Aber er persönlich will doch Vorbild sein und lehnt klerikale Bevorzugung ab, das darf nicht vergessen werden. Er findet das für Päpste übliche Leben in den Palästen des Vatikans unerträglich. Entsprechend äußerte er sich in seiner Biographie mit dem Titel „Leben“ (2024): „Hätte ich mich nach der Papstwahl entschieden, in die Päpstliche Wohnung des apostolischen Palastes zu ziehen, dann hätte ich vermutlich über kurz oder lang einen Psychiater gebraucht“ (S. 221). Zur Erinnerung: Papst Benedikt XVI. hat mit seinem Sekretär Erzbischof Georg Gänswein in diesem apostolischen Palast offenbar recht gern gewohnt, Papst Johannes Paul II. übrigens auch…Waren diese geistlichen Herrschaften während all der Jahre des isolierten Wohnens im Apostolischen Palast beim Psychiater?

18.
Weitere Beispiele für den Klerikalismus und für den damit zusammenhängenden Aberglauben in der katholischen Kirche heute können die LeserInnen aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen einbringen. Wir brechen diese religionskritischen Hinweise hier erst einmal ab.

19.
Mit dem Fortbestehen des Klerikalismus und damit der Kleriker als einem herausgehobenem, besonderen exklusiven Stand begibt sich die katholische Kirche weiterhin ins Getto.
Und damit zusammenhängend: Mit der ungebrochenen Förderung populärer Frömmigkeit und veralteter Theologien wird diese Gettobildung weiter gefördert.

20.
Wenn gelegentlich der Anschein erweckt wird, wie jetzt durch die „Weltsynode“ im Oktober 2024, die katholische Kirche suche den Anschluß an die demokratische Moderne, sie habe die Absicht, mit einfacher, nachvollziehbarer Glaubens -Lehre auch kritisch denkende Menschen religiös zu interessieren: Dann sollte man wissen: Es handelt sich immer nur um Reförmchen des Klerus, also um leichte Veränderungen der klerikal bestimmten Kulissenlandschaft. Erst wenn es keinen herausgehobenen Klerus – Stand mehr gibt, wird diese Kirche menschenfreundlicher, frauenfreundlicher vor allem, sagen wir es: Erst dann wird diese Kirche modern und vernünftig werden und den Weisungen des armen Propheten Jesus von Nazareth entsprechend leben.

21. Dieser Hinweis  bezieht sich nur auf die römisch – katholische Kirche. Ähnliche Studien sollten zu den orthodoxen Kirchen unternommen werden oder natürlich auch zu den fundamentalistischen evangelikalen Kirchen und den Pfingstkirchen.
Wenn man sich nur das weite bunte Feld der christlichen Kirchen ansieht, und von kritischen Beobachtungen zum Islam oder zum Judentum absieht, dann muss man sagen: Das „Christentum“ ist heute ganz überwiegend noch anti-modern, anti-demokratisch, anti-feministisch bestimmt. Und man fragt sich: Wie sinnlos ist eigentlich die kritische theologische Wissenschaft, wenn die Herren der Kirchen gar nicht die Erkenntnisse der theologischen Wissenschaften respektieren. Man sollte dieses Verhalten Dummheit nennen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Jesus als Mann. Aber: Christus als Witwer, als gay, als Frau?

Was die Phantasie mit dem armen Mann aus Nazareth so alles macht.
Anläßlich des Buches „Christus (m/w/d)“ von Anselm Schubert

Von Christian Modehn am 15.9.2024

1.
Welche seltenen Themen suchen sich Theologieprofessoren, wie viel Zeit widmen sie Problemen, die en vogue sind? Etwa der Frage: Wie männlich war Jesus von Nazareth, und zu welchem Mann wurde Christus gemacht, welches andere Geschlecht könnte er gehabt haben? Ein Freund sagte mir: Das sind Themen, die nicht von sehr dringender Relevanz sind, wenn man nur an die aktuellen Debatten der zerrissenen Gesellschaft und der verfeindeten Staaten denkt, an die Klima – Katastrophen, die Sehnsucht nach heilender Transzendenz und nach Sinn, nach Respekt, vielleicht auch noch nach einer Kirche, die ihre veralteten Dogmen endlich beiseite legt und die Klerusherrschaft abschafft…
Aber Anselm Schubert zeigt, mit welcher Phantasie Fromme und weniger Fromme sich auf das Thema „Christus (m/w/d)“ schon seit dem 2. Jahrhundert mit der Wucht aller ihrer Phantasie eingelassen haben. Auch die christliche Religion lebt von Phantasie, Projektion, man könnte manchmal auch sagen vom frommen Wahn derer, die sich Christen nennen.

2.
Dies nur als Einstimmung auf die Lektüre des Buches „Christus (m/w/d)“, mit dem Untertitel „Eine Geschlechtergeschichte“. Die Studie (396 Seiten, davon 117 Seiten wissenschaftliche Anmerkungen Literaturhinweise) hat der protestantische Erlanger Kirchenhistoriker Prof. Anselm Schubert nach Jahre langem Studium verfasst. Erschienen ist das Buch im C.H. Beck Verlag, 2024. Ganz zum Schluss, im „Dank“ bei seinen Helfern für diese ungewöhnliche Studie, schreibt Professor Anselm Schubert: „Dieses Buch ist über eine lange Reihe von Jahren entstanden“ (S. 277). Wohl wahr, man glaubt es sofort, so viele Quellen und Literaturverweise zu diesem bislang kaum bearbeiteten Thema wird man so leicht nicht mehr finden.

