Hat Kant die Metaphysik vernichtet? Also die Frage nach Gott, der Freiheit, der Unsterblichkeit der Seele?

Die 17. der unerhörten Fragen.
Von Christian Modehn

1.
Kaum eine andere philosophische Vorstellung hat sich bis heute so durchgesetzt und verbreitet wie die Frage: Hat Immanuel Kant die Metaphysik vernichtet? Meist wird diese Vorstellung nicht als Frage, sondern als These, als Behauptung, wenn nicht als Erkenntnis propagiert und einfach so … geglaubt und weitererzählt.

2.
Es war der Philosoph Moses Mendelssohn (1729 – 1786), der die These verbreitete: Kant habe die Metaphysik, so wörtlich, „zermalmt“, also zerstört und unmöglich gemacht. Mendelssohn spricht davon in seinem Buch „Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes“ (1785). Auch Heinrich Heine behauptete, Kants Äußerungen zu einem religiösen Glauben seien nicht ehrlich gemeint. Manfred Kühn hat in seiner Kant – Biographie von 2004 behauptet, Kant sei ein Atheist. Marcus Willaschek (Kant, München, 2024, S. 361) hat hingegen gezeigt, „dass Kant tatsächlich an einen personalen Gott geglaubt hat“ (ebd.).

3.
Es gehört sozusagen zu einer „Pflicht – Erkenntnis“ in diesem Jahr des Kant – Jubiläums (300. Geburtstag am 22.4.2024): Jeder und jede muss sich von diesem Vorurteil verabschieden, „Kant als Zermalmer, als Vernichter, der Metaphysik“ zu deuten. Und einzusortieren. Es gilt hingegen: Kant hat weiterhin von einer Metaphysik gesprochen, und diese begründet, er hat sie inhaltlich entwickelt und verteidigt. Aber es geht ihm um eine Metaphysik, die man zuvor gar nicht kannte. Die aber den Namen Metaphysik zurecht verdient, als Ausdruck von Argumenten und Erkenntnissen der Erforschung der inneren Welt der Vernunft.

4.
Metaphysik als Beschäftigung der Philosophierenden untersucht den Alltag der Menschen hinsichtlich der grundlegenden Sinnfragen, der Frage nach einem alles gründenden Göttlichen, nach dem, was Seele meint, was Freiheit bedeutet. Hintergrund ist dabei die entschiedene Abwehr der oberflächlichen Behauptung: Der Mensch sein „nichts als“ ein Naturwesen, eigentlich ein etwas anspruchsvolleres Tier, ein Wesen, das eher nach festgelegten Prägungen und Determinanten handelt und die Frage nach einem göttlichen Gründenden usw., als überholten Unsinn „entlarvt“. Aber der Mensch ist eben kein Wesen, das bloß im banalen Alltag auf-geht und dann aus ihm wieder ab-geht (ins Nichts?)

5.
Dieter Henrich, ein international hoch geschätzter Philosoph, schreibt in seinem Aufsatz „Warum Metaphysik“ (Reclam, „Bewusstes Leben“, 1999, S. 75): „Die metaphysischen Fragen bilden sich spontan zusammen mit jedem Bewusstsein aus, das zur Lebensreife kommt – oft schon in der frühen Kindheit“.

6.
Was versteht Kant unter lebendiger und vernünftiger Metaphysik?
Metaphysik ist als eine Weisheit zu verstehen, „die nicht zur Wissenschaft umgebildet werden kann“ (Henrich, S. 76). Kant hat in einer seiner grundlegenden Schriften, „Kritik der reinen Vernunft“, die bis zu ihm überlieferte Metaphysik tatsächlich „zum Einsturz gebracht“(ebd.) Es gibt für Kant keine wissenschaftlichen Beweise, es keine strengen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die Antwort geben könnten auf unsere metaphysischen Fragen nach dem Göttlichen, nach der Freiheit, der Seele usw. „Aber Kant hat sein eigenes philosophisches Programm wiederum als eine Art von Metaphysik dargestellt“ (ebd.) Und diese Metaphysik Kants argumentiert nicht mehr nach Art eines Leibniz oder Thomas von Aquin, sie konnten noch ihre Einsichten als objektive wissenschaftliche Erkenntnisse ausgeben. Kant hingegen studiert die innere Welt der menschlichen Vernunft, und was er da wahrnimmt, das sind ja durchaus auch „Erkenntnisse“, aber eben keine naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, schon gar keine Beweise. Kants metaphysische Einsichten werden ausgesagt als wahre Überzeugungen oder als notwendige Postulate des Denkens, ohne die ein vernünftiges humanes Leben nicht auskommt.

7.
Die metaphysischen Überzeugungen, an denen Kant unbedingt festhält, sind fundiert im sittlichen Bewusstsein, also der vernünftigen Lebenspraxis in Freiheit. Und diese „Entdeckung“ der Metaphysik inmitten der ethischen Lebenspraxis wird von Kant ausführlich herausgearbeitet. Die unbedingte Geltung moralischer Gebote können die Menschen, Kant folgend, durchaus als göttliche Gebote betrachten. Aber es eben nicht Gott, der den Menschen diese Gebote auferlegt.Die moralischen Gebote sind Ausdruck der menschlichen Vernunft. Denn das Bewusstsein des Sittengesetzes, des Kategorischen Imperativs, ist in jedem Menschen aufgrund der Vernunft lebendig, Kant bezeichnet diese Präsenz des Sittengesetzes sogar als „Offenbarung“ (Marcus Willaschek, Kant, 2024, S. 204.
8.
Der Philosoph Otfried Höffe schreibt (In „Philosophie Magazin“, Sonderausgabe, 2024, S. 101): „Kant beendet alle drei Kritiken („Kr. der reinen Vernunft“, „Kr. der praktischen Vernunft“, „Kr. der Urteilskraft“) mit einem moralphilosophisch begründeten Fürwahr-Halten der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele. Allein sie garantieren nämlich, dass die Welt als jene am Ende doch vernünftige Ordnung gedacht werden kann, in der der Rechtschaffene nach Maßgabe seiner Rechtschaffenheit des Glücks teilhaftig wird…“

9.
Im unvollendeten Spätwerk, dem Opus postumum, betont Kant: „Gott ist kein hypothetisches Ding, sondern er ist die reine Vernunft selbst“ (zit. Willaschek, S. 97). Das heißt: „Die Vernunft hat für Kant etwas Göttliches an sich“ (ebd.). Könnte man ins Theologische übergehend, dann die Vernunft im Sinne Kants als den „heiligen, den göttlichen Geist“ nennen? Ich denke: Ja! Aber darüber sollte man diskutieren.

Zum christlichen Glauben in der Sicht Kants: LINK.

Copyright:Christian Modehn, religionsphilosophischer-salon.de

Die weiße Flagge des Papstes: Für den Sieg Putins?

Ein Hinweis  von Christian Modehn am 11.3.2024.

Darüberhinaus stellen wir die 16. der “Unerhörten Fragen”:
„Warum hisst der Papst nicht selbst die weiße Fahne in seinem Vatikan und ruft endlich den Reform-Katholiken entgegen: Ihr habt recht, Ihr habt mit euren richtigen Reform-Vorschlägen gesiegt. Meine theologischen Positionen waren falsch“…

1.
„Die weiße Fahne hissen“ – das bringt Papst Franziskus jetzt in die Debatten ein auf der Suche nach einem gerechten Frieden für die Ukraine. Der Papst wünscht offenbar, dass die Ukraine die weiße Flagge hisst. Eine Niederlage wäre das, für die Ukraine und die demokratische Welt. Die Idee der weißen Flagge hat uns aber nicht losgelassen und wir bedenken dieses Symbol eben in anderem Zusammenhang auch, darum diese 16. „Unerhörte Frage“.
Man könnte nun meinen, diese 16. Frage in unserer Reihe „Unerhörte Fragen“ sei nun wirklich unerhört und etwas frech. Denn angesichts der Äußerungen des Papstes für das Schweizer Fernsehen RSI im März 2024 geht es um Leben und Tod, nicht um die ewige Leier der ständig besprochenen theologischen Querelen. Ihnen ist im katholischen Zusammenhang sicher nur mit Ironie noch beizukommen.

Darum vorweg diese Informationen: Was sagte der Papst, veröffentlicht am 11.3.2024, im Interview für den Schweizer Sender RSI: Die Ukraine (und damit der Westen) möge doch die „Weiße Flagge“ der Unterwerfung hissen und diese offenbar ehrerbietig Putin entgegen halten… Was der greise Papst Franziskus da so alles plaudert, ist verstörend und zumal für die UkrainerInnen und ihre UnterstützerInnen ein Skandal.

