Die 26. der „Unerhörten Fragen“
Von Christian Modehn am 6.7.2025
Einst gehörte die Anklage Gottes durch die Frommen im Judentum (Hiob) und im Islam (Attar) selbstverständlich zur Spiritualität. Christen liebten es allerdings nicht so sehr, Gott anzuklagen und gegen ihn zu protestieren. Denn Er galt ihnen als „Gott der Liebe“. Über ihre Ignoranz (Hass im Antisemitismus, Kolonialismus etc.) gegenüber dem Gott der Liebe verloren die allermeisten Christen keine Tränen und keine Worte, geschweige denn formulierten sie Anklage-Gebete. Solche Gebete fehlen bis heute!
Wenn Juden, Christen, Muslime und ihre „Führer“ tatsächlich noch an ihren lebendig-handelnden Gott glauben, dann sollten sie doch Anklage erheben, also ihren Gott beschuldigen: „Wo bist du denn?“ Gibt es den Gott des „Bundes mit den Menschen“ etwa nicht mehr? Kümmert Er sich nicht mehr um seine Geschöpfe?
Von solchen Anklagen gegen Gott ist heute nichts zu vernehmen. Sind die Frommen mit einem fernen, untätigen Gott sogar zufrieden? Mit dem Gott Netanjahus und seiner super“frommen“, aber rechtsextremen Minister? Oder ist die Hamas mit ihrem genauso heftigen Allah einverstanden?
Unsere Vermutung: Vielleicht glauben die Frommen und ihre „Führer“ längst nicht mehr an einen fürsorglich handelnden, einen liebenden Gott. ER ist entschwunden. Es herrscht der Nihilismus.
Und was die Christen angeht: Einige Katholiken zumal klagen jetzt zurecht allerdings völlig erfolglos die bürokratischen, undemokratischen Strukturen der Kirche an. Kirchen-Anklage ersetzt jetzt die Gottes-Anklage. Diese Kirchen-Anklage ist sowieso einfacher und in den Medien wirksamer und theologisch auch nicht so schwierig wie die Gottes-Anklage.
Der Verzicht auf die Anklage Gottes in dieser verrückten, gottlosen Welt bedeutet: Die Säkularisierung des Glaubens ist total, ist umfassend geworden. Alte übliche Dogmen gelten selbst für Fromme nichts mehr: Gott handelt nicht mehr, und wird wegen seines Nicht-Handelns auch gar nicht mehr angeklagt. Die Theologie des Bundes Gottes mit den Menschen ist tot, existiert nur auf den Papieren der Theologen, die Ideologen geworden sind.
Nebenbei: Das heißt nicht, dass der Autor dieses Hinweises nicht eine andere Antwort auf diese Frage hätte. Hier soll nur der Abschied von der Gottes-Anklage in dogmatischen Kreisen religionswissenschaftlich dokumentiert werden. Als Wende in der religiösen Szene der Gegenwart!
PS:
Zur Einstimmung bitte lesen: Psalm 88 „Klage eines Kranken und Einsamen“.
Und zur Vertiefung bitte lesen: Das wichtige Buch von Navid Kermani, „Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und die metaphysische Revolte“, Becksche Reihe, München, 2011, 335 Seiten, 14, 95€.
Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.