3.
Das Buch ist in gewisser Hinsicht eine Meisterleistung, eine Meisterleistung des Fleißes und der Energie, die absonderlichsten Fragen zur Männlichkeit “Christi“ bzw. „Jesu Christi“ zu erforschen: Wer hat sich schon einmal mit Themen befasst wie: „Der mystische Bräutigam“ (S.85), „Die Trinitarische Weiblichkeit“ (S.78), „Der geschlechtslose Erlöser“ (S. 66), „Die Seitenwunde Jesu als Uterus und Vagina“ (S.113 ff.). Wie sonderbar interessiert, darf man sagen: verrückt, waren viele kirchlich Fromme damals…Sie hatten keine Scheu zu sagen: „Die Brüste Christi stillen mit Milch“ (S. 105). Auch sehr „erbauend“: „Jesus als Witwer“ (S. 217) oder inspirierend der „Polygame Jesus der Mormonen“ (S. 221). Natürlich darf bei dem Thema nicht der schwule Jesus (S. 229) fehlen. Bibelfeste LeserInnen erinnern sich daran, dass Johannes, offenbar der Jüngste in der 12-Apostel-Schar, oft an der Brust Jesu, „des Herrn“, ruhte bei gemeinsamem Speisen. Eine Idee, die viele tausend Künstler begeisterte: Man beachte, dass Hans Schäufelin in seinem Abendmahlsgemälde (1515) diesen Jüngling Johannes sogar auf den Schoß Jesu setzte. War das etwa ein heimlicher Ausdruck von Pädophilie? Da entsteht – nebenbei – die Frage: Hat die „Pädophilie“ im zölibatären Klerus vielleicht eine ihrer Wurzeln in pädophil deutbaren Gemälden, Ikonen, die allüberall in katholischen Räumen zu finden sind? Ich kam auf diese Idee, als ich in der sehr geräumigen Sakristei einer Kathedrale in Spanien, also dort, wo sich die Priester für den „heiligen Dienst“ ankleiden und auskleiden, eine Fülle von nackten männlichen Putten und nackten heiligen (?) Knaben entdeckte… Eine gute Inspiration für die Priester vor dem „heiligen Opfer“, der Messe…

4.
Das Buch des Kirchenhistorikers Anselm Schubert bietet Einsichten und Einblicke in eine schier unerschöpfliche Materialfülle zu allen nur denkbaren Fragen zur Männlichkeit, zur Sexualität, Diversität, Weiblichkeit und Homosexualität von Christus.
Anselm Schubert verteidigt in einem Interview mit „Christ und Welt/Die Zeit“ vom 12.9.2024, Seite 15, seine mühevolle Kleinarbeit: Bestimmte Menschen und Gruppen hätten halt ein „ein Bedürfnis gehabt, sich mit Christus auf ihre Weise zu identifizieren. Jede und jeder sucht sich immer auch etwas Eigenes in Christus.“ Jedem und jeder sein, ihr Christus also. Ob es allerdings theologisch normative Grenzen dieses Bedürfnisses der Christus-Frommen geben sollte, wird nicht erörtert.

5.
Religiöse Phantasie gibt es auch heute: Vielleicht kommt jemand auf die hübsche Idee angesichts der Raumfahrt heute, Christus als den ersten Raumfahrer zu verehren, angesichts seiner biblisch besprochenen und als heiliges Fest gestalteten „Himmelfahrt“. Vielleicht wird der Weltraumfahrer Christus bei seinem Aufstieg sogar von seiner unbefleckten Mutter Maria begleitet, die laut katholischem Dogma auch eine „Aufnahme in den Himmel“ post mortem (z. T. staatliches Fest am 15. August) kennt und erfahren sein dürfte. Man sieht an diesen Beispielen, wie religiöse Traditionen zu Phantastereien und zu Wahn verführen können. Noch eine Idee: Über den leiblichen Vater Jesu von Nazareth, den „heiligen Joseph“, wird im Neuen Testament fast nichts aussagt, dennoch oder gerade deswegen entwickelte sich allmählich eine eigene ausgebreitete Josephs – Forschung, die „Josephologie“, mit einem Schwerpunkt in Montréal. LINK. https://www.saint-joseph.org/fr/

6.
Anselm Schubert hat sich vorgenommen, so wörtlich, „den letzten blinden Fleck“, also das bisher total Vernachlässigte in der Jesus/Christus – Forschung, auszubreiten und hervorzuheben, also die Frage nach der geschlechtlichen Identität und sexuellen Orientierung Christi (S. 21). Trotz dieser Materialfülle habe ich den Eindruck, dass eine tiefere theologische und historisch fundierte Reflexion hilfreich gewesen wäre: Etwa eine Antwort auf die Frage: Warum kamen denn vor allem die Mystiker und die Mystikerinnen im Mittelalter auf diese so absonderliche Ideen…Hatten sie nichts Besseres zu denken und zu tun? Schämten sie sich vielleicht sogar über ihre – in unserer heutigen Sicht ! – hoch merkwürdigen Ideen, Phantasien, Projektionen und sogar abartigen Themen? Wer sich durch diese von Schubert ausgebreiteten historischen Details förmlich lesend durchgeboxt hat, sagt sich am Schluss: Wie konnte sich eine ungebremste, sich religiös nennende Phantasie über die Sexualitäten Christi da nur in dieser christlichen Kirche breit machen. Waren die sonst so strengen Bischöfe und Päpste ausnahmsweise mal großzügig, weil sie dachten: Hauptsache die Leute sind fromm?

