Befreiung von der imperialen christlichen Religion, fordert der katholische Theologe Urs Eigenmann.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 16.6.2025
1.
Immer wieder und auch jetzt geht die öffentliche Debatte um Kaiser Konstantin und das von ihm inszenierte Konzil von Nizäa (325): Damals wurde die Kirche zu einer imperialen Macht, zur Staatskirche, zur Religionsgemeinschaft, die sich bis heute noch weithin glanzvoll als Klerus-Kirche entwickelt…
Diese Erkenntnis ist bekannt, sie wird nun radikal unterstützt und erweitert in einer Studie des Katholischen Theologen Urs Eigenmann „Das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit…“ FUßNOTE 1. (Die Seitenangaben beziehen sich auf dieses Buch).
Urs Eigenmann, Jahrgang 1946, ist durch zahlreiche theologische Publikationen bekannt geworden, er war „Wort zum Sonntag“ Sprecher im Schweizer Fernsehen, hatte als katholischer Gemeinde-Pfarrer gearbeitet, hatte Lehraufträge für praktische Theologie usw. Es ist die Auseinandersetzung mit den lateinamerikanischen Befreiungstheologien, die ihb „radikalisiert“ hat.
2.
Der Schweizer Theologe Urs Eigenmann zeigt sich in seinem genannten Essay als ein radikaler Theologe: Die Jesus Bewegung der ersten zwei Jahrhunderte war eine „nicht-religiöse Reich-Gottes-Bewegung“ (154), in Eigenmanns Formulierung: Ein besonderer Humanismus, nämlich ein „pauperozentrischer Humanismus“, d.h. ein Humanismus, in dem die Entwicklung der Menschenwürde der Armen und Unterdrückten ganz im Mittelpunkt stand. Jesus von Nazareth ist also der Initiator dieser humanistischen Bewegung. Denn die alles entscheidenden humanen „Werte“ Jesu sind zusammengefasst im Ideal des Reiches Gottes, und das ist immer auch ein politisches Projekt: Friede, Gerechtigkeit, Respekt, Liebe. „Jesus bezeugte also das Reich Gottes als säkular-universale, egalitär-solidarische Vision gesellschaftlichen Zusammenlebens“ (143). Dieser Humanismus zugunsten der Armen „kann als himmlischer Kern des Irdischen bezeichnet werden.“ (150).
Inmitten des „Irdischen“ gibt es also etwas „Himmlisches“ (Göttliches), so dass die Behauptung Eigenmanns von einer „nicht religiösen Reich-Gottes-Bewegung“ (154) problematisch, wenn nicht widersprüchlich ist. Wie soll man auch explizit von Reich Gottes (Gottes!) sprechen, ohne dabei das Wort „religiös“ zu gebrauchen?
3.
Eigenmann geht noch weiter: Himmlisches soll seiner Meinung nach auf Erden gelten und dadurch das zusammenleben auf Erden „himmlisch“ machen. Dagegen wurden immer wieder Argumente vorgebracht: Hybris sei diese Vorstellung, unmenschlich deren Realisierung (etwa im Kommunismus). Urs Eigenmann hält dem ein Statement des Soziologen und Befreiungstheologen Franz Hinkelammers (1931-2023, gestorben in Costa Rica) entgegen: „Wer den Himmel auf Erden nicht will, der schafft die Hölle auf Erden. Wir leben die Hölle. Sie ist von denen geschaffen, die all diejenigen denunzieren, die aufgebrochen sind, den Himmel auf Erden zu schaffen“ (also das Reich Gottes und seine Werte umfassend politisch zu verwirklichen, CM). (145).
4.
Es gibt für Eigenmann seit 1.700 Jahren eine tiefgreifende Kirchenspaltung: Mit der Herrschaft Kaiser Konstantins hörte die Kirche auf, die biblischen Weisungen des Reiches Gottes als ihren entscheidenden Mittelpunkt zu verstehen und zu gestalten: So pauschal denkt Eigenmann. Nur einige radikale christliche Minderheiten hielten an der absoluten Geltung des Reich Gottes – Gedanken fest, etwa der frühe Franz von Assisi und seine Armutsbewegung, die Waldenser… Die Kirchengeschichte wird also weithin zur Geschichte der Ignoranz gegenüber den politischen Idealen des Reiches Gottes…
Letztlich ist für Eigenmann also nur das Christentum vor Kaiser Konstantin authentisch, authentisch im Sinne von „jesuanisch“ (215). Danach sei das Christentum, also die Kirche, so wörtlich, „verkehrt, imperial-kolonisierend“ geworden (ebd.). Seit 1.700 Jahren stehen sich also die vorherrschende imperiale Kirche und die Minderheit der „Reich-Gottes-Humanisten“ gegenüber. Gesiegt hat politisch wie religiös und kirchlich: das Imperium. Und heute hat das Imperium einen Namen: Kapitalismus. Und das Denken von Karl Marx könnte auch heute Impulse bieten, etwas näher dem Reich Gottes zu kommen, meint Eigenmann.
5.Kritische Hinweise zu Eigenmanns Thesen:
Urs Eigenmann geht in seiner richtigen Hochschätzung des Reiches Gottes als der alles entscheidenden Botschaft und Praxis Jesu von Nazareth so weit zu betonen, „dass das biblische Reich Gottes selbst eine säkulare Größe ohne Elemente einer traditionellen Religion darstellt.“ (214). Eigenmann ist mit der lateinamerikanischen Befreiungstheologie sehr verbunden, aber jener Theologie der Befreiung, die nicht von der offiziellen Glaubenskongregation in Rom als moderat gelobt wird.