2.
Man muss sich zunächst fragen: In welcher Funktion spricht da eigentlich Franziskus/Mario Bergoglio? Spricht er als Papst, also als oberster Seelsorger und Hirte der Katholiken? Oder spricht er – seiner immer problematischen Doppelrolle entsprechend – als Chef des Staates Vatikanstadt: Diese politische Rolle als politischer Wahl – Monarch eines Zwergen – Staates (ca.700 Bürger) nützt der spirituelle Chef „Papst“ öfter aus, um sich weltpolitisch einzuschalten. Und um aufgrund seiner Heiligkeit („Heiliger Vater“) und des ehrwürdigen Ambiente des Vatikans von vielen noch ernst genommen zu werden. Sollen die Leute denken: Der „heilige Vater“ sagt etwas, o Gott, da muss man in die Knie gehen, wird schon stimmen, was er sagt… Aber hat der greise Wahlmonarch im Vatikan wirklich so viele intime und geheime Kenntnisse des Weltgeschehens, dass er meint, sich in die Debatten kompetent einmischen zu dürfen? Oder setzt er nur auf seine angeblich Autorität als „heiliger Vater“…Vielleicht sollte man mal den Dalai Lama fragen, wie es mit der Ukraine weiter geht. Und vielleicht sagt er dann nach altbekannter Manier die wegweisenden Worte: „Die Liebe ist das Höchste“.
Nebenbei: Papst Pius XII. schaltete sich öffentlich viel zu selten ein, um den Massenmord an den europäischen Juden zu verhindern. Vielleicht will da der Staatschef Papst Franziskus irgendwas „gut machen“? Bloß wem nützt er tatsächlich? Im Falle der Interview-Äußerung eindeutig dem Diktator Putin.

3.
Der „Spiegel“ berichtet, das genannte Interview mit dem Schweizer Fernsehen RSI wurde bereits im Februar 2024 geführt, es soll aber erst am 20.März 2024 gesendet werden.
Man darf sich fragen: Hatte der Papst vor diesem Interview mit dem russischen Patriarchen und Putins Chefideologen Kyrill telefoniert? Im März 2022 sagte Kyrill nach dem Telefongespräch mit dem Papst: Er hoffe, „dass so bald wie möglich ein gerechter Frieden erreicht werde“ (SZ, 24.3.2022). Der Papst ist bekanntermaßen von Kyrill I . sehr angetan, der Papst will unbedingt die Ökumene mit Russland, mit den Orthodoxen, fördern; der Papst war sich nicht zu schade, schon 2016 den Patriarchen Kyrill ausgerechnet in KUBA zu treffen, in diesem kommunistischen Regime fühlte sich der ehemalige KGB Mitarbeiter Kyrill besonders wohl.
Wie wäre es, wenn der Papst mal nach Kiew fährt? In der hübschen Mongolei war er im vergangenen Jahr einige Tage lang (offenbar in Erwartung, dort den Patriarchen Kyrill zu treffen), in diesem Jahr will der Papst nach Belgien reisen, warum also nicht alsbald mal nach Kiew?? „Falls er dort von russischen Attacken ermordet wird, hätte er große Chancen, sofort als Martyrer zu gelten und damit den wichtigsten Schritt zur Heiligsprechung erreicht zu haben“, das schreibt uns ein Freund aus Kiew, sichtlich erregt über die Äußerungen des Papstes.

4.
Der Papst sagte also in dem Interview mit dem Sender RSI den Ukrainern und dem Westen: „Schämt euch nicht, zu verhandeln, bevor es noch schlimmer wird“. „Wenn man sieht, dass man besiegt ist, dass es nicht gut läuft, muss man den Mut haben, zu verhandeln”, Er sei der Ansicht, dass derjenige Stärke zeige, „der die Situation erkennt, der an das Volk denkt, der den Mut hat, die weiße Flagge zu hissen und zu verhandeln.“ Welche Verdrehung der Tatsachen: Die Ukraine ist doch nicht besiegt! Und Putin lehnt echte Verhandlungen, die den Namen verdienen, ab. Friede heißt für ihn: Die besetzten Gebiete der Ukraine zu Russland zuschlagen und dann weiter gegen Europa zuschlagen.

5.
Woher nimmt Papst Franziskus seine Kenntnis, um zu behaupten: Die Ukraine sollte den Mut haben, eine »weiße Fahne« zu hissen und ein Ende des Kriegs mit Russland auszuhandeln. Der Papst denke, »dass der Stärkste derjenige ist, der die Situation betrachtet, an die Menschen denkt, den Mut der weißen Fahne hat und verhandelt«, sagte Franziskus in dem Interview mit dem Schweizer Sender RSI. (Quelle, Spiegel online. 9.3.2024).
Denkt der Papst in den Kategorien der schlichten Alltagsweisheit „Der Klügere gibt nach“? Dies ist ein Spruch, der seine Gültigkeit etwa hat, wenn sich zwei Nachbarn streiten über die Farbe des Gartenzaunes. Aber gilt diese Alltagsweisheit noch angesichts eines Diktators Putin? Hätte Papst Pius XII. etwa den wenigen Widerstandskämpfern gegen die Nazis zurufen sollen: Der Klügere gibt nach, hört auf mit eurem Widerstand“?

6.
Über diese Vorschläge des Papstes im März 2024 kann sich nur Russland freuen, und auch die mit Russland verbundenen rechtsradikalen und linksradikalen Parteien in Europa: Die Diktatur Putins reagierte prompt und hoch erfreut: “Einer der wenigen zustimmenden Kommentare zu den Vorschlägen des Papstes kam aus Moskau. Dort erklärte die Sprecherin des Russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, Franziskus habe eigentlich nicht Kiew, sondern dem Westen geraten, Verhandlungen zu beginnen. Leider habe der Westen das ukrainische Volk und den Weltfrieden geopfert, um seine Ziele zu erreichen. Nun bittet der Papst “den Westen, seine Ambitionen aufzugeben und einen Fehler zuzugeben”, sagte Sacharowa laut der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Tass; sie fügte hinzu, Russland habe nie Verhandlungen blockiert.“ (Quelle: am 10.3.2024: https://www.katholisch.de/artikel/51745-viel-kritik-am-werben-des-papstes-fuer-weisse-fahne-der-ukraine).

7.
Nun zu unserer 16. der „unerhörten Fragen“: 
Sollte Papst Franzislkus nicht am besten sofort eine große weiße Fahne im Vatikan anfertigen lassen (ein großes päpstliches Laken reicht nicht) und diese weiße Flagge im Apostolischen Palast auch Richtung Deutschland oft schwenken?? Und laut verkünden, am besten mehrfach: „Ich ergebe mich, ich bin auch theologisch etwas veraltet und nicht mehr mutig: Und ich sage nun als Papst feierlich: Die Reformkatholiken in Europa haben recht: Ab sofort wird dieser theologische und menschliche Unsinn “Zölibatsgesetz” für Priester abgeschafft. Und: Ab sofort sind die Frauen voll respektierte, vollständig gleichwertige Mitglieder der römisch – katholischen Kirche. Frauen können selbstverständlich auch ab sofort Priesterinnen werden.“

8.
Der Papst hat also seine Niederlage gegenüber den Reformkatholiken weltweit zugegeben, die weiße Flagge schwenkend ruft er: „Ich hisse meine weiße Flagge auf dem Petersplatz. Jetzt kann die Kirche endlich eine Gemeinschaft werden, die den Namen Kirche Jesu Christi wirklich etwas mehr verdient.

9. Am 15.3.2024 ergänzt: Dr. Regina Elsner, Mitarbeiterin am “Zentrum für Osteuropa “in Berlin (ZOIS) hat einen ergänzenden interessanten Beitrag verfasst in “Christ in der Gegenwart”: LINK.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Kann die katholische Kirche wirksam die Demokratie verteidigen?

Die 15. der „unerhörten Fragen“.
Von Christian Modehn, 11.9.2023.

Die unerhörte Frage heißt:
Kann die katholische Kirche überhaupt die Demokratie glaubwürdig verteidigen, weil diese Kirche sich selbst ausdrücklich als „nicht-demokratisch“ definiert?

Die kurze Antwort: Die katholische Kirche kann gar nicht glaubhaft und wirkungsvoll für Demokratie und demokratische Werte eintreten, weil sie selbst undemokratisch verfasst ist und auch heute bewusst, explizit nicht-demokratisch organisiert sein will…. und die universal geltenden Menschenrechte in ihrer eigenen Organisation nicht respektiert. Von demokratischer Transparenz kann in dieser Kirche mit dieser Struktur keine Rede sein.

Diese Erkenntnis gilt, selbst wenn jetzt in einer umfangreichen Studie der Historiker Francois Huguenin (“La grande conversion”, Ed. du Cerf, Paris, 2023) ins Schwärmen kommt, wie sehr doch und so großartig das 2. Vatikanische Konzil die Menschenrechte anerkannt habe. Verglichen mit der extremsten Feindschaft der Päpste gegenüber den Menschenrechten bis ca. 1900 hat Huguenin ja recht. Aber man beachte: Das Stichwort “Menschenrechte kommt im Sachregister des “Kleinen Konzilskompendium”, der Sammlung aller offiziellen Texte des 2. Vatikanischen Konzils, nur einmal vor. Und das Stichwort “Demokratie” nur 2 mal, ohne dass dabei an den angegebenen Stellen das Stichwort selbst erwähnt wird. Also: Im offiziellen Selbstverständnis der römischen Kirche spielen weder Menschenrechte nich Demokratie eine herausragende Rolle.