7.
Freilich: Das Hauptproblem für Theologen, nicht nur angesichts dieser Studie, muss genannt werden: Im Neuen Testament, das ist die entscheidende Hauptquelle aller auf Jesus bezogenen Studien ist, wird Jesus von Nazareth eindeutig als Mann beschrieben: Er wurde als Knabe nach jüdischem Gesetz beschnitten. Und er ist als Mann identifiziert worden im Prozess, der zu seiner Hinrichtung führte; an seinem Kreuz hoch oben wurde der Titel „König der Juden“ von den Römern angebracht und nicht etwa „Königin der Juden“.
Und trotz dieser evidenten Männlichkeit Jesu explodierte förmlich die fromme Phantasie einige Jahrzehnte nach Jesu Tod. In den Gemälden zur Geburt Jesu wird dieser Neugeborne als Junge gezeigt, und dazu schreibt Schubert: „Aber er war für viele Christinnen und Christen eben manchmal doch ein Mädchen, ein Androgyn oder etwas, das sich in den Kategorien menschlicher Geschlechtsidentitäten schlicht nicht fassen ließ“ (S. 22). Mit anderen Worten: Die Künstler (und die Literaten und die Theologen) nahmen sich ab dem 3. Jahrhundert die Freiheit, um auch der Kultur der Umgebung zu entsprechen, Christus als Mädchen oder als Androgyn oder, wie Schubert befremdlich schreibt, „als ETWAS“ (sachlich?,CM) darzustellen, das aus den Geschlechtsidentitäten herausfällt…
Aus Jesus wurde dann, wie Schubert zeigt, die göttliche „Weisheit“, er wurde als „androgyn“ usw. gedeutet, und das bis ins 18. Jahrhundert hinein. Dann aber wurde Christus vor allem in harter Gegenüberstellung gedeutet: Man lehrte: Der Mensch ist eben nur männlich ODER nur weiblich, so hieß die rabiate allgemeine Norm. Erst die feministische Philosophie und Theologie hat diese schlichte und falsche Definition der Identitäten aufgehoben. Sehr viele Christen und Kirchenführer halten aber diese veralteten Identitäten für absolut gültig, auch jetzt noch.

8.
Über die gelebte Sexualität Jesu von Nazareth wird im Neuen Testament nichts, aber auch gar nichts berichtet. Genauso wie nichts explizit über den Humor Jesu gesagt wird oder über seine ja durchaus denkbaren körperlichen Krankheiten, etwa wegen des vielen Wanderns in glühender Hitze usw. Dass er leibhaftiger Mensch war, wird nur in seiner Vorliebe fürs Essen und fürs Trinken guten Weines angedeutet. Vielleicht ist diese Vorliebe damals schon typisch männlich? Die Menschlichkeit des Mannes Jesus von Nazareth wird also im Neuen Testament auf ein Minimum an „Informationen“ reduziert. Die Geschichten, Mythen, von der Geburt Jesu und seiner Kindheit, wurden, kurz und bündig, erst spät in die Evangelien aufgenommen.

9.
Jesus als der religiöse Mensch, als der Prediger, als Kritiker bestehender jüdischer Religion, wird immer im Neuen Testament auch als der keusche, enthaltsame Mann dargestellt. Was wäre denn auch passiert, wenn Jesus als Mann Kinder gezeugt hätte, wie hätte die Kirche diese Jesus- Kinder bewerten müssen? Unvorstellbar, dass nach Jesu Tod seine Söhne als dann kirchlich zu deutende Gottessöhne herumlaufen und sich so systematisch eine Art Gottessohn – Geschlecht auf Erden etabliert! Undenkbar eine solche dann entstehende Dynastie der „Gott – Menschen“ und Erlöser…
Mit anderen Worten: So klug waren die ersten Christen schon: Jesus durfte also gar keine gelebte Sexualität haben! Anselm Schubert sagt in einem Interview für katholisch.de am 21.8.2024: „Eine Ehe Jesu wird nirgends in der Bibel erwähnt – und dem wäre sicher so gewesen, wenn er eine geführt hätte. Den Zölibat halte also auch ich für die wahrscheinlichere Variante.“ Wichtiger ist: Jesus durfte in kirchlicher Sicht überhaupt keine Ehe führen und schon gar nicht – wie und mit wem auch immer – Kinder zeugen.
PS: Die Gottessöhne und – töchter entstanden aber dann auf andere Weise doch, indem die Kirche lehrte: Jeder Christ (wenn nicht sogar jeder Mensch) ist mit dem heiligen Geist ausgestattet, als Gottes Sohn und Tochter… Solche tiefer gehenden Überlegungen vermisse ich im Buch von Anselm Schubert.

10.
With zu übersehen ist für die sexuelle Enthaltsamkeit Jesu von Nazareth etwas anderes, das meines Erachtens von Anselm Schubert nicht ausführlich herausgearbeitet wird. Denn es ist allgemein anerkannte Tatsache: Jesus von Nazareth war vom alsbaldigen Ende aller Zeiten überzeugt, und mit diesem Ende wird das Gottesreich Wirklichkeit (vgl. Matthäus 10,23 oder Markus 9,1 und 13,30. „Jesu Naherwartung (des ankommenden Reiches Gottes) ist das alles entscheidende Element: Es prägt Jesu Verhalten und Tun“, so der katholische Theologe Prof. Hermann Baum in seinem Buch „Die Verfremdung Jesu“, erschienen im katholischen Patmos Verlag, 2006, dort S. 35). Vor allem Paulus zeigt in seinen Briefen, etwa im 1. Thessalonicher – Brief aus dem Jahr 51: Wenn das Ende der Welt bevorsteht, dann sind alle Fragen nach einer möglichen Ehe, Sexualität, Frauen – oder Männer-Freundschaften usw. völlig zweitrangig.
Die Erwartung Jesu vom alsbald bevorstehenden Ende der Welt und dem Beginn des Reiches Gottes ist wohl der entscheidende Schlüssel für das Desinteresse Jesu von Nazareth selbst, sich irgendwie sexuell aktiv zu betätigen oder seine sexuelle Identität hervorzutun. Jesus war demnach de facto bloß ein Mann, ein jüdischer Mann, und das ist alles, was historisch zu sagen ist.