Aber: Auch die radikalen, an der Basis der Armen lebenden Befreiungstheologen feiern Gottesdienste, lesen die Bibel, beten, sie sind als Basisgemeinden also auch rituell geprägt und dadurch religiös: Das heißt: Ohne religiöse Elemente kommt offenbar auch die humanistische säkulare Reich – Gottes – Bewegung im Sinne Eigenmanns nicht aus.
6.
Kritisch zu sehen ist auch Eigenmanns Deutung des Prozesses und der Verurteilung Jesu: Für ihn sind ausschließlich die Vertreter des Römischen Imperiums in Israel damals verantwortlich für Jesu Hinrichtung. Dass führende jüdische Kreise Jesus von Nazareth verurteilten und ihn dann den römischen Behörden zur Hinrichtung übergaben, wird von Eigenmann verschwiegen. Diese Zusammenarbeit von jüdischer Elite (im Sanhedrin) und römischer Besetzung ist für historisch -kritisch arbeitende Bibelwissenschaftler evident und alles andere als Ausdruck von Antisemitismus. Nebenbei: Das so genannte Alte Testament enthält so unterschiedliche Bücher mit so widersprüchlichen, durchaus unangenehmen Aussagen (wie im Buch der Könige), dass man sich im Umgang mit „DEM“ biblischen Denken durch Eigenmann etwas mehr Differenzierung wünschen würde.
7.
Bedauerlich ist Eigenmanns radikale Ablehnung aller Philosophie im Christentum, sie wird für die Herrschaft des imperialen Denkens der Kirche verantwortlich gemacht. Dass die philosophisch gebildeten Theologen der ersten zwei Jahrhunderte (und danach) bemüht waren, den christlichen Glauben (also doch wohl auch den Glauben an das Reich Gottes) in die Kultur der Griechen (der „Heiden“) zu inkulturieren, also in deren Kultur zu verwurzeln, wird von Eigenmann bestritten: „Die Übernahme griechischer Philosophie durch die christliche Theologie als Inkulturation zu bezeichnen, ist irreführend. Es handelt sich vielmehr um DE- oder ENTkulturation biblischen Denkens durch den hegemonial gewordenen gewordenen kategorialen Rahmen griechischer Philosophie“ (174). Die griechische Philosophie habe also „das“ biblische Denken verfälscht: ABER: Es gab gar nicht, wie schon gesagt, damals wie heute „das“ biblische Denken! Es herrschte eine konkurrierende Vielfalt der theologischen jüdischen Schulen … auch zur Zeit Jesu.
8.
Und vor allem: Unter welchen Bedingungen hätte denn die Jesus – Gemeinde (nennen wir sie Christen, Kirche) bestehen können, wenn sie nur biblisch, d.j.jüdisch – auf welche Art von jüdisch auch immer- geblieben wäre? Die Inkulturation der Jesus Bewegung ins griechische Denken wie später auch ins germanische oder japanisch oder auch ins chinesische Denken usw… ist also eine Notwendigkeit gewesen fürs Überleben der Jesus-Gemeinde. Und das gelingt NICHT ohne vermittelnde philosophische, vernünftige Reflexion. Sie ist der Maßstab im theologischen Streit damals wie heute.
9.
Die Frage bleibt: Wie hätte eine richtige Inkulturation der Jesus Bewegung geschehen können? Die Ausbildung der Klerus – Hierarchie ist das Problem. Hätte die nun machtvolle Klerus – Hierarchie in einer Staatskirche auch trotz der Inkulturation in die griechische Lebenswelt und Philosophie vermieden werden können? Urs Eigenmann glaubt nicht daran. Und es fällt uns schwer, ihm da zu widersprechen. Und man möchte in dem Zusammenhang von einer gewissen Tragik sprechen: Die humane, die „säkulare“ Jesusbewegung ist als Kirchenorganisation kaum realisierbar. Denn die Macht der religiösen „Gewohnheit“ ist trotz aller Säkularisierung groß: Viele Menschen klammern sich an Religion als Verzauberung, als Weg ins Außerirdische, als Glauben an Wunder, als Verzücktsein in der barocken Welt voller Weihrauchwolken oder als „mystischer“ Heilig – Abend – Gottesdienst… Soll man von dieser Religiosität die Menschen heilen, sie davon befreien? Soll man also in dem Sinne den Abschied von der Religion, diesen Kirchen fördern? Ist der säkulare Humanismus in seiner Nüchternheit und Rationalität ein Ersatz fürs klassisch Religiöse, auch traditionell Kirchliche? Darauf gibt Eigenmann keine Antwort.
10.
Aber vielleicht lebt die humane und säkulare Jesusbewegung im Sinne Eigenmanns heute gerade da, wo man sie eher nicht vermutet: In vielen humanen NGOs, „Ärzte ohne Grenzen“, “Amnesty International“, OXFAM usw… Und viele humane NGOs sind nebenbei gesagt auch kirchlichen Ursprungs, Brot für die Welt, Misereor: Sind diese Hilfswerke etwa „imperiale“ Hilfswerke im Sinne Eigenmanns? Vielleicht sollte eine neue Ekklesiologie (Kirchenlehre) in Zusammenhang mit diesen weltlichen Gruppen entstehen, ohne ihnen dabei etwas Religiöses oder Christliches „überzustülpen“…
FUßNOTE 1:
„Der himmlische Kern des Irdischen“, das Buch ist erschienen: Edition Exodus, Edition it-Kompass, 2025, der Beitrag Eigenmanns S. 117 bis 230.
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