Der aktuelle Hintergrund:
1. Der Päpstliche Nuntius in der Europäischen Union, Bischof Noel Treanor, sagte in Berlin am 4. 9.2023: „Wir alle stehen in der Verantwortung, mit unserer Demokratie achtsam umzugehen“ (Quelle: Tagesspiegel, Berlin, 6.9.2023, S. 32). „Unsere Demokratie“? Damit meint der Bischof sicher nicht die Verfassung seiner Kirche.
Denn die römisch-katholische Kirche definiert die Verfassung ihrer Organisation ausdrücklich als „nicht-demokratisch“, sondern als von Gott gestiftete „heilige Herrschaftsordnung“. Die Kirche glaubt, sie besitze die absolute Wahrheit, die vom Klerus verwaltet und verteidigt wird. Und der Klerus lässt nicht demokratisch über die Kirchen-Verfassung verfügen.

2. Die Stellungnahme von Bischof Treanor ist keineswegs eine Ausnahme: Nur zwei Beispiele: Erzbischof Rino Fisichella von der Päpstlichen Lateranuniversität sagte 2009: „Die Kirche, die sich auf Prinzipien beruft, die einen höheren als den menschlichen Ursprung haben, könnte niemals eine irgendwie geartete Einmischung des Staates in ihre Inhalte akzeptieren“ (zit in: Corrado Augias, Die Geheimnissee des Vatikan. C.H.Beck Verlag, 2011, S. 443). Mit anderen Worten: Vernünftige Kritik selbst von demokratischen Staaten lehnt die Kirche ab, weil sie behauptet, „einen höheren als einen menschlichen Ursprung zu haben“, d.h. diese Kirche schottet sich als Burg und Insel ab…
Die römisch-katholische Kirche ist als bewusst nicht-demokratische Organisation so unbescheiden, offiziell zu verlangen, dass „sich die Politiker in ihren Urteilen und Entscheidungen nach der geoffenbarten Wahrheit über Gott und den Menschen richten , so in § 2244 im offiziellen römischen „Katechismus der katholischen Kirche“, München 1993, S. 572).

3. Die Kirche mit dem Papst an der Spitze wird von Politologen treffend als absolute „Wahl-Monarchie“ definiert. Und der Papst ist zugleich auch Staatschef des Völkerrechtssubjekts „Heiliger Stuhl“ und in dieser Position nicht demokratisch legitimiert.

4. Der Papst und Bischöfe und Priester verteidigen zwar – endlich – erst seit etwa 60 Jahren (!) – mehr oder weniger wirksam in der Öffentlichkeit die universal geltenden Menschenrechte. Aber trotz aller feierlichen Reden: Demokraten können diesen Worten nicht so richtig vertrauen: Denn die Kleriker lassen die universal geltenden Menschenrechte (etwa in der Erklärung von 1948) in der eigenen Organisation, der römisch-katholischen Kirche, nicht gelten, siehe etwa die Degradierung der Frauen in dieser Kirche im Hinblick auf den Zugang zu den klerikalen Ämtern, etwa dem Priesteramt. Dafür beruft sich diese Organisation in einer fundamentalistischen Bibel – Interpretation auf Jesus-Worte im Neuen Testament.

5. Indem die Kirche die Frauen letztlich als nicht vollumfänglich- gleichberechtigte Personen anerkennt, entsteht direkt und indirekt der Eindruck: Eigentlich sind Frauen nur Wesen zweiter Klasse. Frauen nicht zu respektieren, sie zu schlagen, auszugrenzen usw. ist deswegen eher normal und entspricht irgendwie vielleicht sogar dem kirchlich propagierten Willen Gottes. Die katholische Kirche ist also direkt und indirekt Schuld an dem miserablen Zustand der Frauenrechte zumal in katholischen Ländern, wie Polen oder Lateinamerika.

6. Und wie soll ein Papst, der den homosexuellen Katholiken nicht volle Gleichberechtigung in seiner Kirche zugesteht, man denke etwas das päpstliche Verbot der Ehe für Homosexuelle, an das Zulassungsverbot zum Priesteramt für offen homosexuelle Männer, wie soll also ein solcher Papst tatsächlich wirksam gegen die aktuelle Verfolgung von Homosexuellen in Uganda protestieren: Da können doch die dortigen katholischen Homo-feindlichen Politiker nur lachen über päpstliche Worte…

7. Weil die katholische Kirche explizit und gewollt als nicht-demokratische Organisation auftritt, kann sie es sich auch erlauben, in Situationen, in denen ihre Verhaltensweisen zu demokratischer Kritik oder juristischem Klärungsbedarf aufrufen, ihre transzendente Sonderrolle („über dem Staat befindlich“) durchzusetzen. Die totale Intransparenz der offiziellen kirchlichen Gebaren ist ein Schutz für die absolute Wahlmonarchie des Papsttums und des Klerus.

8. Wenn man in der demokratischen Öffentlichkeit die Verteidigung der Demokratie und der Menschenrechte durch diese Kleriker noch ernst nimmt, dann nur, wenn man die Kleriker als Bürger eines demokratischen Rechtsstaates wahrnimmt, nicht aber als Vertreter dieser Organisation und deren Theologie. Tatsächlich leisten Mitglieder dieser Kirche wichtige Arbeit im Sinne der Menschenrechte, aber dann, wie gesagt, immer als demokratisch gesinnte Bürger, nicht aber Mitglieder einer explizit antidemokratischen Organisation Kirche. Oder sie folgen eigenwillig „nur“ den Weisungen Jesu und eben den Vorschriften ihrer Kirchenführer.

9. Die katholische Kirche steht sich mit ihrer bewusst akzeptierten antidemokratischen Struktur (angeblich von Gott so gewollt) selbst im Wege, wirksam für parlamentarische Demokratie, für den Rechtsstaat im Sinne der Menschenrechte, einzutreten. Alle noch so gutgemeinten Appelle und Enzykliken der Päpste und Bischöfe der letzten 50 Jahren sind in dem Sinne letztlich politisch wirkungslose Erzeugungen von Papierbergen. Die demokratische Öffentlichkeit glaubt den klerikalen Verfassern einfach nicht deren demokratische Gesinnung, die sie als Kleriker dieser Kirche ja ohnehin nicht haben dürfen, sondern nur als Bürger eines demokratischen Staates. Aber die Kirchenführer sprechen in ihren Texten eben als die „Besonderen“, als Kleriker und nicht einfach nur als Bürger eines bestimmten Staates.

10. Aber das Eintreten von Päpsten und Bischöfen für die Menschenrechte wird offiziell bis in höchste politische Kreise doch ein paar Tage lang wohlwollend registriert, bevor das Vergessen einsetzt. Dabei haben die meisten Politiker und Journalisten auch längst vergessen, dass da Vertreter einer kirchlichen Organisation sprechen, die eine sehr lange Geschichte der Menschenverachtung, der Verfolgung, der Unterdrückung von so genannten Minderheiten, Abweichlern, Juden, Häretikern usw. vorweist. Die katholische Kirchenführung kann sich „glücklich“ nennen, dass die Menschen so schnell vergessen, auch die Missstände und Verbrechen der Kirche. Wer weiß wirklich etwas vom immensen Immobilienbesitz des Vatikans, vom Immobilieneigentum der angeblich „armen“ Ordensgemeinschaften nicht nur in Rom, von den Subventionen, die der italienisch Staat dem Vatikan an Unterstützung und Steuerbefreiungen leistet: Der genante Vatikan-Spezialist Corrado Augias nennt in seinem Buch die Summe der Leistungen Italiens an den Vatikan: Es sind jährlich etwa 9 Milliarden Euro (S. 291).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

West – Berlins zentrale Kirche: Benannt nach einem Kolonialherren und Rassisten. Wann erhält die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche einen Namen, der einer christlichen Kirche angemessen ist?

Die  14. der “unerhörten Fragen”.

Von Christian Modehn.