11.
Die ersten Christen hätten ja auch sagen können: Jesus von Nazareth war ein Mann, also evident ein jüdischer Mann. Und dann hätten sie in ihrer beliebten theologischen Deduktion sagen können: Unser christlicher Gott wird also („inkarniert“ sich!) ein jüdischer Mann. Und damit, dem kirchlichen Dogma entsprechend, wird auch die zweite Person in der göttlichen Trinität, Jesus – Christus, jüdisch, also Teil der jüdischen Gemeinschaft. Das heißt: Der christliche Gott des kirchlichen Dogmas wird also Jude. Damit werden natürlich zwei Weltbilder miteinander verschränkt, das jüdische (Gott als handelnder, liebender, zorniger Gott) und das griechische Weltbild der Trinität bzw. eines philosophischen Gottes: Dieser überlässt die Menschen und die Welt nach der Schöpfung sich selbst…
Trotzdem, dieser ketzerische Gedanke „Der trinitarische Gott wird jüdisch“ drängt sich spekulativ auf, nachdem man sich durch diese Fülle von Phantasien und frommem Wahn zur Männlichkeit, Weiblichkeit, Homosexualität, Diversität Christi in diesem Buch durchgeboxt hat. Ein ungeheuerlicher Gedanke, gewiss, der bisher nicht diskutiert wurde.

12.
Bei diesem Faktum zum jüdischen Mann (und Propheten) Jesus von Nazareth könnte eigentlich die Studie von Anselm Schubert wirklich enden. Aber das Haupt – Problem aller christlichen Theologie ist bekanntlich: Für Christen (also für Glaubende schon wenige Jahre nach Jesu Tod und seiner geglaubten Auferstehung) ist Jesus von Nazareth immer der Christus, der Erlöser. Jesus ist eben nicht Christus, und Christus ist nicht Jesus, obwohl dies immer behauptet wird.
Spätestens seit dem 3. Jahrhundert wird Jesus im Dogma zum Gottessohn erklärt bzw. dann seit dem 4.Jahrhundert zu einer „Person“ der göttlichen Trinität. Diese göttlich – menschliche Christus – Gestalt wurde von der frühen Kirche und ihren Theologen nur konstruiert, also „gemacht“ (vom heiligen Geist natürlich, sagen die Dogmatiker…), um den armen, sehr begrenzten Jesus von Nazareth sozusagen für alle Menschen und immer, außerhalb des Judentums, bedeutend und „erlösend“ zu machen. Und mit dieser „Umwidmung“ dieses kulturell – religiös begrenzten jüdischen Jesus zu einem universalen Christus werden alle geistigen Türen der Phantasie und des frommen Wahns geöffnet, um sich auch mit dem Sexualleben dieses Christus (nicht mehr dieses Jesus!) zu befassen, wie es in Nr. 3 unseres Hinweises in der hier gebotenen Kürze angedeutet wurde. Mit der „Umwidmung“ Jesu zum universalen, allen Kulturen und Sprachen zugänglichen Christus wurde es möglich, dass jeder und jede sich so seine phantastischen Gedanken über diesen seinen Christus machen konnte. Der Glaube ist ja immer individuell, keine Frage! Aber meiner Meinung nach haben die frommen MystikerInnen im Mittelalter doch allzu stark ihr erotisches Ego in ihre Glaubensergüsse und Christus – Bindungen einfließen lassen. Also, ein sehr sehr weites Feld frommer bzw. esoterischer und literarischer, künstlerischer und theologischer Spekulationen wird eröffnet.

13.
Das Buch von Anselm Schubert wird zu weiteren theologischen und kulturwissenschaftlichen und sicher auch spekulativen Forschungen zur Sexualität „Christi“ führen. Schubert macht in seinem Buch auf die Themen weiterer Diskussionen aufmerksam: „Geschlecht galt in der Antike (auch zur Zeit Jesu) eher als moralische und intellektuelle Eigenschaft, nicht als körperliche. Man ging von einer einzigen menschlichen Geschlechtlichkeit aus, die sich auf einer Skala bewegte zwischen weiblich und männlich, wobei das Männliche höherwertig galt…“ (Die Zeit, 12.9.204, Seite 15.)

Anselm Schubert, „Christus (m/w/d). Eine Geschlechtergeschichte.“ C.H.Beck Verlag München , 2024, 396 Seiten, 32€.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

“Fromme” Drogenbosse, sie glauben an das „Wohlstands-Evangelium“

Die „Narco – Pfingstler“, die „Narco – Pentecostals“.

Ein Hinweis auf einen kaum beachteten Trend
Von Christian Modehn.

Zu Beginn:
Politologen, Soziologen und Religionswissenschaftler vor allem aus den USA, aus Brasilien und Süd-Afrika weisen in ihren Studien, seit einigen Jahren schon, jetzt verstärkt, auf eine verbrecherische Variante der Theologie des so genannten „Wohlstands-Evangeliums“ (Prosperity-Gospel) hin. Sie bestimmt als fromme Ideologie das mörderische Treiben der Banden der „Narco – Pfingstler.“ Ein ungewöhnliches Thema in Deutschland. Und mich wundert einmal mehr, wie provinziell die Theologie, die Theologen, in Deutschland sind, dass sie dieses abartige religiöse Phänomen nicht studieren und publizieren.

1.
Pfingstkirchen und Pfingstgemeinden („Pentecostals“) erleben weltweit, vor allem in Lateinamerika und Afrika, eine stetige Zunahme an Mitgliedern. Jetzt sollen sich 650 Millionen Christen weltweit als Pfingstler bekennen (1). Pfingstler gelten als die am schnellsten wachsende christliche Glaubensgemeinschaft, vor allem wegen ihrer zum Teil aggressiven Mission und Propaganda unter Katholiken (besonders in Lateinamerika).

2.
Wenn hier auf einige neue Studien zu den „Narco – Pfingstlern“ hingewiesen wird, dann heißt das: Der Anteil der Narco – Pfingstler unter allen Pfingstlern ist zahlenmäßig eher klein. Aber weil es um Drogenhandel geht und Banden-Gründung mit üblichem Mord und Totschlag, ist dieser kriminelle Aspekt unter Pfingstlern mindestens nicht uninteressant in der weltweiten christlichen Ökumene. Zumal diese Narco – Pfingstler sich auf eine sehr verbreitete Wohlstands-Theologie beziehen, die Prosperity – Theology bzw. auf das so genannte Wohlstands – Evangelium.

