Papst Leo verteidigt das uralte, das veraltete Glaubensbekenntnissen des Konzils in Nizäa (325).

Ein aktueller Hinweis von Christian Modehn. Über das starre und sture Festhalten des Papstes (und anderer Kirchenführer) an einem heute unverständlichen Glaubensbekenntnis.

1,
Papst Leo XIV. hat am 23.11. 2025 ein Dokument veröffentlicht, das sich mit der Einheit der getrennten Kirchen und Christen befasst.
Sagen wir das Erfreuliche zuerst: Eine Rückkehr der Orthodoxen und Protestanten zur römischen „Mutterkirche“ wird es für ihn als Papst nicht mehr geben. (Siehe dazu in der Nr. 12 des Textes: “Das bedeutet keine Rückkehrökumene zum Zustand vor den Spaltungen, auch keine gegenseitige Anerkennung des aktuellenStatus quo der Vielheit von Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, sondern vielmehr eine Zukunftsökumene der Versöhnung auf dem Weg des Dialogs, des Austauschs unserer Gaben und geistlichen Schätze…”. Ob dann Rom doch in dieser etwas undeutlichen “Zukunftsökumene” siegt, wird man sehen…

2.
Der Anlass für diesen Text: des Papstes Reise in die Türkei, an den Ort, der einst Nizäa hieß, heute heißt er Iznik. Dort wird er auch den Orthodoxen Patriarchen von Konstantinopel treffen. Er ist Ehrenprimas aller Orthodoxen.

Wie zu erwarten, lobt Papst Leo in seinem Apostolischen Schreiben das vom Konzil in Nizäa vor 1.700 Jahren formulierte Glaubensbekenntnis in höchsten Tönen.

……

ERGÄNZT am 1. Dezember 2025: Wenig überraschend ist für kritische TheologInnen die “Gemeinsame Erklärung”, die Papst Leo XIV. und der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel, Patriarch Bartholomaios I., am  Samstag, 29.11.2025, in Istanbul unterzeichnet haben. Quelle:  LINK   

Wir weisen zu diesem Text nur darauf hin: Das Glaubensbekenntnis von Nizäa aus dem Jahr 325 wird von Papst Leo und Patriarch Bartholomaios I. selbstverständlich in höchsten Ton gelobt und als Maßstab auch für Gegenwart und Zukunft bezeichnet: Dass heute längst nicht alle christlichen Kirchen dieses Nizäa-Bekenntnis faktisch sehr hoch schätzen, wird nicht erwähnt. Hingegen wird das uralte Bekentnnis inn uralter Sprache noch einmal wiederholt … etwa:  “Wir müssen anerkennen, dass uns der Glaube verbindet, der im Glaubensbekenntnis von Nizäa zum Ausdruck kommt. Dies ist der rettende Glaube an die Person des Sohnes Gottes, wahrer Gott vom wahren Gott, homoousios (eines Wesens) mit dem Vater, der für uns und zu unserem Heil Mensch geworden ist und unter uns gewohnt hat, gekreuzigt wurde, gestorben ist und begraben wurde, am dritten Tage auferstanden ist, in den Himmel aufgefahren ist und wiederkommen wird, um die Lebenden und die Toten zu richten. …” Und dann noch dieser fromme Wunsch: “Mit diesem gemeinsamen Bekenntnis können wir uns unseren gemeinsamen Herausforderungen stellen, (suc, CM) indem wir in gegenseitigem Respekt Zeugnis ablegen für den in Nizäa zum Ausdruck gebrachten Glauben und mit echter Hoffnung gemeinsam an konkreten Lösungen arbeiten….Wir sind überzeugt, dass die Feier dieses bedeutenden Jubiläums zu neuen und mutigen Schritten auf dem Weg zur Einheit inspirieren kann.”

Der sich orthodox-gläubig nennende Ideologe des Putin-Regimes, Patriarch Kyrill von Moskau, hat an dem Treffen in Istanbul nicht teilgenommen, er steht mit Patriarch Bartholomaios “auf Kriegsfuß”..: Weil Bartholomaios die Verbindung Kyrills mit Putin ablehnt. Immerhin hat Bartholomaios dazu den Mut, während der “Ökumenische Rat der Kirchen” in Genf die russisch – orthodoxe Kirche mit dem Kriegstreiber Patriarch Kyrill noch immer nicht an ihrem ökumenischen Rat rausgeworfen hat.

Sehr allgemein und überhaupt nicht konkret haben Leo und Bartholomaios knapp in ihrem Dokument gesagt: „Insbesondere lehnen wir jede Benutzung der Religion und des Namens Gottes zur Rechtfertigung von Gewalt ab.“ Damit können fundamentalistische evangelikale Christen in den USA, fundamentralistische Muslime und fundamentalistsiche Juden, oder eben auch Patriarch Kyrill von Moskau gemeint sein. Ökumene ist halt immer noch eine Sache der frommen Worte und der allgemein gehaltenen Forderungen… Sind Kirchenführer etwa in erster Linie Diplomaten? Man hat den begründeten Eindruck…

……….

Der Papst lobt, wie zu erwarten ist in dieser weithin erstarrten vatikanischen Theologie, dass im Bekenntnis von Nizäa die Gottheit des Menschen Jesus von Nazareth als definitive Glaubenslehre herausgestellt wird.
Er lobt also, dass in Nizäa die Gottgleichheit Jesu ausgesprochen wurde.
Dabei musste selbstverständlich die griechische Sprache verwendet werden: Es ist das homooúsios, das „wesensgleich“, also nicht etwa „wesensähnlich mit „Gott – Vater“, Formeln, die die griechische Philosophie so fein unterscheidet.

4.
Papst Leo erwähnt nicht, dass in dem Bekenntnis von Nizäa fast keine Rede ist von dem Mann Jesus von Nazareth, von dessen Predigten, Handlungen, Weisungen.
Der Papst sieht offenbar gar nicht, dass das Bekenntnis von Nizäa Jesus von Nazareth zum Gott macht ohne jeglichen Respekt für die Berichte der Evangelisten Markus, Matthäus und Lukas im Neuen Testament! Und: dass dieses Glaubensbekenntnis von der jüdischen Herkunft Jesu kein Wort verliert. Denn korrekt müsste es wohl heißen: Gott ist in Jesus nicht nur Mensch, Gott ist ein Jude geworden…Aber das passte nicht in das damalige Konzept, schon damals war die Kirche interessiert, aus der Jesus-Gestalt die Christusgestalt für alle, auch für die Heiden) zu machen.

5.
Der Papst erwähnt den großen Gegenspieler dieses Konzils, den Theologen Arius: Er hatte sehr zurecht seine theologischen Probleme mit den sich selbst „rechtgläubig“ nennenden Bischöfen, die Jesus zum Gott erklärten. Arius betonte, Jesus stehe doch eher mehr auf der Seite der Menschen. Papst Leo XIV. ist in seinem Dokument immerhin so ehrlich zuzugeben, dass selbst viele Bischöfe damals die Lehre des Arius als sympathischer und treffender einschätzten. Leo erwähnt nicht, dass die Schriften des Arius von den sich orthodox nennenden Bischöfen verbrannt wurden…

Der Papst erwähnt auch nicht, dass das Konzil von Nizäa auch einen SEHR politischen Zweck hatte: es sollte die EINE Religion in des Kaisers Reich befördern, denn nur so lässt sich besser herrschen und regieren…

6.
Wir wollen dieses apologetische, fromme und floskelhafte Dokument von Papst Leo XIV. nicht weiter kommentieren.

Wir können nur unser Bedauern äußern, dass mit keinem Wort vom Papst die Aufforderung ergeht, diese  Ökumene nun durch eine neue mutige Praxis voranzubringen; etwa durch Glaubensbekenntnisse (PLURAL!) heute, die diese seit langer Zeit schon unverständliche Sprache der griechischen Metaphysik von Nizäa endlich überwinden. Wer versteht heute noch dieses Glaubensbekenntnis von 325, selbst wenn es oft nachgesprochen und nachgeplappert wird.
Aber diese neuen, modernen Glaubensbekenntnisse sollten doch bitte, dem Neuen Testament folgend, vor allem von dem großen Weisheitslehrer Jesus von Nazareth sprechen, von seiner Bergpredigt, von Jesus als dem MENSCHEN!

7.
Wie schon gesagt: Worüber wir uns nun wirklich etwas freuen: Der Papst will offenbar Abschied nehmen von der im Vatikan bislang üblichen „Rückkehr-Ökumene“, d.h.: dass alle anderen christlichen Kirchen zu Rom zurückkehren und sozusagen römisch -katholisch werden. Das ist schon mal eine gewisse Korrektur des Früheren!

8.
Aber genau in dem Zusammenhang ist es ärgerlich, dass Leo XIV. die orthodoxen Kirchen explizit als Kirchen (selbstverständlich wird die römische Papst – Kirche als Kirche vorausgesetzt) bezeichnet:
Hingegen von den Kirchen der Reformation spricht er nur von „kirchlichen Gemeinschaften“. Die Protestanten (Lutheraner, Angelikaner, Reformierte, remonstarnten…) sind also für ihn keine Kirchen. Warum? Weil sie nicht in der vom Papsttum definierten (!) apostolischen Sukzession stehen. Also hat der Papst doch – versteckt – die Dominanz? Natürlich, nur nicht mehr so undiplomatisch formuliert wie zu Zeiten des polnischen Papstes…(Siehe dazu in der 12. des Schreibens von Leo XIV.: “Auch wenn uns die volle sichtbare Einheit mit den orthodoxen und altorientalischen Kirchen und den kirchlichen Gemeinschaften, die aus der Reformation hervorgegangen sind, noch nicht geschenkt wurde,”  usw… Für Spezialisten: Es ist schon komisch, dass der Papst auch die altorientalischen Kirchen (Kopten, Äthiopier  usw.) als Kirchen bezeichnet, sind diese doch “Monophysiten”, lehnen also die Christologie der Katholiken und Orthodoxen ab…
Nebenbei: Ich habe auch große Probleme, die us-amerikanischen oder nigerianischen Mega-Churches als Kirchen (und nicht als politisch reaktionäre kapitalistische Unternehmen) zu bezeichnen… aber sind die katholischen Fundamentalisten denn auch Kirche in ihre sektenhaften, von Zölibatären beherrschten Abgeschlossenheit?

9.
Und wie geht also die Ökumene im Sinne des Augustiner- Papstes Leo XIV. weiter: Seine übliche und ständige hilflose Empfehlung auf den Websites des Vatikans heißt: Beten, beten, beten, beten… Empfehlungen also, die nichts Konkretes bedeuten und fordern, sondern alles im himmlischen Fürbitten – Nebel belassen.

10.
Man könnte doch als angeblich etwas moderner Papst heute sagen: Ab sofort sollen selbstverständlich konfessionsverschiedene Paare gemeinsam zur Kommunion gehen. Und: Auch Protestanten können und sollen an der katholischen Kommunion teilnehmen. Auch Katholiken sollen bitte schün am evangelischen Abendmahl teilnehmen (es wird besser und würdevoller gefeiert als die schnelle Abspeisung der Katholiken bei der Kommunion).
Und auch dies sollte der pPapst in seiner Allmacht sagen: Wir Katholiken haben von den Protestanten endlich etwas gelernt und weihen nun Frauen zu Diakoninnen und Priesterinnen…Und weiter: In tiefster katholischer Diaspora mögen doch bitte die wenigen auf den Dörfern verbliebenen Katholiken Freude daran haben, protestantische Gottesdienste dort zu besuchen (das gilt etwa für Brandenburg, oder für Island, Norwegen etc…).

11.
Nach der Lektüre dieses eher doch langweiligen Papst – Textes fragt sich der kritische Theologe: Wie viele Texte werden eigentlich noch in den nächsten 100 Jahren, also noch vor dem tatsächlichen Ende der getrennten Kirchen in Europa, zur Ökumene noch veröffentlicht?

Einige Leute „freuen“ uns jetzt trotzdem auf die nächsten päpstlichen Papiere und Dokumente und Ermahnungen und Apostolische Schreiben und Enzykliken und „Synoden“ Beschlüsse usw. usw. Da gibt es doch vieles zu lesen, es sind Lektüren, denen keine neue, reformatorische ökumenische Praxis folgen darf!

Zur Verteifung siehe unseren Beitrag zum Konzil von Nizäa: LINK 

Der Text des Papstes zur Ökumene vom 23.11.2025: LINK.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Hannah Arendt: Fünfzig Jahre tot … Ihr Denken lebt

Ein Hinweis anlässlich ihres Todestages am 4. Dezember 1975
Von Christian Modehn am 22.11.2025

1.
Über Hannah Arendt ist jetzt eine umfangreiche Biographie erschienen: Willi Winkler, Autor und Journalist, erschließt mit wissenschaftlicher Klarheit (bei einem 50 Seiten umfassenden Anhang mit Belegen und Fußnoten und Register sowie zahlreichen Fotos), angenehm zu lesen, durchaus mit kurzen, ironischen Kommentaren am Rande, das Leben Hannah Arendts: Ihr 50. Todestag am 4. Dezember 2025 könnte ein Anlass sein, mit ihren Büchern ins philosophische Fragen, auch zur Notwendigkeit des politischen Handelns zu gelangen. Viele einzelne Erkenntnisse Hannah Arendts könnten schon fast als „Denksprüche” gelten: „Niemand hat das Recht zu gehorchen“ (ursprünglich von Kant) oder „Jeder hat die Fähigkeit, einen neuen Anfang zu setzen“ oder „Denken ohne Geländer“ oder: „Macht beginnt immer dort, wo die Öffentlichkeit aufhört.“ Sogar PolitikerInnen (Angela Merkel, Robert Habeck, Frank Walter Steinmeier, Winfried Kretschmann…) loben heute Hannah Arendt, sie haben offenbar einige ihrer Bücher gelesen.

2.
Natürlich wollen wir hier in wenigen Sätzen nicht das ganze Leben Hannah Arendts zusammenfassen: Hannah Arendt ist eine unabhängige philosophisch -politische Autorin, die sich nicht in „Schubladen“ einsortieren lässt. Sie ist Jüdin, kritisiert aber heftig den Staat Israel und die damalige Regierung. Sie hat als Jüdin bei dem katholischen Religionsphilosophen Romano Guardini in Berlin studiert und später bei Karl Jaspers eine Promotion über den heiligen Augustinus geschrieben. Sie kennt die Philosophie von Karl Marx, ist aber keine Marxistin. Sie setzt sich leidenschaftlich für die Menschenrechte (Gleichheit!) ein, ist aber keine Feministin. Sie irrt auch bei politischen Stellungnahmen, etwa zu den Rassenauseinandersetzungen in „Little Rock“ (USA) im Jahr 1958 (siehe „Denken ohne Geländer“, S. 157.) Sie bekämpft antisemitische Mentalitäten, muss aber – um veröffentlichen zu können – in den Verlagshäusern der BRD mit alten Nazis zusammenarbeiten.

3.
Die Frage ist alles andere als „bloß akademisch“: In welcher Weise ist Hannah Arendt Philosophin? Sie ist sicherlich nicht „nur“ Philosophin, ihre Promotion 1928 in Philosophie bei Karl Jaspers und ihre Heidegger – Lektüren und – Vorlieben sind bekannt. Sie verstand sich explizit als Jüdin nach ihrer Flucht aus Nazi – Deutschland, also seit ihrer Zeit in den USA, als eine auch publizistisch – journalistisch arbeitende „Theoretikerin“ des Politischen, immer mit philosophischem „Background“. Willi Winkler schreibt zwar gleich zu Beginn: „Zweifellos ist an ihr (Hanna Arendt) eine Philosophin verloren gegangen“ (Seite 10), weil sie ihre philosophische Karriere in Deutschland als Jüdin in der Nazi – Zeit nicht fortführen konnte. Und Winkler zitiert Arendt: „Der Philosophie habe sie (in den USA) endgültig Valet gesagt“ (S. 258)… Immerhin betont Hannah Arendt auch: „Sie sei aus der deutschen Philosophie hervorgegangen“ (S. 263). Beweis dafür sind ihre Bücher „Vita aktiva“ (1958 ), „Vom Leben des Geistes (posthum 1978) oder „Über das Böse“ (posthum 2003: Dies sind philosophische Studien. Insgesamt gilt: Hannah Arendts Bücher, Aufsätze und Stellungnahmen handeln von Politik, vom politischen Leben und politischem Kämpfen, aber verbunden mit philosophischen Perspektiven.