1.
In Berlin – Charlottenburg erlaubt es sich die Evangelische Kirche immer noch, das zentrale kirchliche Gebäude am Breitscheid – Platz nach „Kaiser Wilhelm“ (dem Ersten) zu nennen, das so genannte Gotteshaus heißt also „Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche“. Die entscheidende Frage: Wann ist endlich Schluss mit dieser politischen und theologischen Frechheit? Der Historiker Prof . Jonas Kreienbaum (F.U.Berlin) über Kasier Wilhelm II. und den Genozid: LINK
2.
Weil dieser Titel der Kirchenleitung und der dortigen Gemeinde seit einiger Zeit offenbar selbst doch irgendwie peinlich geworden ist, wird der Name nun schamhaft auf „KWG“ gekürzt oder das Gebäude wird nur „Gedächtniskirche“ genannt. KWG klingt nach irgendwie auch nach KaDeWe, und „Gedächtniskirche“ suggeriert, es gebe ein heiliges Gedächtnis als Titel einer Kirche…
3.
Zu einem definitiven Verzicht auf diesen Titel können und wollen sich weder die Berliner Kirchenführung noch Gemeinde durchringen.
Einige evangelischen Christen wissen doch längst, dass Kaiser Wilhelm I. ein Kolonialherr übelster Sorte war, sie wissen, dass auch Wilhelm II. dem Ungeist seines Großvaters entsprach. Die Frage also ist: Verzichten Kirchenleitung wie Gemeinde auf eine Befreiung von diesem unsäglichen Namen für ein so genanntes Gotteshaus deswegen NICHT, weil sie Angst haben vor einer gerichtlichen Auseinandersetzung mit dem mächtigen Hause Hohenzollern?
4.
Denn sonst würde man nicht so blind und taub reagieren auf die Fülle der wissenschaftlichen Publikationen, die das Thema Kolonialherrschaft und Rassismus in Preußen (bzw. schon in Brandenburg) in Verbindung mit den Königen und Kaisern dokumentieren. Die Kolonialherren waren ja, man erinnere sich, zugleich die obersten Chefs dieser sich protestantisch (lutherisch etc…) nennenden Kirche. Sie war also de facto, nicht zu leiugnen, eine Kaiser-Kolonial-Herren-Kirche also. Ein trauriges Kapitel einer „Obrigkeitskirche“…
5.
Gerade jetzt findet im Schloss Charlottenburg die Ausstellung „Schlösser.Preußen.Kolonial“ noch bis zum 31.Oktober 2023 statt. Überraschende Zeugnisse der Verachtung, Ausbeutung und Versklavung von schwarzen Menschen durch die genannten Herrscher in Berlin werden gezeigt und in einem Begleitbuch beschrieben. LINK
6.
Hochinteressant ist ein Hinweis im Begleitbuch zur Ausstellung, ein Hinweis, der sich auf das Reiterstandbild des Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1620-1688) bezieht, zu dessen Füßen vier in Ketten gefesselte Männer sitzen und knien. Das Denkmal wurde auf Wunsch von Friedrich III., dem späteren König Friedrich I., 1708 errichtet: Er war es, der starke Ambitionen zum Sklavenhandel in Westafrika (dem heutigen Ghana) hatte. Die gefesselten Männer wurden auch als Gestalten aus dem Sklavenhandel populär gedeutet … bis hin in das Herrscher-Haus.
7.
In dem genannten Buch wird treffend berichtet: „So soll Kaiser Wilhelm I. nach dem Erwerb von Kolonien ehrfürchtig gesagt haben, dass er nun mit gutem Gewissen vor dieses Reiterstandbild treten könne: Da er, Wilhelm I., das koloniale Vorhaben des Kurfürsten, so wörtlich: `aufgenommen und weiter ausgebildet` habe.“ (S. 13 in dem Begleitbuch zur Ausstellung, mit Verweis auf das Buch von Ferdinand Schmidt, `Kaiser Wilhelm I. und seine Zeit`, Berlin 1893 (sic), dort Seite 450).
8.
Die Ausstellung zum Kolonialismus und Rassismus und zur Sklaverei in Preußen ist für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin einmal mehr ein Anlass, dringend wenigstens eine öffentliche und umfassende breite Debatte zur Umbenennung der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche anzuregen. Auf dieser unserer Website wurde schon seit Jahren mehrfach für die dringende Umbenennung dieser nach einem Kolonialherren genannten Kirche plädiert, LINK, entsprechende e-mails an die Herren und Damen der Kirchenleitung blieben unbeantwortet, einzelne PfarrerInnen auch aus der KWG deuteten ihr Verständnis für diese unsere Forderung an und hatten aber Angst, sich öffentlich für die Umbenennung dieser Kirche KWG und Gedächtniskirche einzusetzen. Wer erzeugt da diese Angst?
9.
Man hat als Religionskritiker, denn um Religionskritik geht es auch in unserem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon, den Eindruck, dieser Titel „Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche“ sei so etwas wie ein „Allerheiligstes“ dieser Berliner Kirche.
10.
Ändert die Berliner Kirchenführung nicht alsbald diesen unsäglichen Namen für ein so genanntes Gotteshaus, dann werden alle auch im evangelischen Kreisen (Akademien etc…) geführten Debatten über Rassismus und Kolonialismus im allgemeinen unglaubwürdig…

Das Begleitbuch zur Ausstellung im Schloss Charlottenburg:
„Schlösser. Preussen. Kolonial“. Herausgegeben von der Stiftung Preussische Schlösser und Gärten. Berlin-Brandenburg. Sandstein Verlag, 2023, 18 Euro.

Eine wichtige Chronologie der deutschen Kolonialgeschichte: LINK

Zur Umbenennung der nach Kaiser Wilhelm genannten Universität in Münster “Westfälische Wilhelmsuniversität”, siehe den wichtigen Beitrag des WDR: LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Gott im Ukraine-Krieg. “Wenn es Gott gäbe, hätte er die Tragödie, die die Ukrainer erleben, nicht zugelassen“.

Religionsphilosophische Überlegungen zu einer Aussage von Oksana Ivanets, Oberstleutnant der Ukrainischen Armee. Publiziert im „Tagesspiegel“ am 8. Mai 2023, S. 10.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 9. Mai 2023. Die 13. der “unerhörten Fragen”.

1.
Jede und jeder kann seinen Glauben frei aussagen. Das ist selbstverständlich. Aber jedes individuelle Glaubensbekenntnis, bezogen auf eine göttliche Wirklichkeit, auf Gott, kann und sollte philosophisch befragt werden. Gedankliche Klarheit kann das Leben nicht nur erleichtern, sondern helfen, es neu und besser zu gestalten.

2.
Die totale Verzweiflung Okasana Ivanets ist verständlich: Die Region um die bedeutende ukrainische Stadt Charkiw wurde von den russischen Truppen aufs übelste fast völlig zerstört, selbst Krankenhäuser mit ihren PatienTinnen wurden vernichtet. Menschliches Leben ist in den Ruinen nicht möglich. Die Felder sind von russischen Minen übersät, die Aufräumarbeiten werden viele Jahre dauern. Es ist schwer für die Menschen (nicht nur dort), überhaupt noch Hoffnung zu bewahren. Und dann wird von den oft noch frommen UkrainerInnen die Frage gestellt: Warum hat Gott dieses Grauen, dieses sinnlose Töten der russischen Mörder, nicht verhindert? Oksana Ivanets hat offenbar den Glauben an einen allmächtigen, treu sorgenden Gott verloren.

3.
Wer Gott als einen allmächtigen, immer wieder aktuell Wunder wirkenden und ins Weltgeschehen eingreifenden Gott versteht, wie offenbar Oksana Ivanets, kann an diesem Gott verzweifeln. Und wird damit neue Antworten suchen zu der nicht abzuweisenden Frage: Was ist der Sinn dieses Grauens, dieses Mordens, dieses Krieges. Eindeutige, sozusagen mathematisch unbedingt beweisbare Antworten kann es zu diesem philosophischen Thema nicht geben.

4.
Es kann aber gefragt werden: Wie sinnvoll ist es, eine göttliche Wirklichkeit, einen Gott, für das Kriegsgeschehen verantwortlich zu machen. Die grundlegende ERKENNTNIS ist: Ein solches Denken lenkt ab von der Verantwortlichkeit der Menschen, der Politiker vor allem, für diesen Krieg … wie für alle Kriege, die jemals von verblendeten Menschen in ideologischem Wahn geführt wurden. Und genauso wichtig: Wer Gott als Täter – parteiisch – im Krieg will, folgt einem, mit Verlaub gesagt, naiven Gottesbild. Es wurde von den Kirchen und ihren alten Dogmen zwar mit dem Inhalt vermittelt: „Gott handelt”. Aber es wurde nicht gesagt: Gott handelt nur durch die freie Entscheidung der eigentlich vernünftigen Menschen,

5.
Lassen wir also Gott in dieser konkreten politischen Frage beiseite. Fragen wir nach den Menschen, vor allem den Politikern, den Machthabern, in diesem brutalen Geschehen. Denn sie sind, die Kriege planen, Kriege ausführen, Männer als Soldaten, als Kanonenfutter, in die Schlacht schicken, sie sind es, die vom Schreibtisch aus mit Bomben humanes Lebens auslöschen.
Es sind also konkrete Menschen mit konkreten Namen, so genannte Politiker, die dieses Grauen ausrichten. Die politischen Täter (Verbrecher) wurden aber zugelassen in ihrem Tun von Politikern der benachbarten oder ferneren Staaten. Diese haben aus Mangel an kritischer Kraft, aus Bequemlichkeit, aus ökonomischen Interessen die sich aufbauenden Mörder-Politiker (etwa in Russland) zugelassen.