3.
Theologischer Background, ganz kurz:
Pfingstler sind jene vor allem protestantisch geprägte Christen, die die „dritte göttliche Person der Trinität“, also den heiligen Geist über alles persönlich – enthusiastisch schätzen. Sie sehen sich oft in einer solchermaßen engen Verbindung mit dem heiligen Geist, dass sie ihre eigenen, oft schnell wachsenden Pfingst-Gemeinden gründen. Und diese Herren, theologisch betrachtet sind es „Laien“ ,erklären sich selbst stolz zum Pastor ihrer Gemeinde und verbreiten, je nach Laune, eine eigene, sehr subjektive Theologie bzw. Ideologie. Berühmt ist etwa der Brasilianer Pastor Edir Macedo und seine riesige internationale Pfingstkirche „Universal Church of the Kingdom of God (UCKG“). Macedo ist auch Herrscher über viele populäre Medien, u.a. über die zweitgrößte Fernsehstation Brasiliens „RECORD“, er hatte den autoritären evangelikalen Präsidenten Bolsonaro unterstützt… Aber das ist eine andere Geschichte. In jedem Fall gilt: Macedo ist ein sehr vielfacher Millionär.

4.
Ein weiterer theologischer Background, ganz kurz:
Die Theologie (bzw. Ideologie) des Wohlstands -Evangeliums (Prosperity-Gospel). Diese Wohlstandstheologie hat eine lange Tradition, manche behaupten durchaus Verbindungen mit Calvins Lehre von der Vorherbestimmung der Gnadenzuwendung Gottes an jeden einzelnen.
Heute ist eine Hauptlehre dieser sich christlich nennenden Ideologie „Wohlstands-Evangelium“ die Empfehlung an die Gemeindemitglieder: Strebe danach, zu großem materiellem Wohlstand zu kommen. Das ist Zeichen für dein Erlöstsein! Dieses Erleben des individuellen Reichtums ist zwar eine Gnade Gottes, aber versuche viel Geld zu verdienen, dann erlebst du die persönliche Erwählung durch Gott. Zuvor müssen aber die armen Gemeindemitglieder dem Pastor ihr Geld spenden, erst dann kann das Wunder geschehen, dass auch sie, die Armen, reich werden. Die Pastoren sind es dann in jedem Falle schon. Und einige junge Pfingst – Fromme sind so raffiniert, so kriminell, dass sie sich dann sagen: Ich kann schnell viel Geld im Drogenhandel verdienen….Marx würde in dem Zusammenhang wieder von Opium des Volkes sprechen. Zurecht.

5.
Drogenbosse, die sich in dem pfingstlerisch geprägten Milieu wohlfühlen, wie etwa in den Slums von Rio de Janeiro, können die „Wohlstands – Theologie“ also wie eine Art private Unterstützungs – Ideologie gut verwenden, indem sie sich sagen: „Ich habe als Drogenboss viel Geld, damit kann ich andere junge Leute für meine kriminellen Aktionen anwerben… und ich kann mit meinen Millionen Einnahmen durch Drogengeschäfte ein bißchen auch den Armen in meiner Pfingstgemeinde helfen, zu der ich pro forma gehöre, weil sie mir auch einen gewissen Schutzraum bietet für meine Unternehmungen…“
Das Wohlstands – Evangelium steht über jeglicher humaner Moral und Ethik.

6.
Die Journalistin Elle Hardy hat in dem wissenschaftlichen Magazin „New Line Magazine“ (Washington D.C.) Mitte August 2024 ausführlich auf das globale Wachstum des Narco – Pfingstlertums hingewiesen (1). Sie bezieht sich dabei auch auf Studien von Religionswissenschaftlern in den USA und Süd-Afrika, vor allem die Arbeiten von Prof. Andrew Chesnut von der „Virginia Commonwealth University” sind dabei wichtig (2).

7.
Der Beitrag von Elle Hardy konzentriert sich zunächst auf Rio de Janeiro, und dort auf einige Viertel der Favelas, Slums, im Norden der Stadt. In denen ist verwurzelt der Pfingstler und Bandenchef mi dem Spitznamen „Peixao“. Sein Klarname, wie die berühmte Internetgesellschaft „UOL“ am 10.7.2024 in Rio berichtet, ist: Álvaro Malaquias Santa Rosa. Er gilt als Chef der Drogenbande „Terceiro Comando Puro“., berichtet die UOL (3). Als Pfingstler, der im Radio seine Gebete und frommen Ergüsse spricht, zieht „Peixao“ junge Männer aus diesen Kreisen in sein „Regime“… Er hat eine große Vorliebe für jüdische Symbole, die Elendsviertel ließt er etwa mit David-Sternen schmücken…

8.
Das Thema wird in Brasilien in kritischen Kreisen heftig studiert und diskutiert. Die Religionswissenschaftlerin Viviane Costa hat 2023 die Studie veröffentlicht „Traficantes Evangélicos“. In einer Übersetzung zu dem Inhalt, kurz gefasst, heißt es bei Amazon: „Das Buch ist das Ergebnis einer Forschung, die das Phänomen der Verbindung zwischen Drogenhändlern und dem evangelischen Glauben in den Gemeinden Rio de Janeiro untersucht. Dieses beispiellose Phänomen in Rio löst provokante Fragen aus: Ist es möglich, ein Menschenhändler und evangelisch zu sein? Können Sie sagen, wer die evangelikalen Drogenhändler sind? Gibt es ein gemeinsames evangelikales Profil unter denen, die sich zu Christen erklären? Wie kann Gottes Name in Gewaltkontexten verwendet werden? Welche biblischen Texte würden diese Struktur unterstützen? Diese und andere Fragen begannen in den letzten zehn Jahren von Forschern aus dem religiösen Bereich beantwortet zu werden.“
Eine Leserin scheint über das Buch: „Perfekt, ohne Fehler. Die Autorin nennt und diskutiert Daten, die keinen Zweifel an der Ineffizienz des Staates lassen und darüber, wie Handel und Glaube immer zusammen waren, und wie in den letzten Jahren die pfingstlyrischen Gemeinden in kriminellen Institutionen zunehmend präsent und dominant sind.“ (4)