4.
Das Buch von Willi Winkler ist also eine ausführliche Biographie, über Arendts Ehemann Heinrich Blücher wird detailliert berichtet wie auch über ihre erste Ehe mit Günter Anders (bzw. Günter Stern)… Zu ihrer Verbundenheit mit ihrem Liebhaber Martin Heidegger siehe Nr. 8 in diesem Hinweis.
Die Stellungnahmen Winklers zu Arendts Veröffentlichungen sind eingebunden in die kritische Würdigung ihres intellektuellen, philosophischen und vor allem politischen Umfeldes zumal in den USA (dort seit 1941.) Es ist ein Leben, das sich die eigene Freiheit im Denken und Handeln und im – subjektiv gestalteten – Umgang mit Freunden und Gegnern (man denke an ihre Abgrenzung von Theodor W. Adorno) förmlich erkämpft und dann verteidigt.
Uns erscheint es bemerkenswert und wichtig: In dieser Arendt – Biographie werden ihre vielfältigen Begegnungen in Deutschland (BRD) und mit den Deutschen seit 1949 dargestellt. Willi Winkler beschreibt treffend die wirklichen Verhältnisse: „Die alten Nazis sind weiter und wieder nicht bloß im Amt, sondern überall… Hannah Arendt hat kein Problem damit, das Land der Mörder zu besuchen, sie hat ein weites Herz… aber sie traut ihnen (den Deutschen) nicht, sie hält die Deutschen auf Abstand.“ (S. 173).
Und viele LeserInnen werden noch „neue“ Informationen finden: Über die Nazi – Verbindungen etlicher verantwortlichen Lektoren des Piper – Verlages (in diesem Verlag erschienen/erscheinen die Bücher Arendts), etwa ab S. 175 ff.. Oder: Informationen über den im Piper Verlag tätigen Germanisten Hans Rössner, SA -, NSDAP – und SS-Mitglied, mit ihm hatte die Autorin Arendt zu tun, ohne von dessen Nazi- Verstrickungen zu wissen. Willi Winkler schreibt: „Nach dem Krieg wurde Rössner von der Spruchkammer als `Mitläufer` eingestuft, kam mit einer Geldstrafe davon und bewies seine Läuterung durch einen `prononcierten Philosemitismus´. Beim Antikommunismus musste er nicht umlernen“ (S. 180). Der knappe Satz „Beim Antikommunismus musste er nicht umlernen“ ist nur ein Beispiel für die zahlreichen sehr treffenden ironischen Kommentare Willi Winklers, die er nebenbei in seinen objektiven Bericht einfügt…
Die Studie Willi Winklers wird, wie gesagt, dadurch auch wertvoll, weil ausführlich an die „braune Vergangenheit“ der Menschen in Deutschland und etlicher BRD Politiker und BRD „Kulturschaffender“ erinnert wird – immer, um Hannah Arendts Auseinandersetzungen und Entscheidungen besser zu verstehen.
Auf die Nazi – Vergangenheit des ehemaligen bayerischen Kulturministers Theodor Maunz (CSU, Minister von 1957 -1964) wird deswegen hingewiesen (S. 284, aber auch 174 f.) Maunz ist ein berühmter Verfasser juristischer Standardwerke … und nach seinem Rausschmiss als Minister war der CSU Mann noch Mitarbeiter der „Deutschen Nationalzeitung“… Oder man muss an den rechtsextremen (SS – Mitglied) Armin Mohler erinnern: Er war in der BRD Redenschreiber für Bayerns Ministerpräsident Franz – Josef Strauß (CSU) und er hatte als „Leiter der Carl Friedrich von Siemens Stiftung ein eigenes rechtsnationales Netzwerk aufgebaut“ (S. 99). Mohler propagierte in der BRD die „Revolution von rechts“…

5.
Innerhalb der Biographie Willi Winklers sind uns einige Erkenntnisse besonders aufgefallen zu wichtigen Themen, an denen sich Hannah Arendt abarbeitete.
Zu Eichmann:
Hannah Arendt wurde 1961 von der Kultur – Zeitschrift „New Yorker“ als Reporterin nach Jerusalem geschickt zum Prozess gegen den Nazi-Verbrecher Adolf Eichmann. Willi Winkler meint: Sie sei dort „eine schlechte Reporterin gewesen, sie hält es nur für wenige Tage dort aus“ (S. 225)
Für einige LeserInnen ist es vielleicht neu: Der BND hatte wegen des Chefs des Kanzleramtes (des einst führenden Nazis) Hans Globke in der Adenauer – Regierung alles Interesse daran: Dass Eichmann im Jerusalem Prozess bloß nicht zu viel plaudert, etwa von der Bedeutung Globkes für ihn und sein Amt. BND Chef Reinhard Gehlen versorgte über Mittelsmänner in Jerusalem Globke mit den neusten Nachrichten, damit er sich nicht beunruhige (S. 230). Die Bundesregierung hatte ohnehin mit der Regierung Israels abgesprochen: Im Eichmann Prozess gehe es nur um Eichmann und dessen “satanischem Plan der Endlösung der Judenfrage.“ Eichmanns Anwalt war der deutsche Robert Servatius, er war wie sein Assistent Dieter Wechtenberg in den Prozess als „Close associate“ des BND in den Prozess eingeschleust. Der Prozess gegen Eichmann war also sehr sorgsam von der BRD für die „deutsche Sache“ inszeniert (S. 227). Als auch der DDR – Anwalt Friedrich Karl Kaul als Prozessbeobachter in Jerusalem auftauchte, wurden ein BND Mitarbeiter und ein Journalist der Springer-Presse sehr nervös: Denn Kaul hatte offenbar Namen von Nazis im Umfeld der BRD Regierung sozusagen im Gepäck. BND und BILD Reporter, bestürzt und verängstigt, drangen in Kauls Zimmer im „King David Hotel” ein und entnahmen dort die entsprechenden Unterlagen, die sofort nach Bonn weitergeleitet wurden. (S. 233)… Aber davon konnte Hannah Arendt nichts wissen (S. 233).
Selbstverständlich fehlt nicht eine Auseinandersetzung mit der Einschätzung Arendts, Eichmann sei eine Art Repräsentant der „Banalität des Bösen“. Der Autor ist sehr kritisch gegenüber Arendts fast schon populärer These von der „Banalität des Bösen“, das in Eichmann sichtbar werde. Leider erwähnt Winkler nicht die Studie von Irmtrud Wojak „Eichmanns Memoiren“ (2001). Darin wird gezeigt, dass sich Hanna Arendt in Jerusalem von der Verteidigungskonzeption Eichmanns sehr täuschen ließ, sie hat Eichmanns Aussagen vor Gericht dann doch Glauben geschenkt. „Sie war in Jerusalem (beim Eichmann – Prozess) intellektuell überfordert,“ schreibt Winkler (S. 240). In den Protokollen der Gespräche Eichmanns mit dem ehemaligen SS Offizier Willem Sassen hätte Arendt erfahren können, Eichmann war alles andere als ein bloß total gehorsamer, ziemlich dummer Deutscher Nazi, also eigentlich banal… Die Philosophin Bettina Stangneth hat die Dialoge Sassen – Eichmann in Argentinien dokumentiert und treffend bewertet. (Bettina Stangneth: „Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders“, Zürich 2011)
Willi Winkler schreibt: „Zum Skandal wurden vor allem aber Arendts Bemerkungen über die Judenräte und damit über die Juden insgesamt. Sie hatten, das war ihr Vorwurf, keinen Widerstand geleistet, als sie nach Auschwitz deportiert wurden…Sie hatten sich gleichschalten lassen und, noch schlimmer, mit den Nazis kollaboriert.“ (S. 256). Aus dem Befremden über die Aussagen Arendts sei offene Feindschaft vieler Juden gegen Arendt geworden… (S. 257).

6. Zum Staat und zu der Regierung in Israel:
Auf Seite 223 schreibt Willi Winkler. „Die Konfrontation mit dem zum Staat gewordenen Zionismus schockiert Hannah Arendt. Sie rebelliert gegen das Völkische (dort).“ Winkler kommt zu dem Schluss: „Hannah Arendt hasste die Regierung Ben Gurions …und die Adenauer Regierung auch.” (S. 234). Und weiter: „Hannah Arendt ist entschlossen, den Juden in Israel und der Welt zu sagen, was ihr an Israel missfällt.“ (S. 224). Und beim Eichmann Prozess sah sie so viele Deutsche, die „so philosemitisch waren, dass einen das Kotzen ankommt.“ (S.224.) Arendt spricht – bezogen auf den Eichmann – Prozess in Jerusalem von der Deutschen „schwerster Krankheit“, so wörtlich weiter, der „Israelitis“ (S. 228.)

7. Zu Theodor W. Adorno:
In ihrer heftigen Kritik an dem Philosophen Theodor W. Adorno (und den ersten Mitgliedern der marxistisch geprägten „Frankfurter Schule“) ist Hannah Arendt geleitet von ihrer Zuneigung zu Walter Benjamin, den sie im Pariser Exil kennenlernte. Dessen wichtiges Manuskript zur Geschichtsphilosophie rettete sie auf der Flucht in die USA. Hannah Arendt beansprucht förmlich, gegen den Marxisten Adorno die authentische und beste Benjamin – Interpretin zu sein. Sie deutete Benjamin als einen Dichter (S. 64), nicht als einen marxistischen Philosophen. Die Frankfurter Schule nennt sie eine „Schweinebande“ (S. 344.), Adorno ist für sie „einer der widerlichen Menschen, die ich kenne.“ (S. 344). Von Adorno wird Arendt „ein altes altes Waschweib“ genannt. Philosophen-Gezänk der sich total wichtig nehmenden Denker…

8. Zu Martin Heidegger:
Willi Winkler bietet sehr ausgebreitet und ausführlich offenbar die meisten der bis jetzt erreichbaren Details zu Hannah Arendts Bemühen, gerade nach dem Krieg, nach dem Holocaust, mit ihrem alten Liebhaber aus Marburger Zeiten, dem Philosophen Martin Heidegger, in Freiburg wieder Kontakt aufzunehmen. Über dieses starke Insistieren Arendts auf Begegnungen mit Heidegger ist ohnehin schon viel geschrieben und über ihre vielfältigen Motive auch viel nachgedacht worden: Wie kann eine Jüdin, nach dem Krieg, nach dem Holocausst, noch so leidenschaftlich interessiert sein, mit Heidegger zusammenzutreffen? Dessen starke Bindungen an die Nazi – Ideologie damals schon bekannt waren. Willi Winkler hat diese Einschätzung: „Hannah Arendt arbeitet an der Rehabilitierung Heideggers.“ (S. 368) Und auf S. 372: „Sie will ihn verstehen und will ihn in dieser Lebensphase besser verstehen als je zuvor.“ Und auf S. 381 „Hannah Arendt hatte ihm längst verziehen. Sie muss nicht aussprechen, wie sehr sie dem Wiedersehen entgegenfiebert.“ Am 26. Juli 1967 dann eine Begegnung mit dem Heidegger, dem Geliebten der Jugend. Im August 1975 eine letzte Begegnung mit dem Greis.

PS1: In der Sammlung vieler (kurzer) Texte und Zitate aus dem Werk Arendts „Denken ohne Geländer“, Piper Verlag 2013, (S. 69) ist auch Arendts Beitrag zu Heideggers 80. Geburtstag 1969 abgedruckt. Darin bewertet sie in kaum präzisen Aussagen Heideggers parteipolitische Verbundenheit mit den Nazis als ein „Nachgeben der Versuchung.“ (S.69)Und sie meint, er wäre „nach zehn kurzen hektischen (sic) Monaten“ (gemeint ist mit dieser wohlwollenden Formulierung tatsächlich Heideggers explizite Nazi-Bindung), wieder „auf seinen angestammten Wohnsitz“ zurückgetrieben worden… Gemeint ist damit wohl, das für Heidegger übliche, angeblich politisch neutrale Seins- Denken, zu dem er wieder gelangte….Merkwürdige, dunkle Formulierungen schreibt da Hannah Arendt, offenbar voller Liebe zu Heidegger, indem sie sie dessen Sprachwelt des Dunklen, des Nebels, übernimmt.
PS2: Am 26. Mai 1976 ist Heidegger gestorben, ob es anläßlich seines 50. Todestages auch sehr viel Aufmerksamkeit geben wird? Wird man Heidegger im Rahmen der aktuellen, auch intellektuellen Zeitenwende nach rechts(außen) Heidegger neu schätzen lernen?

9.
Willi Winkler zeigt in seinem Buch, wie in den Auseinandersetzungen Hannah Arendts nach 1945 sehr viele Nazis in der BRD Politik und BRD Kultur nicht nur präsent, sondern bestimmend waren.
Dies ist heute ein bleibende Herausforderung, eine aktuelle Aufgabe: Rechtsradikale und Rechtsradikalismus in Deutschland, in Europa, den USA usw. öffentlich zu machen und vor den Vernichtern der Demokratie zu warnen. Zumal Rechtsradikale heute unter vielen ideologischen Gewändern auftreten („MAGA“, Nationalismus, religiöser Fundamentalismus, Anti-Islam-Ideologie und Philo-Semitismus als Ersatz für den in diesen Kreisen bisher üblichen Antisemitismus…)
Wichtig bleibt Hannah Arendts Lehre, dass der Mensch als geistiges Wesen sich dadurch auszeichnet, dass er reflektieren kann, dass er also sein eigenes Handeln und Denken nicht nur stets beobachten und wahrnehmen muss, sondern auch bewerten soll … um überhaupt als Mensch gelten und bestehen zu können. Diese eindringliche, philosophisch bestens begründete Lehre Arendts bleibt dringend aktuell: Der Mensch soll sich selbst beurteilen an dem normativen und universellen Maßstab des Kategorischen Imperativs (Kant) und damit auch der Menschenrechte. Mit diesem normativen Wissen werden die USA von Arendt kritisiert, siehe etwa das Buch „Denken ohne Geländer“. Sie spricht dort von „einer grundsätzlichen Ungeistigkeit des Landes“ (S.244)… Und: „Jeder Intellektuelle ist hier (USA) aufgrund der Tatsache, dass er ein Intellektueller ist, in Opposition“ (ebd., geschrieben 1946 in einem Brief an ihren Freund, den Philosophen Karl Jaspers).

10.
Heute werden auch Grenzen im Denken Arendts genannt, wie sollte es bei seriöser Forschung auch anders sein, immer im Wissen, dass Arendt, vor 50 Jahren gestorben, doch nicht zu allen Themen als unsere Zeitgenossin gelten kann. Vom Desinteresse Arendts an speziellen Themen der Befreiung der Frauen wäre zu sprechen und damit auch davon, dass von ihr keine positiven Aufschlüsse zur Gender – Theorien zu erwarten sind oder auch keine Hinweise, wie wir mit dem Kolonialismus umgehen sollten.
Zur Ökologie und der von Menschen gemachten Zerstörung der Umwelt hat sich Hannah Arendt – soweit ich sehe – nicht geäußert.
Zu ihrer eigenen spirituellen, religiösen Haltung müßte wohl ausführlicher studiert werden. Ich finden ihre Äußerungen in einem Brief an Karl Jaspers im Jahr 1951 wichtig: „Alle überlieferte Religion, jüdische oder christliche, sagt mir als solche gar nichts mehr. Ich glaube auch nicht, dass sie irgendwo und irgendwie noch ein Fundament für etwas so unmittelbar Politisches wie Gesetze hergeben können“ (S. 236). Die Macht des Islamismus sah sie nicht oder den hinduistischen Fundamentalismus konnte sie offenbar nicht studieren, auch nicht die reaktionären Tendenzen im Katholizismus oder bei den Evangelikalen… Für Hannah Arendt ist, wie sie an Jaspers schreibt, „ein kindliches, weil nie bezweifeltes Gottvertrauen wichtig… „im Unterschied zum (dogmatischen)Glauben, der ja doch immer zu wissen glaubt und dadurch in Zweifel und Paradoxien gerät.“(S. 236 in „Denken ohne Geländer“).

11.
Was bleibt heute von Hannah Arendt – ein Fazit vermisst man in dem Buch von Willi Winkler, einer sehr umfangreichen Biographie („Ein Leben“)… Spätestens, wenn die „Kritische Gesamtausgabe“ (16 Bände) der Werke Arendts vollständig vorliegt, kann vielleicht mehr zum „Bleibenden“, Bedeutenden, nach wie vor Aktuellen im Werk Hannah Arndts gesagt werden. Leider ist in diesem anspruchsvollen Projekt der Gesamtausgabe keine vollständige Publikation ihrer Briefe vorgesehen, schreibt Willi Winkler (S. 439.) Zur Gesamtausgabe im Wallstein Verlag: LINK https://www.wallstein-verlag.de/reihen/hannah-arendt-kritische-gesamtausgabe.html

Willi Winkler, „Hannah Arendt – ein Leben, Rowohlt Verlag Berlin, 2025, 509 Seiten, 32 €.