6.
Es ist also menschliche Dummheit, politische Nachlässigkeit, ökonomische Gier, die auch unter demokratischen Politikern den langsamen Aufbau politischer Gewalttäter wie in Russland zugelassen haben.

7.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine, gegen die Freiheit, gegen die Demokratien und Menschenrechte ist also eindeutig Schuld der Menschen. Und Schuld der Politiker, die von diesen Menschen, selbst oft unkritisch, gedankenlos, egoistisch, nationalistisch, gewählt wurden. Diese Leute und die von ihnen gewählten Politiker sind nicht der besseren Einsicht gefolgt, haben im Falle Putins nicht rechtzeitig STOP gesagt und gewaltfreie Aktionen und Sanktionen gegen ihn eingeleitet. Dass eine Gestalt wie Putin und sein System so übermächtig gewaltsam werden konnten, verweist auch auf das völlig unterentwickelte demokratische Bewusstsein in Russland. Die orthodoxe Kirche wurde seit 1990 nie eine Kraft, die die Verteidigung der Menschenrechte genau wichtig fand ihre Weihrauch umwölkten stundenlangen Liturgien in altrussischer Sprache. Dieser Kirche war und ist Dogmatismus und Nationalismus wichtiger als die Ausbildung des Volkes in den Menschenrechten. Und diese russisch-orthodoxe Kirche ist seit 1961 Mitglied im „Ökumenischen Weltrat der Kirchen“ in Genf: Aber diese Theologen aus aller Welt dort ist es offenbar nicht gelungen, diesen russischen Patriarchen und Popen die Verteidigung der Demokratie und der Menschenrechte als obersten Auftrag einer jeden sich christlich nennenden Kirche einzuschärfen. Stattdessen hat man sich in Genf theologisch hübsch ausgetauscht, und statt auch von Russland bzw. damals der Sowjetunion kritisch zu sprechen, hat man im Ökumenischen Weltkirchenrat eher von Südafrika geredet, was ja richtig war, aber eben einseitig. Die Nachlässigkeit im Umgang mit den russischen Patriarchen sieht man jetzt. Und Papst Franziskus sieht sich so stark, dass er unbedingt Patriarch Kyrill I. In Moskau treffen und „bekehren“ will. Eine Aktion, leider verspätet. Zu vieles wird versäumt…

8.
Damit sollte klar sein: Gott ist nicht schuldig am Morden und Grauen im Krieg Russlands gegen die Ukraine und die Demokratien. Was hätte Gott denn vom Himmel aus Tun sollen? Mit einem göttlichen Blitz etwas den Kreml auslöschen oder den Patriarchen zum Christentum führen sollen oder was? Wenn man schon von Gott redet, sollte man wissen: Das Göttliche hat als Schöpfer der Welt (als einem evolutiven Geschehen !) den Menschen Geist und Verstand gegeben, also die einzigartige Möglichkeit, in reflektierter Freiheit das Leben, auch die Politik, zu gestalten. Diese Freiheit vollzieht sich immer in einer inneren, geistigen Reflexion, die man klassisch Gewissen nennt. Kriege sind Ausdruck dafür, dass Menschen, dass Politiker, nicht auf ihr Gewissen achten, also nicht auf die Stimme der allen Menschen gemeinsamen humanen Vernunft hören.
Nebenbei: Was wäre wenn die aktuellen Gebetswünsche der Russen „Gott hilf, dass wir die Ukraine auslöschen“, von Gott erfüllt würden? Wie parteilich darf Gott eigentlich sein, in diesem naiven Gottesbild?

9.
Kriege sind also Menschensache, und damit eigentlich zu verhindern, wenn denn Menschen auf ihre Vernunft achten, auf Ihr Gewissen, und achtsam reagieren, wenn sich in dieser Welt Gewaltherrscher etablieren. Aber viele Menschen in den Demokratien sind ja froh über diese Fehlentwicklungen, dann können sie den Gewaltherrschern und ihren Regimen Waffen verkaufen… Und Politiker können ihre nationalistischen Ambitionen ausleben. Alles das ist unvernünftiges, inhumanes Tun. Es hat aber mit Gott nichts zu tun. Es sei denn, man klagt ihn als „Schöpfer“ dieser Welt an, den Menschen überhaupt die Freiheit gegeben zu haben. Hätte der Mensch aber keine Freiheit, wäre er kein Mensch, sondern ein den eigenen Trieben folgendes Tier. Aber diese Tiere – ohne Freiheit – gehen ja mit anderen Tieren auch nicht immer freundlich um. Fressen und Gefressenwerden ist das Motto. Die Menschen aber sind eigentlich zu anderem fähig. Aufgrund ihrer Vernunft, ihres Gewissens. Aber beides „lieben“ die Menschen immer besonders, wenn Vernunft und Gewissen schlafen, stillgestellt sind…Und der Egoismus sich durchsetzen kann…

10.
Solange Friedenserziehung für Kinder und für Erwachsene in allen Ländern nicht Pflichtfach über mehrere Jahre ist, wird es immer wieder Kriege geben. Dies ist eine optimistische, vielleicht auch utopische Erkenntnis. Aber sie ist viel mehr wert als einen Gott fürs Kriegsgeschehen verantwortlich zu machen.

11.
Ist aber der Krieg einmal Realität, wie jetzt in der Ukraine, kann das stille und schreiende Gebet des leidenden einzelnen eine Hinwendung zu einer göttlichen Wirklichkeit sein, als Suche nach einem letzten spirituellen Halt, einem letzten Sinn „trotz allem“. Gebet ist also als eine poetische Form der seelischen Beruhigung und damit der reflektierten Akzeptanz des Geheimnisses menschlicher Freiheit. Was bleibt, wenn wir die Idee einer vernünftigen humane Weltordnung aus Resignation aufgeben?

12.
Befreien wir uns also davon, Kriegsgeschehen und Gott in Verbindung zu bringen. Aber die Frommen und die Weniger Frommen neigen immer wieder dazu. Jetzt wird etwa Gott in die furchtbare Trockenheit in Italien, Spanien, Frankreich einbezogen. Er, Gott als Wettergott ???, soll Regen schicken. Ein naiver Wunsch: Und ein Wahn. Es ist doch der fehlende Respekt der Menschen vor der Natur und vor allem vor dem Klima, der zu dieser gefährlichen Trockenheit führt. Anstelle von Regen-Bitt-Prozessionen sollte politische und ökologische Aufklärung in den Kirchen geschehen: Wie viel Wasser wird seit Jahren – durch schlechte Leitungen – vergeudet in den Obst-Plantagen im Süden Spaniens usw… Dies ist ein anderes, aber ähnliches Thema, das, nebenbei gesagt, zeigt, wie dringend kritische religionsphilosophische Überlegungen bleiben. Aber die Predigten der Pfarrer preisen nach wie vor einen Kriegsgott oder einen Wetter-Regen-Gott. Manchmal ist es zum Verzweigfeln mit der Unwissenheit und Dummheit des Klerus…

13.

Hat dann Gott/das Göttliche nichts mehr mit der Welt und den Menschen, den Ereignissen in der Welt etc.zu tun? In einer kritischen Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie ist die Antwort klar: Gott/das Göttliche wirkt als solcher/solches nicht unmittelbar als solcher. Da Gott/das Göttliche aber als “Schöpfer” der Evolution und des Menschen (und des menschlichen Geistes) gedacht werden kann, wirkt Gott/das Göttliche durch den von ihm geschaffenen GEIST, der Vernunft, der Empathie IM Menschen auch in der Welt etc.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Was heißt „philosophisch fasten“? Die 12. „der unerhörten Fragen“.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 4.3.2023.

Was bedeutet „unerhört“? „Unerhört“ werden außerordentliche Themen genannt. Unerhörte Fragen müssen entfaltet, beschrieben werden, um ihre provokative Kraft zu bezeugen.