9.
Elle Hardy weist in ihrer Studie darauf hin: Die Narco – Pfingstler zeigen sich unduldsam und feindlich gegenüber anderen religiösen Gemeinschaften, vor allem gegen die in ihrem eigenen Einflussbereich der Favelas vertretenen Religionen, wie dem Katholizismus und dem brasilianischen Candomblé – Kult. Gerade gegenüber dieser traditionellen Religion verhalten sich Evangelikale und Pfingstler sehr aggressiv, auch aus dem theologischen Grund: Sie seien Heiden! In einigen Favelas in Rio ist es im Sommer 2024 den Narco – Pfingstlern gelungen, für die zeitweilige Schließung der dortigen katholischen Kirchen und Gemeinden zu sorgen. (7). Sie wollen damit zeigen, wer in dem Viertel herrscht und das Sagen hat. Etliche Katholiken, zumal in den Armenvierteln, sind noch Anhänger der Befreiungstheologie: Sie sieht die Rettung der Menschheit nicht wie Narco – Pfingstler im privaten Reichtum und Luxus, sondern in der sozialen Gerechtigkeit für alle, auch für die Armen.

10.
„Was einst als ein besonderes brasilianisches Phänomen begann, wurde zu einem Trend der pfingstlerischen Narco – Gangster – und manchmal der Pastoren -, sie nutzen evangelikale christliche Netzwerke und Glaubensformen, um damit ihre Autorität und ihren verbotenen Handel zu kaschieren“,schreibt Elle Hardy. Narco – Pfingstler in Europa (Rumänien wird erwähnt), auf den Philippinen, in Nigeria und Süd Afrika usw. aktiv, auch darauf weist Elle Hardy hin.

11.
Verbrechen und Religion: Ein weites Feld auch für historische Erinnerungen (Hexen – Wahn, Ketzerverfolgung… ) und für aktuelle Zustände etwa in katholisch geprägten Regionen Europas: Man denke an die traditionelle Bindung vieler Mafiosis in Italien an bestimmte Marienwallfahrtsorte und die dort gelebte „Mafiosi – Spiritualität“. (6)
Immerhin haben die Päpste Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus diese (Marien) Frömmigkeit der Mafiosi und die mit ihnen sympathisierenden Priester scharf verurteilt.

Fußnote 1:
Elle Hardy, New Lines Magazine, Washington DC., 12.8.2024. (https://newlinesmag.com/reportage/the-global-rise-of-narco-pentecostalism/)

Fußnote 2:

Brazilian Pentecostal Crime Boss Peixão Ramps Up Holy War

Fußnote 3:
 https://noticias.uol.com.br/cotidiano/ultimas-noticias/2024/07/10/quem-e-peixao.htm

Fußnote 4:
https://www.amazon.com.br/Traficantes-evang%C3%A9licos-Viviane-Costa-ebook/dp/B0C31VHD3G

Fußnote 5:
Der Journalist und Autor Bruno Paes Manson, Brasilien, hat 2023 eine neue Studie vorgelegt: A fé o fuzil: Crime e religião no Brasil do século XXI eBook Kindle por Bruno Paes Manso (Autor).

Fußnote 6:
https://www.spiegel.de/panorama/justiz/kalabriens-ndrangheta-marien-prozession-ehrt-mafia-boss-in-oppido-a-979891.html

Fußnote 7: aus der großen brasilianischen Tageszeitung o Globo:
https://g1.globo.com/rj/rio-de-janeiro/noticia/2024/07/14/traficante-peixao-condenado-ordenar-destruicao-de-terreiros.ghtml

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon Berlin.

 

 

 

Marienlieder: Die Frommen wissen nicht, was sie singen.

Unverständliches, Merkwürdiges, Entfremdendes in Marien-Liedern
Ein Hinweis von Christian Modehn am 13.5.2024.

Warum dieser Hinweis? Weil die immer noch üblichen Marien – Lieder der beste Beweis sind, dass die katholische Kirchenführung sich der vernunft-gestützten Inhalte von Liedern und Gebeten verweigert, von der Verweigerung, feministische Dimensionen in den Marien – Liedern zu entwickeln, ganz zu schweigen. Diese üblichen Marien – Lieder sind der Beweis: Diese Kirche setzt auf volksreligiöse, intellektuell unkontrollierte Frömmigkeit und unsinnigen Wunder – Glauben. Die Kirchenführung will die Vernunft vor den Kirchentüren zum Stillstand bringen. Sie demonstriert also ihre Zurückweisung gegen die Moderne. Weiteres Beispiel: Ablehnung der Demokratie (also auch umfassende Synodalität der Gleichberechtigung aller) in der Kirche.

EINE aktuelle ERGÄNZUNG am 27.5.2024

Auch heute leben viele Katholiken, zumal in den romanischen Ländern, in einer äußersten innigen Verbundenheit mit Maria, der Mutter Jesu von Nazareth. Für diese Frommen ist Maria nicht die selbstbewusste Frau und Mutter vieler Kinder und Gattin ihres Mannes Josef, sondern die ins Jenseits der Spekulation geschickte Himmelskönigin, sie ist sogar die Mutter Gottes, wenn nicht gar – uneingestanden – eine göttliche Mutter. Also eine Mutter Gottheit: Gerade dies ist ein peinliches Thema für die Kirchenführung: Wie umgehen mit maßlosem Überschwang frommer Phantasien so vieler? Ökumenisch hält man sich zu diesem Thema in Rom sozusagen „unbefleckt – bedeckt“.