Der Religionsphilosophische Salon Berlin hat früher schon einige – z.T. ausführliche Hinweise zu Hannah Arendt veröffentlicht.
Wir nennen hier nur eine Beispiele:

— Über ein neues Buch von Lyndsey Stonebridge
Ein Hinweis von Christian Modehn am 17.5.2024. LINK

— “Die größten Übeltäter sind jene, die sich nicht erinnern”: Hannah Arendt, verstorben am 4.12.1975.
Geschrieben am 20. November 2016.  LINK

— Hannah Arendt: Die Banalität des Bösen, die “lebenden Leichname” und die Überflüssigen.
Geschrieben am 29. Dezember 2012.  LINK

— Hannah Arendt – eine Propagandistin von Martin Heideggers “braunem Denken” ?
Geschrieben am 20. Oktober 2016
Ist Hannah Arendt gebunden an Heideggers eher braunen Denkweg?
Ein Hinweis auf ein verstörendes und inspirierendes Buch von Emmanuel Faye, verfasst 2016  LINK 

— Hannah Arendt: Pluralität und Erfahrung des anderen. Sie haben ihre Wurzeln im Selbstgespräch des einzelnen.
Geschrieben am 4. September 2016.  LINK

Erhellend zum Thema Nazis in der BRD ist in unserem Zusammenhang eine Studie über den Eichmann Verteidiger Robert Servatius: Dirk Stolper: „Eichmanns Anwalt. Robert Servatius als Verteidiger in NS-Verfahren“, Frankfurt a. M./New York 2025, Campus, 498 Seiten, gebundene Ausgabe,  49 €. Siehe dazu die Rezension: https://rsw.beck.de/aktuell/daily/meldung/detail/robert-servatius-anwalt-nazis-eichmann-prozess und auch:  https://www.arendt-research-center.de/team/index.html

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

Weihnachten verstehen: Dann können wir Weihnachten besser feiern.

Ein Interview mit dem Autor des Buches „Die Weihnachtsgeschichte – Fakten, Legenden und tiefere Bedeutung“: Frank Kürschner-Pelkmann
Die Fragen stellte Christian Modehn am 6.11.2025

Frage von Christian Modehn: Ihr neues Buch über Weihnachten (erschienen im Oktober 2025) hat 680 Seiten, die Fußnoten noch gar nicht mitgezählt. Ihr erstes Buch über Weihnachten aus dem Jahr 2012 „Von Herodes bis Hoppenstedt. Auf den Spuren der Weihnachtsgeschichte“ hatte 696 Seiten. Warum sind Sie so leidenschaftlich, möchte ich fast sagen, an Weihnachten interessiert?Warum ist es Ihnen so wichtig, Aufklärung und Kenntnis zum Weihnachtsfest zu fördern?

Antwort Frank Kürschner-Pelkmann: Ich bin überzeugt, dass man durch ein ernsthaftes Studium der biblischen Texte und ihres geistes- und sozialgeschichtlichen Hintergrunds zu einem tieferen Glauben gelangen kann. Das haben bereits manche Denker der Aufklärung im 18. und 19. Jahrhundert so gesehen. Damals fehlten aber noch viele Erkenntnisse, die uns verschiedene Wissenschaften inzwischen ermöglicht haben. Um diese spannende Spurensuche zu beginnen, muss man kein Theologieprofessor oder Philosoph sein, sondern es gibt viele auch für Nicht-Experten gut verständliche Darstellungen zu diesen Themen. Ich habe eine große Zahl von theologischen und historischen Darstellungen gelesen, die für die Weihnachtsgeschichten relevant sind, ein Beispiel ist das neue Verständnis von Maria in der feministischen Theologie. Die aus dieser Studienarbeit gewonnenen Erkenntnisse sind durch Zitate und eigene Darstellungen in das Buch eingeflossen. Das hat natürlich zum Umfang des Buches beigetragen.

Dafür eröffnet das Buch einen Zugang nicht nur zu den Weihnachtsgeschichten, sondern – so hoffe ich jedenfalls – auch zu einem aufgeklärten Verständnis des ganzen Neuen Testaments. Die Weihnachtsgeschichten können zugleich eine Brücke zur Hebräischen Bibel bilden und sind eindeutig von Lukas und Matthäus so verfasst worden. Zugleich sind diese einleitenden Kapitel so etwas wie Ouvertüren zu den dann folgenden Evangelien. Es klingen wie in einer musikalischen Ouvertüre schon einmal die Themen an, die im übrigen Werk ausführlicher und in Variationen zu hören sind.
Dazu ein kleines Beispiel. Dass es bei Lukas die Hirten sind, die zum Stall in Bethlehem kommen, also eine marginalisierte Gruppe der damaligen Gesellschaft, weist schon darauf hin, dass im Lukasevangelium immer wieder betont wird, dass den Armen das Heil verheißen wird. Diese Erkenntnis behält auch dann ihre Gültigkeit, wenn wir wahrnehmen, dass die Geschichte von den Hirten eine Legende ist. Ja, das gilt gerade dann, wenn wir dies wahrnehmen. Die Hirten haben keinen Auftritt in der Geschichte, weil sie gerade in der Nähe und nachts noch wach waren. Sie werden als Repräsentanten der Armen in die Heilsgeschichte einbezogen, wie sie Lukas erzählt. Er war kein Historiker und wollte es auch nicht sein, sondern er hat Geschichten aufgeschrieben, die Menschen zum Glauben führen und ihnen Hoffnung in einer trostlos erscheinenden Zeit geben wollte.
Das hat auch Matthäus getan. Und da die Evangelisten ihre Werke parallel verfassten und die Texte des anderen nicht kannten, gibt es wie erwähnt Abweichungen in den Darstellungen. Das können wir interessiert, aber gelassen wahrnehmen. Der Kern der Botschaften dieser Evangelien (und des übrigen Neuen Testaments) sind in hohem Maße identisch.

Frage: Ist denn Ihr starkes Interesse an Weihnachten auch mit Ihrer persönlichen Geschichte verbunden?

Antwort: Meine Weihnachtsgottesdienst-Erinnerungen beginnen in der Schlosskirche in Ahrensburg, einem evangelischen Barockbau. Der große Weihnachtsbaum mit den vielen Lichtern (damals noch mit echten Kerzen) hat mich tief beeindruckt. Davor stand die Krippe, und weil ich schon damals kurzsichtig war, bestand ich am Ende des Gottesdienstes darauf, nach vorne zu gehen und mir die Krippenfiguren genau anzusehen. Auch in der Schul- und Konfirmandenzeit war der Besuch der Weihnachtsgottesdienste für mich immer ein Höhepunkt der Weihnachtszeit. Im Konfirmandenunterricht ist mir dann ein Verständnis des Christentums vermittelt worden, das Vernunft und religiöse Gefühle miteinander in Einklang bringen wollte. Ich habe später versucht, Frömmigkeit zu verbinden mit einem radikalen Verständnis der Bibel und des christlichen Engagements in dieser Welt.
Es war und ist mir immer ein Graus, wenn biblische Verse, auch aus der Weihnachtsgeschichte, aus ihrem Zusammenhang gerissen und in die jeweilige gesellschaftspolitische Argumentation einbezogen wird. Die Bibel ist kein Steinbruch, wo man sich gerade passende Verse heraussucht und dem Gegenüber an den Kopf wirft. Dieser Versuchung sind leider immer wieder auch Kritiker der gegenwärtigen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse erlegen.

Gerade die Weihnachtsgeschichte, kann helfen, grundlegende Einsichten darüber zu gewinnen, was die Botschaft dieses Jesus von Nazareth ist. Wir müssen diese Geschichten gründlich lesen und so zum Beispiel erkennen, was Legenden sind und welche tiefere Bedeutung sie haben. Es ist aber unbedingt zu vermeiden, die Bibeltexte so lange zu sezieren, bis wir vor einem Trümmerhaufen stehen, den wir dann mehr oder weniger resigniert verlassen. Für mich sind die Weihnachtsgeschichten zentrale Texte, um das miteinander zu verbinden, was wir wissen können und was wir glauben dürfen, wenn wir das wollen.

Frage: Sie haben also die Erwartung oder wenigstens die Hoffnung, dass durch die vermehrte Kenntnis der Weihnachtsgeschichte, erzählt von den vier Evangelisten und den zahlreichen „apokryphen Erzählungen“ zur Jesus-Gestalt, Menschen wieder intensiver, auch spirituell, Weihnachten erleben und feiern können? Also jenseits des weltweit vorherrschenden „Konsumrausches“ anläßlich von Weihnachten?

Antwort: Nach dem Verfassen meines Buches bin ich mehr denn je überzeugt, dass die Weihnachtsgeschichte geeignet ist, Menschen intellektuell und spirituell anzusprechen. Es gibt beim Hören und Lesen dieser Geschichten sehr viele Aha-Erlebnisse, wenn man sich auch mit den historischen und sozialgeschichtlichen Hintergrund der Geschichten beschäftigt. Man kann zum Beispiel erfahren, dass die Verfasser der Evangelien ihre Werke als Gegengeschichten zum Herrschaftsanspruch und zur Propaganda von Kaiser Augustus verfasst haben, bis hinein in ihre Wortwahl. Nicht Augustus, sondern Gott ist der wahre Herrscher der Welt, lautet die Botschaft. Diese Botschaft konnten die damaligen Menschen in Galiläa und Judäa erkennen, während sie heute nicht mehr bei einer Lektüre der Evangelien ohne ein Wissen über historische Bezüge und Zusammenhänge zu erkennen sind. Die Propaganda von Augustus, seine „guten Nachrichten“ („euangelion“, das griechische Wort für „Evangelium“) erreichten auch das letzte Dorf in Palästina. Man war also in der Lage kaiserliche Propaganda und biblische Botschaft in Beziehung zueinander zu setzen. Die Jesusbewegung hat ihre „Evangelien“ dagegengestellt und deutlich gemacht, dass die politischen Herrscher dieser Welt, allen voran Augustus, nicht die wahren Herrscher sind – eine wahrhaft kühne Botschaft einer bedrängten kleinen Jesusbewegung. Im Magnifikat singt Maria, dass Gott die Mächtigen vom Thron gestürzt hat (Luther hat diese radikale Botschaft abgemildert und übersetzt, dass Gott die Mächtigen vom Thron stürzen wird).Die radikalen Aussagen in den Evangelien sind kein politisches Manifest. Sie sind tief eingebunden in eine Spiritualität, die die Menschen einlädt, aus dem Glauben heraus eine innere Freiheit zu finden, sich für eine umfassende Befreiung der Menschheit einzusetzen und mitzuarbeiten am Reich Gottes. Weihnachten ist ein guter Anlass, diese Verheißung auf lebendige Weise erfahrbar zu machen. Das wird dann geradezu zwangsläufig prägen, wie wir Weihnachten feiern. Ein „Konsumrausch“ hat dann keinen Platz in unseren Weihnachtsfeiern, wohl aber das immer neue Staunen darüber, wie mehr als 2.000 Jahre alte Geschichten uns Hoffnung und Orientierung im eigenen Leben und im Miteinander geben können.

Frage: Sie legen allen Wert darauf, unseren Blick auf die vielfältigen christlichen Glaubenshaltungen und Theologien außerhalb Europas – auch zum Thema Weihnachten – zu richten?

Antwort: Mein Interesse an der Auslegung der Weihnachtsgeschichte in der weltweiten Ökumene hat zunächst einmal biografische Gründe. Die Beschäftigung mit theologischen Texten aus der Ökumene und besonders der Befreiungstheologie hat meinen Glauben und meine theologischen Auffassungen sehr stark beeinflusst. In dem halben Jahrhundert, in dem ich mich nun mit theologischen Fragen beschäftige, haben ökumenische theologische Beiträge immer wieder im Zentrum gestanden.
Ich will aber nicht verschweigen, dass die Weihnachtsgeschichten in der weltweiten Ökumene durchaus Konfliktstoff birgt. Die meisten, vermutlich die allermeisten, Missionare haben die Bibel als Wort für Wort von Gott übermittelt dargestellt. Die Bibel ist auch heute für viele Millionen Christinnen und Christen im Süden der Welt „Gottes Wort“ in einem sehr engen Sinne. Die historisch-kritische Auslegung biblischer Texte wird besonders in Afrika von vielen Pastoren und Bischöfen abgelehnt. Die Folgen zeigen sich zum Beispiel beim Umgang mit dem Thema Homosexualität, wo eine biblizistische Auslegung einiger weniger Bibelverse zu einer kompromisslosen Ablehnung von Homosexualität veranlasst. Das hat die anglikanische Weltgemeinschaft zeitweise fast zu einer Spaltung geführt.
Wir müssen solche Konflikte aushalten und wie schon die ersten Gemeinden der Jesusbewegung damit leben, dass es unterschiedliche Auffassungen in Glaubensfragen gibt. Es gibt in religiösen Fragen keinen Alleinvertretungsanspruch, wohl aber den Auftrag zu einem gemeinsamen Ringen um das richtige Verständnis. Gern zitiere ich den jüdischen Gelehrten Pinchas Lapide: „Jede Streitfrage hat, zutiefst gesehen, drei Seiten: deine Seite – meine Seite – und die richtige Seite.“

Es gibt auch im Süden der Welt inzwischen eine größere Zahl von Theologinnen und Theologen, die dogmatische Festlegungen infrage stellen, die auf den ersten Konzilen der entstehenden Kirche getroffen wurden. Das betrifft zum Beispiel die Frage, ob Maria eine Jungfrau war oder diese dogmatische Festlegung lediglich auf dem Hintergrund des hellenistischen Weltverständnis zu sehen sind. Müssen Diese Dogmen heute weiterhin für weltweite Christenheit verbindlich sein? Tissa Balasuriya, ein Befreiungstheologe in Sri Lanka, wurde zeitweise vom Vatikan exkommuniziert, weil er dies infrage stellte.
Inzwischen gibt es auch in Afrika erfreulicherweise eigenständige feministische Theologien und auch die lateinamerikanische Befreiungstheologie kann uns weiterhin zu neuen Erkenntnissen und Einsichten verhelfen. Weltweit ist ein Aufbruch zu neuen eigenständigen Theologien zu beobachten. Sie könnten die deutschen Kirchen bereichern, wenn man sie denn auf einer breiteren Ebene wahrnehmen würde. Ich habe im Buch eine ganze Reihe wegweisender Theologinnen und Theologen aus der weltweiten Ökumene zu Wort kommen lassen.

Frage: Die zahlreichen Gottesdienste vor allem am „Heiligen Abend“ sind, im Vergleich zu „üblichen Sonntagen“, geradezu überfüllt. Die FAZ beispielsweise berichtet, dass 28 Prozent der Befragten Weihnachtsgottesdienste besuchen wollen. Was zeigt sich in dieser ungewöhnlichen Begeisterung für Gottesdienste selbst bei sonst eher kirchlich desinteressierten Menschen?

Antwort: Ein wichtiger Grund ist, dass besonders Lukas Weihnachtsgeschichte weiterhin viele Menschen, auch Kinder, tief bewegt. Sie hat das auch schon gleich nach der Entstehung dieses Evangeliums getan und Hoffnung in einer bedrohten Situation als kleine religiöse Gruppe im riesigen Römischen Rech geweckt. Andere jüdische Gruppen lehnten die radikalen Botschaften Jesu ab, den sie nicht als Messias anerkannten. Manche Gruppen der Jesusbewegung wurden aus Synagogen ausgewiesen. Sie verloren damit auch den begrenzten Schutz, die die Römer den Juden gewährt hatten. Diese Römer hatten den Anführer der Jesusbewegung gekreuzigt und damit begonnen, seine Anhänger zu verfolgen. In dieser Situation fand Lukas die richtigen Worte, um mit seiner Weihnachtsgeschichte den Menschen Mut zu machen und Hoffnung zu geben. Das tun diese Verse auch heute noch. Ich habe bei der Beschäftigung mit theologischen Beiträgen zur lukanischen Weihnachtsgeschichte gelernt, dass ein Grund für die Wirkung dieser Geschichte ist, dass Lukas bei seine Darstellung der Geschichte auf viele Details verzichtet hat, die in einer solchen Geschichte hätten erzählt werden können. Das eröffnet den Hörerinnen und Hörern der Geschichte die Gelegenheit, mit viel Phantasie selbst auszuschmücken und das einzufügen, was ihnen wichtig ist.

Ich möchte hier ein zweites, mir wichtiges Thema ansprechen. Viele der Menschen, die heute in Weihnachtsgottesdienste strömen, haben Erinnerungen an solche Gottesdienste in ihrer Kindheit. Aber viele heutige Kinder haben diese Erfahrungen nicht mehr. Und ihre Eltern können ihnen auch nicht mehr viel von dem vermitteln, was dieser Jesus später gesagt und getan hat. Es besteht also die Gefahr eines Traditionsabbruchs. Es muss deshalb gelingen, in den heutigen Weihnachtsgottesdiensten jene Begeisterung entstehen zu lassen, von der Sie in Ihrer Frage gesprochen haben.

Wir empfehlen das Buch „Die Weihnachtsgeschichte – Fakten, Legenden und tiefere Bedeutung“ von Frank Kürschner-Pelkmann. Rediroma-Verlag, 680 Seiten, Oktober 2025, kartoniert, 26,95 €.

Weitere Informationen zu den Büchern Frank Kürschner-Pelkmanns: LINK.

Copyright: Frank Kürschner-Pelkmann und Religionsphilosophischer-Salon.de

General Franco, Spaniens faschistischer Führer, vor 50 Jahren gestorben…Und seine Ideologie wird lebendig…

Als sich die Kirchenführung mit dem Faschisten, dem Regime des „Caudillo“ Franco, vereinte.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 29. Oktober 2025

Am 17.11.2025 ergänzt: In 15 Städten Spaniens wird in katholischen Kirchen am 20. November 2025, dem 50. Todestag des Faschisten General Franco, eine Totenmesse gefeiert. Die Bindung vieler Katholiken Spaniens an den Faschisten ist offensichtlich. Die Bischöfe werden diese Pro-Franco -Messen sicher nicht verbieten. Bezeichnenderweise finden diese Pro-Franco-Messen nicht in Katalonien und im Baskenland statt, diese Regionen waren weithin Anti-Franco und republikanisch eingestellt… Weitere Infos: LINK.