1.
Hat Philosophie zum Fasten und zur „Fastenzeit“ etwas Konstruktives, Weiterführendes, Kritisches beizutragen?
Wenn man Philosophien als Interpretationen des geistvollen Lebens versteht: Dann ist das gar keine Frage. Nur: Diese Frage wurde bisher kaum gestellt, kaum gehört, bleibt unerhört.
2.
Schon im Blick auf die neuzeitliche Geschichte des Philosophierens zeigt sich: Mit dem Fasten haben sich Philosophen, etwa Kant und Nietzsche, immerhin, mit knappen Aussagen, beschäftigt. Sie haben dabei Fasten im engeren Sinne, der kirchlichen Tradition folgend, als Verzicht auf üppige (fleischliche) Nahrung verstanden. Nietzsche wetterte in seiner „Genealogie der Moral“ (1887) gegen das Fasten als eine Form des „Pharisäismus“, und er kritisierte die Bereitschaft der Fastenden, sich selbst Leiden und Schmerzen (durch Hungern) anzutun. Und Kant sah im katholisch geprägten Fasten nichts als eine „Mönchs-Asketik“, die „mit abergläubischer Furcht vor Gott verbunden ist“ (so in der „Metaphysik der Sitten“, 1797).
Kant nennt eher beiläufig das entscheidende aktuelle Stichwort, auf das wir uns – nach einleitenden Überlegungen – konzentrieren: Kant sprach von „Askese“, d.h. von „geistiger und körperlicher Übung“, im Lateinischen „Exercitium“ genannt, dies sind die zentralen Leitbegriffe griechischer und römischer Philosophen der Antike in ihrer Suche nach „Lebenskunst“.
3.
Heute gilt Fasten jenseits religiöser, spiritueller und philosophischer Traditionen als ein gesundheitlicher, auch medizinischer Wert. Fastenzeit im „säkularen Sinn“ ist dann nicht mehr als eine besondere (finanziell oft teure) Phase in der üblichen Pflege des eigenen Wohlbefindens, der eigenen guten Figur.
4.
Gelegentliches Fasten (in „Fastenzeiten“ oder Fastenkuren gegen das Übergewicht etc.) hat in der reichen Welt sozusagen dialektisch viel mit andauerndem „Fasten“ als dem ständigen Hungern (oft auch Verhungern) von Millionen Menschen im armen Süden dieser Welt zu tun. Sie müssen „fasten“ aufgrund des ungerechten Weltwirtschaftssystems. Wenn das so ist, dann hat das von unserer Ökonomie erzwungene Dauer-Fasten der Armen viel mit „Fasten“ der (häufig übergewichtigen) Reichen in den „Wachstumsgesellschaften“ zu tun. Beide Arten zu fasten sind zwei Gesichter der herrschenden neoliberalen „(Un)-Ordnung“ und ihres Dogmas des „ständigen Wachstums“.
Ein historischer Hinweis: Im Mittelalter fasteten die ohnehin stets gut versorgten Mönche und Nonnen, sie verzichteten auf Fleisch, aßen viel Fisch und tranken starkes Bier. Sie blieben also gut versorgt und … beleibt. Die arme Bevölkerung, die Frommen, die für das Kloster arbeiteten, fasteten das ganze Jahr über…
Aber es gibt heute bei vielen Menschen im „reichen Norden“ doch ein Unbehagen an dieser Situation der ungerechten Verteilung der Güter. Sie entdecken darum ihr Fasten auch als geistigen Prozess, als Suche nach dem eigenen, dem wahren Leben inmitten eines falschen, d.h. ungerechten Lebens.
5.
Und damit sind wir beim philosophischen Thema: Gibt es ein besonderes Fasten, das als kritisches Nachdenken gestaltet wird? Das also ein „Denk-Fasten“ ist, natürlich nicht als Verzicht aufs Denken, sondern gerade als neue Einübung des eigenen Denkens. Ein Fasten also, das als kritische Selbstbesinnung geschieht. Ein Fasten, in dem das Gewissen geprüft wird, und Nachdenkliche über das richtige Leben sprechen.
6.
Was heißt das? Wer in dieser Weise philosophisch fastet, versucht konkret, seine Gedanken, seine Werte, seine Ideologien, seine Urteile und Vorurteile selbstkritisch zu betrachten, Abstand von den eigenen Denk-Üblichkeiten zu nehmen, in Distanz zu sich selbst zu treten. Das eigene kritische Denken soll in der Lage versetzt werden, die eingefahrenen Denk-Üblichkeiten bzw. Denkzwänge zu erkennen … und zu korrigieren und zu überwinden.
Voraussetzung dafür ist, dass das Leiden an den bisherigen eigenen Denk-Gewohnheiten und das sind Lebens-Gewohnheiten, so groß ist, dass dass Verlangen nach einem authentischen humanen Leben nicht mehr unterdrückt werden kann. Das falsche Leben zeigt sich als solches etwa bei kritischer Achtsamkeit auf tiefsitzende „Sprüche“, wie: „Es hat ja alles kein Sinn“, „Es gibt sowieso keine Wahrheit“, „Alles ist relativ“, „Die Politiker lügen nur“, „DIE XY …Leute sind alle blöd“, „ich bin zu alt, um das noch zu machen“, „ich kann die Welt doch nicht verbessern“ usw.
7.
Wer philosophisch fastet, will also nicht länger hinnehmen, in seinem Geist von vielen sich widersprechenden Ideen, eigentlich leeren Sprüchen, Slogans, Dogmen, bestimmt zu sein. Philosophisch fasten bedeutet sozusagen ein Aufräumen im eigenen Geist, Befreiung von Schrott-Gedanken, philosophisch fasten bedeutet den Versuch, Wichtiges von Unwichtigem, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden und dann auch zu trennen. Dabei entsteht die Frage: Was sind denn die Kriterien, um meinen Gedankenschrott als solchen zu erkennen, um danach zu einem befreiten, humaneren, gerechteren, ökologisch hilfreichen Lebens kommen? Können als Kriterien nur „meine“ subjektiven, nur mir guttuenden Werte gelten? Ich bin immer eil der einen Menschheit, also an allgemeine, für mich und für alle anderen geltenden Menschenrechte und Menschenpflichten gebunden. Da sind die Kriterien zu suchen.
8.
Philosophisch fasten ist ein Projekt für mein ganzes Leben, ein Projekt, das nie an ein Ende kommt. Philosophie, wörtlich übersetzt, ist Liebe zur Weisheit, und Liebe gelangt nie an ein Ende. „Die Liebe hört niemals auf“, heißt es im Weisheitsbuch „Die Bibel“, diese Erkenntnis gilt auch für die Liebe zur Weisheit, zur Philosophie. Und Liebe ist nie vollendet. Menschliches Leben, das allen Werten oder gar Idealen entsprechend irgendwann einmal perfekt und makellos dastehen will, lässt sich nicht verwirklichen. Dieser Wunsch hätte etwas Zwanghaftes.
9.
Nicht nur der innere, der Dialog mit sich selbst, auch der Dialog mit anderen gehört zum philosophischen Fasten. Man könnte auch an „philosophische Gemeinschaften“ oder „Gemeinden“ denken, die nicht Diskutierclubs der Rechthabenden sein sollten, sondern Gruppen, in denen die TeilnehmerInnen miteinander geduldig den Weg der Befreiung von belastenden Denk-Zwängen, Ideologien etc. zu gehen bereit sind. Philosophen hatten in der griechischen Antike meist ihre eigenen Schulen, d.h. Orte, Häuser, gemeinsamen Lebens. Auch die Kirche verstand sich im 2. Jahrhundert als eine „Philosophie“, als eine unter vielen philosophischen Schulen. Die Kirche hat später, zur Staatskirche geworden, die anderen philosophischen Schulen verdrängt und die so eingeschränkte Philosophie zur „Dienerin der Theologie“ degradiert. Es wäre an der Zeit, Philosophie wieder als „Schule des Lebens“ zu entdecken und zu verwirklichen. Zum Thema “Kirche als ohilosophische Schule”: LINK
10.
Die philosophische Fastenzeit kennt keine zeitliche Begrenzung etwa auf 40 Tage, wie in den Kirchen. Philosophische Fastenzeit ist immer möglich und nötig. Auch wenn sie, wie oben beschrieben, eine Zeit des Verzichts ist, des Loslassens, des Nein zu bisherigen Üblichkeiten ist: So ist Gelassenheit, ist Zuversicht, als Stimmung entscheidend. Man soll jedenfalls nicht „sauer aussehen“, wie der fastende Weisheitslehrer Jesus von Nazareth seine Jünger belehrte. Man muss diese Worte Jesu nur aktuell übersetzen. „Wenn ihr fastet, sollt ihr nicht sauer dreinschauen wie die Heuchler, denn sie verstellen ihr Gesicht, um sich vor den Leuten zu zeigen mit ihrem Fasten“, sagte Jesus (Matth. 6, 16 „nach der Luther-Übersetzung“). Jesus, der Weisheitslehrer, empfiehlt hingegen: „Salbe (beim Fasten) dein Haupt und wasche dein Gesicht“ (Vers 17). Also das heißt: „Mach dich schön, für dich und andere, freu dich deines Lebens gerade im (leiblichen) Fasten und natürlich auch beim philosophischen Fasten. In diesen Kriegs-Zeiten ist diese Aufforderung wahrlich eine Provokation…
11.
Das philosophische Fasten sollte von einer zuversichtlichen, fröhlichen Stimmung beherrscht sein. Bestimmt von der Freude darüber, dass ich, dass wir, unseren geistigen Schrott selber ausmisten können, wegwerfen können all diese dummen Ideologien und Verschwörungstheorien, alle diese Sprüche der Boulevardpresse, die nur gezielt verblöden wollen, um uns unmündig zu halten. Alle diese katholischen Dogmenberge gilt es zu beseitigen und den autoritären Wahrheits-Wahn, in tausend Büchern über das Kirchenrecht mitgeteilt von klerikalen Wächtern und oft pädo-sexuellen Tätern…