Weltweit, vor allem auch in Italien, „wollen heute mehr Menschen als jemals zuvor Maria gesehen haben“, Maria ist ihnen also „erschienen“, berichtet „Christ und Welt“, Beilage von „Die Zeit“ am 23. Mai 2024. „In den Berichten – es sind Dutzende allein aus den vergangenen drei Jahren – geht es um Blut weinende Statuen der Muttergottes, es geht um Weissagungen, welche die Gläubigen von der Jungfrau erhalten haben wollen“…, schreibt Tobias Asmuth. Die Kirchenführung hat jetzt ihre große Mühe, diese ins Maßlose, ins Spinöse und Groteske und Betrügerische abrutschende Maria – Verehrung in dogmatisch korrekte Bahnen zu lenken.

Im folgenden Beitrag wird diese maßlose, irrationale Maria – Verehrung begründet: Sie hat einen Grund in vielen ebenso maßlosen, irrationalen Marien-Liedern der katholischen Gesangbücher. Diese Lieder – meist aus dem 18.und 19. Jahrhundert – hat die offizielle Kirche bis heute nicht nur geduldet, sondern explizit gepflegt. Nur langsam werden offiziell Revisionen vorgenommen, die aber wenig nützen, denn allzu stark sind die Bilder von der Himmelskönigin und der makellosen Jungfrau in den Seelen der Frommen verankert.

……………………………

1.
Theologie, die den Anspruch hat, kritisch zu sein, kann im Jahr 2024 nicht darauf verzichten, auch kritisch die in den katholischen Gottesdiensten auch heute noch üblichen Lieder, zum Beispiel die Marien – Lieder hinsichtlich ihres Textes zu untersuchen. Über die musikalische Qualität wollen wir schweigen.

2.
Wenn der christliche Glaube eine begründete Lebensorientierung sein will, kann er nicht darauf verzichten zu prüfen, mit welchen Inhalten denn die Menschen etwa in den Liedern konfrontiert sind, die zu singen sie in Gottesdiensten aufgefordert werden.

3.
Wir konzentrieren uns hier nur auf katholische Kirchenlieder, evangelische kann man später vom Inhalt untersuchen und auch dort fragen: Was ist nachvollziehbare, aber anspruchsvolle religiöse Poesie auch im Jahr 2024 in West – Europa? Was ist schlicht und einfach mitgeschleppter religiöser Wahn aus dem 16. bis 20. Jahrhundert.

4.
Unsere Analysen fallen knapp aus, sind eben Hinweise für weitere Forschungen und es können längst nicht alle Marien – Lieder untersucht werden.

5. BEISPIELE:
„Freu dich du Himmelskönigin“, Gotteslob Nr. 576.

Da werden die singenden Gläubigen im Text dieses sehr beliebten Liedes aufgefordert: Sie sollen Maria im Himmel („Himmelskönigin“) zurufen: Maria freu dich im Himmel, darüber, dass alles Leid, also auch das Leid Marias, „hin ist“, wie es im Text heißt. Nicht die Gläubigen sollen sich primär freuen, dass Jesus von Nazareth „auferstanden“ ist, nein: Maria im Himmel soll sich freuen über ihres Sohnes Auferstehung. Bei so viel Freuden – Zuspruch der Irdischen an die Himmelsköngin fehlt nicht das Flehen am Schluss: Sie solle doch im Himmel, bei Gott, „für uns (Menschen) bitten…

6.
„Lasst uns erfreuen herzlich sehr“, Gotteslob Nr. 585.

Da sollen sich die Gläubigen über die Auferstehung Jesu von Nazareth freuen. Warum? Wieder ein befremdlicher Gedanke: Weil Maria nicht mehr „seufzt und weint“. Nicht die Gläubigen sollen sich freuen, nicht sie sollen aufhören zu weinen, sondern bestenfalls über den Umweg, dass sich Maria im Himmel freut. Darf man ein solches Denken „entfremdend“ nennen? Gewiss!
Nebenbei: Als ich einst im Kloster war, haben kritische „Mitbrüder“ eher in leisen, ängstlichen Tönen anstelle von „Maria seufzt und weint nicht mehr“ gesungen: „Maria säuft, aber weint nicht mehr“. Das war natürlich etwas blasphemisch, aber der Beginn eines frommen religionskritischen Bewusstseins.
Ganz schlimm wird es in Strophe 5, wo die Frommen singen: „Aus seinen Wunden fließen her, Halleluja, fünf Freudenseen, fünf Freudenmeer, Halleluja“! Verstehe es, wer Laune hat: Jedenfalls gehören solche Liedchen zur „Denken beim Singen bitte abschalten“. Kann man ja noch machen, wer will, es werden immer weniger, die dieses Lied im Ernst mit – singen wollen und können.
Schon komisch, dass solch ein Gesangbuch 1975 (sic) noch erscheinen konnte. Haben die Theologen damals geschlafen?

7.
„Meerstern, sei gegrüßt“, Gotteslob Nr. 578.

Maria als Meeres- Stern zu verehren, ist ein alter Glaube aus Seefahrerzeiten.
Aber der Text in Strophe 1 geht weiter: „Gottes hohe Mutter, allzeit reine Jungfrau, selig Tor zum Himmel“.
Da werden Behauptungen gemacht, die viele Christen heute nicht mehr nachvollziehen können: Maria als Gottes Mutter: Gott hat also eine Mutter. Ist dann diese Frau eben als Mutter früher gewesen als Gott, der Ursprung von allem. Ist dann Maria eine Art Ur-Göttin?
Maria als allzeit reine Jungfrau finden viele, als Formel verwendet, doch sehr problematisch: Maria als wirkliche Frau ist viel näher bei den Menschen… Und ist Maria das „Tor zum Himmel“, also zur Erlösung als „Sein mit Gott“. Kann an ernsthaft auch nicht singen. Denn wenn es eines (von vielen!) Toren zum Himmel gibt, dann wohl die humane Gestalt des Jesus von Nazareth.
Und dieser „Meeresstern“ soll in Strophe auch noch „der Schuldner Ketten lösen“…Das wäre aktuell wirklich wichtig. Macht Maria als Maria im Himmel aber nicht. Als Frau in Nazareth hat sie Schuldner unterstützt? Vielleicht!