Einführung: Der reaktionäre „Nationalkatholizismus“ damals und heute
Wir erinnern an den spanischen Faschisten Francisco Franco und seine katholische „Nationalkirche“. Und wir denken dabei jetzt auch an die USA unter Trump und Co., eng verbunden mit einer christlich – fundamentalistischen „National-Religion“. Sie ist Mittelpunkt us-amerikanischer „weißer“ Identität. Dieses Christentum (präsent nicht nur unter Evangelikalen, auch unter Katholiken) wird eingesetzt, um die politische und kulturelle Vorherrschaft von Trump und Co. zu zementieren. Quelle: LINK:
In Frankreich wird aktuell wieder verstärkt von rechtsextremen Politikern (Eric Zemmour u.a.) der „Nationalkatholizismus“ propagiert, finanziert von den reaktionären Milliardären Vincent Bolloré und Pierre Eduard Sterin, siehe etwa die Auseinandersetzungen um den aktuell erfolgreichen Kinofilm „Sacre Coeur“ Quelle: LINK : An diese konkreten (!) Parallele zum Faschisten Franco gilt es zu denken. Und auch: Francos Regime scheiterte, weil demokratische Kräfte nach seinem Tod 1975 stärker waren. Der klerikale Katholizismus als ideologischer Kitt des Regimes verlor seine Bedeutung und so führte die Demokratie die katholische Kirche in eine zunehmend schwächere Rolle, trotz allen Pomps, den die Herren Kardinäle und Bischöfe dort noch öffentlich, bei ihren Auftritten, an den Tag legen und so den Eindruck erwecken, als wäre alles “noch „beim alten“.

1.
Eine Erinnerung an den faschistischen Führers Spaniens, Generalissimo Francisco Franco und seine 36 Jahre (1939-1975) dauernde Herrschaft: Geboren wurde Franco am 4. Dezember 1892, gestorben ist er am 20. November 1975: Aber ist Franco wirklich tot? Sicher nicht! Rechtsradikales, faschistisches Denken lebt noch heute in Spanien und wird immer stärker, siehe die Entwicklung der VOX-Partei. Rechtsextreme Parteien in ganz Europa sind auf dem Vormarsch und setzen sich leider durch. Dass die Herrschaft Francos durch Nationalismus, Antikommunismus, Einparteienstaat, Zensur, Verfolgung und Vernichtung Andersdenkender (Linker, Demokraten…) bestimmt war, macht ihren faschistischen Charakter aus.

2. „Klerikaler Faschismus“
Unseren Interessen im „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“ entsprechend, wird hier kritisch vor allem auf die entscheidende Stütze der Diktatur Francos, den Katholizismus, hingewiesen. „Tatsächlich war die katholische Kirche während der ersten zwei Jahrzehnte (also bis Ende der 1960 Jahre) der deutlichste ideologische Partner der Diktatur Francos. Sein faschistisches Regime war ein klerikaler Faschismus“, so Antonio Gomez Movellán. (Fußnote 1). “Seit ewigen Zeiten war die katholische Kirche in Spanien eins mit den Mächtigen. Sie nahm zwar nicht direkt an der Erhebung des Bürgerkriegs teil, stellte aber häufig logistische Unterstützung. Und dort,  wo “die Bewegung` (die Falange und die Miltärs) den Sieg davon trug, wurde das Bild von Spanien als einem Land der Inquisition von neuem Wirklichkeit”, schreibt der Spezialist, der Historiker Pierre Vilar in seiner Studie “Der spanische Bürgerkrieg”, Berlin 2005, S. 102.

Und heute? Francisco Franco gilt bei vielen SpanierInnen noch immer als eine Art Erlöser seiner Nation, weil er die “Republik der Linken“ mit blutiger Gewalt überwunden hat. In Spanien sind praktizierende Katholiken traditionell bis heute mit der konservativen Partei „PP“, der Nachfolgepartei Francos, verbunden (Fußnote 2) oder jetzt mit der rechtsextremen Partei „VOX“ unter ihrem Führer Santiago Abascal. Zuvor gab es rechtsextreme Gruppen wie „Hazte Oír“, eine militante Strömung des Katholizismus. Sie wurde stark, wie üblich, mit reaktionären Positionen zu Fragen der Familie, der Abtreibung und der Feindschaft gegenüber Ausländern…
Laut der jüngsten „Sigma-Dos“-Umfrage für die Tageszeitung EL MUNDO würden heute 14,8% der Wahlberechtigten für Vox stimmen. Unter diesen VOX Wählern bezeichnen sich 72 % als katholisch, 2.615.230 Menschen. Quelle: EL MUNDO, 11.8.2025, Beitrag von Paloma H. Matellano. Von den Katholiken, die sonntags an der Messe teilnehmen, also „praktizieren“, würden sogar 24,1% für VOX stimmen. Selbst wenn sich Bischöfe jetzt gegen rechtsradikale Parteien und gegen VOX aussprechen und die Menschenwürde der Ausländer und Flüchtlinge und Muslime verteidigen: Große Teile der katholischen „praktizierenden“ Basis halten sich nicht an die Weisungen der Bischöfe. In der heutigen katholischen traditionell – konservativen Mentalität lebt die strukturelle Verbindung von Katholizismus und Rechtsextremismus aus Francos Zeiten weiter: Diese Mentalität war bestimmt von der Zustimmung zur Herrschaft des EINEN Führers, des Caudillo bzw. des Einen, des „unfehlbaren Papstes“ bzw. seiner Bischöfe.

3. Die kurze Zeit der 2. Republik
Die Situation der Kirche vor Franco, konkret seit dem Ende der Monarchie im Jahr 1931:
Zwischen 1931 bis 1936, dem Beginn des Bürgerkrieges, konnten SpanierInnen in dieser „Zweiten Republik“ die Offenheit der Demokratie erleben und Demokratie gestalten. Die liberalen Regierungen widersetzten sich der üblichen finanziellen Bevorzugung der katholischen Kirche. Die Republik führte Gesetze ein zur Ehescheidung ein, die Zivilehe wurde möglich, es gab kostenlosen Unterricht für alle… Radikale antiklerikale Kreise setzten ihre alte, angestammte Wut auf den reaktionären Klerus in Gewalt um. Heftigste Ablehnung der Republik durch die Kirchenführung ließ nicht auf sich warten: Am 3. Juni 1933 verurteilte Papst Pius XI. in seiner Enzyklika „Dilectissima Vobis“ die Republik wegen der „Unterdrückung der spanischen Kirche“ und der Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten… Schon komisch, dass sich ein Papst für bürgerliche Freiheiten endlich einmal einsetzte…Die Bischöfe waren aufseiten der Monarchie, aber wegen ihrer Privilegien und ihrer reaktionären Mentalität vor allem bei vielen Intellektuellen und gebildeten Bürgern zu recht höchst unbeliebt. Davon spricht Papst Pius XI. nicht.

Es gab allerdings eine „kleine katholische Minderheit“ von Demokraten, Verteidigern der Republik im spanischen Katholizismus. Etwa José Manuel Gallegos Rocafull (Priester, Theologe, Philosoph, der nach Mexiko flüchtete), Angel Ossorio y Gallardo (Jurist, er starb im Exil in Argentinien) oder José Bergamin (angesehener Schriftsteller, Präsident der Allianz der Antifaschisten). Der katalanische demokratische katholische Politiker Manuel Carrasco Formiguera wurde im April 1938 auf Francos Befehl hingerichtet, weil er nicht mit den offiziellen Ansichten übereinstimmte…Tatsache ist auch: Die Republik war nicht in der Lage, ihre internen Konflikte demokratisch zu lösen. Mit dem Putsch (unter Führung General Francos) begann am 17.7.1936 der Bürgerkrieg.
Deutschland unter Hitler und Italien unter Mussolini unterstützten Franco, diverse Linke aus verschiedenen europäischen Ländern – in ihrer ideologischen Vielfalt und Widersprüchlichkeit – stellten sich auf die Seite der spanischen Linken und Republikaner. Der Spanische Bürgerkrieg war sozusagen auch so etwas wie ein “europäischer Bürgerkrieg“.

4. Der Bürgerkrieg 1936 – 1939.
Seit Beginn des Krieges gaben Generäle den Befehl, »das spanische Volk« zu »reinigen« und alle »linken Elemente zu eliminieren«. „Dieser Terror hielt sich bis zum Herbst 1937 und wandelte sich bis weit in die Vierzigerjahre hinein zu einem Strukturelement des Unterdrückungsapparates der Diktatur Francos: Es gab Konzentrationslager, Zwangsarbeit, überfüllte Gefängnisse, Kinder wurden ihren »roten« Eltern weggenommen, und alle als »rot« verdächtigten Personen streng überwacht. Quelle: Prof. Georg Pichler, Madrid, LINK:
Weiteste Kreise der Kirche, die überwiegende Mehrheit der Priester, unterstützten den Putsch der Militärs und der Rechten, also den gewalttätigen Umbruch der Machtübernahme. „Der Bürgerkrieg war in dem streng kontrollierten Land im Sinne Francos der Kampf des Guten gegen das Böse.“ Quelle: LINK Quelle ebd. Und: „Im Vatikan betrachtete man Franco als einen `Retter“ … Das Regime wurde lange Zeit als Modell eines katholischen Staates behandelt“ (siehe Fußnote 1.)

Die Faschisten der „Falange“, die „Nationalisten“, säuberten“ das Land durch die Hinrichtung von Staatsfeienden, und das waren die Linken. Die katholische Kirche behauptete, dieses Morden der Republikaner sei nichts als eine berechtigte Reaktion auf das Morden der Linken, also der Mord an Priestern und Ordensleuten. Franco schuf ein Gesetz der „Politischen Verantwortung“, es blieb bis 1962 in Kraft und sollte seiner politischen Unterdrückung der Republikaner und der Linken einen gewissen legalen Anschein geben. Der Historiker Stanley G. Payne schätzt, dass die Zahl der Todesopfer des „Weißen Terrors“ der Faschisten während des Kriegs höher ist als die Zahl der Todesopfer des „roten terrors“: Payne, Stanley. “Chapter 26: A History of Spain and Portugal vol. 2”. Grundlegend auch:  https://en.wikipedia.org/wiki/White_Terror_(Spain)

Die Führung der spanischen Kirche duldete den „Weißen Terror“ der Faschisten:
Kardinal Gomá erklärte, dass „Juden und Freimaurer die nationale Seele mit absurden Lehren vergifteten“ …Wer nicht regelmäßig zur Messe ging, wurde leicht ‚roter‘ Tendenzen verdächtigt. Unternehmer verdienten viel Geld mit dem Verkauf religiöser Symbole … Quelle: Beevor, Antony (2006). The Battle for Spain; The Spanish Civil War 1936–1939. Penguin Books.
Die Bischöfe Spaniens veröffentlichen am 1. Juli 1937 einen „Hirtenbrief“, mit dem Ziel: Die ganze Welt solle tatsächlich Franco unterstützen: Führend war daran beteiligt der Madrider Erzbischof Leopoldo Eijo y Garay (1878- 1963). Es ist der „Brief der spanischen Bischöfe aus Anlass des Bürgerkrieges: Siehe: “Carta colectiva de los obispos españoles con motivo de la guerra en España”.

“Die Präsenz des Klerus bei den Zermonien, in der Armee, in den Gefängnissen, bei den Hinrichtungen symbolisierte die Vereinigung des Politischen und des Religiösen, von Staat und Kirch in ihren härtesten Aspekten. Das persönliche Leben der Spanier (Taufe, Heirat, Führungszeugnis) hing von neuem vom kirchlichen Apparat ab,” schreibt der schon in Nr.2. erwähnte Historiker Pierre Vilar (S. 102).
Juan Goytisolo, einer der bekanntesten und wichtigsten Autoren Spaniens, schreibt in seinem Buch „Spanien und die Spanier“, Suhrkamp, 1982, S. 217: „Ein spezifisch spanischer Aspekt des Bürgerkrieges ist die Gewalttätigkeit. Die enge Tradition der Intoleranz, der Verdächtigung und des Argwohns erklärt zur Genüge, wie jenes Phänomen (der Gewalttätigkeit) zum Allgemeinverhalten wurde, und zwar mit einer Heftigkeit, die alle Zeugen bestürzte. Pierre Vilar (geschätzter Historiker der spanischen Geschichte und Gegenwart) schreibt: `Es gab Priester, die zu den übelsten Massenerschießungen ihren Segen erteilten, und es gab Menschenmeuten, die alle aufspürbaren Geistlichen zu Tode jagten. Es ist der Zusammenprall einer Religion und einer Gegenreligion…“

An die Häuserwänden wurde Franco – Propaganda geschmiuert mit der Parole: “Franco, Führer Gottes und des Vaterlandes. Auf der Welt der erste Besieger des Bolschewismus auf den Feldern des Kampfes”. (So im genannten Buch von Pierre Vidal, siehe Nr. 2,  S. 92).

5. Deutsche Katholiken und der Bürgerkrieg
Wenig bekannt ist heute die Bindung von Katholiken in Nazi – Deutschland an die „freiwilligen“ Kämpfer im spanischen Bürgerkrieg aufseiten Francos. Gerade unter katholischen deutschen Jugendlichen gab es eine Verehrung dieser heldenhafter katholischen Kämpfer. Der Publizist Carl Amery hat sich mit dem Thema befasst: „Der Durst nach Heldentum und heroischen Vorbildern wurde gesättigt mit francistisch – katholischen Kreuzzugs – Idolen, etwa mit dem Faschisten José Moscardo im Alcázar in Toledo (Massaker an Republikanern 1936) oder mit Werner Mölders, dem deutsch-katholischen „Fliegerhelden“ im spanischen Bürgerkrieg (Werner Mölders, geb.am 18.3.1913 Gelsenkirchen, im Kriegs-Einsatz umgekommen am 22.11.1941 bei Breslau.) Carl Amery hat sich in einem Beitrag für das Radio-Programm in WDR3 am 7. August 1989 (Kritisches Tagebuch) mit dem Thema befasst.

6. Francos Herrschaft vom 31. März 1939 bis zum 20. November 1975
Wie regierte Papst PIUS XII.auf den Sieg Francos? Ein Zitat aus wikipedia: LINK.  Am 1. April 1939, dem Tag, an dem General Franco seinen berühmten „letzten Bericht“ veröffentlichte, in dem er verkündete, dass „der Krieg vorbei ist“, gratulierte der neu gewählte Papst Pius XII. Franco per Telegramm zu seinem „katholischen Sieg“: „Wir erheben unser Herz zum Herrn und danken Ihnen, Exzellenz, aufrichtig für den ersehnten katholischen Sieg Spaniens. Wir wünschen uns, dass dieses geliebte Land, nachdem es den Frieden erreicht hat, mit neuer Kraft seine alten Traditionen wieder aufnimmt, die es so groß gemacht haben. Mit diesen Gefühlen senden wir Eurer Exzellenz und dem gesamten spanischen Volk unseren apostolischen Segen.“
Franco antwortete ihm umgehend:
„Das Telegramm Eurer Heiligkeit anlässlich des vollständigen Sieges unserer Waffen, die in einem heldenhaften Kreuzzug gegen die Feinde der Religion, des Vaterlandes und der christlichen Zivilisation gekämpft haben, hat mich zutiefst bewegt. Das spanische Volk, das so viel gelitten hat, erhebt ebenfalls mit Eurer Heiligkeit sein Herz zum Herrn, der ihm seine Gnade geschenkt hat, und bittet ihn um Schutz für sein großes Werk der Zukunft. (…)
(Die Zitate sind dem Buch von Hilary Raguer. La pólvora y el incienso. La Iglesia y la Guerra Civil española (1936-1939). (Col. Gran Atalaya, 2008). Barcelona: Península.) Übersetzt mit DeepL.com

Seit dem 31. März 1939 ist also Spanien unter der Kontrolle von Francos Truppen. „Es beginnt dann eine Welle der Verfolgung von Franco-Gegnern mit etwa 270.000 Häftlingen und zehntausenden Toten. In den ersten Nachkriegsjahren leidet Spanien unter einer Hungersnot. Bis in die Siebzigerjahre werden zahlreiche Neugeborene aus Familien von Oppositionellen den Eltern entzogen.“(Quelle: LINK
Zu Beginn der Herrschaft Francos organisierten die Bischöfe am 20. Mai 1939 in der Kirche St. Barbara in Madrid einen prachtvollen Gottesdienst, um Gott zu danken für den Sieg Francos im Bürgerkrieg. Während der Messe legte Franco sein Schwert zu Füßen der Figur „Christus von Lepanto“. Bei Lepanto, im Golf von Korinth, besiegten am 7. Oktober 1571 Galeeren-Verbände des Papstes das Osmanischen Reich mit dem Untergang der muslimischen Kriegsflotte. Die Inszenierung der Verehrung Lepantos sollte eine Verbindung herstellen zur definitiven Vertreibung der Muslims aus Spanien Ende des 15. Jahrhunderterts.
Den Segen über den siegreichen Vernichter der Linken, also Generalissimo Franco, sprach in der St. Barbara Kirche der innige Franco – Freund Kardinal Isidro Gomá: „Gott, dem sich alle unterordnen, dem alles dient, gewähre, dass die Zeit Deines treuen Dieners, des Führers Francisco Franco, eine Zeit des Friedens und der Freude sei, damit der, den wir unter Deiner Führung an die Spitze unseres Volkes gestellt haben, Frieden und ruhmreiche Tage erlebe. Wir beten heute, Herr der Herren, dass Du vom Thron Deiner Majestät wohlwollend auf unseren Führer Francisco Franco herabblickst, dem Du ein Volk gegeben hast, das seiner Herrschaft unterworfen ist und ihm in allen Dingen nach Deinem Willen zur Seite steht.“ Quelle: LINK .

Nebenbei: Der Katholik Franco war eng verbunden und verbündet mit katholischen Diktatoren in Lateinamerika, etwa mit Leonidas Trujillo, dem sich Chef nennenden Diktator der Dominikanischen Republik. Vom 2. Juni 1954 besuchte Trujillo mit seiner Familie für einigeTage Franco: Trujillo wurde sehr pompös empfangen, es war förmlich ein Fest: Die Schüler hatten Extra -Ferien erhalten, die offizielle Arbeitszeit gekürzt, damit die SpanierInnen Trujillo zujubeln konnten usw.. Von Spanien aus reiste der Diktator Trujillo dann weiter nach Rom, um im Vatikan das Konkordat zu unterzeichnen. Papst Pius XII. gewährte dem Diktator Trujillo eine Privataudienz am 16. Juni 1954. Siehe das Foto dieser Begegnung: LINK. Der Religionsphilosophische Salon hat ausführlich zu diesem Thema publiziert: LINK.

Dass noch im Jahr 2007 die Diktatur Francos von konservativen Politikern falsch eingeschätzt wurde, zeigte Otto von Habsburg in einem Interview mit der Springer – Zeitung „DIE WELT“ am 28.6. 2007. Otto von Habsburg antwortete auf die Frage „Wie steht es mit der Innenpolitik Francos?“ : „Schauen Sie, für mich war der Franco ein Diktator des südamerikanischen Typus, ein Caudillo, eben nicht totalitär wie Hitler oder Stalin. Er wollte ja keine Ideologie durchsetzen.“ (Das Gespräch führten Ulli Kulke und Felix Müller für „Die WELT). Warum wollte wohl Herr von Habsburg so viel Unsinn reden?

7. Das Konkordat vom 27.8.1953:
Das Konkordat mit dem Vatikan ersetzte das Konkordat von 1853. Franco erwartete von der Vereinbarung mit dem Papst Pius XII. und dem Vatikan eine stärkere internationale Anerkennung. Festgelegt wurde unter anderem: Die katholische Kirche ist Staatskirche. Es gibt Privilegien für den Klerus, es gilt für sie die Befreiung von Steuern, der Staat unterstützt den Neubau von Kirchen, Katholiken müssen kirchlich heiraten, der Staatschef hat mit zu entschieden, wer Bischof wird.

8. Das 2. Vatikanische Konzil befreit die spanische Kirche aufgrund des Drucks „von außen“
Das Ende dieser Symbiose von Katholizismus und Franco Regime wurde durch das 2. Vatikanische Konzil beschleunigt. Eine klare Entscheidung traf die spanische Bischofskonferenz schon 1966, ein Jahr nach Ende des 2. Vatikanischen Konzils, als sie – durch die Konzilsbeschlüsse etwa zur Religionsfreiheit förmlich getrieben – grundsätzlich auf innerkirchlichen Privilegien verzichtete. Am 29. April 1968 schrieb der Papst Paul VI. einen Brief an Franco und forderte ihn auf, als katholischer Staatsmann ein gutes Beispiel zur Verwirklichung der vom Konzil erhobenen Forderungen zu geben und auf seine alten Privilegien der Mitentscheidung bei Bischofsernennungen zu verzichten. Franco aber lehnte diese Bitte des Papstes am 12. Juni 1968 ab. Er wollte auf diesen Einfluß absolut nicht verzichten. Die Bischofskonferenz forderte 1973 die Trennung von Kirche und Staat und eine Revision des Konkordats von 1953. „Nachfolgende Verhandlungen über eine solche Revision scheiterten auch, weil Franco sich weigerte, auf sein Vetorecht bei den Ernennungen von Bischöfen durch den Vatikan zu verzichten. Bis zu seinem Tod verstand Franco den (neuen) Widerstand der Kirche gegen ihn nicht. Franco beklagte sich bitter über die seiner Ansicht nach undankbare Haltung der Kirche. LINK

9. Zur Verfassung von 1978:
In der Konstitution Spaniens aus dem Jahr 1978 werden Kirche und Staat getrennt: Im Artikel. 16 heißt es.
Absatz (1): „Die Freiheit des weltanschaulichen Bekenntnisses, der Religion und des Kults wird dem einzelnen und den Gemeinschaften gewährleistet; sie wird in ihrer äußeren Darstellung lediglich durch die vom Gesetz geschützte Notwendigkeit der Wahrung der öffentlichen Ordnung beschränkt.
Absatz (2) Niemand darf gezwungen werden, sich zu seiner Weltanschauung, seiner Religion oder seinem Glauben zu äußeren.
(3) Es gibt keine Staatsreligion. Die öffentliche Gewalt berücksichtigt die religiösen Anschauungen der spanischen Gesellschaft und unterhält die entsprechenden kooperativen Beziehungen zur Katholischen Kirche und den sonstigen Konfessionen.
Über diesen Absatz 3 und die späteren ergänzenden Abkommen von Kirche und Staat (1979) wurde und wird heftig debattiert: Sollte die katholische Kirche immer noch eine ganz besondere, privilegierte Rolle im Staat spielen?

Ein ergänzendes Abkommen zur Verfassung wurde mit der katholischen Kirchenführung getroffen, am 3. Januar 1979, also kurz nach Inkrafttreten der Verfassung: Diese Vereinbarung sieht bestimmte Steuerbefreiungen für die katholische Kirche vor, dies führte zu Kontroversen und Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof. Katholischer Religionsunterricht an staatlichen Schulen wird als ein Wahlfach eingeführt…

10. Massenweise Seligsprechungen
Im Bürgerkrieg wurden viele Priester und Ordensleute von radikalen Unterstützern linker, kommunistischer, anarchistischer Parteien ermordet: Sie galten den Linken pauschal als Freunde des Militärs und der Faschisten, und sicher zutreffend als feinde der Republik und der Demokratie.
Viele dieser Priester und Ordensleute wurden von den Päpsten seit den 1980 Jahren offiziell als „Selige“ anerkannt, d.h. sie können nun „an Gottes Thron für die Gläubigen eintreten.“ Papst Johannes Paul II. sprach insgesamt 471 spanische Ermordete selig und stellte am 11. März 2001, wie er selbst meinte, einen persönlichen Rekord auf, als er diese Ehre der Seligsprechung 233 Opfern, »Märtyrer« genannt, zukommen ließ. Am 13. Oktober 2013 wurden in Tarragona 522 »Märtyrer der religiösen Verfolgung des 20. Jahrhunderts in Spanien«, wie die offizielle Bezeichnung heißt, seliggesprochen. Bezeichnenderweise waren bei dieser Messe zur Seligsprechung mehrere Minister anwesend, während noch nie ein Vertreter der Regierung an einer Bestattungsfeier von republikanischen Opfern teilgenommen hat. Quelle kfsr
Die Auswahl dieser durch den Vatikan zu Seligen erklärten Opfer bzw. Märtyrer erläuterte Erzbischof Edward Novack (von der Abteilung für die Seligsprechungen Vatikan) im „L’Osservatore Romano“: „Und von Fall zu Fall ist es für die Seligsprechung wichtig, dass Menschen, unter denen der Selige gelebt hat, ihren Ruf als Märtyrer bestätigen und anerkennen und dann zu dem Seligen beten und Gnaden erlangen. Es sind nicht so sehr Ideologien, die uns bei der Seligsprechung interessieren, sondern vielmehr der Glaubenssinn des Volkes Gottes, der das Verhalten der Person beurteilt.“
Papst Benedikt XVI. sprach im Oktober 2007 weitere 498 spanische Märtyrer selig. Dies wurde zur größten Zeremonie einer Seligsprechung in der Geschichte der katholischen Kirche. Diese „Massenseligsprechung“ von Geistlichen, die während des Bürgerkriegs mit Franco verbündet waren und gegen die Republik eingestellt waren, wurde empört von der spanischen Linken zurückgewiesen. Der Vatikan ignorierte etwadie 16 Priester, die schon als “linke Priester“ in den ersten Kriegsjahren von der nationalistischen Seite Francos hingerichtet wurden.

11. Das Gefängnis für Priester in Zamora.
Das ist sensationell: Franco errichtete ein spezielles Gefängnis für Priester in Zamora, ein einmaliges Projekt weltweit: Die Priester wurden inhaftiert, weil sie sich öffentlich gegen das Franco – Regime ausgesprochen hatten. Sie wurden im so genannte „Konkordats-Gefängnis“ in Zamora inhaftiert. Die ersten „linken Priester“ wurden 1968 eingesperrt, hundert waren es bis zur Auflösung dieses Priester-Gefängnisses im Jahr 1976. Die für ihre Priester verantwortlichen Bischöfe schützten diese ihre „linken“, kritischen Priester nicht vor dem Zugriff des rechtsextremen Franco – Regimes. Sie duldeten das Gefängnis. Alberto Gabikagogeaskoa war der erste Priester, der im Juli 1968 in diesem Flügel des Provinzgefängnisses in Zamora inhaftiert wurde. Sein Verbrechen? Er hielt eine subversive Predigt, für die er wegen illegaler Propaganda angeklagt wurde. In dieser Predigt prangerte der Priester an, dass in den Gefängnissen des Baskenlandes Gefangene gefoltert würden. Das Gericht für öffentliche Ordnung verurteilte ihn zu sechs Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe von 10.000 Peseten.“
Weitere Details bietet die website der „Abogacia espanola“, die „Spanische Anwaltschaft“. LINK:
Das Leben einiger dieser „roten Priester“ zeigt der Dokumentarfilm von baskischen Regisseuren Ritxi Lizartza, Oier Aranzabal und David Pallarés, mit dem Titel „Apaiz Kartzela / The Priestergefängnis“, Jahr 2021. Vier dieser früheren Insassen des Priestergefängnisses, die Priester Josu Naberan, Juan Mari Zulaika, Xabier Amuriza und Eduard Fornes, drei Basken und ein Katalane reisen zum alten Gefängnis von Zamora, das heute eine Ruine ist, und erinnern sich an ihre Haft. LINK
Erst nach vielen Jahren wagten es einige Priester, Insassen des Priestergefängnis des Franco – Regimes, sich öffentlich zu äußern. Die Geschichte der Beziehung zwischen der katholischen Kirche und dem Franco-Regime kommt selbst 45 Jahre nach Francos Tod nur mühsam ans Licht der Öffentlichkeit.

12. Das OPUS DEI
Ein Hinweis auf die katholische „Geheimorganisation“ Opus Dei gehört unbedingt zum Thema „Kirche in Spanien und Franco“: Das „Opus“ wurde 1928 in Spanien von José Maria Escrivá y Balaguer gegründet und schon 1941 vom Franco – Freund, dem Erzbischof von Madrid, Leopoldo Eijo y Garay, offiziell anerkannt. Damals schon gab es Kritik durch einige Jesuiten an dieser Institution, aber der Erzbischof ignorierte Bedenken. 1950 geschah die offizielle Anerkennung auf höchster Ebene durch Papst Pius XII. Seitdem ist das Opus Dei machtvoll, aber ziemlich undurchsichtig im Katholizismus als mächtige Organisation etabliert. Das Opus hat neben vielen Hochschulen auch eine eigenenUniversität (Santa Croce) in Rom, wo auch Kleriker aus Deutschland studier(t)en, wie der Kölner Günstling Kardinal Meisners, Rainer M. Woelki. Heute ist er Kardinal in Köln. Georg Gänswein, der von Papst Benedikt hoch geschätzte Sekretär, war Dozent an der Opus Dei Universität in Rom. Man merke sich: Man muss nicht Opus – Dei – Mitglied sein, um wie das Opus zu denken und in seinem Sinne zu handeln. „Der Geist des Opus Dei hat in der Tat als wesentliches Merkmal die Tatsache, dass es jeden Menschen dazu führt, die Aufgaben und Pflichten seines eigenen Staates, seiner Sendung in der Kirche und in der Zivilgesellschaft mit größtmöglicher Vollkommenheit zu erfüllen.Dieser Geist bzw. dieses Charisma war sehr geeignet, um die materiellen Bedürfnisse des Wiederaufbaus Spaniens nach dem Ende des Bürgerkriegs in den späten 1930er Jahren zu erfüllen. Sein sozialer Nutzen war ausschlaggebend für die Unterstützung, die es von der aufstrebenden Franco-Diktatur und der Kirche erhielt, und half ihm, die während der Republik verlorenen Räume und Ideologien zurückzugewinnen. Das Werk Gottes war ein wichtiger Partner von Francos nationalem Projekt.“ Quelle: LINK

Die Jesuiten stehen traditionell eher „links“ und Anhänger des „Opus Dei“ eher „rechts“. Beide kämpfen an ihren Eliteschulen und Universitäten um die besten Talente des Landes und ihren Einfluss. Die Wirtschaftsschulen IESE (Instituto de Estudios Superiores de la Empresa, geleitet vom „Opus Dei“) sowie ESADE (Escuela Superior de Administración y Dirección de Empresas, von Jesuiten geführt) gehören zu den besten der Welt, so die Politologin Stefanie Claudia Müller (Madrid).
Opus Dei Mitglieder haben etwa am Ende der Franco -Ära und danach als Technokraten in der Regierung den Umbau des Staates zu einem eher industrialisierten Land mit dem Tourismus Schwerpunkt betrieben.

Ein bekanntes Mitglied des Opus Dei in Spanien ist Andres Ollero, es ist bekanntlich sehr schwer, Opus – Dei – Mitglieder als solche zu identifizieren, nur wenige machen ihre Mitgliedschaft öffentlich. „Als Mann mit konservativen Überzeugungen und Mitglied des Opus Dei verband Andres Ollero eine breite akademische Karriere mit seinem politischen Aktivismus, der 1980 mit der Unterstützung des andalusischen Vorschlags von Manuel Clavero begann. 1986 trat er der Demokratischen Volkspartei (PDP) des Christdemokraten Óscar Alzaga bei und führte die Liste der Volkskoalition (die später zur Volkspartei wurde) in Granada an. Er gewann einen Sitz als Abgeordneter und wurde wiedergewählt. Er führte die Partei ohne Unterbrechung bis 2003, als er freiwillig von seiner politischen Tätigkeit zurücktrat. Zu seinen zahlreichen Verantwortlichkeiten in dieser Funktion gehören: Vizepräsident des Ausschusses für Bildung und Kultur des Abgeordnetenhauses (1989) und nacheinander Präsident der Nationalen Kommission für wissenschaftliche Forschung und technologische Entwicklung, des Bildungsausschusses und des Justizausschusses der Volkspartei. Er war auch Mitglied des Zentralen Wahlausschusses in der 8. Legislaturperiode und wurde vom Abgeordnetenhaus gewählt.“ (Übersetzung google) Quelle: LINK

13. Die neuen geiustlichen Gemeinschaften … Sekten? 
Man bedenke allerdings: Aus dem katholischen Spanien stammt auch eine andere „neue geistliche Gemeinschaft“, wie man kirchenoffiziell diese eher „sektiererischen Gemeinschaften nennt: Vor allem muss dbeidie „Neokatechumenale Bewegung“ erwähnt werden, begründet von Kiko Argüellez und Carmen Hernandez: Die Neokatechumenalen haben in Spanien viele tausend militante Mitglieder und sie leiten dort 14 Priesterseminare („Redemptoris Mater“ genannt), diese dort ausgebildeten explizit sehr klerikalen konservativen Priester sollen den bekannten Mangel an Priestern ausgleichen, sehr „zur Freude“ der wenigen noch progressiv denkenden Gemeindemitglieder… Auch die ebenfalls sehr konservativen Ordens – Männer der „Legionäre Christi“ mit ihrer großen Laienbewegung Regnum Christi sind in Spanien stark vertreten, etwa in der Leitung katholischer Privatschulen: Diese beiden Gemeinschaften wurde bekanntlich von dem Sexualstraftäter Pater Marcial Mariel (geb. Mexiko) gegründet, er war in Rom ein Freund Papst Johannes Paul II. Immer wieder wurden Priester des Ordens der „Legionäre Christi“ der Sexualdelikte auch mit Minderjährigen angeklagt…Der Religionsphilosophische Salon Berlinhat seit 2009 die Verbrechen Pater Maciels und anderer “Legionöre Christi” dokumentiert. LINK.
Der aus Spanien stammende katholische Theologe Mariano Delgado hat in der katholischen „Herder-Korrespondenz“ 2011 erklärt: „In einigen dieser Erneuerungsbewegungen mit ihrer militanten Haltung gegenüber der säkularen Gesellschaft und der inneren Säkularisierung vieler Kirchendiener sowie mit ihrem Neu-Evangelisierungskonzept, das auf eine Heimholung der Welt in den Schoss der Kirche hinzielt, lebt gewissermassen das Gedankengut des spanischen Traditionalismus fort. Sie stellen einen „Antimodernismus mit modernen Mitteln“ dar. Andererseits kann man ihnen nicht absprechen, dass sie Menschen für die Nachfolge Jesu zu begeistern versuchen…“ Aber mit der Tendenz: das eigene kritische Denken ausschalten, wenn man denn so glaubt, wie es diese „Erneuerungsbewegungen“ propagieren…

14. Erinnern oder Vergessen/Verdrängen?
Franco ist 50 Jahre tot, aber seine Ideologie und die Ausstrahlung seiner „Persönlichkeit“ auf Rechte und Rechtsradikale sind noch lebendig. Dies ist auch begründet im „Pacto de olvido“ (dem Pakt des Vergessens), einer ungeschriebenen Vereinbarung, Institutionen oder Einzelpersonen für ihre Handlungen während des Regimes nicht zu verfolgen oder zu bestrafen. Der Pakt sollte den Übergang zur Demokratie nach dem Ende der Diktatur erleichtern, die Rechten meinten so, eine Amnestie zu erhalten für alle ihre Verbrechen in der Franco-Zeit, Linke dachten daran, auf diese Weise ihre Gefangenen frei zu bekommen.

„So wurde etwa festgestellt, dass Spanien nach Kambodscha das Land ist, in dem es die meisten Opfer des »erzwungenen Verschwindens« gibt – bis heute sind noch immer mehr als 114.000 Opfer der franquistischen Repression nicht exhumiert. Die wichtigsten Forderungen der Gedächtnisbewegung lauten »Verdad, Justicia y Reparación« – Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung“. Quelle Prof. Georg Pichler, Madrid, LINK

Immerhin konnten ich sehr langen, sehr heftigen Debatten Francos sterbliche Überreste im Jahr 2019 aus der monumentalen Basilika im „Tal der Gefallenen“ exhumiert und auf einem kleinen Friedhof bei Madrid untergebracht werden. Diese Basilika sowie die monumentale Gedenkstätte mit ihrem 150 Meter hohen Steinkreuz wurden von Franco errichtet, sie haben Jahrzehnte lang politische und gesellschaftliche Spannungen verursacht.
Dieses monumentale „Gotteshaus“ im sogenannten „Tal der Gefallenen“ wird allerdings weiterhin für Gottesdienste genutzt. Auch die Benediktinergemeinschaft auf dem Gelände der Gedenkstätte wird dort in den Madrider Bergen bleiben. Darauf hätten sich die spanische Regierung und der Vatikan geeinigt, sagte Madrids Erzbischof José Cobo laut spanischer Medienberichte.  Quelle: LINK  . Zur Abtei LINK

15. Die Katholische Kirche in Spanien heute –  einige Statistiken
Die Volksreligion und die eher abergläubische Volksfrömmigkeit sind noch heute lebendig, werden aber auch als Folklore verstanden und als Touristenattraktion zelebriert („Semana Santa“, Ausstellung von Reliquien und heiligen Knochen, Verehrung eines Kelches, aus dem Jesus – angeblich – getrunken hat, in Valencia, und so weiter und so weiter .. bis heute). Die Volksreligion wird auch aus kommerziellen Gründen noch am Leben gehalten und von Priestern unterstützt. Juan Goytisolo, einer der wichtigsten Autoren Spaniens, schreibt: “Kirchliches Andachtswesen und Folklore durchdringen sich in Spanien zu einem unlöslich christlich – heidnischen Phänomen“ (in: „Spanien und die Spanier“, Suhrkamp 1982, S. 219)…Man sollte auch sagen: Hier wird Religion gegen Vernunft und Einsicht gestellt.

Das Resultat der Symbiose Franco – Kirche: Der Abschied der SpanierInnen von dieser Kirche ist radikal: 1965 nannten sich 98 Prozent der Spanier katholisch. 2025 waren fast nur noch die Hälfte, nämlich 55 Prozent. Quelle: LINK https://www.newtral.es/evolucion-catolicismo-espana/20250422/
Weitere wichtige Quellen zum Thema: LINK :
Auch wichtig zum Niedergang der katholischen Kirche in Spanien:  LINK: „Die katholische Kirche in Spanien steht vor einer immer offensichtlicher werdenden Herausforderung: der Überalterung des Klerus und dem Mangel an Nachwuchs. Nach aktuellen Angaben der Spanischen Bischofskonferenz liegt das Durchschnittsalter der Priester in vielen Diözesen bereits über 65 Jahren, und in einigen ländlichen Gebieten ist es nicht ungewöhnlich, dass achtzigjährige Pfarrer aufgrund fehlender Nachfolger weiterhin im Dienst sind. Der Rückgang der Priesterberufungen ist ein seit Jahrzehnten anhaltender Trend. Während in den 60er und 70er Jahren die Seminare voll waren, ist die Zahl der neuen Seminaristen heute sehr gering. Im Jahr 2024 beispielsweise gab es landesweit nur noch knapp 1.000 Seminaristen, eine Zahl, die im Gegensatz zu den mehr als 7.000 im Jahr 1990 steht.“ Quelle: LINK

„Ungläubig“ oder „atheistisch“ nannten sich im Oktober 2021 39,9%, also mehr als ein Drittel der Bevölkerung. 1978 waren es nur 8,5% der Bevölkerung, die sich atheistisch nannten.
Das ist entscheidend: Unter den Jugendlichen bezeichneten sich 2021 nur noch 28,2% als katholisch. Und die jungen Menschen sieht man selten noch in der Sonntagsmesse… Zur Teilnahme an der Messe unter den Katholiken aller Altersgruppen: Im Jahr 2021 sagten 56,8%, niemals an der Sonntagsmesse teilzunehmen, im Jahr 1983 waren es nur 22,2%. Die Zukunft der katholischen Kirche in Spanien, wie überall in Europa, ist also düster…Und die Kirchenführung will nicht anerkennen, dass sie vor allem mit ihren uralten Dogmen und ihrer rigiden Moral die Gläubigen aus der Kirche treibt, also mitschuldig ist am zahlenmäßigen Verschwinden der Kirche, selbst wenn noch viele Klöster und Kathedralen – oft wie Museen – das Bild der Städte bestimmen. Die katholische Theologie als Wissenschaft verliert immer mehr an Bedeutung, wie überall in Europa, auch in Deutschland. Das Opus Dei leitet eine theologische Fakultät an seiner Universität in Pamplona.

Über den sexuellen Missbrauch durch Priester und Ordensleute in Spanien wäre eigens zu berichten, über die vielen Mühen, die Opfer haben, um ihr Leiden anerkannt zu wissen. Die in Spanien übliche offizielle Hochschätzung des Klerus ist nun vorbei. Der Klerus vertreibt die Gläubigen. 

2025 wurde berichtet: “Die Spanische Bischofskonferenz (CEE) hat im Jahr 2024 über die Kinderschutzstellen der verschiedenen Diözesen 146 neue Zeugenaussagen von Missbrauchsopfern gesammelt. Damit steigt die Zahl der Fälle seit Einführung dieser Verfahren vor vier Jahren auf über 1.000. Die Zahl der vor der Vorlage des Tätigkeitsberichts für 2024 gesammelten Missbrauchsfälle „überstieg 1.000 Fälle”, betonte der Generalsekretär und Sprecher der CEE, Francisco César García Magán. „Zu diesen neuen Fällen kommen noch weitere hinzu, da sie noch nicht verhandelt wurden und sich in der Bewertung befinden”, was eine Zahl von fast 1.200 Anzeigen ergeben würde, präzisierte er.
94 Fälle kamen aufgrund des Todes des Täters nicht vor Gericht. Von den 146 neuen Zeugenaussagen, die 2024 eingegangen sind, wurden 94 nicht vor Gericht verhandelt, weil der Täter verstorben ist oder weil die Straftat verjährt ist, berichtete García Magán auf der Pressekonferenz nach der 127. Vollversammlung der CEE, zu der sich diese Woche alle Bischöfe Spaniens in Madrid versammelt hatten”. . Quelle: LINK 

Zusammenfassend.

Ein Kommentar der Politologin Stefanie Claudia Müller (Madrid): „Weil es während der Diktatur offensichtlich enge Verbindungen zwischen Franco, seinen Anhängern und der streng kirchlich konservativen Gemeinschaft „Opus Dei“ gab, haben sich viele Spanier von der Kirche abgewandt. Wer für die Republik ist, stellt sich heute immer noch meist gegen die Kirche. Die Zahl der Monarchie-Gegner, die im König die Fortführung der Diktatur sehen, nimmt nach jüngsten Umfragen vor allem an den Universitäten zu. Nach dem Ende der Diktatur wurde die Kirche trotz der ihr in der Verfassung zugewiesenen neutralen Rolle von verschiedenen Interessengruppen politisiert, was sie ebenfalls Mitglieder gekostet hat“. Quelle:„Herder-Korrespondenz” 2019: LINK

Unser Kommentar zum Schluss: Der Nationalkatholizismus in Frankreich jetzt und die Bindung von Katholkien an rechtsextreme Parteien in Spanien heute sowie das “National-Christentum” von Trump und Co. gefährden und zerstören nicht nur die Demokratie, sie zerstören auch die Möglichkeit, eine moderne katholische Kirche zu gestalten. Es sind die konservativ – bürgerlichen Kreise, die noch zu dieser Kirche halten. Diese Kreise werden aber in heftigen Krisenzeiten dann doch eher nach Rechtsextrem sich orientieren. Diese Kirche, wie am Beispiel Spaniens gezeigt, wird langsam, aber sicher zu einer verschwindenen Organisation, die als Sekte am Rande noch überlebt.

FUßNOTE 1. Antonio Gómez Modelan, La iglesia católica y otras religiones en la Espana de hoy“, Ediciones VOSA, noviembre 1999.

FUßNOTE 2: Der Gründer von Alianza Popular, des späteren Partido Popular (PP), ist Manuel Fraga, war während der Diktatur Informations- und Tourismusminister, sein Nachfolger an der Parteispitze ist José María Aznar, auch er familiär mit Franco verbunden. Der ehemalige Innenminister und EU-Parlamentarier Jaime Mayor Oreja, einst Sprecher des PP im Europaparlament, sagte zur Franco-Diktatur in einem Interview im November 2007: »Warum sollte ich den Franquismus verurteilen, wo doch viele Familien ihn ganz natürlich und normal erlebten? (…) Es war ein Zustand außergewöhnlichen Wohlbehagens.« Quelle: Prof. Georg Pichler, Madrid, LINK

PS: Über die sehr schwierige Situation der Protestanten, Juden und Muslims und die wenigen sich atheistisch nennenden Spanier unter Franco (!) folgen später Hinweise.

Copyright: Christian Modehn, religionsphilosophischer-salon.de

Eine philosophische Anklage gegen die heutige Gesellschaft: Byung-Chul Han

Der Philosoph Byung-Chul Han hat am 24. Oktober 2025 in Oviedo, im „Teatro Campoamor“, den „Prinzessin von Asturien – Preis“ in der Kategorie „Kommunikationen Humanwissenschaften“ erhalten.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 28.10.2025

1.
Die zahlreichen Studien des südkoreanisch – deutschen Autors finden auch in Spanien und Lateinamerika viel Interesse. Über die Vielfalt der Titel der Publikationen Hans kann man sich leicht etwa über wikipedia informieren. Man bedenke, dass die ersten Veröffentlichungen des Philosophen Han Fragen rund um Heidegger und den Zen- Buddhismus handeln. Die jüngste Publikation (2025) „Sprechen über Gott“ (Verlag Matthes und Seitz) als ein Dialog mit der Philosophin und Christin Simone Weil fehlt allerdings im Wikipedia Beitrag. Im Vorwort zu seinem neuen Buch “Sprechen über Gott” schreibt Han: “Ich empfinde eine tiefe Freundschaft, ja eine Seelenfreundschaft für Simone Weil. So kann ich, selbst fast nach  100 Jahren, von ihren Gedanken Gebrauch machen, um zu zeigen, dass es jenseits der Immanenz der Produktion und des Konsums, jenseits der Immanenz der Information und der Kommunikation eine andere, höhere Wirklichkeit, ja eine Transzendenz gibt, die uns aus dem ganz sinnentleerten Leben, aus dem bloßen Überleben, aus dem quälenden Seinsmangel herauszuführen und uns eine beglückende Seinsfülle zu geben vermag.”

2.
Seine Rede anläßlich der Preisverleihung in Oviedo hielt Byung – Chul Han auf Deutsch, sie ist eine heftige Verteidigung der Bedeutung der Philosophie in der neoliberalen Gesellschaft. Sie ist anregend und aufregend, wie es sich für Philosophie gehört.

3.
Wir zitieren einige Ausführungen aus dieser Rede, die wir der Website der Stiftung in spanischer Sprache entnehmen und über deepl.com ins Deutsche übersetzen. Hans Rede in Oviedo ist zugleich eine Verteidigung seiner philosophischen Positionen, die in Deutschland kritisiert wurden.
Die Website der „Princesa de Asturias Stiftung“ bietet den ganzen spanischen Text des Vortrags: LINK

…………..

4. Aus der Rede von Byung-Chul Han in Oviedo, 24.10.2025:
„In der Apologie, dem berühmten Dialog von Platon, erklärt Sokrates, nachdem er zum Tode verurteilt wurde, in seiner Verteidigungsrede, was die Aufgabe eines Philosophen ist. Die Aufgabe des Philosophen bestehe darin, die Athener aufzurütteln und wachzurütteln, sie zu kritisieren, zu irritieren und zu tadeln, so wie eine Bremse ein edles Pferd sticht und aufregt, dessen eigene Körperfülle es passiv macht, und es so anspornt und stimuliert. Sokrates vergleicht dieses Pferd mit Athen…

Ich bin Philosoph. Als solcher habe ich diese sokratische Definition der Philosophie verinnerlicht. Auch meine Texte zur Sozialkritik haben Irritationen hervorgerufen, Nervosität und Unsicherheit gesät, aber gleichzeitig viele Menschen aufgerüttelt. Bereits mit meinem Essay Die Gesellschaft der Müdigkeit habe ich versucht, diese Aufgabe des Philosophen zu erfüllen, indem ich die Gesellschaft ermahnte und ihr Gewissen aufrüttelte, damit sie aufwacht. Die These, die ich darlegte, ist in der Tat irritierend: Die unbegrenzte individuelle Freiheit, die uns der Neoliberalismus verspricht, ist nichts weiter als eine Illusion. Auch wenn wir heute glauben, freier denn je zu sein, leben wir in Wirklichkeit in einem despotischen neoliberalen Regime, das die Freiheit ausbeuten…

Ich habe auch mehrfach auf die Risiken der Digitalisierung hingewiesen. Nicht, dass ich gegen Smartphones oder die Digitalisierung wäre. Ich bin auch kein Kulturpessimist. Das Smartphone kann ein sehr nützliches Werkzeug sein. Es wäre kein Problem, wenn wir es als Instrument nutzen würden. Tatsächlich sind wir jedoch zu Instrumenten der Smartphones geworden. Das Smartphone nutzt uns, und nicht umgekehrt. Nicht das Smartphone ist unser Produkt, sondern wir sind seine Produkte. Oftmals wird der Mensch zum Sklaven seiner eigenen Schöpfung. Soziale Netzwerke hätten auch ein Mittel für Liebe und Freundschaft sein können, aber was dort vorherrscht, sind Hass, Falschmeldungen und Aggressivität. Sie sozialisieren uns nicht, sondern isolieren uns, machen uns aggressiv und rauben uns unsere Empathie…

Soziale Netzwerke ermöglichen eine grenzenlose Kommunikation. Dank der Digitalisierung sind wir miteinander verbunden, aber es fehlen uns echte Beziehungen und Bindungen. Das Soziale erodiert. Wir verlieren jegliches Einfühlungsvermögen, jegliche Aufmerksamkeit für unseren Nächsten. Ausbrüche von Authentizität und Kreativität lassen uns glauben, dass wir immer mehr individuelle Freiheit genießen. Gleichzeitig spüren wir jedoch diffus, dass wir in Wirklichkeit nicht frei sind, sondern vielmehr von einer Sucht zur nächsten, von einer Abhängigkeit zur nächsten taumeln. Ein Gefühl der Leere überkommt uns. Das Erbe des Liberalismus ist die Leere. Wir haben keine Werte und Ideale mehr, mit denen wir sie füllen könnten.

Etwas läuft nicht gut in unserer Gesellschaft.
Meine Schriften sind eine, manchmal sehr energische Anklage gegen die heutige Gesellschaft. Nicht wenige Menschen haben sich durch meine Kulturkritik irritiert gefühlt, wie jener sokratische Hornisse, die das passive Pferd stach und anspornte. Aber wenn es keine Irritationen gibt, wiederholt sich immer nur das Gleiche, und das macht eine Zukunft unmöglich. Es stimmt, dass ich die Menschen verärgert habe. Aber glücklicherweise haben sie mich nicht zum Tode verurteilt, sondern ich werde heute mit diesem wunderschönen Preis geehrt. Dafür danke ich Ihnen von ganzem Herzen. Vielen Dank.
………..

Die Presse in Spanien hat ziemlich ausführlich über die Ehrung Byung – Chul Hans berichtet, etwa die linksliberale Zeitung “El Pais” LINK   . Oder auch „la Vanguardia“ LINK
oder, in der Beilage zur eher konservativenn katholischen Tageszeitung „ABC“: LINK

Das neueste Buch Byung-Chul Hans befasst sich mit dem “Sprechen über Gott”, so der Titel (Matthes und Seitz Verlag 2025). Darin zeigt der Philosoph, wie er sich von der französischen Philosophin Simone Weil (1909 – 1943) innerlich bewegen und inspirieren lässt. Bemerkenswert, dass sich ein prominenter Philosoph mit der Frage nach Gott in einem jüdischen und christlichen Kontext berühren lässt. Byung-Chul Han sagt gleich zu Beginn: “Simone Weil hat sich in meiner Seele eingerichtet. Nun lebt und spricht sie in mir weiter…” Eine philosophische Meditation eines Philosophen, dessen erste Publkiationen Heidegger und dem Zen- Buddhismus galten! Nun sind die meisten seiner 252 Anmerkungen, “Fußnoten”, Zitate von Simone Weil, einer politisch hoch engagierten Frau, die sich aber in ihrer spirituellen Suche scheute, dem Christentum, der katholischen Kirche, durch die Taufe beizutreten.

Zusammenstellung durch den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin.

 

 

 

 

Es ist kein Gott: Sagt Christus … zu Jean Paul

Hinweise von Christian Modehn am 17. Oktober 2025 zum Gedenken an Jean Paul anläßlich seines 200. Todestages am 14.11.2025.

1.
Wieder ein philosophischer „Gedenktag“, ein „Tag zum Nachdenken“: Vor 200 Jahren, am 14. November 1825, ist der Dichter Jean Paul gestorben. Wir kommen ins Nachdenken angesichts seines kurzen Textes: „Die Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“, veröffentlicht im Jahr 1796. Eine Dichtung, die als blasphemisch gedeutet wurde und wird.

2.
Der Dichter Jean Paul, eigentlich Jean Paul Richter, (geboren am 21.3.1763 in Wunsiedel, gestorben am 14.11.1825 in Bayreuth) hat 1796 Jesus Christus verkünden lassen: „Es ist kein Gott“. Christus habe Gott gesucht, auch im Universum, im weiten All, Gott aber nirgendwo gefunden. Und die Leute fragten: „Jesus! Haben wir keinen (Gott)Vater?“ Und Jesus „antwortete mit strömenden Tränen“: „Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.“ Am Ende dieses Textes sagt Christus: Es gibt „keine heilende Hand und keinen unendlichen Vater.“ Die Menschen sind allein gelassen, ohne „letzte Geborgenheit“, „metaphysisch und religiös obdachlos“, sagen manche heute, haben niemanden im Himmel, der ihre Gebete hört und erhört.

3.
Im Vorwort zu seinem kurzem Text entschuldigt sich Jean Paul gleich, ein atheistisches Thema anzustimmen. Aber irgendwie drängt es ihn dann doch, das, was so viele spüren und denken und sagen, den Atheismus nämlich, öffentlich zur Sprache zu bringen. Man möchte meinen, Jean Paul habe den Atheismus selbst erlebt, sonst hätte es ihn nicht gedrängt, darüber zu schreiben.

4.
Die “Rede Christi“, von Jean Paul formuliert, hat immer für heftige Irritationen gesorgt. Sie bringt die Erfahrung weiter Kreise vom Verschwinden des klassisch vorgestellten Gottes „auf den Punkt“. Wie viele fühlten sich dem Nichts ausgesetzt, der totalen Leere, der Sinnlosigkeit, dem Nihilismus, dies ist ein Begriff, der damals „erfunden“ wurde. Denn wenn Gott – Vater im Himmel nicht mehr lebt, ist auch die Menschwerdung seines Sohnes sinnlos, die Erlösung wird sinnlos, die Kirche, die diese Erlösung lehrt, wird überflüssig usw.: Die ganze vertraute Glaubenswelt und Kirchenwelt bricht zusammen. Durch die Aussage „Es ist kein Gott“ ist ein tiefster Einschnitt vollzogen in den selbstverständlichen Kirchenglauben an Gott. Und diese Aussage wird um so gewaltiger, weil es ja Christus ist, der sagt „Es ist kein Gott“.

5.
„Es ist kein Gott“: Das war schon im 18. Jahrhundert „allgemeine Mentalität“, in Frankreich oder England schon seit langem radikaler öffentlich gemacht als in Deutschland. Aber Jean Paul kann die Mentalität „Es ist kein Gott“ nicht ignorieren, er muss sie bearbeiten. Überraschend ist dann doch: Jean Paul will nicht als Atheist oder als Nihilist dastehen! Er zieht sich dann aus der Affäre, hat also Angst, selbst in den Atheismus zu versinken. Deswegen schreibt er am Schluss seines Textes: Die Rede Christi vom toten Gott war ja nichts als … ein Traum: Jean Paul behauptet: „Als ich vom Traum erwachte: Meine Seele weinte vor Freude, dass sie wieder Gott anbeten konnte – und die Freude und das Weinen und der Glaube an ihn waren das Gebet“.

6.
Für Jean Paul darf der Atheismus „Es ist kein Gott-Vater“ deswegen keine letzte Realität sein. Der Dichter schätzt die Emotionen, als „das Weinen, die Freude, die Gebete“ höher ein als die rationale Erkenntnis des Für und Wider der „Existenz” Gottes. Gefühle sollen für Jean Paul den Glauben an Gott lebendig halten. Er ist zwischen rationaler Erkenntnis „Es ist kein Gott“ und dem Gefühl „Ich bin in Gott geborgen“ hin und her gerissen. Seine Sympathie gilt dem Gefühl.

7.
Vom Thema „Der tote Gott“ ist Jean Paul schon lange, seit 1789, bewegt. Sein Problem als Dichter war: Darf er sogar Christus „Es ist kein Gott“ verkünden lassen oder soll das doch, harmloser, eher ein Dichter, etwa Shakespeare, übernehmen? Darüber hatte Jean Paul gerungen. Und sich dann entschieden: Christus muss sagen: „Es ist kein Gott.“
Als Sohn eines Pfarrers hatte Jean Paul 1781 das Theologiestudium in Leipzig begonnen… und dabei wandte er sich ab von der rational – argumentierenden, vernünftigen Gotteslehre. Die Gottesbeweise hatten für ihn keine überzeugende Kraft: Wenn von Gott überhaupt noch die Rede sein kann, dann im Erleben der Natur oder in den Erfahrungen mit der schönen Kunst. Und vor allem: Im religiösen Gefühl. In dieser Überzeugung war Jean Paul mit dem Philosophen und Kant – Kritiker Friedrich Heinrich Jacobi (1743 – 1819) verbunden.

8.
Wenn Jean Paul seinen Christus sagen lässt: „Es ist kein Gott-Vater“, könnte man eine Verbindung sehen zum Tod Jesu am Kreuz: Er schreit, so berichten die Evangelisten Matthäus und Markus gleichlautend laut: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matthäus 27,46 und Markus 15,34). Im letzten Moment seiner Hinrichtung sieht sich Jesus, der Gerechte, der Menschenfreund, der Gott einst seinen „lieben Vater“ nannte, von diesem Gott verlassen. Man möchte meinen: Gott ist für Jesus jetzt tot, er ist ihm entschwunden, nicht wirksam, nicht wirklich, lebendig. Im Sterben und Tod Jesu stirbt für Jesus auch der „altbekannte“ Gott Jesu, also der Gott der Bibel, der Gott der Gesetze und Gebote und Riten, zu Jesu Zeiten also der Gott des „Alten Testaments“. Eine ketzerische Überlegung, aber in der Philosophie ist sie selbstverständlich normal und erlaubt. Weil so der Denkraum eröffnet werden kann, man kann wieder das Zentrum der Weisungen Jesu wieder ernst nehmen: Die Praxis der Nächstenliebe sei alles entscheidend, sie ist wichtiger als die theoretischen dogmatischen Lehren von Gott: Wegen dieser Praxis der Nächstenliebe wird Jesus verurteilt, und deswegen stirbt er am Kreuz und mit ihm der Gott der Lehren, Gesetze, Dogmen. Karfreitag müßte also neu verstanden werden.

9.
Über die Wirkungsgeschichte der Aussage „Gott ist tot“ durch Jean Paul wäre ausführlich zu sprechen. Man müsste an den liberalen protestantischen Theologen Friedrich Schleiermacher erinnern: Schleiermacher wollte den Glauben im Gefühl„verankern“, Gott, so wörtlich, im „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“ spürbar werden lassen. Das Wesen der Religion definierte er als Anschauung und Gefühl, nicht aber als kritisches Denken.

10.
Man müsste in unserem Zusammenhang die Literatur der Romantik weiter diskutierten, etwa die „Nachtwachen des Bonaventura“ von E.T.A. Hoffmann. Friedrich Nietzsche hat in seiner „Fröhlichen Wissenschaft“ (Nr. 125) sehr deutlich den Tod Gottes verkündet: Allerdings war für Nietzsche dieses erschütternde Ereignis nur ein Durchgang zu etwas Größerem, in seiner Sicht Hilfreichen, nämlich der Ankunft der Übermenschen und des Glaubens an die „ewige Wiederkehr des Gleichen“. Das alte Gottesbild als dogmatischer „Sinnstifter“ musste getötet werden, um Raum für Neues zu schaffen…

11.
Man könnte sich auch wieder einmal an den Atheismus des katholischen Schriftstellers Reinhold Schneider erinnern, der in schwerer Krankheit bei einer Reise nach Wien von seiner Erkenntnis der verfehlten Schöpfung spricht: in „Winter in Wien“ 1958 veröffentlicht, spricht Reinhold Schneider seine Erfahrung aus: „Christus kann uns nicht helfen, er ist unsere tödliche Freiheit“, Link.

12.
„Es ist kein Gott“ – diese Erfahrung Jean Pauls darf nicht nur ein Thema der Philosophie – und Literaturhistorie sein. An einem Gedenktag fragen wir weiter: Welcher Gott wird da eigentlich für tot erklärt? Der Herr der Welten, der Allmächtige, der zugleich der All-Barmherzige sein soll? Dieser Gott, der angeblich immer Wunder tut, also in die Gesetze der Natur eingreift, mal hier, mal dort ein Wunder tut, mal hier mal dort ein Bittgebet erhört, dieser Gott ist tot. Diese Frage wird wichtig: Die nach einem „bergenden Sinngrund“, nach einer schöpferischen „Kraft“, diese Frage ist offen und bleibt dringend. Sie ist der Versuch, Gott heute vernünftig zu „übersetzen“. Einige TheologInnen der Kirchen sehen wohl allmählich ein, dass ihre alten dogmatischen Lehren, in der sie so unglaublich viele Details von Gott zu wissen vorgeben, existentiell nicht mehr gelten und vor dem vernünftigen Nachdenken von Menschen des 21. Jahrhunderts keinen Bestand mehr haben können. Ein Gott, der den Namen verdient, lässt sich nicht umgreifend erfassen und definieren. Das wusste schon Jesus, und er lehrte: Die alles entscheidende Verbindung des Menschen zu einer göttlich zu nennenden Wirklichkeit ist … die Praxis der Liebe, der Gerechtigkeit, des Friedens. Und diese Praxis ist schwerer zu leisten als die Theorie am Schreibtisch der TheologInnen oder in den Büros der Kirchen-Bürokratie.

13.
Sollten religiöse Menschen, etwa Christen, also von Atheisten lernen, sich vom Tod Gottes berühren und verändern lassen? Natürlich, das zeigen die Hinweise in Punkt 12. Die verschiedenen fragen und Einsichten der „Atheisten“ machen die Begrenztheit der dogmatischen Aussagen über Gott deutlich. Die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Formen des Atheismus kann also zu einem vernünftig noch möglichen Glauben an den „letztlich“ unbekannten Gott führen. Vielleicht treffen sich dann Atheisten und Glaubende im Schweigen vor einem unendlichen, nicht greifbaren Geheimnis des Lebens und handeln gemeinsam zugunsten der Menschlichkeit, der Geltung der universellen Menschenrechte…Und: Es gibt selbstverständlich nicht “den” Atheismus, sondern viele Formen der Ablehnung eines Gottes, eines höchsten Wesens, eines Gott – Vaters, eines Gott-Menschen usw. Und es gibt selbstverstädnlich den Atheismus der Lebenspraxis: Dies ist der totale Egoismus, der Nationalismus, der Rassismus, die Homophobie… Für Christen: Es ist falsch zu meinen, die Teilnahme am Gottesdienst (an der Messe) sei wichtiger als die Praxis der Nächstenliebe, das Tun des Gerechten. Es gibt in dem Sinne “fromme”, “praktizierende” christliche Atheisten. Man lese in den zentralen Text des Neuen Testaments, der die Überzeugung Jesu von Nazareth klar zum Ausdruck bringt: Matthäus, 25. Kapitel, die Verse 35-36. Diese Überzeugung wird übrigens vom Philosophen Kant in seiner “Religionsschrift” unterstützt: „Es gibt nur eine Religion des guten Lebenswandels“ (S. 236, in der Ausgabe des Meiner Verlages, 2003). Es sind Menschen, die Kant die „Wohldenkenden“ nennt (S. 238). Sie folgen einzig dem Gewissen als der „sich selbst richtenden moralischen Urteilskraft“ (S. 251). Der wahre Gottesdienst ist also die dem Gewissensurteil entsprechende gute Tat, gelebt in guter Gesinnung. LINK

14.
Ist die Flucht Jean Pauls ins religiöse Gefühl eine treffende und eine gültige Antwort? Eigentlich banal daran zu erinnern: Gefühle gehören zum Charme des menschlichen Geistes, sind Ausdruck der Kraft der Seele, klassisch gesprochen. Aber Gefühle werden von Menschen immer auch gewusst: „Ich liebe dich“ ist eine Aussage des Gefühls und gleichzeitig hoffentlich auch der Reflexion, auch der Vernunft. Liebe ohne Vernunft ist blind, nur Liebe mit Gefühl ist menschlich. Gerade in den Religionen müssen religiöse Gefühle immer von vernünftigen Überlegungen begleitet sein und selbstverständlich auch von der Vernunft korrigiert werden. Wer sich gefühlvoll unmittelbar religiösen Bildern aus alter Zeit hingibt, etwa Bildern und Metaphern der Bibel, schränkt sein Leben ein. Wer etwa behauptet: „Jesus hat keine Frauen zu Aposteln erwählt, also darf es 2000 Jahre später keine Frauen als Priester geben“, der überträgt naiv religiöse Überlieferungen und Bildern unreflektiert ins Heute, nur die männlichen Kleriker können sich an dieser Ideologie erfreuen… Die Vernunft weiß: Nur religiöse Meinungen, die Menschen zur Befreiung, zum geistigen Wachstum und zur seelischen Reife führen, sind authentisch und noch aktuell relevant. Wer, wenn nicht die Vernunft kann sich wehren, wenn Menschen meinen, im Himmel sei Jahrmarkt und Blödsinn über die Religionen verbreiten? Religionen brauchen zur Kritik und Selbstkritik nicht andere religiöse Überzeugungen, sondern eine allgemeine, universell gültige Vernunft. Von daher sind viele der stetig wachsenden christlichen charismatischen Kirchen und Pfingst – Bewegungen zu kritisieren genauso wie die evangelikalen, in ihrer fundamentalistischen Bibelinterpretation erstarrten Kirchen. Von den fundamentalistischen Bewegungen im Judentum, Islam, Buddhismus, Hinduismus usw. muss natürlich auch gesprochen werden. Auch sie werden immer heftiger, weil so viele Menschen sich in gefühlvolle Illusionen stürzen: Sie meinen, dort von ihren tiefen seelischen Erschütterungen geheilt zu werden. Aber das Gegenteil ist der Fall.

15.
Wie ist die Erfahrung des Nihilismus zu denken, als Erfahrung des Nichts? Ist das absolute Nichts überhaupt denkbar? Ist der totale unendliche Raum des Nichts nicht immer noch „letztlich“ Etwas? Ist nicht immer noch der Mensch, der das Nichts denkt, noch „im Sein“, also noch lebendig? Kann das Nichts überhaupt radikal gedacht als „Wirklichkeit“ verstanden werden? Sicher nicht. Das Nichts ist eben nichts.
Was bleibt: Mit Nihilismus ist zuerst die radikale Abweisung von vorgegeben Dogmen und Ideologien gemeint. Auch deren Zerstörung, wenn sie Unheil anrichten und den Frieden unmöglich machen, die gerechte Weltordnung verhindern, wie der Nationalismus, der Faschismus, der Klerikalismus… Der Nihilismus, sozusagen richtig dosiert, kann als kritische Bewegung des Nein – Sagens der Vernunft Raum schaffen für ein offeneres, befreites Denken, für ein menschenwürdigeres Leben.

Zum Text Jean Pauls: «Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei», später dem «Siebenkäs» als «Erstes Blumenstück» zwischen dem Kap. 8 und 9 eingefügt (Jean Paul: Werke in drei Bänden, hg. von N. Miller, München 1969, Bd. 1, S. 643).

Der kurze Text selbst: LINK 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

 

Die reiche Kirche und die Armen: Papst Leo schreibt eine offizielle „Ermahnung“

Der Titel der „Apostolischen Exhortation“: „Dilexi te“: „Ich habe dich geliebt. Über die Liebe zu den Armen“.
Hinweise von Christian Modehn am 12.10.2025

1.
Eine päpstliche „Exhortation“ ist eine Ermahnung und Ermunterung an die katholischen LeserInnen. Sie hat keine umfassende Verbindlichkeit wie eine „Enzyklika“, sollte aber als Äußerung des obersten Lehramtes sehr ernst genommen werden. Auf dieses erste offizielle Dokument Leo XIV. haben manche gewartet.

2.
Wir können hier nicht umfassend dieses 121 Absätze umfassende Dokument besprechen. Wir zeigen das Beachtliche des Textes auf, nennen aber auch kritisch einige Ausführungen des Papstes, die in der Öffentlichkeit bisher wenig Beachtung fanden.

3.
Weite Teile dieser „Ermahnung“ sind bibeltheologische Erörterungen zur Armut. Es werden von Leo auch lang und breit die entsprechenden Lehren der Kirchenväter aus der Antike vorgestellt, selbstverständlich fehlen bei einem Papst als Mitglied des Augustiner-Ordens nicht längere Ausführungen zur Liebe des heiligen Augustinus zu den Armen. Wen interessiert das? Es werden dann viele Ordensgemeinschaften detailliert in ihrer Geschichte erwähnt, die alle irgendwie als Hilfe und Beistand für Arme gegründet wurden. Von der durchaus beträchtlichen aktuellen Hilfe dieser Ordensgemeinschaften für Arme ist eher wenig die Rede.

4.
Den LeserInnen wird eingeschärft: Die Hilfe für Arme ist unverzichtbares Element christlichen Lebens. In sehr kurzen, politisch – kritischen Ausführungen folgt Papst Leo seinem in dieser Hinsicht mutigeren und radikaleren Vorgänger Papst Franziskus. So kritisiert auch Leo die „Diktatur einer Wirtschaft, die tötet“ (Nr. 92), ohne dass er dabei, soweit ich sehe, explizit den Kapitalismus und den Neoliberalismus beim Namen nennt. Leo schreibt sehr vorsichtig, offenbar um niemanden unter den Herrschern des Kapitals zu verletzen: „Obwohl es nicht an Theorien fehlt, die versuchen, den aktuellen Zustand zu rechtfertigen, oder die als Theorien erklären, dass die wirtschaftliche Vernunft von uns verlangt, darauf zu warten, dass die unsichtbaren Kräfte des Marktes alles lösen, ist die Würde eines jeden Menschen jetzt und nicht erst morgen zu respektieren. Das Elend so vieler Menschen, deren Würde negiert wird, muss ein ständiger Appell an unser Gewissen sein.“ Der Papst erwähnt die „unsichtbaren Kräfte des Marktes, denkt dabei offenbar an den radikalen Liberalismus eines F.A.Hayek, der heute in „liberalen Parteien “ und bei „libertären Politikern“ (Milei, Argentinien) seine Freunde hat. Aber wie gesagt, Namen werden vom Papst nicht genannt, man muss ja diplomatisch bleiben… Und in Nr. 94 heißt es dann leider viel zu kurz und zu knapp: „Wir müssen uns immer mehr dafür einsetzen, die strukturellen Ursachen der Armut zu beseitigen….Mangelnde Gerechtigkeit ist »die Wurzel der sozialen Übel. Denn »oft stellt man fest, dass tatsächlich die Menschenrechte nicht für alle gleich gelten«. Immerhin taucht in dieser „Ermahnung“ das Wort Menschenrechte auf. Die Päpste müssen mit der Verteidigung der grundlegenden Idee der „Menschenrechte“ bekanntlich vorsichtig umgehen, denn die Menschenrechte gelten in der Kirche explizit nicht (etwa die umfassende Gleichberechtigung der Frauen in der Kirche…), genauso, wie die Kirche explizit keine demokratischen Strukturen will.

5.
Die ganze „Ermahnung“ ist eher langatmig und von einer üblichen, tief erscheinenden Frömmigkeit bestimmt. Man fragt sich: Werden diesen ja doch wohl etwas politischen Text auch NGOs debattieren in ihrer Solidarität mir Armen, Hungernden, Verfolgten, Flüchtlingen, Ausgegrenzten, ungerecht Behandelten usw.? Ich vermute: Eher nicht! Der Text wirkt weithin wie eine Predigt alter Art. Es fehlen Aussagen zur Frage: Wieviel Schuld hat die Kirche in der weltweiten Ausgrenzung der Armen seit Jahrhunderten, wenn es im globalen Süden bis heute „himmelschreiende Armut“ etwa aufgrund des Kolonialismus gibt? Diese Frage hätte doch ein Papst stellen könne, der etliche Jahre im armen Peru arbeitete und der dort als Bischof mit Gummistiefeln durch die überschwemmten Elendsviertel laufen musste. Immerhin betont der Papst, die Armen hätten ihre eigene Kultur (Nr. 100), die sie pflegen sollen!

6.
Auch das wird bisher öffentlich nicht beachtet: Der Titel „Dilexi te“, „Ich habe dich geliebt“, ist, wie der Papst ausdrücklich schreibt, dem neutestamentlichen „Buch der Offenbarung des Johannes“ entnommen (Kap. 3, Vers 9).
Warum ausgerechnet das Motto? Weil es den besten Anschluss bietet an den Titel eines Schreibens von Papst Franziskus „Dilexit nos“, „Er liebt UNS.“ Nun also bei Leo: „Ich habe DICH geliebt“. Und dieser knappe Titel stammt aus einem äußerst schwierigen, bei der Lektüre nicht verständlichen Text voller Symbole, Rätselsprüchen, Geheimnistuerei und Trostsprüchen für die verfolgten christlichen Gemeinden, eben aus der „Offenbarung des Johannes“. Ein Leitwort, ein Motto, mit dem Inhalt „Ich habe dich geliebt“ hätte man auch anderswo im Neuen Testament schnell gefunden. Etwa im Johannes Evangelium, 13. Kapitel, Vers 34: „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.“ Aber „Ich habe DICH geliebt“ weist hin auf die extreme Bindung des Papstes an Augustinus, der nur in der eher privaten Ich – Du – Beziehung seinen Gott fand. In Papst Franziskus` Titel:  „Dilexit nos“, „Er liebt UNS“, wird die Gemeinschaft betont, dies ist bester Ausdruck christlicher Spiritualität.

7.
Sehr problematisch ist das Motto der Ermahnung Leos vor allem deshalb, wenn man sich diesen Vers 9 im 3. Kapitel der „Offenbarung“ genauer anschaut. Dieser Vers steht im Kontext eines imaginären Briefes des Autors „Johannes“ an die Gemeinde in der Stadt Philadelphia, heute ist dies die türkische Stadt Alaşehir. In dem mysteriös – schwierigen Vers 9 heißt es wörtlich: „Leute aus der Synagoge des Satans, die sich als Juden ausgeben, es aber nicht sind, sondern Lügner – ich werde bewirken, dass sie kommen und sich dir (also dem Engel der Christengemeinde, CM) zu Füßen werfen und erkennen, dass ich dir meine Liebe zugewandt habe.“ Da ist also das wichtige Wörtchen: Auf Latein: „Dilexi te“. (Das Bibelzitat ist der „Einheitsübersetzung“ der katholischen Kirche Deutschlands entnommen).
Schon erstaunlich, dass dieses Motto der ersten „Apostolischen Ermahnung“ Leos ausgerechnet einem Vers entnommen ist, in der die Juden im Gegenüber zu den Christen damals als „Synagoge Satans“ bewertet werden… sie werden dann, so Johannes, der Autor, bei der Wiederkunft Christi ihr Judentum aufgeben (müssen).
Dies ist einer der vielen eher mysteriösen Verse aus der „Offenbarung“, die man als LeserIN niemals ohne ausführliche Interpretationshilfe verstehen kann. Die katholische Theologin Prof. Elisabeth Schüssler – Fiorenza aber behauptet in ihrer großen Studie „Das Buch der Offenbarung“, Kohlhammer Verlag, 1991, Seite 76 , die Rede von der „Synagoge Satans” „sollte nicht als Antisemitismus mißverstanden werden.“ Wir sagen nur: Na ja, die Phantasie einer Theologin ist wohl groß.

8.
Papst Leo, so wird in der katholischen Presse behauptet, vertritt in diesem seinen Text eine Art lateinamerikanische Befreiungstheologie. Aber oft ist in dem Text die Rede von der Kirche, die für die Armen eintritt, so, als stehe die Kirche den Armen gegenüber, und tue FÜR sie – aus Barmherzigkeit – Gutes. Dabei sollte es doch wohl so sein: Die Kirche ist mit den Armen solidarisch, weil sie selbst als Kirche eine Organisation der Armen ist und als Kirche selber arm ist bzw. im Sinne Jesu sein sollte… Nicht FÜR die Armen, sondern MIT ihnen ist authentische Befreiungstheologie. Komischerweise muss man sagen, macht sich Leo am Ende seiner langen Ermahnungen dann sogar noch für die klassischen Almosen stark. SAlso für die Almosen für die Armen,  jene üblichen Spenden der reichen Christen in der reichen Welt, die einiges Hilfreiche bewirken, aber überhaupt keine adäquate Antwort sind auf die entsetzlichen Lebensbedingungen der meisten Menschen im globalen Süden etwa.

9.
Was deutlich fehlt in dieser Ermahnung des Papstes: Nirgendwo ist die Rede davon, wie denn die Kirchenführungen, also die klerikale Hierarchie, also auch der Vatikan, also auch die gut ausgestatteten Bischöfe in ihren Palästen – den Armen praktisch beistehen sollen. Man fragt sich natürlich: Kann diese Kirche überhaupt eine arme Kirche mit den Armen werden bei diesem ihrem vorhandenen Glanz etwa in den Gebäuden des Vatikans und Roms und in anderen europäischen Zentren?
Diese Zahlen kann man überall überprüfen: Der Vatikan besitzt weltweit rund 5500 Immobilien – vor allem in Italien, aber auch in der Schweiz, Frankreich und England. Es sind Wohnungen, Kirchen, Klöster, Büros und Land…Die katholische Kirche in Deutschland besitzt etwa 8.250 km² Land, was sie zum größten privaten Grundbesitzer macht…Das Erzbistum Paderborn gilt als das reichste Bistum in Deutschland mit einem Vermögen von rund 7,15 Milliarden Euro. Und so weiter…

10.
Warum sagt der Papst als Mitglied des Bettelordens der Augustiner nichts dazu, dass Gebäude- Teile einiger jetzt viel zu groß gewordenen Augustiner – Klöster in Luxus Hotels umgewandelt wurden und eben nicht in Sozialwohnungen? Für den Augustiner Orden nur das Beispiel aus Rom LINK oder in Prag LINK.  Selbstverständlich lassen sich solche Beispiele auch von anderen Orden nennen.
Ein leiser, allerdings nur auf die Vergangenheit bezogener kritischer Ton wird in Nr. 63 formuliert, wenn Leo von den Bettelorden des Mittelalters, also auch den Augustinern, schreibt: „Das Zeugnis der Bettelorden forderte sowohl die klerikale Opulenz als auch die Kaltherzigkeit der städtischen Gesellschaft heraus.“ Von klerikaler Opulenz heute ist jedenfalls in Leos „Ermahnung“ keine Rede…

11.
Da setzt der Papst einen Text in die Welt gesetzt, der von der praktischen Verantwortung dieser Hierarchie (!) für die Armen wenig spricht. Man möchte gern einmal lesen: Die Bischöfe in Deutschland und in anderen reichen Ländern Europas verzichten auf 30 Prozent ihres zweifellos üppigen Gehaltes zugunsten von Projekten für die Armen. Die Bischöfe verlassen also – etwa in Köln, etwa in München – ihre Paläste und ziehen in Drei- Zimmer- Wohnungen zur Miete. Solche Ideen sind natürlich ketzerisch und selbstverständlich „eigentlich“ sinnlos.
Nebenbei: Wir haben einmal – in literarischer Imagination – Jesus heute nach Rom kommen lassen, von Dostojewski inspiriert. LINK

Aber vielleicht hat die katholische Kirche in Europa und Amerika auch fast kein Geld mehr … wegen der „Entschädigung“ – Zahlungen an die vielen tausend Opfer des sexuellen Missbrauchs durch Priester und Nonnen.

12.
Das öffentliche und etwas gründlichere Interesse an dieser päpstlichen “Ermahnung”  ist — von ein paar Kirchenzeitungen abgesehen – bisher eher sehr sehr verhalten.

13.
Dabei sollten die wirklich weiterführenden Teile dieser päpstlichen Ermahnung gelesen und in Praxis realisiert werden, auch von Priestern, Bischöfen, Päpsten…

Ich zitiere nur ein Beispiel: Nr. 114: „Wir sprechen nicht nur von Hilfe und vom notwendigen Einsatz für Gerechtigkeit. Die Gläubigen müssen sich einer weiteren Form der Inkonsequenz gegenüber den Armen bewusst werden. In Wahrheit ist »die schlimmste Diskriminierung, unter der die Armen leiden, der Mangel an geistlicher Zuwendung […]. […] Die vorrangige Option für die Armen muss sich hauptsächlich in einer außerordentlichen und vorrangigen religiösen Zuwendung zeigen.»[127] Diese geistliche Aufmerksamkeit für die Armen wird jedoch durch bestimmte Vorurteile, auch seitens der Christen, in Frage gestellt, weil wir uns ohne die Armen wohler fühlen. Manche sagen fortwährend: „Unsere Aufgabe ist es, zu beten und die wahre Lehre zu verkünden.“ Und indem sie diesen religiösen Aspekt von einer ganzheitlichen Förderung trennen, fügen sie hinzu, dass allein die Regierung sich um sie kümmern sollte oder dass es besser wäre, sie in ihrem Elend zu lassen und ihnen erst einmal das Arbeiten beizubringen. Manchmal werden auch pseudowissenschaftliche Kriterien herangezogen, wenn etwa gesagt wird, dass der freie Markt von selbst zur Lösung des Problems der Armut führen werde. Oder man optiert sogar für eine Seelsorge der sogenannten „Eliten“ und behauptet, dass man, statt Zeit mit den Armen zu verschwenden, sich besser um die Reichen, Mächtigen und Berufstätigen kümmern sollte, um durch diese zu wirkungsvolleren Lösungen zu gelangen. Die Weltlichkeit hinter diesen Auffassungen ist leicht zu erkennen: Sie verleiten uns dazu, die Wirklichkeit mit oberflächlichen Kriterien zu betrachten, bar jedes übernatürlichen Lichts, wenn wir es lieber mit Menschen zu tun zu haben, die uns ein Gefühl von Sicherheit geben, und wenn wir Privilegien suchen, die uns genehm sind.“

14.

Von den 130 Belegen, Quellen, für die Zitate der “Exhortatio”, verweist ein einziger Beleg auf einen “weltlichen Bereich”,  nämlich den “Rat der Europäischen Gemeinschaften”. Alle anderen Fußnoten beziehen sich auf innerkirchliche Dokumente, Enzykliken vor allem von Papst Franziskus, auf theologischen Werke antiker und mittelalterlicher Heiliger usw. Auch dieses päpstliche Dokument  kreist, wie üblich, in der eigenen “Suppe”. Dass es mindestens hundert aktuelle soziologische, psychologische, theologische, philosophische Studien zum Thema Armut und Arme gibt, scheint im Vatikan beim Autor Leo XIV. oder den Ghostwritern nicht angekommen zu sein. Dass dieser Respekt (!) für die wissenschaftlichen Forschungen eigentlich üblich sein sollte, auch für ein päpstliches, katholisches Dokument mit universellem Anspruch, sollte eigentlich heute endlich selbstverständlich sein. Man ist im Vatikan aber immer noch irgendwie selbstzufrieden mit den eigenen kirchlichen Texten. Man braucht halt die Wissenschaften nicht!

Der Text der “Exhortation”: LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.