Es gilt also, die von der Vernunft gesteuerten Entrümpelungen, Befreiungen des eigenen Geistes als Fest zu feiern, froh darüber, dass wir mit unserem kritischen Geist in der Lage sind, uns selbst vom Übel, d.h. vom Gedankenschrott, zu befreien und unser kurzes Leben sinnvoller zu gestalten
12.
Der Weisheitslehrer Jesus von Nazareth hat sich selbst, als er (klassisch, also hungernd) fastete, zurückgezogen in die Wüste. Auch ein interessantes Bild, das die Bibel mitteilt.
Übersetzen wir diesen seinen zeitlich begrenzten Ausstieg aus der Welt des Alltags ins philosophische Fasten: Wer wieder selbstkritisch denken will: Der oder die ziehe sich regelmäßig zurück aus dem Trubel des Alltäglichen, lerne in der Stille und Einsamkeit wieder selber zu denken, habe den Mut seine eigenen Gedanken ernst zu nehmen. Und das kann man und muss man üben …in der eigenen „Kammer”, die jeder für sich – wenigstens als geistiges Refugium – errichten sollte.
13.
Es muss zum Schluss – leider viel zu kurz – noch einmal auf griechische und römische Philosophen hingewiesen werden. Ihnen verdanken wir die bis heute gültigen Begriffe Askese (Übung, Verzicht, auch als Fasten) und Exerzitien (geistliche, geistige Übungen, oft in eins mit leiblichem Fasten).
Die Wieder-Entdeckung dieser ständigen Dimension griechischer und römischer Philosophie der Antike und Spätantike, vor allem der Stoa, des Platonismus und Epikurs, verdanken wir dem großen französischen Philosophen Pierre Hadot. Andere, wie Michel Foucault haben von ihm enorm profitiert. Foucault etwa in seinen Studien über die „Sorge um sich selbst“ oder auch der deutsche philosophische Schriftsteller Wilhelm Schmid mit seinen zahlreichen Publikationen zur Lebenskunst.
14.
Welche Impulse können wir von Pierre Hadot mitnehmen auf der Suche nach den Möglichkeiten philosophischen Fastens? Leider sind nur wenige Werke Hadots ins Deutsche übersetzt, halten wir uns an sein Buch „Philosophie als Lebenskunst“ (Fischer Taschenbuch Verlag, 2002, für viel Geld ist dieses wichtige Buch noch antiquarisch zu haben, eine Schande, dass es keine Neuauflage des Verlages gibt).Zu Hadot:  LINK
Hadot legt wert darauf, dass philosophisches Fasten als Askese nur möglich ist, mit einer geistigen, einer spirituellen (aber nicht religiösen, nicht konfessionellen) Praxis. Askese ist eine „Arbeit des Ichs“ (S. 180), die ihre alltägliche Übung in der „Gewissenserforschung“ findet, eine Übung, die von Philosophen empfohlen wurde, gerade als Befreiung, wie wir sagten, von Schott der uns eingebläuten ideologischen Sprüche etc.
Zur philosophischen Übung im philosophischen Fasten gehört für Hadot auch die Vertiefung in zentrale philosophische Erkenntnisse und Weisheiten, also die Lektüre, des Bedenken der Texte, lernbereit, aber auch kritisch.
Noch wertvoller ist das Buch Hadots „La Philosophie comme manière de vivre“, (Albin Michel, Paris, 2001, auch als „Livre de poche“). „Die Philosophie als Art zu leben“, liegt leider nur in französischer Sprache vor. Darin zeigt Hadot ausführlich, dass der auch in katholischen Kirchenkreisen bekannte Begriff der „geistlichen Exerzitien“ (ein Begriff, der durch Ignatius von Loyola katholische Bedeutung bekam) seinen Ursprung hat in der antiken Philosophie. Pierre Hadot verweist auf entsprechende Studien von Paul Rabbow, der zeigt. „Das Wort Exerzitien war nicht religiös geprägt, es hat einen philosophischen Ursprung.“ (S. 152).
15.
Philosophie könnte durch die Praxis „philosophischen Fastens“ wieder für weite Kreise relevant werden. Philosophie wird dann aus den Seminaren der Universitäten befreit, sie ist kein Sonderthema für Spezialisten, sondern wird Ausdruck der Suche der Menschen nach einem guten (d.h immer auch gerechten) Leben.
16.
Wir leben in Kriegszeiten. Sehr viele Menschen in den meisten Ländern sind auf unterschiedliche Art betroffen von dem durchaus „total“ zu nennenden Angriffskrieg des Diktators Putin gegen die Ukraine. Total ist dieser Krieg, weil er die die meisten humanen Grundlagen von Sicherheit, Ökonomie, Ernährung, Solidarität usw. weltweit verwirrt, stört und zerstört. Weil dieser Krieg Putin mit einer kalten, verbrecherischen Selbstverständlichkeit viele tausend Tote in der Ukraine wie auch in Russland in Kauf nimmt. Das heißt ja nicht, dass Putin der einzige Politiker im 20./21. Jahrhundert ist, den man als Verbrecher bezeichnen muss.
17.
Bundeskanzler Scholz hat gleich nach Kriegsbeginn diese Erfahrung einer neuen Situation in Zeiten des totalen Krieges auf den Begriff gebracht: Es ist die „Zeitenwende“.
Ein Wort, das dazu auffordert, philosophisch etwas ausführlicher bedacht zu werden. „Zeiten-Wende“ meint: Umbruch der Lebensverhältnisse, Umbruch der Strukturen dieser Welt und der Gesellschaften, Wende der Zeiten als Epochenwende. Das will sagen: Nichts bleibt so, wie es einmal war. Die bisherigen Koordinaten wurden verändert. Die in der westlichen Welt vertraute Zeit, also unsere Epoche, hat sich „gewendet“ und wurde nach der Wende beendet.
18.
Aber es ist nicht nur eine philosophische Liebe zu Nuancen, wenn man genauer fragt: Was heißt denn „wenden“: Wenden bedeutet auch: Ich wende eine Seite eines Buches, nach vorn oder nach hinten. Wenden heißt auch Umdrehen, Herumdrehen, Weiterdrehen. „Tourner“ heißt das vieles Bedeutende französische Verb.
Aber auch das Rückwärts-Gewandte (Gewendete) ist mit „Wende“ immer mit-gemeint: Ich wende mich um, blicke in die Vergangenheit, ich stehe aber in der Gegenwart im Blick auf die erinnerte, ferne Vergangenheit. Mit ihr muss ich mich auseinandersetzen, und fragen, was ist alles falsch gelaufen, dass es zu dieser globalen Wende kommen konnte? Die „aktuelle Bewältigung“ der Wende darf den kritischen Blick auf die Fehler der Vergangenheit nicht blockieren…
19.
In Deutschland hat sich das Wort „Wende“ seit dem Ende der DDR 1989 sozusagen „eingebürgert“. Bekanntlich wurde der Beitritt der DDR und der DDR Bürger zur BRD als Wende bezeichnet. Die DDR „wendete“ sich, d.h. sie wandte sich der BRD zu, auch auf Druck der BRD. Die DDR wurde in dieser Wendung Teil der BRD, was manche DDR Bürger als Übernahme, wenn nicht „Einverleibung der BRD durch die DDR“ erlebten und deuteten.
Manche hätten lieber von Umbruch gesprochen, einige sogar von Revolution als der Vertreibung der DDR- Herrscher durch das Volk. Aber letztlich meinen viele doch, wenn sie von der Wende 1989 sprechen, ein positives Ereignis. Die DDR Diktatur wünscht sich fast niemand zurück.
Hat das Wort Wende in der „Zeitenwende“ von Kanzler Scholz eine positive Bedeutung? Wahrscheinlich nicht. Europa und die wenigen verbliebenen Demokratien stehen einem Block von autoritären Regimen gegenüber. Und die Religionen? Sind sie in dieser Epochenwende hilfreich? Sie zeigen ihre ganz spirituelle Schwäche, sie sind nicht in der Lage, sich religiös nennende Menschen wirklich zu einem humanen und vernünftigen Verhalten anzustiften. Die katholische Kirche ist nur mit Eigenem, Strukturellen, Kirchenrechtlichen befasst. Katastrophal ist die Situation der russisch-orthodoxen Kirche. Sie wird von dem
Kriegstreiber und Putin Freund Patriarch Kyrill von Moskau beherrscht. Er fordert in seinem nationalistischen – religiös – reaktionären Wahn das todbringende Opfer der russischen Soldaten in diesem Krieg.Und man muss sich fragen und sollte diese Frage bald vertiefen: Was hat dieser Theologe und sich Christ nennende Patriarch Kyrill eigentlich in all den Jahren vom christlichen Glauben gelernt, als er im „Ökumenischen Weltrat oder Kirchen“ (ÖRK) in Genf ein und ausging als „angesehenes Mitglied“ dieser Vereinigung. Man möchte antworten: Gar nichts hat er in den vielen, so oft hoch gepriesenen Dialogen und Konferenzen in Genf und anderswo gelernt. Und muss dann weiterfragen: Welchen Sinn haben dann eigentlich diese theologischen Debatten auf hohem Niveau, etwa in Genf?
20.
Was bleibt als vorläufige Erkenntnis: So sehr sich auch das Wort Zeitenwende einzubürgern scheint: Dieses viel zitierte Scholz-Wort vom 27.2.2022 trifft die reale Situation der Welt jetzt (4.3.2023) nicht mehr: Man sollte eher von Umsturz der bisherigen Welt-Ordnung sprechen, von Epochen-Umbruch, von Umwälzung, Umsturz, von radikalem Einschnitt. Aber diese Worte sind nicht so griffig, nicht so gefällig und zugänglich wie „Zeiten-Wende“.
„Zeitenwende“ klingt da eher neutral und wirkt so noch etwas beruhigend. Zurecht?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