8.

„Die Schönste von allen, von fürstlichen Stand“…(Nr. 864)

Jedes Bistum hat noch einen eigenen regionalen, Bistums – speziellen Anhang von Liedern. Und da wird das Nachdenken noch öfter ausgeschaltet. Den BerlinerInnen 2024 wird etwa zugemutet zu singen: „Die Schönste von allen, von fürstlichem Stand, kann Schönres nicht malen ein englische Hand“.
Wollen wir Demokraten wirklich eine Fürstin verehren? Die Dame aus Regensburg, Fürstin G. Von T. Und T. reicht uns völlig. Und auch diese Frage ist wichtig: :Was ist eine „englische Hand“ ? Kommen da die Briten zu Ehren? Die englische Hand bezieht sich auf die Hände der Engel. Seit wann Engel als totale Geistwesen denn nun Hände haben, fragt sich manch ein Sänger und fasst sich an den Kopf.
Diese himmlisch Frau, so wird behauptet, hat zudem „eine goldene Krone“, ein „Zepter“ führt sie, sie ist zudem „eine starke Heldin“. Wirklich beeindruckend! Und schon wieder geht s auch in der 2. Strophe ums Englische, da heißt es: „mit englischem Schritt der höfischen Schlange den Kopf sie zertritt“. Natürlich hat der englische Schritt wieder nichts mit Great Britain zu tun, man denke also nicht an das rüstige Gehen der greisen Königin Elisabeth II., nein: Maria soll mit dem Schritt eines Engels die höllische Schlange zertreten…
„Die Phantasie der Frommen gebiert Ungeheuer“ möchte man nun in Abwandlung des bekannten Capriccios (Nr. 43) von Francisco Goya sagen mit dem Titel. „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“.

9.
Wir wollen diese Hinweis auf nun wirklich sehr befremdliche Texte abbrechen, mit einigen sprachlichen Hinweisen noch aus anderen Marienliedern, die noch speziell im Gesangbuch für die Menschen im Bistum Berlin (1975 veröffentlicht) zum Singen anempfohlen werden.
In Nr. 866 „Wunderschön prächtige…“ wird Maria die „Sonnenumglänzete, die Sternumkränzete“, sogar „die Leuchte“ genannt, in Strophe 3 wird Maria gleichzeitig „Du Gottes Tochter und Mutter und Braut“ genannt…ja was denn nun: Tochter Gottes oder Mutter Gottes oder Braut .. von wem, vielleicht vom heiligen Josef? In Strophe 4 wird ein neues Wort erfunden, Maria sei der „Spiegel der Reinigkeit“ (sic)…Bitte erklärt mir, liebe Herausgeber dieses Gesangbuches, was ein „Spiegel der Reinigkeit“ ist. Doch wohl kein neues Presse – Erzeugnis aus dem Hause Augstein?

10.
Die Frage soll diskutiert werden: Wie oft und wie schnell wird in vielen offiziell katholischen Marien – Songs die Grenze von Glauben zum Aberglauben überschritten? Kaum zu zählen!
Braucht die katholische Kirchenführung diese Art von vertrackter Marien – Frömmigkeit, um die Frauen ins Mysteriöse abzuschieben, um ihnen nicht Gleichberechtigung (etwa Zugang zum Priesteramt) zu gewähren? Sehr wahrscheinlich. Solange solcher Schmarren gesungen wird, wird sich für Frauen nichts ändern in der katholischen Kirche.
Maria als Frau, als mutige Frau, als leibliche Mutter Jesu und dessen Geschwister, von ihrem Mann Josef gezeugt, könnte doch TheologInnen inspirieren … auch zum Lieder Komponieren, wenn man denn das noch will. Passiert aber nicht, oder eher sehr am Rande.

11. Zusammenfassung:
Die Autoren dieser Lieder damals wussten in ihrem totalen spirituellen Überschwang nicht, was sie da alles sich so zusammen reimten. Hauptsache das Reimen, wie dumm auch immer, stimmte, Theologie war egal. Und die – naturgemäß – wenig nachdenklichen Frommen jubelten mit und wussten gar nicht, was sie da alles so singen. Das ist ja ein weit verbreitetes Phänomen, man denke daran, dass der widerwärtige Text der Nationalhymne Frankreichs immer noch geschmettert wird, sicher ganz laut, wenn denn die rechtsextreme Marine Le Pen Präsidentin wird…

Die Herausgeber solcher offiziellen katholischen Lieder für Menschen im Jahr 1975 wussten gar nicht, wie viel Aberglauben sie den heutigen Katholiken zumuten können.

Und die Singenden heute? „Sie wissen nicht, was sie da singen“. Kann man ja machen, bei vielen Schlagern wird auch heute noch viel Unsinn und Blödsinn gesungen. Aber ist das eine Entschuldigung dafür, dass in Gottesdiensten nicht nachvollziehbare Texte gesungen werden? Gottesdienste sollen als geistliche Dienste an den Menschen einen reifen, einen denkenden, einen kritischen Gläubigen unterstützen und pflegen wollen. Diese Lieder sind eine geistige und theologische Katastrophe. Kann man diese Katastrophe noch bewältigen oder wenigstens einschränken: Aufklärung tut not. Wird aber nicht passieren in dieser Kirche, die, wie Papst Franziskus kürzlich richtig sagt, eine „absolute Wahl – Monarchie“ ist.

Zu den Marienliedern: LINK.

Zur Marseillaise: LINK.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de