 

 

 

Das Erdbeben und die Philosophie. Sind religionsphilosophische Hinweise etwa zynisch?

Ein Hinweis von Christian Modehn. Die 10. “Unerhörte Frage”.

Was bedeutet „unerhört“?
„Unerhört“ werden außerordentliche Themen genannt.
Als „unerhört“ gilt, wenn ein wahres Wort, ein vernünftiger Vorschlag, von anderen nicht gehört und nicht wahr-genommen wird, also un-erhört bleibt. Unerhörte Fragen müssen entfaltet, beschrieben werden, um ihre provokative Kraft zu bezeugen.

1.

Das Erdbeben in der Türkei und Syrien vom 6. Februar 2023 ist zuallererst eine Herausforderung, ein Appell, eine Verpflichtung, schnell und umfassend den leidenden Menschen zu helfen.

Das Erdbeben in der Türkei und Syrien ist eine der ganz erschreckenden, großen Erdbeben – Katastrophen der Geschichte.

Es erinnert an das heute immer noch zitierte Erdbeben von Lissabon am 1.11. 1755, das so heftig war, dass die Erschütterungen viele hundert Kilometer von Lissabon entfernt deutlich spürbar waren.

Das Erdbeben von Lissabon 1755 hat tiefe Erschütterungen auch unter damaligen Philosophen ausgelöst, vor allem die Arbeiten Voltaires sind vom Erdbeben in Lissabon bestimmt.

Es wurde damals die Frage gestellt: Wie kann Gott diese Katastrophe zulassen? Ist er noch der gute Gott, der gute Schöpfer dieser Welt?

Wird diese Frage auch angesichts der Erdbeben – Katastrophe in der Türkei und Syrien 2023 gestellt? Interessiert sie die Menschen, wird sie von Philosophen und Theologen reflektiert werden?

Das ist möglich und wahrscheinlich, trotz aller Säkularisierung des Denkens im allgemeinen. Wie dieses konkrete Ereignis im islamischen – theologischen Kontext diskutiert wird? Das bleibt abzuwarten (geschrieben am 8.2.2023, CM).

Aber entscheidend ist, bevor man in unkritische, sich bloß “metaphysisch” nennende Fantasien abschweift: Es muss genau festgestellt werden, in welchem nachweisbaren Umfang menschliches Versagen, also auch das Versagen von Politikern, für den Tod so vieler Menschen wegen des Erdbebens verantwortlich ist. Das Erdbeben  in der Türkei vom 6. Februar 2023 ist nicht nur “Schicksal”.

2.

Wer sich religionsphilosophisch mit diesem Thema befasst, muss also zuerst die politischen Kontexte analysieren, bevor philosophische Reflexionen interessant sein können:

Also: Was hat die türkische Regierung ignoriert an Warnungen kompetenter türkischer Geologen?  „Hüseyin Alan leitet die Kammer der Ingenieur-Geologen in der Türkei. Er hatte Behörden und sogar das Präsidialamt erst kürzlich vor Erdbeben in der Region gewarnt, die es jetzt getroffen hat – doch keine Antwort erhalten.“ (Der SPIEGEL, 7.2.2023).

Wurden die Häuser in dem Erdbeben gefährdeten Gebiet in der Türkei entsprechend sicher gebaut, was ja prinzipiell möglich ist? Die türkischen Geologen und Ingenieure und kritischen Politiker sagen: Nein.

Es gab Dutzende Beben in den vergangenen 20 Jahren in der Türkei. Viele tausend Menschen kamen ums Leben. Es ist nachweislich (und wohl bewusst) versäumt worden, alle Häuser und Neubauten erdebensicher zu bauen.  Staatspräsident Recep Erdogan lügt also, wenn er jetzt sagt: “Diese Dinge (Erdbeben) geschehen einfach, das ist ist Schicksal” (Tagesspiegel, 11.2.2023, Seite 8). Erdbeben als Erdbeben werden Menschen nicht verhindern können, insofern ist Erdbeben AUCH “ein bißchen” Schicksal; aber die Ausmaße des Leidens der Menschen in Erdbebengebieten können eingeschränkt, wenn nicht verhindert werden. Bleibt zu hoffen, dass die Menschen in der Türkei sich jetzt, förmlich im Leiden “aufgewacht”, von Erdogan befreien können.

Erst wer menschliche Fehler und Versäumnisse angesichts dieser (und anderer) Katastrophe(n) festgestellt und bewiesen hat, kann zur religionsphilosophischen Frage kommen:
„Warum hat Gott als der Schöpfer der Welt diese Katastrophe nicht verhindert und zugelassen?“

Diese Frage wird nur diejenigen bewegen, die einen „Schöpfer“ der Welt noch im Denken annehmen können.

Wer sich in seinem Denken einmal darauf einlässt, kommt zu einigen Einsichten: Und die erscheinen etwas abstrakt, sie sind vorsichtige Hinweise, die gar nicht zynisch gemeint sind. Auch wenn diese Frage die Grenzen des Erkennbaren berührt, können doch einige Hinweise weiteres Nachdenken fördern:

Wenn Gott die Welt erschaffen hat, dann hat er die Welt als Welt erschaffen. Welt ist dann als endliche, begrenzte, fehlerhafte Welt zu verstehen. Wäre die Welt vollkommen, fehlerfrei, nicht-endlich, dann wäre sie förmlich eine göttliche Wirklichkeit neben dem „schöpferischen Gott“. Und die klassische Metaphysik sagt dazu: Wenn Gott wirklich als Gott gedacht ist, dann kann er neben sich nicht noch einen weiteren Gott, also eine göttliche und perfekte Welt neben sich haben. In einer als Gott gedachten perfekten Welt gäbe es dann auch keinen Tod mehr. Der Mensch wäre selbst ein ewiges Wesen, würde er dann noch (ewige?) Nachkommen zeugen und gebären usw.? Die philosophische Spekulation erreicht jetzt förmlich absurd wirkende Dimensionen. Bescheidenheit ist also auch philosophisch gefordert. Diese ist aber etwas anderes als der prinzipielle Denk – Verzicht, überhaupt das Erdbeben mit einem schöpferischen Gott oder göttlichen Wesen in Verbindung zu bringen.

Die klassische Metaphysik beharrt also auf der Erkenntnis: Die Welt ist endlich, fehlerhaft, begrenzt. Die Menschen sind dem Geschehen einer nicht immer voll kontrollierbaren Natur ausgesetzt, wie etwa dem Erdbeben. Es kann ja prinzipiell sein, dass eines Tages die verheerenden Erdbeben stark eingeschränkt werden können, durch Forschung, Voraussage, und kompetente Politiker…

3.

Trösten diese Gedanken der unvollkommenen Schöpfung die betroffenen Opfer? Zunächst ist ihre Wut auf die korrupten “Politiker” in der Türkei und den Diktator in Syrien am größten. Aber solange die Überlebenden und Leidenden noch die Hoffnung und den Überlebensmut bewahren und aus ihm heraus das „Danach“ gestalten, ist doch eine geistvolle inspirierende Kraft in ihnen lebendig und wirksam. Sie werden sich hoffentlich für demokratische Politiker in ihren Ländern einsetzen können, mit Hilfe der wenigen auf dieser noch Welt noch verbliebenen Demokratien! Die heldenden Demokraten werden gleichsam auch zu Boten der Hoffnung, um es einmal etwas pathetisch, aber treffend zu sagen.

Philosophen und Metaphysiker nennen diese geistvolle und inspirierende Überlebenskraft der Hoffnung eine Art „Funken“ der Ewigkeit, der in den Menschen (als den „Geschöpfen eines Ewigen, Göttlichen…) lebt. Und hoffentlich niemals zum Verschwinden zu bringen, niemals zu töten, ist.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin