Wozu gibt es einen „Heiligen Geist“? Der Geist des Menschen ist heilig!

Über die “Entrümpelung“ eines theologischen Dogmas.
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Es findet jetzt – endlich – eine Art Entrümpelung dogmatischer kirchlicher Lehren im Katholizismus statt, und hoffentlich in allen Kirchen. Zum Beispiel: Das Dogma der Erbsünde in der klassischen Form (von Augustinus mit Gewalt durchgesetzt) ist zum Entstauben in einer Seitenkapelle abgestellt worden. Die Dogmen zur „Gottgewolltheit” der klerikalen Hierarchie glauben fast nur noch die in ihrem Klerus-Stand bevorzugten Priester. Hans Küng hat schon vor 50 Jahren am Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes heftig gekratzt. Und die lateinamerikanische Befreiungstheologie versteht Erlösung nicht (nur) als seelisches Geschehen, sondern auch als Erfahrung sozialer-politischer Gerechtigkeit für die Armen…

2.
Auch der Küng – Mitarbeiter, der kathoilische Theologe Prof. em. Hermann Häring (Tübingen), spricht Klartext: „Die kirchliche Trinitätslehre ist überholt“, so in PUBLIK-FORUM Nr. 10/2023, Seite 36 f. Häring schreibt in dem Beitrag sehr treffend: „Die Trinität ist ein Glaubenskonstrukt“… „Fürs Verständnis Jesu braucht es keine Dreifaltigkeit…“ „Die Trinitätslehre ist ein unerträgliches Element“, Häring tritt für „eine Generalrevision unserer Glaubenskonstrukte ein“.

3.
Hier wird ein weiterer Beitrag zur dogmatischen Entrümpelung in gebotener Kürze publiziert: Meine Frage: Was passiert denn eigentlich mit dem „Heiligen Geist“, der so genannten dritten göttlichen „Person“ in der Dreifaltigkeit (Trinität), wenn nun das göttliche Mysterium auch ohne Dreifaltigkeit erlebt, verstanden, gedacht wird?“
Meine begründete These: Der Geist des Menschen – und das ist seine Freiheit und deswegen auch seine Vernunft und seine Sprache, klassisch auch seine „Seele“ – ist heilig. Eine eigenständige , imaginäre „Person“ Heiligen Geist (meist als Taube dargestellt) braucht man dann wirklich nicht zu glauben.

4. Soll es denn zwei Geister in einem Menschen geben?
Das muss gerade für theologische „Laien“ etwas entfaltet werden:
Der menschliche Geist als menschlicher (!) Geist ist heilig, weil er von Gott geschaffen ist. Und Gott, das Göttliche, der Ewige… ist im Menschen durch den von Gott geschaffenen endlichen, menschlichen Geist sozusagen als der Schöpfer von allem – indirekt – anwesend. Der Mensch hat also – schon aufgrund eigener Selbsterfahrung – einen einzigen Geist, und nicht etwa einen menschlichen und daneben oder darüber noch einen gelegentlich, bei besonderen Anlässen, wirkenden zweiten Geist, den göttlichen.
Zwei Geister in einem Menschen? Das ist Unsinn, stiftet Verwirrung, gibt Raum für Phantasie und wunderbare Gottes-Geistes-Verzückungen. Handelt ein Mensch wahrhaftig, gut, ethisch wertvoll, versucht er das göttliche Geheimnis zu erfahren und zu bedenken, dann ist es also immer der eine menschliche Geist, der von Gott dem Schöpfer gegeben, in dieser Fähigkeit lebt.

5. Biblische Erzählung: ein bilderreicher Mythos.
Warum aber wurde dann in der frühen Kirche (in der Apostelgeschichte nachzulesen) die Idee formuliert, es gebe einen eigenständigen heiligen Geist neben dem menschlichen Geist? Diese Frage berührt die exegetische und kirchenhistorische Forschung. Meine kurz gefasste Antwort: Die Gemeinde der Freunde des gekreuzigten Jesus von Nazareth kam gemeinsam zu der überraschenden Einsicht: Unser Freund Jesus von Nazareth lebt irgendwie „wunderbar“ in anderer Gestalt „weiter“: Und sie waren von dieser ihrer Einsicht so begeistert, dass sie meinten, nicht ihr eigener Geist in seiner schöpferischen Freiheit habe ihnen diese Einsicht geschenkt, sondern es sei ein zusätzliches wunderbares Eingreifen Gottes gewesen. Als wäre wegen dieser Einsicht vom „auferstandenen Jesus“ ein extra-heiliger Geist wirksam gewesen. Die Gemeinde misstraute also der schöpferischen Kraft ihres eigenen menschlichen, aber von Gott gegebenen menschlichen Geistes, also der Vernunft, der kreativen Freiheit des Denkens und Fühlens.

6.
Aber die Kirchen haben die schöpferische Kraft des Göttlichen IM menschlichen Geist immer übersehen und unterschätzt: Der Grund: Sie haben die Mythen der Schöpfungsgeschichte im Buch Genesis falsch verstanden und gemeint, der Mensch schlechthin und immer sei durch die Erbsünde verdorben, der Geist des Menschen sei durch die Erbsünde zerrüttet: Das bedeutet. Dann kann nur Gott immer wieder neu eingreifen mit seinem immer wieder willkürlich agierenden zusätzlichen göttlichen wunderbaren Geist. Weil diese Ideologie der Erbsünde nun aber endlich obsolet ist, im Rahmen der oben genannten Entrümpelungen, entfällt auch die Idee eines zweiten göttlichen Geistes, neben dem menschlichen Geist. Ohne Erbsünde kann es einen kreativen, auch guten menschlichen Geist geben und eine gute menschliche Vernunft, die nach dem Göttlichen fragt…

7. Wenn Charismatiker und Pfingstler “ausflippen”
Aber viele sich sehr fromm fühlende, „auserwählte“ Leute klammern sich noch immer an den zweiten Geist in sich selbst, sie verehren ihn als den separaten heiligen Geist. Es sind die so genannten Charismatiker und Pfingstler, die vom heiligen Geist öffentlich gern in „Zungen reden“, wie sie sagen, also in einer angeblich verzückten wunderbaren göttlichen Sprache des Blalaba und Trallatulla und so weiter. Und das Skandalöse ist, das die anderen Geist-Besessenen dann sagen: Auch wir verstehen das geistvolle Blalaba usw.
Ich habe diese Verzückungen erlebt in einer charismatischen Gebetsnacht der äußerst einflußreichen charismatischen Gemeinschaft Emmanuel in der Kirche „Trinité“ in Paris (9.Arrondissement). Dort hatte sich der charismatisch bekehrte, ziemlich bekannte Schauspieler Michel Lonsdale diesem Blalaba usw. sehr hingegeben, ich habe diese Szenen für meinen Film „Unter dem Himmel von Paris“ fürs ERSTE gedreht…

8.
Die Mehrheit der Christen wird sich wohl nun um ihren einen Geist, der als Geist und Freiheit heilig ist, kümmern. Das heißt: Der menschliche Geist und die Vernunft sind als das Auszeichnende aller Menschen absolut zu schützen und unbedingt als Gestaltungsprinzip des Lebens und der Politik durchzusetzen. In den Menschenrechten findet dieser Geist seinen lebendigen, leider eher selten respektierten Ausdruck. Aber das spricht gegen den Geist, sondern die Faulheit und den Egoismus vieler Menschen, den sie mit ihrem eigenen Geist auch überwinden können, wenn sie denn wollen.

9. Die uralten Pfingstlieder – eine unerträglich ferne Welt.
Bei dem immer noch klassisch, d.h. trinitarisch gefeierten Pfingstfest ist wenig bis gar nichts von dieser nachvollziehbaren, vernünftigen Deutung des menschlichen Geistes, des heiligen, zu spüren.
Man denke etwa an die Pfingstlieder im „Evangelischen Gesangbuch“: Darin sind von Nr. 124 bis Nr. 137, also 14 Pfingstlieder, versammelt. Die Texte haben Autoren verfasst, die zwischen 1524 und 1833 lebten, die jüngsten Pfingstlieder, es sind zwei, stammen aus dem 19.Jahrhundert! Alle anderen aus dem 16. bis 18. Jahrhundert. Kein einziges Pfingstlied stammt aus dem 20. Jahrhundert. Wie schwer sich die „klassische“ dogmatische Kirche mit dem Dreifaltigkeitsfest (Trinitatis) tut, wird deutlich: Das Evangelische Gesangbuch von 1993 enthält zwei Trinitatislieder aus dem 16. und 18. Jahrhundert.
Das Katholische Gesangbuch „Gotteslob“ enthält 15 Pfingstlieder, sie stammen schon aus dem 10.Jahrhundert, aber auch aus dem Jahr 1941, getextet von Maria Luise Thurmeier. Sie verfasste den Text für das Lied Nr. 249 „Der Geist des Herrn erfüllt das All – mit Sturm und Feuersgluten“. Wie weltfremd und a-politisch (?) diese dichtende Dame war, ist deutlich: Sie schrieb ihr Gedicht im Jahr 1941, also schon mitten im 2. Weltkrieg… In der 4. Strophe heißt es: „Der Geist des Herrn durchweht die Welt, gewaltig und unbändig, wohin sein Feueratem fällt, wird Gottes reich lebendig“. Es geht also um Feuersgluten, um Sturm, und ein „gewaltiges und unbändiges Geschehen“… Die Kriegspropaganda der Nazis zeigt da ihre Wirkungen bis ins Gebet hinein. Was haben solche Poetinnen wie Frau Thurmeier in einem Gesangbuch zu suchen? Auf die gräßlichen Marienlieder von Frau Thurmeier habe ich schon früher hingewiesen. LINK.

10.
Zusammenfassung:
Es gibt also nur einen Geist im Menschen, er gehört zur Schöpfung des Menschen durch Gott/das Göttliche… Immer ist es der eine menschliche Geist des Menschen, der Leben gestaltet, Frieden schafft, Gerechtigkeit erkämpft. Wer auf Gottes direkten Eingreifen politisch hofft, will selbst tatenlos bleiben.
In der Praxis wird die unendliche Kreativität gespürt, die den menschlichen Geist auszeichnet, und es entsteht eine Dankbarkeit im Menschen, dass er in seiner Freiheit das Gute tun kann. In dieser Dankbarkeit kann sich der Mensch seinem Schöpfer, dem Göttlichen, zuwenden. Mit einem außergewöhnlichen und wunderbaren Eingreifen eines Heiligen Geistes rechnet dann kein spiritueller Mensch mehr: Gott ist ja immer schon „da“, in der Realität des Geistes, des menschlichen und seiner Freiheit.

11.
Die klassische Trinitätslehre ist also auch dadurch „überholt“, wie Hermann Häring sagt, weil es keine dritte Person in der Dreifaltigkeit – sehr anschaulich etwa in Gestalt einer Taube – geben kann.

12. Was wird aus “Gott Vater” mit dem Bart? Der Bart ist nun definitiv ab.
Aber was wird dann aus dem Bild, der Metapher, „Gott-Vater“, der ersten Person dieser drei Personen? Der mit dem Bart, sagen manche. Nun ist der Bart ab: Das Göttliche, Gott, der Ewige, die Göttin, Gott Vater , Gott – Mutter … wie auch immer: Diese Ideen sind nichts anders als Geist zu nennen, sie sind ja keine Materie, kein zu umgreifendes Etwas. Gott als Gott ist Geist. Mehr kann nicht gesagt werden. Aber der Bart des uralten Gottes ist ab. Endlich, ad aeternum hoffentlich. Kunsthistoriker werden dies bei ihren Barock-Studien berücksichtigen. Dieser Gott – Vater – Bart – Glaube ist jetzt vorbei.

13. Warum diese Reflexionen?

Einige LeserInnen fragen: Gibt es nichts Dringenderes? Natürlich, unmittelbar politisch, ökologisch, sozial…. gibt es sehr viele dringendere Themen. Aber der hier vorgeschlagene Verzicht auf einen religiös unkontrollierten Pfingst-Heilig Geist-Enthusiasmus, auf einen kindlichen Wunderglauben, der Verzicht auf ein schwärmerisches Ahnen  “Der heilige Geist wirkt ganz besonders (nur) in mir”: Dies kann zur Befreiung führen, im Sinne von Freimachen des eigenen Denkens für die genannten wirklich dringenden Aufgaben.

14.

Pfingsten und den Geist feiert man dann angemessen nicht mehr durch das Singen alter unverständlicher Pfingstlieder. Sondern in Gesprächen und Verabredungen, wie wir gemeinsam dem verheerenden Treiben, Rassismus, Antisemitismus, Homophobie, “Klerikalismus” in allen Religionen, Rechtsextremismus, Herrenmenschentum im Umgang mit den Arm-Gemachten in der “Dritten Welt” usw.  noch Einhalt gebieten können. Der wahre “Gottesdienst” (am Sonntag) wird dann zum Menschendienst.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Blaise Pascal: 400.Geburtstag. Er analysiert das seelische Elend des Menschen, um für einen radikalen Glauben zu werben.

Größe und Grenzen des viel gerühmten Blaise Pascal (1623-1662)
Ein Hinweis von Christian Modehn

Über biographische Details informiert, unter anderen Publikationen, auch wikipedia. Wir konzentrieren uns auf einige zentrale philosophische und theologische Fragen.

1.

Viele Behauptungen Pascals sind populär, sie werden in Sonntagsreden und Feuilletons zitiert, sind manchmal schon zu schlichten „Wandkalender-Weisheiten“ geworden:
– „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.”
– „Der Mensch ist weder Engel noch Tier, und das Unglück will, dass derjenige, der ihn zum Engel machen möchte, ihn zum Tier macht.“
– “Das Herz hat Gründe, von denen der Verstand nichts weiß.“
– “Die Niedrigkeit des Menschen geht so weit, dass er sich den Tieren unterwirft bis zur Anbetung“

2.
Es gibt fast keinen Philosophen oder Schriftsteller „von Bedeutung“, zumal in Frankreich, der sich nicht ausführlich zu Pascal, meist lobend, geäußert hat. Es ist fast so, als gehöre es zum guten Ton, Pascal mit einem Hauch der Bewunderung zu erwähnen. Auch die Liste der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Philosophen, Schriftsteller und Laien-Theologen Pascal ist umfangreich.
Pascal als Naturwissenschaftler, Mathematiker, Erfinder ist nicht Thema dieses Hinweises. Er wurde in dem Zusammenhang oft ein Genie genannt, weil er seit seinen ersten Lebensjahren hervorragende naturwissenschaftliche und mathematische Kenntnisse und bis heute gültige Einsichten hatte und technische Erfindungen vorzuweisen hat… Aber nach seiner Bekehrung zu einer Form radikalen Christentums (d.h. Katholizismus als radikale Gnadenlehre) standen diese wissenschaftlichen Themen nicht mehr im Mittelpunkt seiner Interessen.

Und das Verwirrende an der Person Pascals ist: Er denkt naturwissenschaftlich – klar, aber im philosophische Denken, das für ihn ein bestimmtes theologisches Denken ist, ist er letztlich gebunden an Mythen und Dogmen. Klares Denken der Vernunft gibt es für ihn im religiösen Bereich nicht mehr. Existiert also eine gewisse Spaltung im Denken dieser einen Person Blaise Pascal? Diese Frage kann hier nur gestellt, nicht beantwortet werden. Wir weisen hier nur auf einige philosophische und theologische  Strukturen von Pascals Leben und Denken hin.

3.
Wer sich aber als Philosoph kritisch mit Pascal befasst und entsprechend äußert, wie Voltaire, dem werden „gehässige Äußerungen“ unterstellt oder gar „Angriffe“, weil er an „wesentlichen Gedanken Pascal vorbeigeht“, so die Voltaire-Kritik von Eduard Zwierlein in seiner „Skizze zur Wirkungsgeschichte“ (Pascals) in seinem Buch „Blaise Pascal. Gedanken“, Suhrkamp Studienausgabe, 2012, S. 286.
Aber es ist heute die Frage: Worin besteht denn die aktuelle Bedeutung, worin bestehen möglicherweise Pascals hilfreiche Erkenntnisse für die Probleme der Menschen der Gegenwart?

4.
Pascals Analysen und Interpretationen zum „Wesen“ des Menschen, zu seiner „Natur“, wie er sagte, konzentrieren sich auf die Schattenseiten menschlicher Existenz. Es geht Pascal vorrangig in seinen anthropologischen Hinweisen um die „zerrissene, zwiespältige Natur” „des“ Menschen, also des Franzosen und Europäers im 17. Jahrhundert.
Pascals ausführliche Analysen zum seelischen und geistigen Elend (und manchmal fehlen auch nicht Hinweise zum Elend der politischen Verhältnisse) sind heute selbstverständlich mit der üblichen Distanz, mit Abstand und Zweifel zu würdigen. Dies gilt vor allem von Pascals Grundidee, dieses Elend des Menschen in einem zweiten Schritt dann auf die Erlösung des seelischen Elends, der menschlichen Zerrissenheit zu lenken. Pascals sieht die Verwirrung und sogar die „Zerstörung“ des Menschen im Mythos der Erbsünde: Ob man sich diesem Kirchen-Dogma in einem kritischen theologischen Denken heute anschließen kann und darf, ist die Frage. Wir beantworten die Frage mit Nein.
Dies sind jedenfalls die zentralen Themen des Philosophen und Laien-Theologen Blaise Pascal unmittelbar nach seiner Bekehrung im Jahr 1654, die er als Bruch in seinem Leben verstand und als Abschied von dem ihm vertrauten und wohl auch geschätzten „mondänen Leben“ der feinen Pariser Gesellschaft.

5.
Blaise Pascals philosophisches – theologisches Hauptwerk, „Pensées“ genannt, scheint nach wie vor viele Menschen ins Nachdenken, in Erschütterungen, ins Grübeln zu führen über die Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit menschlicher Existenz.
Die „Pensées“ werden ein Buch genannt, das nach Pascals Tod im Jahr 1662 zum ersten Mal 1670 veröffentlicht wurde, das aber danach, zumal zu Beginn des 20. Jahrhunderts, immer wieder neu in einigen historisch-kritischen Ausgaben herausgegeben wurde.
Hinterlassen hatte Blaise Pascal seine „Gedanken“ in vielen, meist noch ungeordneten Papieren, die erst nach seinem Tod entdeckt wurden. Seit 1656 arbeitete Pascal an diesen Notizen und kürzeren Texten, sie waren von ihm gedacht als eine „Apologie des Christentums“: Eine Form des radikalen Katholizismus verteidigen, für ihn werben, zu ihm hinführen, das war sein Thema seit seiner „mystischen“ und plötzlichen Bekehrung am 23. November 1654. Er stellte dann seine naturwissenschaftlichen Forschungen zurück, um sich ganz vorrangig dem „Studium des Menschen“ zu widmen. Aber diese Reflexionen zum Wesen des Menschen dienen der Hinführung zum katholischen Glauben. Die theologische Interessen des Laien-Theologen Pascal (er hatte sich bestimmte theologische Einsichten selbst angeeignet, viele wurden ihm im Gespräch mit Theologen erschlossen) belegen auch die Publikationen wie der „Dialog mit M. de Saci“ oder „Das Mysterium Jesu“. Hoch geschätzt, auch wegen der Kraft ihrer Sprache, sind Pascals „Lettres Provinciales“, die er 1656-1657 unter dem Pseudonym Louis de Montalte veröffentlichte, diese Briefe waren ein damals heikles Unternehmen: Denn sie kritisieren heftig und scharf die Theologie der damals einflußreichen Jesuiten. Sie gelten Pascal als zu liberal und zu mondän, im moraltheologischen Sinne als Laxisten. Im Jahr 1660 wird eine lateinische Ausgabe dieser “Lettres“ öffentlich in Paris verbrannt.

6.
Pascals Grundüberzeugung, wie sie in den „Pensées“ greifbar wird: Der Mensch ist in seinem Wesen immer widersprüchlich, zerrissen, verlogen, raffiniert, er ist verführt von Ablenkungen; der Mensch vernachlässigt die Pflege seiner Seele, sieht nicht, dass das Herz, das Gemüt, wichtiger ist als die Vernunft. Er ist den unendlichen Räumen des Weltalls hilflos und verlassen ausgesetzt. „Die Lage des Menschen: Unbeständigkeit, Langeweile, Ruhelosigkeit“.

7.
Pascal argumentiert in seinen gedanklichen Entwürfen, „Pensées“ genannt, durchaus philosophisch, er kennt die Philosophie Descartes und Montaigne, auch die Stoiker, wie Epictet, aber er ist insgesamt von einem tiefen Misstrauen gegenüber der Eigenständigkeit philosophischen Denkens bestimmt. Er kann zwar schreiben: „Das Denken macht die Größe des Menschen aus“ (NR 89, S. 50.) Aber er hat stets die Überzeugung, dass es nur ein einziges „richtiges“ philosophisches Denken gibt, und das ist ein Denken, das sich dem biblischen Gott hingibt, also im Sinne Pascal dann in dieser Selbstaufgabe „richtig denkt“. Und dem „Herzen“ als der Mitte der Gefühle allen Vortritt lässt. Das “Denken des Herzens” beansprucht Pascal für sich: Nur dieses Denken des Herzens nimmt wahr, so meint er: Das Elend des Menschen, es findet die Lösung, die Erlösung in der Gestalt Jesu Christi, im Glauben allein.

8.
Die Philosophie, meint Pascal, kann sich nicht selbst begründen, das Denken muss dem Glauben Platz machen, nur im Glauben wird Gott erreicht. Der christliche Glaube reinigt in gewisser Weise das Denken und damit auch das Verhalten der Menschen; sind die Menschen doch durch die Erbsünde verdorben: „Die Natur (des Menschen) ist verderbt. Der Mensch handelt nicht der Vernunft gemäß, die sein Wesen ausmacht“ .
Philosophieren hat also im Sinne Pascals nur den Zweck, die Grenzen des Denkens philosophisch aufzuzeigen, um dann den Sprung in den Glauben, d.h. in seine Form des radikalen katholischen Glaubens, zu fordern bzw. zu diesem Sprung aufzurufen.
Philosophie hält der sich philosophisch bildende Pascal für ungeeignet, zu Gott zur führen. Eine Ausnahme hat er gemacht in seiner umstrittenen WETTE, dazu ein Hinweis Nr. 14.

9..
Darin wird die Radikalität des religiösen Fanatikers Pascal deutlich, der das Elend der Menschen zeigt, um dann mit einer Art „Keule“ die Erlösung zu behaupten. Man fragt sich manchmal, ob alle die vielen, die voller Bewunderung „ihren „Pascal“ hoch loben, auch diese eher explizit theologischen Kapitel seines Werkes gelesen haben.
Schon 1646 lernt Pascal die radikale Gnadenlehre des katholischen Bischofs Cornelius Jansen von Ypern, 1585 – 1638 kennen, diese Theologie wurde deswegen auch „Jansenismus“ genannt. Die Theologie des katholischen Bischof Jansenius erweckte eine bestimmte Interpretation der Gnadenlehre des Augustinus zu neuem Leben, in der manche auch Anklänge an die radikale Gnadenlehre des Reformators Calvin entdecken wollen.

10.
Dennoch verkehrt Pascal nach 1646, dem Jahr der ersten Bekehrung, zunächst weiter in den „mondänen Salons“ von Paris und gibt sich allerhand Vergnügungen hin, angeblich gelangweilt, aber er ist dennoch dabei…
Ende 1653 beginnt Pascal, sich von dieser Welt der Freigeister zu distanzieren. Nach einem schweren Unfall, aus dem er sich wunderbar errettet fühlt, (Wunder sind DAS Lieblingsthema des frommen Pascal), erlebt er kurz danach, am 23.November 1654, in der Nacht,  eine Art mystisches Erlebnis der unmittelbaren Gottesverbundenheit. Er verfasst, dicht am mystischen Ereignis selbst, eine Art Erleuchtung, die als „Memorial“ auch heute bekannt ist. Er näht sich diesen Text in seinen Mantel ein, um ihn als eine Art Begleitschutz immer bei sich zu haben und niemals zu vergessen. Dies ist die Zeit, in der sich Blaise Pascal der Spiritualität des Zisterzienserinnen Klosters “Port Royal“ immer mehr annähert: Im Kloster lebt seine Schwester Jacqueline als Nonne, das Kloster denkt und lebt gemäß der strengen Gnadenlehre von Bischof Jansen und kommt deswegen in heftigste dogmatische Konflikte mit Pariser Theologen der Universität und der politischen Führung. Denn eine Art katholischer Sonderlehre stört den absoluten Herrschaftswillen des Königs: Er will eine einzige katholische Kirche beherrschen, nicht über mehrere Traditionen, die als Konkurrenz auftreten.
Pascal unterstützt den entscheidenden Theologen des Klosters Port Royal, Antoine Arnould (1612-1694) in seiner radikalen Gnadentheologie gemäß den Weisungen Bischof Jansens. Pascal verteidigt also offen den Jansenismus.
Der Kampf um die richtige Gnadenlehre eskaliert, der Papst zwingt die Nonnen, sich von den Lehre des Jansenius zu trennen, dem Befehl entsprechen sie auch. Pascal lehnt diese Leistung des Gehorsams  ab, er bleibt also Anhänger der jansenistischen Lehre.  Aber, und das ist erstaunlich, er kümmert sich gerade dann doch wieder um weltliche Dinge, diesmal um den Aufbau eines gemeinnützigen Transportunternehmens für die Stadt Paris… Schwer krank stirbt Blaise Pascal im Alter von 39 Jahren am 17. August 1662. Er wird in der Pariser Kirche Saint-Etienne-du-Mont begraben.

11.
Es geht also Pascal in der Suche nach Erlösung um einen Sprung: von der Erkenntnis des menschlichen Elends hinein in den Glauben an Gott: Aber dieser Sprung in Gott hinein ist für ihn keine Leistung des Menschen, sondern Gnade und Gabe Gottes allein. Pascal argumentiert dabei streng biblizistisch, er hält alle Aussagen des Neuen Testaments, so wie sie damals formuliert wurden, für Gottes Wort. Allein schon deswegen gilt es Abstand zu nehmen von jeglicher „Pascal-Begeisterung“. Um so mehr, als sein Verständnis von katholischer Kirche  heute an die Traditionalisten der Pius-Brüder des Anti-Konzils-Bischofs Marcel Lefèbvre erinnert. Der Philosophiehistoriker und Pascal-Spezialist Wilhelm Schmidt-Biggemann schreibt in seinem Buch „Blaise Pascal“ (C.H.Beck Verlag, 1999) auf Seite 145: „Da der Mensch (im Sinne Pascals) aus der Sünde nur durch die Gnade herausfindet, die Kirche aber die Gnadenmittel verwaltet, war die Zugehörigkeit des Gläubigen zur Kirche notwendig.“ Auch Schmidt-Biggemann nennt Pascal ausdrücklich „einen Jansenisten“ (S. 146), also einen Gläubigen im Sinne der strengen Sonder-Theologie des Bischofs Jansenius. Zur Wirkung der Jansenisten in Frankreich bis weit ins 19. Jahrhundert, siehe Nr. 16.

12.
Der Grund für die totale Unfähigkeit des Menschen, von sich aus zum Glauben zu kommen: Für Pascal ist es die totale Last der Erbsünde. Denn das ist heute so Befremdliche und so wenig Hilfreiche am Denken des Blaise Pascal: Diese Fixiertheit auf die totale Macht der Erbsünde ist heute höchst problematisch, weil die “Erbsünde,” im Paradies angeblich geschehen, ein Mythos ist, der dann vom „Kirchenvater“ Augustinus mit aller Macht durchgesetzt wurde, obwohl es begründeten Widerstand gegen das Dogma der Erbsünde gab. Im ganzen wird heute von kritischen Theologen diese Erbsünden – Lehre als der größte Schaden anerkannt, den ein Dogma jemals anrichtete.

13.
Voltaire und Pascal
„Der Kampf Voltaires gegen Pascal war ein Kampf um ein vernünftiges Verständnis des Christentums“, schreibt der Philosoph und Philosophiehistoriker Kurt Flasch in seinem Buch „Kampfplätze der Philosophie“ (Frankfurt/M. 2008, S. 346). Zum Verständnis des menschlichen Wesens trage die Erbsündenlehre aber nichts bei, sie sei ein „theologischer Roman orientalischer Herkunft“, so fasst Kurt Flasch die Position Voltaire zum Thema zusammen. Alles, was die Erbsündenlehre zu erklären behauptet, “lässt sich aus der Betrachtung der menschlichen Natur, des menschlichen Wesens, verständlich machen“ (ebd.) In seiner großen Studie „Christentum und Aufklärung“ (Frankfurt/M. 2020) setzt sich Kurt Flasch sehr ausführlich mit Pascal auseinander: „Was war das Pascalsche Christentum der Gnadenschriften? Es war ernst, düster, streng, gewissenhaft, scholastisch kostümiert…er beschrieb drohend den Inhalt seiner Art von Christentum. …. Es werden nicht alle Getauften gerettet usw…“ (S. 154f.). Flasch fasst zusammen: „Das Pascalsche Christentum ist ein tristes Christentum“ (ebd.). „Er duldete im Christentum weder Vielfalt noch Wandel“ (S. 158).

14.
Einer der merkwürdigsten Texte Pascals ist der kurze Essay, der als „Wette“ bekannt wurde. Es geht um die Frage: Wer ist mehr im Vorteil, wer an Gott glaubt oder wer nicht an Gott glaubt?
Pascal, der sonst der Kraft philosophischer Reflexion gerade in Bezug auf die Gotteserkenntnis misstraut, wagt nun einen – für fromme Leute – geradezu gotteslästerlichen Vorschlag: Pascal sagt, ganz knapp zusammengefasst: es ist für jeden Menschen, selbst für den Ungläubigen, sinnvoller und vor allem vorteilhafter, an Gott zu glauben als nicht an Gott zu glauben.
Denn wenn man sich entscheidet, an Gott zu glauben, folgt man auch den ethischen Werten, die Gottes Kirche, also die Katholische, lehrt: Dadurch wird man tugendhaft und glücklich in diesem Leben auf Erden. Und wird dann nach dem Tod von Gott mit dem ewigen Leben im Himmel belohnt. Wer also glaubt, kann nichts falsch machen. Denn selbst wenn es Gott nicht gibt, was sich in Sicht Pascals erst post mortem feststellen läßt, hat doch immer ein schönes und gutes Tugend-Leben gelebt, also auch in der Hinsicht nichts falsch gemacht.
Wer als Atheist auf seiner Position beharrt, lebt nicht gemäß den glücklich machenden Tugendweisungen der Kirche. Er wird also auf Erden unglücklich sein. Und wenn es denn Gott gibt, kann der Atheist post mortem dann nur erleben, dass der strafende Gott ihn, den bösen Atheisten, in die Hölle stürzt.
Also, liebe Leute, möchte man sagen, seid raffiniert und glaubt an Gott und folgt der Morallehre der Kirche. So einfach ist das also. Eigentlich eine blamable Argumentation: Ist die Moral der Kirche wirklich so vieles an Glück bringend? Jedenfalls Pascal behauptet in dieser Wette: Nur einzig der glaubende Mensch ist in der „Wette“ der Gewinner…Wenn aber der Gewinner sein himmlisches Glück erst post mortem erlebt, ist dies nicht gerade die „feine Art“, für diese Wette zu werben…

15.
Was bleibt? Pascal war ein theologischer Fanatiker!
Kaum hatte sich Pascal dem christlichen Glauben zum ersten Mal intensiv zugewandt (1646), klagte er gleich den Theologen Jacques Forton der Irrlehre an, wegen „rationalistischer Ideen zur Menschwerdung Gottes“. Der Erzbischof von Rouen zwingt deswegen den Theologen zum Widerruf.
Pascal war ein religiöser Fanatiker von Anbeginn, schreibt später Voltaire über Pascal, sicher eine treffende Erkenntnis, wenn man an Pascals an glühendes Eintreten dann doch für für die rigorose Erbsündenlehre des alten Augustinus denkt. Auch Pascals „Lettres Provinciales“ waren als „Kampfschrift“ gegen die „liberalen“ Jesuiten gemeint, dabei waren die Jesuiten wie Pascal von den Grundeinsichten klassischen katholischen Erlösungslehre und der hierarchischen Kirchenleitung überzeugt, die Jesuiten waren alles andere „als humanistische-freidenkerische Theologen. Es waren also Streitereien um Details, in heutiger Sicht. Privat versuchte Pascal den radikalen Weisungen Jesu von Nazareth zu folgen, große Teile seiner Habe spendet er für caritative Zwecke und verlangt für sich ein „Armenbegräbnis“.

16.
Der Jansenismus hat die katholische Kirche Frankreichs viele Jahrzehnte belastet. Er bildete als Massenbewegung tatsächlich so etwas wie eine zweite katholische Kirche in Frankreich, offiziell von den Herrschern und den maßgeblichen Theologen verfolgt. König Ludwig XIV. ließ z.B. das berühmte Kloster Port Royal im Jahr 1712 zerstören, und als die Pariser Bischöfe, wie etwa Christophe de Baumont, die jansenistischen Priester dort ausgrenzten und deren Gläubige bestraften, „wird ganz Paris erst recht jansenistisch erweckt“, wie die Historikerin Monique Cottret betont. Pariser Politiker greifen ein und bestimmen, alle Gläubigen sollten die Sakramente oft im Alltag empfangen dürfen, während der Erzbischof dagegen ist, weil die Gläubigen nur unwürdige Sünder sind … Eine totale Verwirrung für die Glaubenden ist diese Verschiedenheit der Lehren, sie führt die einfachen Leute zur Verwirrung, letztlich auch zum Abschied von der Kirchenbindung. Die in Frankreich so oft dokumentierte „Entchristlichung“ bestimmter Regionen, wie in Burgund oder Zentralfrankreich (Bourges, Nevers, Albi, aber auch Limoges, Guéret usw.), wird oft mit der verwirrenden Vielfalt katholischen Glaubens, nach offizieller Art und nach jansenistischer Art, begründet, wobei der offizielle Katholizismus bis ins 19.Jahrhundert zudem eher „gallikanisch“, d.h. also ein französischer, nicht aber römisch-päpstlich bestimmter Katholizismus war.

17.
Es ist erstaunlich, dass bis heute so viele, auch sich atheistisch nennende Philosophen, von Pascal im allgemeinen geradewegs in Schwärmen kommen, wie der atheistische Philosoph André Comte-Sponville, er schreibt in „Le Magazine littéraire.Pascal“ November 2007, S. 58. „Er ist ein immenses Genie“. Der Soziologe und Philosoph Edgar Morin schreibt (in seinem Buch „Mes Philosophes“, Paris 2013, S.53 -62 vollere Lob: „Pascal ist von einer unerhörten Aktualität“ (S. 58). Am bekanntesten sind wohl die Bekenntnisses Albert Camus zu Pascal, den Camus „den Größten von allen, gestern und heute“ nennt. Und in seinen „Carnets“ gesteht Camus ein, zu den Menschen zu gehören, die von Pascal zwar erschüttert, aber nicht bekehrt werden“. (So die Notizen von Camus am 6.11.1956, siehe den Pascal-Beitrag in „Dictionnaire Albert Camus“, Paris 2009, S. 649).
Auch Friedrich Nietzsche hat sich mit Pascal befasst und ihn sogar gelobt, weil er als Christ sich redlich um Selbstkritik bemüht habe. Aber keineswegs will Nietzsche das Denken Pascals hochschätzen, denn Pascal betreibe den „Selbstmord der Vernunft“ (so in „Jenseits von Gut und Böse“, Nr. 45, 46,…), ein Abschied von der Vernunft, „inspiriert vom christlichen Glauben.“ Pascal selbst sei, so Nietzsche, „durch den christlichen Glauben als Philosoph psychisch vernichtet worden…“
Peter Sloterdijk hat in seiner Porträtsammlung „Philosophische Temperamente“ (München 2009) auch einige knappe Hinweise zu Pascal niedergeschrieben, immer in gewohnter globaler, sprachlich manchmal leicht verschlüsselter Einschätzung der Denker. Für Sloterdijk wird Pascal zu einem Autor „für nächtliche Lektüren und ein Komplize unserer intim gebrochenen Nach-Gedanken“, was immer das bedeuten mag ( S. 54). Ähnlich nebulös ist Sloterdijks Behauptung: „Pascal ist der erste unter den philosophischen Sekretären der modernen Verzweiflung“ (S. 56). Nebenbei: Der wievielte „Sekretär“ wäre dann Peter Sloterdijk?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Erfahrungen in leeren Kirchen. Stille und Spiritualität.

Stille und Spiritualität . 
Erfahrungen in leeren Kirchen

Eine Ra­dio­sen­dung von Christian Modehn. Der Beitrag ist nach wie vor aktuell, weil er zeigt: Auch außerhalb der üblichen Gottesdienste sind Kirchen bevorzugte Orte der persönlichen Mediation und Stille. Und das könnte im Sommer, im Urlaub, in der freien Zeit, wieder entdeckt werden….

Aus der Reihe “Glaubenssachen“, NDR Kultur, am 2. Oktober 2016. Der Text entspricht der Form eines Mskr. für Ra­dio­sen­dungen.

Siehe auch das Interview von Christian Modehn mit dem Berliner protestantischen Theologen Prof.Wilhelm Gräb zum Thema “Leere Kirchen”. Prof.Wilhelm Gräb, ein Freund des “Religionsphilosphischen Salon Berlin”, ist leider am 23.1 2023 verstorben.LINK:

Die Sendung der GLAUBENSSACHEN NDR KULTUR:

1.Spr.: Erzähler
2.Spr.. Erzähler

1. SPR.:
Wer von Berlin aus in die nördliche Umgebung von Potsdam fährt, gelangt schnell hinaus ins Weite. . Felder, Wiesen, kleine Hügel bestimmen die Landschaft. Eines der wenigen Dörfer in dieser Region heißt Kartzow. Von der nahen Autobahn ist ständig ein sanftes Rauschen zu hören. Trotzdem könnte Kartzow mit seinen 110 Einwohnern den Titel „brandenburgischer Ruhe-Ort“ verdienen. Denn wirklich lebhaft wird es hier nur an Wochenenden, wenn Hochzeitsgesellschaften im Schloss-Hotel ihre Feste feiern. Einige Paare lassen den Bund fürs Leben auch in der Dorfkirche segnen. Sonntags-Gottesdienste für die kleine Gemeinde finden nur alle 3 Wochen statt. Der Pfarrer muss sich auch um die kleine Schar der Protestanten in fünf weiteren Dörfern kümmern.

2. SPR.:
Die Kirche steht auf einem ehemaligen Friedhof mitten im Grünen , sie erinnert in ihrer neogotischen Gestalt an längst vergessene Zeiten: doch seit dem 13. Jahrhundert gibt es hier eine christliche Gemeinde. Die Grundmauern der Kirche sind noch aus Feldsteinen errichtet. Zur Überraschung des Besuchers aus Berlin ist das Gotteshaus auch werktags von früh bis spät geöffnet. Wer eintritt, erlebt einen liebevoll gepflegten Raum. Erst vor 12 Jahren endeten die Restaurierungsarbeiten . Die Dorfbewohner wollten eine ansehnliche Kirche vor Augen haben, selbst wenn sich die meisten, wie überall in Brandenburg, konfessionslos, religionsfrei oder einfach nur normal nennen. Wie auch immer. Sie wollten einen Raum schaffen, der zum Verweilen einlädt.

1.SPR.:
In der Apsis, rund um den Altar, sind die Wände in einem intensiven rötlichen Ton gehalten, der übrige Raum mit seinen 12 Bankreihen verbreitet in der Mittagssonne eine positive Stimmung. Vor dem Altar, zur Rechten, steht ein kleines Pult für den Prediger, links ist das Taufenbecken. Die Gemeinde ist froh, wenn zwei – oder dreimal im Jahr Taufen gefeiert werden .

 

2. SPR.:
Der Besucher hat in der Mitte der Kirche Platz genommen. Nichts ist zu vernehmen. Nur Stille. Es ist nicht Erschöpfung oder Müdigkeit, wenn er jetzt die Augen schließt; eher ist es die Freude, in einem angenehmen Raum Entspannung und Ruhe zu finden. Die vielen diffusen Gedanken, die sonst durch den Kopf schwirren, verschwinden allmählich. Im stillen Sitzen versinkt der Besucher förmlich in dem Raum. Einatmen. Ausatmen. Diese elementare Form des Lebens wird hier als eine wunderbare Gabe erlebt. Mystiker nannten diese Erfahrung einst die Abgeschiedenheit. Sie dachten dabei an eine seelische Haltung, in der die stetig dahin fließende Zeit wie zum Stillstand kommt und die reine Dauer, die Gegenwart, erlebt wird. Fixierungen auf Vergangenes und Sorgen um die Zukunft sind vertrieben. So kann der Besucher einfach nur da sein. Die kleine Dorfkirche wird als heilsamer Platz erlebt. Wo denn sonst könnte man in der heutigen Welt, die ganz vom Konsumieren und damit von Kosten und Unkosten bestimmt ist, gratis ausruhen? Dem Besucher fällt ein Spruch des mittelalterlichen Mystikers Meister Eckart ein: Der einzelne, so meinte er, lebe erst dann auf, wenn er allein mit seinem Gott ist.. In einem gewissen Egoismus ist er geradezu dankbar ist, dass jetzt kein anderer die Kirche in Kartzow betritt.

1. SPR.:
Aus dem Versunkensein in die reine Gegenwart wird der Besucher herausgerissen: Pünktlich um 12 Uhr mittags ruft die Glocke zum Innehalten, zum Gebet; eine sanfte Aufforderung, die Kirche weiter zu betrachten.
Auf dem Rundbogen, über den Altar, wurde ein Spruch aus dem Evangelium aufgemalt. Der Vers, von Matthäus überliefert, lautet: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“
Wie passt eine solche Verheißung zu unserer heutigen Wirklichkeit, die vielerorts von Hass und Krieg geprägt ist? Vielleicht sollte der Spruch einladen, den Glauben als heilsamen Impuls, als Angebot eines sinnvollen Lebens, zu verstehen. Die Menschen in den Dörfern Brandenburgs, die überall ihre bescheidenen Kirchen pflegen , ahnen es wohl: Ein religiös anmutendes Gebäude, eine Kirche mit ihrem Türmchen, ist ein Symbol für ein Leben, das sich nicht in der Freude über Einfamilienhäuser, Gärten, Garagen und Restaurants erschöpft. Diese kleine Kirche ist ein Symbol für die Unterbrechung im üblichen Einerlei. Die Menschen hier, ganz gleich ob evangelisch, katholisch oder konfessionslos, wollen etwas bei sich haben, das keinen direkten Nutzen hat. Sondern auf Unsichtbares verweist, das religiöse Menschen Gott nennen.

2. SPR.:
Der Besucher betrachtet die schöne restaurierte Orgel und auch die Wand-Gemälde zur Kreuzigung Jesu. Sie stammen aus dem 16. Jahrhundert, als die Reformation sich durchsetzte und die Christen trotz aller Glaubenskriege ihre Spiritualität bewahrten. Und heute? Wie kann die Kirche auf das offensichtliche Wohlwollen der Bürger für den Erhalt des Gotteshauses kreativ und neu reagieren? Müsste sich die Kirche nicht so präsentieren, dass all die Menschen, die kürzlich dieses Gebäude renovierten, auch hier gern zusammenkommen, zu Gespräch, Diskussion, Meditation und Gottesdienst. Aber dann müsste sich die Kirche ihrerseits weiter reformieren. Die religiöse Sprache müsste wieder frisch und neu werden, so dass sie auch ein Atheist im 21. Jahrhundert versteht. Die geöffnete Kirchentür müsste also zum Symbol werden für eine offene Kirche insgesamt.

1. SPR.:
Warum könnte sie dann in ihren Reihen nicht auch viel öfter Sympathisanten herzlich willkommen heißen, Menschen, die auf der Suche sind nach ihrer persönlichen Spiritualität, aber eine Mitgliedschaft noch nicht wünschen. So könnten die kleinen Gemeinden neu belebt werden. Nach der Reformation waren Zweifelnde und Interessierte zum Beispiel in Hollands Gemeinden gern gesehen. „Liefhebbers“, also Liebhaber des Glaubens, wurden sie genannt: Sie hörten die Predigt, nahmen aber nicht am Abendmahl teil. Das Sakrament sollte den eingeschriebenen Mitgliedern vorbehalten sein.

2. SPR.:
In Delft, der kleinen Stadt in der Nähe von Rotterdam, hat der Besucher aus Berlin zum ersten Mal von den Liebhabern des Glaubens erfahren. Delft ist ja nicht nur wegen der prächtigen weiß-blauen Keramik berühmt. Hier lebte der Maler Johan Vermeer, auch der große Philosoph Hugo Grotius wurde hier geboren. Delft ist berühmt für seine Kirchen in der Altstadt. Die Giebelhäuser aus Gotik und Renaissance an der Gracht (sprich Chracht) „Oude Delft“ (sprich aude delft), sind die schönste Zierde der Stadt. Auf einem Innenhof, fast versteckt, befindet sich die Kirche der protestantischen Remonstranten – Gemeinde. Die Remonstranten bilden eine Reformbewegung innerhalb des Calvinismus. Ihr Gotteshaus ist klein, der Geist aber weit: Sie nehmen auch heute gern Skeptiker und Zweifler als Freunde, als „Liefhebbers“, in die Gemeinde auf und stellen sie den Mitgliedern sogar gleich, als eine Geste der Freundschaft!

1. SPR.:
Zu Liebhabern des Glaubens können die Besucher der großen Kirchen in der Altstadt werden, wenn sie sich nur Zeit nehmen und die Gotteshäuser nicht in der für Touristen üblichen Hektik besichtigen, sondern verweilen, betrachten, nachdenken. Die Oude Kerk (sprich Aude Kerk) bietet dafür viele Möglichkeiten. Schon bei den ersten Schritten in diesem Gotteshaus aus dem 15. Jahrhundert ist man überrascht von der hellen Pracht des Raumes und seiner strahlenden Klarheit. Nur wenige Fenster in der Apsis sind bunt gestaltet, die übrigen lassen das Sonnenlicht ungebrochen durchscheinen. Heiligenbilder, ja selbst Kreuzesdarstellungen sucht man in dieser Kirche vergeblich. Calvinistische Reformer hatten in ihrer leidenschaftlichen Wut auf alles Katholische die meisten Kunstwerke des Mittelalters zerstört. Von Gott und Heiligen darf es überhaupt kein Bild mehr geben, hieß die Devise! Die alte Kanzel aus der Zeit der Renaissance, mit ihrem Baldachin aus Holz, ist das einzig verbliebene Schmuckstück. Alle Bänke und Stühle sind auf den Ort der Predigt hin gestellt.
Bilderstürmerei war ein Wahn, das ist keine Frage. Gottesbilder macht sich doch jeder, selbst wenn er keine Gemälde vor Augen hat. Andererseits freut sich der Besucher darüber, in diesem leer wirkenden Raum, mit sich und Gott völlig allein zu sein. Vielleicht wird gerade dann spirituelle Erfahrung möglich?

2. SPR.:
Der Besucher hat zur Rechten die Kanzel vor Augen; er denkt an frühere Zeiten, als die frommen Bürger eine einstündige die Predigt ganz normal fanden. Lang dauernde Belehrungen, von oben herab, können die Menschen heute kaum ertragen. Sie bilden sich ihre eigene Spiritualität, eben auch im Nachdenken in leeren Kirchen, jenseits der Gottesdienst-Zeiten Vielleicht meldet sich so die Sehnsucht nach Gott, und eine Sehnsucht, , wieder einmal am Gottesdienst teilzunehmen.

1. SPR.:
Der Blick geht in die Weite dieser gotischen Halle. Gottes Größe soll durch die Höhen der gotischen Baukunst anschaulich werden. Und das strahlende Licht in diesem Raum bedeutet sicher: Gott selbst ist Licht, Klarheit, Verstehen. So braucht sich der Mensch, der kleine Mensch, in diesem Raum gerade nicht klein zu fühlen, nicht wertlos, nicht verloren. Der Besucher fühlt sich im Licht geborgen, behütet, aufgehoben.

2. SPR.:
Selbst wenn einige Besucher im Mittelgang umhergehen , sie können die Ruhe hier nicht stören. Es herrscht eine freundliche Stimmung. Vielleicht hat die Stille gar eine eigene Sprache für den, der das meditative Denken einüben möchte.
Angesichts der göttlichen Wirklichkeit bin ich der Geschaffene, ich bin in diese Welt gesetzt. Aus Zufall? Religiöse Menschen sagen: Ich bin von schöpferischer göttlicher Kraft gewollt und belebt. Der Besucher weiß: Wie unbeholfen alles Wahrnehmen und Denken und Sprechen jetzt ist. Es gibt keine präzisen Worte, das meditativ Erlebte sich selbst und anderen mitzuteilen. Mystiker haben gelehrt, dass alles Sprechen von Gott nur ein Stammeln sein kann.

1. SPR.:
Diese von allen Bildern befreite Kirche im holländischen Delft hilft, wieder Wesentliches zu sehen und sich nicht – wie so oft – von hübschen barocken Figuren, Putten und Heiligenbildern ablenken zu lassen. Der Glaube wird hier elementar, wesentlich, natürlich erlebt. Es entsteht eine Unmittelbarkeit von Göttlichem und Menschlichem. Gott lebt in der Welt und wirkt im Menschen. Darum ist auch alle schöpferische Leistung des Menschen selbst etwas Göttliches, sozusagen Geschenk des Göttlichen. Erstaunlich ist die Erkenntnis: Wir Menschen leben immer schon dank der göttlichen Schöpferkraft. Das mag uns zuweilen auch entlasten.

2. SPR.:
An dieser Stelle führt der Besucher eine Art Selbstgespräch, er findet persönliche Worte für eine elementare Poesie im Angesicht des Göttlichen, eine Poesie, die man vielleicht Beten nennen kann. Wer hier betet, in dieser leeren Kirche, macht keine großen Sprüche: Wenige Worte finden sich wie von selbst: Danke, du Unendlicher und Ewiger. Lass dein Licht, den Geist, die Vernunft, leuchten in uns. Das ist schon erstaunlich: Der Reformator Calvin wollte die Kirchen nur als Treffpunkt der Gottesdienst-Gemeinde. Persönliches Beten, das sollte zuhause, im stillen Kämmerlein geschehen. So ändert sich die spirituelle Praxis heute durch die Besucher, die in Kirchen still verweilen wollen. Sie haben keine Scheu, in der Öffentlchkeit einer Kirche ihr eignes, privates Suchen, Zweifeln, Beten einzuüben.

n1.SPR.:
Plötzlich setzt die Orgel ein, jemand übt die Passacaglia von Bach, deren Thema so machtvoll im Bass beginnt und dann im Manual oft wiederkehrt. Das Gleichbleibende in der Variation und der Vielfalt: Ist dies nicht typisch für den Glauben? Haben die Kirchen heute den Mut, der Variation und Vielfalt Raum zu geben?

2. SPR.:
Der Besucher macht einen Rundgang in der Oude Kerk und entdeckt einen Grabstein des großen Malers Jan Vermeer aus dem 17. Jahrhundert: Vermeer hat in seinen Gemälden sehr sanft das Licht gepriesen wie ein Geschenk, wie ein Geheimnis. Und man ist überrascht, kleine Ansätze hin zu Beweglichkeit und Veränderung auch in dieser reformierten Gemeinde zu erleben: Sie hat sogar in einem Seitenschiff Platz geschaffen für regelmäßige Ausstellungen zeitgenössischer Künstler. Und rund um die Apsis, den einstigen Altarraum der Katholiken, hat sie zudem bunte Fenster mit biblischen Motiven gestalten lassen. Der Bildersturm ist definitiv vorbei.

1. SPR.:
Der Besucher der Oude Kerk in Delft sieht den Abendmahlstisch an der Seite stehen, er wird nur im Gottesdienst in den Mittelpunkt gerückt. Dann versammeln sich um ihn die Gläubigen in dem Willen, das Brot und den Wein miteinander zu teilen.
In den Abendmahls-Gottesdiensten wird die Erinnerung wie ein einfaches Schauspiel rituell gestaltet, als Nachvollzug des letzten gemeinsamen Essens, das Jesus vor seinem Tod mit den Jüngern einnahm. Im Teilen der Speisen, so verheißt er ihnen, wird Gemeinschaft mit dem Göttlichen immer wieder lebendig. Schon allein deswegen sind wohl Kirchen unverzichtbar, sie zeigen: Ohne das Gedenken stirbt das geistvolle Leben, ohne Erinnerung gibt es keine Humanität.

2. SPR.:
Nach Berlin zurückgekehrt, lernt der Besucher leerer Kirchen nahe am Flughafen Tegel die katholische Kirche Maria Regina Martyrum kennen. Ein neuer Ehrentitel wurde für Maria, die Mutter Jesu, erfunden: Sie ist nun auch die Königin der Märtyrer. Hier gedenkt man nicht der Blutzeugen aus christlicher Frühzeit, sondern der modernen Christen, die ihren Glauben viel wichtiger fanden als alle politische Indoktrination durch die Nationalsozialisten. Diese Marien – Kirche befindet sich in Nachbarschaft zum einstigen NAZI – Gefängnis Plötzensee. Dort wurden mehr als 2.500 Gegner des Verbrecher-Systems mit dem Fallbeil hingerichtet oder an Fleischerhaken aufgehängt.

1. SPR.:
Um zur Kirche zu gelangen, muss sich der Besucher zunächst durch ein schmales Tor beinahe zwängen. Er betritt einen weiten Hof. Und der ist überhaupt nicht einladend, geschweige denn von sakraler Aura oder wenigstens mit einem Schimmer von Schönheit ausgestattet. Man läuft über Kopfsteinpflaster und sieht sich umzingelt von hohen, grau bis schwarz gestalteten Mauern. Selbst eine Plastik im Hintergrund, die an das Leiden Jesu erinnert, wirkt abweisend. Der Glockenturm am Rande soll wie ein Wachturm erscheinen. Der Besucher fühlt sich beinahe bedroht und von unsichtbaren Mächten beobachtet. Vom Architekten ist das so gewollt. So kann Empathie mit den Opfern entstehen.

2. SPR.:
Der Besucher ist auch hier allein . Er steht still und. muss diesen Kirchplatz ertragen. Hier darf es kein eiliges Besichtigen oder gar hastiges Fotografieren geben. Das Gedenken an die Opfer kann zum Mitgefühl werden, wenn man sich in die letzten Stunden ihres Lebens hineinversetzt: Sie hatten sicher Gedanken an die Lieben zu Hause. Das Warten auf das Fallbeil oder den Fleischerhaken ist schon in der Imagination unerträglich. Wie stark war ihr Wille, ihre Überzeugung, das einzig Richtige zu tun? Wie stark ihre Entschiedenheit, auf dieses irdische Leben zu verzichten, um dadurch möglicherweise die Tyrannenherrschaft zu Fall zu bringen? Fühlten sie sich am Ende ihres Lebens von Gott und der Welt verlassen? Was bedeutet uns heute der Respekt für diese Menschen?

1. SPR.:
Der Besucher geht weiter, über diesen Hof hinweg, der den Titel Denk-Platz verdient hätte und gelangt zur Kirche. Sie ist sehr massiv und hat keine Seitenfenster.
Wenn man den Vorraum betritt, führt eine Treppe zur Oberkirche. Der Besucher aber entscheidet sich, auf der ebenen Erde zu bleiben. Sofort stößt er auf die Namen von Menschen aus dem Widerstand, ihrer wird auf dem steinernen Fußboden gedacht, etwa an den Berliner an Dompropst Bernhard Lichtenberg oder an den Jesuitenpater Alfred Delp: Als Mitglied des Kreisauer Kreises wurde er am 2. Februar 1945 in Plötzensee hingerichtet. In unmittelbarer Nähe steht eine moderne Pietà von Fritz Koenig wie ein Denkmal. Der verstorbene Jesus wird von seiner Mutter Maria auf dem Schoß gehalten. Der Eindruck ist stark: Man glaubt, sie würde den Leichnam loslassen und freigeben in eine andere Welt hinein.

2.SPR.:
Der Besucher geht weiter, betritt die dunkle Kapelle und nimmt auf einer Bank Platz. Vor Augen hat er einen ausladenden Wandteppich mit einem Kreuz. Es wirkt wie ein Baum, über den die Sonne erstrahlt. Die Sonne ist für Christen auch das Symbol des lebendigen Gottes. Auch die Kapelle wirkt leer, reduziert auf den Altar und die Bänke für die Nonnen aus dem Karmeliter-Orden, sie haben nebenan ihr Kloster. Sie folgen ihrem großen Vorbild, dem heiligen Johannes vom Kreuz, er lebte im 16. Jahrhundert: Für ihn war die erfahrene Leere, sogar das Nichts, nur ein Hinweis auf den göttlichen Grund, den er zugleich als göttlichen Abgrund erlebte.

1. SPR.:
In der Kirchenbank hat ein Besucher eine Broschüre über den Widerstandskämpfer Pater Alfred Delp zurückgelassen. Beim Blättern fällt ein Zitat aus einer seiner Predigten ins Auge:

2. SPR.:
Nur ein Mensch, der sich übt in steter Grenzüberschreitung und Befreiung vom Gewohnten, wird zu sich selbst finden und ein freier Mensch werden. Den Rebellen kann man noch zu einem freien Menschen machen, den Spießer und den bloßen Genießer nicht mehr. Und die Kirche darf nicht zur Kirche der Selbstgenügsamkeit werden.

1. SPR.:
Worte, mit denen sich der Jesuitenpater Delp nicht nur Freunde in seiner Kirche machte… Der Besucher schließt die Augen. Kein Laut ist vernehmbar, kein Schritt, keine Glocke. Nichts. In dieser vollkommenen Stille fallen ihm Worte ein, die er in ihrer Einfachheit nur still für sich selbst flüstert: Gott, Leere, Sinn, Geborgensein, Erbarmen, Rettung. Diese Begriffe fügen sich in einen Zusammenhang, je länger man in dieser Kapelle nachdenkend verweilt: Gott ist Geheimnis, er ist nur zu berühren, niemals zu fassen oder zu definieren.

2. SPR.:
Der Besucher bricht auf, er geht langsam über den leeren Hof. Er hat Ruhe gefunden und erfahren: Wesentliches lässt sich nur in der Stille schenken, auch in der Stille leerer Kirchen. Dort ist man mit sich … und mit Gott … allein.

 

Der wahnsinnige Mönch als Künstler: Hugo van der Goes

Überlegungen zu dem Gemälde von Emile Wouters: „Hugo van der Goes“

Hugo van de Goes, Krank Wouters
Hugo van der Goes als kranker Mönch (im Vordergrund). Gemälde von Emile Wouters

Ein Hinweis von Christian Modehn

1. Zum Gemälde:
Ein Mönch, am Rande des Wahnsinns, verstört, in sich geschlossen, so sitzt er angstvoll da. Umgeben von anderen Mönchen und einem Knabenchor mit Musizierenden. Ein einsamer Mönch, in tiefer Depression. Ein Mönch, der Suizidgedanken geäußert hat. Nun soll er musikalisch geheilt werden.

2. Ein peinliches Thema
Der seelisch schwer kranke Mönch: Nicht gerade ein häufiges Thema in der Kunst, nicht in der Literatur oder der Theologie. Eher ein peinliches Thema für die Oberen der Klöster und Bistümer bis heute.

3. Bemerkenswertes
Vieles ist bemerkenswert an diesem Gemälde des belgischen Künstlers Emile Wouters (1846 [Brüssel] – 1933 [Paris])
Das Gemälde (1872) führt in die spätmittelalterliche Klosterwelt des 15. Jahrhunderts.
Die leidende Person ist ein sehr bedeutender Künstler der Niederlande: Hugo van der Goes (um 1440 [Gent] bis 1482[Oudergem bei Brüssel]. Und er ist als angesehener Künstler, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, als er im Jahr 1475 in das Kloster der „Augustiner-Chorherren“ , das so genannte „Roode Klooster“ bei Brüssel, eintritt. Es galt als eher strenges „Reform-Kloster“ der sogenannten „Windesheimer – Kongregation“. Diese Kongregation besteht heute wieder, sie verweist aber auf der eigenen website nicht auf ihren berühmten Mitbruder.

4. Im Kloster die Askese pflegen
Hugo van der Goes lebte vor dem Eintritt ins Kloster recht üppig, er war Mittelpunkt der Kunstszene, ständig beschäftigt, seine Kunst war begehrt in den höchsten Kreisen, am Hof, auch in Italien. Er war hoch angesehen als „Dekan der Malergilde“. Aber nach dem plötzlichen Tod seiner innig Geliebten, berichtet Adolphe Wouters, (S.12, Fußnote 1) war er so tief verwundet und erschüttert, dass er sich aus der Welt zurückziehen wollte.
Weil er nicht mit der Frau verheiratet war, nahm in das Kloster auf. Hugo wollte dort eigentlich bescheiden als Laien-Mönch leben, also nicht als angesehener Priester. Aber das Kloster war so stolz, einen der bedeutendsten Künstler als Mitglied zu haben und gewährte ihm, dem eher untergeordneten Laien-Bruder die Teilnahme am Leben der höher gestellten Priester. Er durfte etwa in deren separatem Speisesaal essen. Und vor allem: Hugo konnte im Kloster weiter als Künstler arbeiten, dort hat er viele seiner berühmten und hoch begehrten Werke geschaffen. „Die Anbetung der Hirten“ (in einer Ruine wird Jesus geboren !) ist dort entstanden oder der „Tod Mariens“ (jetzt im Groeningen Musselin Brügge). Diese Gemälde zeigen, wie viele Goes-Arbeiten, Menschen in starker und durchdringender seelischer Anspannung.

5. Klosterleben als Krise
Diese Frage wird wohl bei der geringen historischen Kenntnis von Hugo van der Goes Leben nie geklärt werden: Ob ihm, dem spirituell Erschütterten und Suchenden, diese Bevorzugung im Kloster auch entsprochen hat. Vor allem: Ob der Eintritt ins Kloster also dem Künstler tatsächlich seelisch gut getan hat oder ob die schmerzlichen Erfahrungen des Verlustes seiner Geliebten „unbearbeitet“ blieben.

6. Suizid-Gedanken
Der Künstler – Mönch Hugo hatte sich 1481 in Köln aufgehalten und war dort und während der Rückreise ins Kloster seelisch zusammengebrochen. Er versuchte unterwegs, seinem Leben ein Ende zu setzen, berichten seine Begleiter. Im Kloster angekommen, wird der erkrankte Mönch von der Leitung seines Klosters betreut. Es gibt den Versuch, damals schon, die Idee, Musik als Therapie einzusetzen. Wie einst König Saul nach den Berichten des Alten Testaments vom Zitherspiel Davids (1 Sam 16,14-23) seelisch geheilt wurde, so erhoffte man sich auch Heilung von der Musik, im Gemälde Wouters ist auch der fürsorgliche Prior des Klosters Pater Thomas van Vossem zu sehen.

7. Musiktherapie
Hugo van der Goes wurde durch die Musik-Therapie und die Fürsorge im Kloster wohl ein wenig beruhigt, aber der Wunsch nach einem asketischen Leben war stärker. Er lehnte nun die übliche Bevorzugung im Kloster ab: Er nahm seine Mahlzeiten nun im Kreise der einfachen Laien-Brüder ein, die als schlichte Arbeiter für das Leben des Klosters und der entscheidenden betenden, studierenden Priester-Mönche sorgten.

8. Historisches
Ein Verwandter des Malers Emile Wouters, Alphonse Wouters, hatte 1872 die Schrift „Hugues Van der Goes, sa vie et ses œuvres“ veröffentlicht. Darauf bezog sich Emile Wouters. LINK 

Ab Seite 12 werden die Erinnerungen eines anderen Mönches, Gaspar Ofhuys aus Tournai (gestorben 1523), an Hugo van der Goes publiziert, es sind Überlegungen eines Mitbruders im Kloster, kurz nach dem Tod von Hugosgeschrieben, aber bis 1872 nicht veröffentlicht. Sie bieten wohl authentische Hinweise.

9. Ein Genie, dem Wahn verfallen?
Wurde Hugo van der Goes wahnsinnig oder depressiv, weil er ein Genie war, wie manche behaupten? Ich vermute aufgrund der Erlebnisse im Kloster wurde Hugo eher seelisch überfordert und zerrissen. Das gesuchte einfache Leben der Askese fand Hugo im Kloster jedenfalls nicht.

10. Ausstellung in Berlin
Die Ausstellung fast aller der wenigen erhaltenen Werke des Maler Hugo van der Goes werden in der Berliner Gemälde-Galerie (bis 16. Juli 2023) ausgestellt.

11. Religiöse Krise bei katholischen Künstlern
Im Mittelalter (und in der Barock-Zeit) widmeten sich die meisten Künstler äußerst häufig den klassischen christlichen Themen vor allem des Neuen Testaments, der Geburt Jesu, der Kreuzigung, der Auferstehung, der Himmelfahrt, dem Tod Marias, der Trinität mit der Taube als dem Symbol des nicht darstellbaren Heiligen Geistes.
Wer als Künstler immer auf diese Themen fixiert blieb, dazu gedrängt von den Aufträgen frommer, aber finanzkräftiger HerrschaftenDie „älteste Tochter der Kirche“ (etwa Kaiser Maximilian), musste der nicht bei dieser Monotonie der Themen irgendwie leiden, sich eingeschränkt fühlen: Immer dasselbe Thema malen in immer neuen Variationen. Es wurde in der Kunstgeschichte meines Wissens nicht untersucht, welche Belastungen Künstler in sich verspürten bei dieser gewissen Monotonie. Sie durften natürlich keine Kritik äußern, sonst wären sie – im Mittelalter – auf dem Scheiterhaufen gelandet.
Mit anderen Worten: Wenn sich Künstler, aber auch Literaten und Schriftsteller allzu deutlich verpflichten, immer wieder dieselben Themen der offiziellen Kirchenlehre darzustellen, können sie sich aufgrund der Monotonie des Themas, also der Übermacht des Heiligen und ineins des Leidens (Jesu am Kreuz) aus den Bahnen des gesunden Verstandes geworfen werden. Mystik und Wahn sind bereits ein Thema der Forschung, etwa am Beispiel der „Konvulsionäre“, der Frommen auf dem Friedhof von St. Médard in Paris im 18. Jahrhundert, die in der göttlichen Ekstase unter heftigen Zuckungen litten… Aber das Thema „thematische Monotonie“ (oder schädliche Routine) als krankmachendes Erleben wird bisher nicht auf Künstler, auf Maler, bezogen…
Welche große Befreiung geschah in der Renaissance, welch große Befreiung dann in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, als endlich das alltägliche Leben dargestellt wurde, freilich immer mit moralischem Fingerzeig!

Fußnote: (1)
Adolphe Wouters, „Hugo van der Goes. Sa vie et ses oeuvres“, Bruxelles 1872.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

Freiheit – ist immer auch eine Freiheit FÜR andere: Lea Ypi.

Zur Philosophie der albanischen Autorin und Philosophin Lea Ypi
Ein Hinweis von Christian Modehn

Welcher Inhalt zum Begriff Freiheit zeigt sich für eine Frau, die ihre Kindheit und Jugend im kommunistischen Albanien erlebte?

1.
Die aus Albanien stammende Philosophin Lea Ypi hat ein viel beachtetes autobiographisches Sachbuch veröffentlicht. Der Titel: „Frei“. Der Untertitel: „Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“.
Lea Ypi, 1979 in Tirana geboren, beschreibt in dem Buch „Frei“ sehr ausführlich ihr äußerst beschwerliches Leben und das ihrer Familie und ihrer Freunde im „Sozialismus“ des Diktators Enver Hoxha. Die Zeit der so genannten „Transformation“ als mühevoller Abschied vom „Sozialismus“ wird aus subjektiver Sicht beschrieben. 1997 verlässt Lea Ypi das Land Richtung Italien, sie studiert zunächst in Rom, später u.a. in Paris, Berlin Philosophie und Literatur, seit 2016 ist sie Professorin an der angesehenen Universität „London School of Economics“.

2.
Die Geschichte des Mädchens Lea Ypi ist ein Ringen um Freiheit, wobei die Autorin nicht verschweigt, wie sie als Kind durch die Propaganda und Indoktrination in der Schule durchaus zu einem naiven Glauben an den Kommunismus fand und den Diktator – ehrfürchtig -„Onkel Enver“ nannte.

3.
Im expliziten Sinne philosophische Reflexionen zum Thema des Buches, also „Freiheit“, bietet das Buch vor allem im letzten Drittel.
Bedenkenswert etwa die Einsichten zu Widersprüchen im alltäglichen menschlichen Leben, etwa am Beispiel des Wunsches auszureisen, das eigene Land zu verlassen: Im Sozialismus wurde man verhaftet, wenn man ausreisen wollte. Im Kapitalismus ist der aus Albanien Ausreisende alles andere als willkommen, wie etwa in Italien, von dort wurden viele albanische Boots-Flüchtlinge wieder zurückgeschickt. Lapidar heißt es auf S. 199: „Welchen Wert hat das Recht auf Ausreise noch, wenn es kein Recht auf Einreise gibt?“ Und die Freiheit zu bleiben besteht auch nicht in Albanien damals (S. 200). Denn das Verbleiben im kapitalistischen Albanien bietet angesichts der Arbeitslosigkeit keine Lebenschancen. Weggehen oder Bleiben – beides bietet keine Lebenschancen.

4.
Zu denken geben die Reflexionen Lea Ypis zu zentralen politischen Begriffen: Die herrschenden Leitbegriffe der Lebensorientierung werden ausgetauscht. Der im Kapitalismus übliche Begriff „Zivilgesellschaft“ hat den sozialistisch – kommunistischen Begriff „die Partei“ ersetzt (S. 230). Zum Umfeld der „Zivilgesellschaft“ gehört für Ypi auch der Begriff „Liberalisierung“, der den Begriff „demokratischer Zentralismus“ abgelöst hatte“ (S. 231). „Privatisierung nahm die Stelle von Kollektivierung ein und Transformation die Stelle von Selbstkritik… Antiimperialistischer Kampf wurde durch Kampf gegen Korruption ersetzt“. (ebd.) Die Marktwirtschaft muss nun angekurbelt werden. (S. 261). Wie im Sozialismus gibt es also auch im liberalen Kapitalismus ein MUSS „Es gibt einen vorgeschriebenen Weg, der einzuhalten ist“ (S.261), sagt der Vater der Autorin, der nach dem Ende des Sozialismus Generaldirektor des Hafens wurde. „Er war weniger frei als er es sich vorgestellt hatte“ (S. 263). „Der Klassenkampf war nicht vorbei, das hatte der Vater begriffen!, (S.264), als er gezwungen war, aufgrund von so genannten neoliberalen „Strukturreformen“ (S. 242) Arbeiter im Hafen zu entlassen. Aber: Der Vater will sich die Namen der Entlassenen merken, er will sich stemmen gegen das Vergessen, er wehrt sich gegen eine Welt, in der Menschen nur noch als Zahlen in Statistiken vorkommen. Der Vater glaubt noch an ein Körnchen Güte in jedem Menschen.

5.
Entscheidend die Erkenntnis der Philosophin Lea Ypi: „Alle diese neuen Konzepte handelten von Freiheit, allerdings nicht mehr des Kollektivs – inzwischen ein Schimpfwort – sondern des Individuums“ (S. 231). Der einzelne steht nun absolut im Mittelpunkt der demokratisch – kapitalistischen Ordnung. Lea Ypi lässt keinen Zweifel daran, dass die Ideologie der Herrschaft des Individuums ergänzt und kritisiert werden muss durch die Erkenntnis: Freiheit ist immer auch Freiheit, FÜR andere und MIT anderen zusammen eine gerechte Gesellschaft zu schaffen.

6.
Es sind die Zweifel am Leben, an der Gesellschaft, am Staat, an der „Ordnung“ des Zusammenlebens überhaupt, die Lea Ypi zur Philosophie führen. „1990 hatten wir nichts außer Hoffnung gehabt; 1997 (dem Jahr des Krieges in Albanien aus ökonomischen Gründen) hatten wir selbst die Hoffnung verloren. Die Zukunft sah trostlos aus“ (S. 318). „Ich hatte nichts als Zweifel“ (S. 319).

7.
Als Philosophin zeigt Lea Ypi, dass der Mensch „trotz aller Zwänge nie die innere Freiheit verliert, die Freiheiten das Richtige zu tun“ (s. 323). Selbst im totalitären Kommunismus von Enver Hoxha war die Reflexionskraft der Eltern und der Großmutter noch schwach und ungebrochen da, sie wussten, wie sie in in einer Diktatur überleben konnten, etwa durch den Einsatz von Lügen gegenüber ihren Kindern bzw. Enkeln. Die Familie Ypi ist ein (seltenes) Beispiel dafür, dass Menschen, die sich die innere Freiheit der stillen Selbstreflexion bewahrt haben, selbst die stalinistische Diktatur relativ menschlich überleben können, ohne dabei mit dem Diktator zu paktieren.

8.
Lea Ypi verschweigt überhaupt nicht, dass sie sich als Philosophin und Autorin als Sozialistin versteht. Sie will sich die humanen Werte der sozialistischen Idee nicht nehmen lassen, nur weil so viele Diktatoren, sich sozialistisch nennend, nur auf autoritäre Herrschaft und Bereicherung bedacht waren. Mit dem üblichen westlichen Liberalismus kann Ypi wenig anfangen: „Ich setzte Liberalismus mit gebrochenem Versprechen gleich, mit der Zerstörung von Solidarität, mit dem Anspruch auf vererbte Privilegien und dem bewussten Ausblenden von Ungerechtigkeit“.

9.
Lea Ypi will im Sinne ihres umfassenden Verständnisses von Freiheit (Freiheit ist immer auch Freiheit FÜR andere sich einzusetzen) den Werten und Idealen des Sozialismus treu bleiben, sie will, wie wie ganz am Ende ihres Buches schreibt, „den Kampf fortführen“(S. 329). Aber, wie sie im Interview des SRF Fernseh-Interviews „Sternstunde Philosophie“ (am 18.9.2022) sagte, sie verstehe Marx auch mit den ethischen Prinzipen Kants.

10.
Aber was kann der Untertitel des Buches bedeuten? „Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“? Ist damit das Ende des albanischen Sozialismus bzw. Kommunismus gemeint? Oder nimmt Ypi ironisch Bezug auf ein Ende der Welt-Geschichte, das schon prominent verwendet wurden von dem us-amerikanischen Historiker Francis Fukuyama, der sein Buch 1992 „Ende der Geschichte“ nannte. Fukuyama behauptete: Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa und der Sowjetunion gebe es nur noch die Herrschaft der liberalen Demokratien. Dies käme dem Ende der Geschichte gleich, weil es nun keine Dialektik Ost-West mehr gibt. Diese Dialektik bewegte die Zeit, schuf Geschichte. Dieses Denkmodell „Ende der Geschichte“ bezieht sich auch auf die Hegel-Interpretation des Franzosen Alexandre Kojève. Er sagte, wie einige andere auch: Hegel meine tatsächlich, in seinem Denken an eine Art Endpunkt gekommen zu sein, und gezeigt zu haben, dass nun im Preußischen Staat alle Widersprüche aufgelöst seien, dass alles begriffen ist, dass die Versöhnung real wurde Und dies könnte eine Art „Ende der dialektisch bestimmten Geschichte“ sein.
Aber Fukuyama blieb skeptisch: Es bleibt die Versuchung, zurück zum Krieg zu degenerieren.

Lea Ypi, „Frei“. Suhrkamp Verlag 2022, 7.Aufl. 2023, auch als Taschenbuch, 333 Seiten, übersetzt von Eva Bonné.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Huub Oosterhuis gestorben: Der christliche Glaube als Poesie, Gebet und Protest.

Huub Oosterhuis ist am Ostersonntag, 9.4.2023, im Alter von 89 Jahren in Amsterdam gestorben.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 10.4.2023.

1.
Huub Oosterhuis ist einer der bedeutenden Poeten nicht nur im niederländischen Sprachraum. Er ist Schöpfer einer religiösen Sprache, die nicht nur die Tiefe des Empfindens heutiger Menschen bewegt, sondern die an Bildern und Symbolen so reichen Texte der Bibel, auch des „Alten Testaments“, mit dem Lebensgefühl der Moderne verbindet. Dabei ist seine politische Option auch sehr deutlich: Seine Gesellschaftskritik ist von sozialistischem Geist inspiriert und der lateinamerikanischen Befreiungstheologie.

2.
Auch das ist wichtig: Oosterhuis ist als Theologe auch Initiator von freien progressiven ökumenischen Gemeinden, wie der „Ecclesia“ in Amsterdam. Er hatte 1970 sein Amt als katholischer Priester (und Jesuit) aufgegeben, weil er das Zölibatsgesetz der römischen Kirche nicht mehr akzeptieren konnte und ohnehin das autoritäre System der Kirche kritisierte. Aber von der katholischen Kirche ausgestoßen, wollte er auf Gemeinden nicht verzichten, und inspirierte zu Rom-unabhängigen Gemeinden. Die „Ecclesia“ in Amsterdam ist seine Gründung, auch die rom-unabhängige Dominikus-Gemeinde in Amsterdam ist stark von ihm inspiriert.

3.
Huub Oosterhuis ist als katholischer Theologe außerhalb der römischen Macht für einige Katholiken und für etliche Protestanten zu einer Art Prophet geworden, er hat den Traum von einer anderen katholischen Kirche bereits realisiert und nicht mehr nur davon gesprochen, wie sonst überall in katholischen Kreisen üblich:
Selbstverständlich waren für ihn praktizierte Abendmahlsgemeinschaft mit Protestanten. Es war für katholische Bischöfe ein Skandal, eine Häresie, als Oosterhuis in seinen Gottesdiensten das “Wandlungsgebet” der Eucharistie von einem Chor singen ließ, diese Auszeichnung der “Wandlung” im “Hochgebet” steht im römischen Verständnis nur dem ordinierten zölibatären Prierster zu.

Laien, auch Frauen, waren als Vorsteher der Eucharistie selbstverständlich; genauso die Pflege einer hohen sprachlichen Kultur in Lied, Gebet und Predigt, selbstverständlich auch die Predigt von „Laien“ (die es im Sinne von Oosterhuis gar nicht als Laien gab), selbstverständlich auch für völlige Gleichstellung von Homosexuellen nicht nur in der Gemeinde. Selbstverständlich auch für ihn die politische Kulturdebatte in seinen Zentren, wie „de nieuwe liefe“ oder auch in „de rode Hoed“, beide in Amsterdam.

4.
Aber Oosterhuis hatte von Anfang an viele Feinde in der römischen Kirche, er, der die besten Lieder für den Gottesdienst geschrieben hatte und hervorragende Komponisten fand zur „Vertonung“ seiner Poesie, wurde ausgebremst und als Ketzer angeklagt, in manchen Bistümern der Niederlande durften seine Lieder nicht mehr in den Messen gesungen werden: Es waren ja – wie entsetzlich für die Bischöfe – Texte eine „verheirateten Ex-Priesters“.

5.
In Deutschland hatte Oosterhuis einige Freunde, seine Lieder wurden ins Deutsche übersetzt und etwa in Osnabrück in einer Kirche gesungen. Ihm wurde 2014 sogar ein Preis als Prediger von der Evangelischen Theologie in Deutschland verliehen. Der katholische Herder-Verlag in Freiburg hat etliche Bücher von Oosterhuis publiziert, dabei aber meist seine vielfältigen Aktivitäten, etwa als Inspirator progressiver Rom-unabhängiger Gemeinden verschwiegen.

6.
Irgendwie und von irgendwem inszeniert, war es möglich, dass Papst Franziskus – über den zuständigen Bischof von Haarlem-Amsterdam – am 21.Dezember 2020 Huub Oosterhuis einen persönlich wirkenden Brief schrieb, in englischer Sprache, ein Schreiben, das dem Ex-Jesuiten eine gewisse „brüderliche Nähe“ ausdrückt und verspricht, im päpstlichen Gebet seiner zu gedenken. Offenbar meint der Papst, Oosterhuis ginge es zu dem Zeitpunkt, Ende 2020, (gesundheitlich) nicht gut. „Maar dat is helemaal niet zo, hoor.”, sagte Oosterhuis, „aber das ist ganz und gar nicht so, jawohl!“ (Quelle: Tageszeitung TROUW, Amsterdam, 28.1.2022), LINK 
Von einem Dankeschön für die großartige poetisch-theologische Leistung von Oosterhuis ist im Schreiben des Papstes NICHTS zu lesen. Kein päpstliches Wort an die konservativen Bischöfe, doch bitte das Singen der Oosterhuis-Lieder in der Messe zu gestatten. Nichts davon.
Der Amsterdamer Dichter und Theologe zeigte sich vom päpstlichen Schreiben überrascht, eine Antwort hat er dem Papst nicht geschrieben.

7.
Die Liste seiner Publikationen zählt mehrere hundert Titel, mindestens 60 Bücher liegen allein in niederländischer Sprache vor, übersetzt wurden seine Bücher in sieben Sprachen.
Mit dem großen Theologen Edward Schillebeeckx (1914 – 2009) war Oosterhuis befreundet, beide setzten sich für eine radikale Kirchenreform ein. Mit Schillebeeckx führte Oosterhuis einGespräch, das auch auf Deutsch unter dem Titel „Gott ist jeden Tag neu“ 1984 erschienen ist.

Weitere Informationen von Christian Modehn über Huub Oosterhuis  LINK.

7.
Welchen Weg hätte die katholische Kirche in den Niederlanden (und darüber hinaus) genommen, wenn Papst und Bischöfe Huub Oosterhuis nicht ausgegrenzt und bekämpft hätten, sondern, wie es so viele katholische Niederländer seit 1965 wünschten, mit ihm eine moderne, demokratische, vom Zölibatsgesetz usw. befreite Kirche gestaltet hätten. In ihrer dogmatischen Erstarrung aber haben Papst und Bischöfe seit 1965 niederländische Katholiken aus der Kirche getrieben. Es blieben eigentlich nur der „harte Kern“ der Konservativen und Rom-Fans. Heute besuchen, so die Statistik 2022, nur 1 Prozent der Katholiken die Sonntagsmesse…(Quelle: https://religionsphilosophischer-salon.de/15614_christen-und-kirchen-in-der-minderheit-neueste-entwicklungen-in-den-niederlanden_alternativen-fuer-eine-humane-zukunft)

8.

Ein bekanntes Lied von Huub Oosterhuis, “Lied aan het Licht”: Lied an das Licht:

Licht, das uns anstößt, früh am Morgen
uraltes Licht, in dem wir stehn,

kalt, jeder einzeln, ungeborgen,

komm über mich und mach mich gehn.

Dass ich nicht ausfall ́ , dass wir alle,

so schwer und traurig wie wir sind,

nicht aus des andern Gnade fallen

und ziellos, unauffindbar sind.

Licht, meiner Stadt wachsamer Hüter,
Licht, ständig leuchtend, das gewinnt.

Wie meines Vaters feste Schulter

trag mich, dein ausschauendes Kind.

Licht in mir, schau aus meinen Augen,

ob irgendwo die Welt ersteht,

wo Menschen endlich Frieden schauen

und jeder menschenwürdig lebt.

Alles wird weichen und verwehen,
was auf das Licht nicht ist geeicht.

Sprache wird nur Verwüstung säen,

unsere Taten schwinden leicht.

Licht vieler Stimmen in den Ohren,

solang das Herz in uns noch schlägt.

Liebster der Menschen, erstgeboren,

Licht, letztes Wort von ihm, der lebt

Die Musik, die Chorsätze, zu den Gedichten, Gebeten, der Poesie von Huub Oosterhuis haben die Komponisten Bernard Huijbers, Antoine Oomen und Tom Löwenthal gestaltet.

9.

Das Kulturzentrum “De rode hoed”: LINK:

“Ecclesia in Amsterdam”: LINK.

Die freisinnige Kirche der Remonstranten hatte ihre jährliche Begegnung (“Beraadsdag) im Jahr 2012 mit Huub Oosterhuis gestaltet. LINK.

Die Ekklesia Amaterdam hat einige Partnergemeinden in einigen Städten der Niederlande:

Ekklesia Twente

Westfriese Ekklesia

Ekklesia Breda – https://www.ekklesiabreda.nl/

Stichting De Zijp in Arnhem – http://www.dezijp.nl/ 

Stichting Oecumenische Vieringen Eindhoven – https://sove-eindhoven.nl/

Pepergasthuiskerk Groningen – https://ovg-web.nl/ 

Dominicusgemeente Amsterdam- http://dominicusamsterdam.nl/ 

Keizersgrachtkerk Amsterdam – https://www.keizersgrachtkerk.nl

Oecumenische Basisgemeente de Duif – https://deduif.net/

In seinem Buch “Twee of drie. Voor en over kritische gemeenten” (Ambonboeken, Baarn, 1980),  (“Zwei oder drei. Für und über Kritische ökumenische Basisgemeinden”) schrieb Oosterhuis diese zentralen Worte (Seite 70):
“Wir hegen nicht die Illusion, das Institut Kirche von innen umwandeln zu können. Wir halten uns offen für Projekte und vor allem für Menschen innerhalb der Kirche, Bischöfe nicht ausgenommen, die an der Befreiung und Erneuerung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung interessiert sind”.

Im Jahr 2003 hat Christian Modehn ein Radio-Feature für den RBB gestaltet mit O Tönen von Oosterhuis und Stellungnahmen aus Amsterdam und Osnabrück. LINK:

Lieder und Gebete von Huub Oosterhuis auf Deutsch: LINK:

Im Herbst 2023 erscheint ein neues Liederbuch mit hundertfünfzig Liedern auf Texten von Oosterhuis, in Deutsch unter dem Titel Solang es Menschen gibt. Darin werden, neben dem Großteil der hundert Lieder aus dem Bundel Du Atem meiner Lieder (Herder 2009), mehr als fünfzig neu übersetzte Lieder erscheinen, teilweise mit Chorsätzen. Die restlichen Chorsätze und die Begleitungspartituren werden dann via Email ‘individuell’ zur Verfügung stehen.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Grenzgänge – Gespräche mit Menschen, die nach Gott oder dem Göttlichen suchen.

Über ein neues Buch des Theologen Stefan Seidel, Leipzig

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.

„Gott“ ist – auch jetzt – ein missbrauchtes Wort. Die Herren mit höchster politischer Macht, gemeint sind die Diktatoren und Verbrecher, sind so unverschämt, ihre Herrschaft mit „Gott“ zu legitimieren. Die Rede von Gott verkommt zur politischen Ideologie auch bei „prominenten“ Kirchenführern, man denke an Kyrill, den Patriarchen von Moskau, oder an Führer evangelikaler Kirchen in den USA, Brasilien, Südkorea, Uganda, Nigeria usw. Überall fördern diese angeblich Frommen eine gewisse Verdummung der religiösen Menschen mit ihrem Beharren auf ein wortwörtliches Verstehen von Bibelsprüchen. Als könnte Gott ALS Gott höchstpersönlich direkt zu uns sprechen…welch ein Wahn.
Man denke auch an den Papst und katholische Bischöfe, die, angeblich von Gott als Klerus auserwählt, gegen das Selbstbestimmungsrecht und die Gleichheit von Frauen sowie gegen das Recht auf Ehe von Homosexuellen kämpfen. Vom ideologischen Missbrauch Gottes im Islam und in jüdischen Traditionen (siehe die rechtsextremen Politiker im Staat Israel) wäre zu sprechen, vom gewalttätigen Hindu-Nationalismus ebenso, von den Göttern der Konsumwelten und des Kapitalismus, von den Star – Fußball – Helden in Argentinien wäre zu reden, die wie Lionel Messi oder zuvor schon Maradona als Messias, also wie Götter, massenweise verehrt werden.
Kein Mensch bei klarer Vernunft darf heute auf die Frage verzichten: Wie kann ich heute überhaupt von Gott noch sprechen? Oder sollten wir nicht eher verstummen? Angesichts universellen Missbrauchs des Namens Gottes eine viel zu wenig diskutierte Option…

2.

Das ist evident für alle, die noch reflektierte Lebenserfahrungen mit dem Göttliche haben: Sie können das Wort Gott nur noch verwenden, um für eine vernünftige und freie und zugleich spirituelle Gottlosigkeit von allen diesen genannten Götzen und Göttern einzutreten. Nur der von diesen Göttern radikal Befreite ist derjenige, der einen wahren Gott, den unnennbar Ewigen, umschreibend und suchend und fragend und skeptisch benennen kann…

3.

Es gehört also viel Mut dazu, von dem vielfältigen „Gott“ zu sprechen. Die Lösung heißt: Sprechen wir – so der Titel des neuen Buches von Stefan Seidel – von Gottsuchern. Wer Gott sucht, zweifelt heftig an seinem angelernten, geglaubten, angeblich gefundenen Gott, er ist selbstkritisch, will raus aus dem Gefängnis der transzendenten Sicherheiten. Und beginnt, für Gott neue, immer vorläufige, immer irgendwie relative Namen zu suchen. Der (die) Absolute könnte es sein, oder besser der (die) Ewige oder der Sinngrund, oder der Eine und die Einzige, oder „die Liebe über aller Liebe“.

4.

Darauf besteht derAutor Stefan Seidel zurecht und das ist durchaus originell: Wer nach Gott fragt, ist ein Grenzgänger.
Wer aber ist ein Grenzgänger beim Fragen nach Gott? Es ist ein Mensch, der alles Weltliche als Endliches erkennt und zu überschreiten sucht, der sich mit dem nur Irdischen und nur Endlichen niemals zufrieden gibt. Menschen genießen die Kraft des Geistes und der Vernunft, um nicht im bloß Weltlichen festzustecken. Erst wer die Grenze des Endlichen, also sich selbst überschreitet, kann überhaupt wissen, was es bedeutet, das Endliche als Endliche zu erleben. Wirklichkeitserfahrung ist ohne ständige Grenzgänge nicht möglich und undenkbar. Hegel kann uns das lehren: Wir sollten also in dem Sinne immer Grenzgänger sein. Wer aber oft Grenzen überschreitet, bemerkt die Grenzen gar nicht mehr, fühlt sich im neuen, dem überschrittenen „Territorium“ zuhause. Findet eine neue Heimat jenseits der Grenzen.

5.

Die LeserInnen dieses Buches werden hineingeführt in den kritischen Umgang mit dem gleichzeitig Gewissen wie Ungewissen, dem Deutlichen wie dem Dunklen, dem „Gott in uns“ und dem „Gott außerhalb von uns“. Stefan Seidel hat sich Gesprächspartner gesucht, die wissen, wie falsch die Wiederholung der traditionellen Dogmen ist, wie einschränkend die eingeübten Floskeln und Formeln der Kirchen sind: Diese können keine Wegweiser sein „über die Grenze hinaus“ in ein neues, befreites Leben. Vielleicht suchen viele, die diese Kirche als zahlende Mitglieder verlassen, dieses spirituelle Leben jenseits bisheriger Grenzen?

6.

Gesprächspartner Seidels sind vor allem SchriftstellerInnen, zwei Musiker, eine Tiefenpsychologin und auch sieben TheologInnen, aber die sind keine strengen Dogmatiker… der Vatikan und die Landeskirchenämter sind weit weg. Diese in sich vielfältige Gemeinschaft der GrenzgängerInnen stammt überwiegend aus Deutschland (wie Daniela Krien, Christian Lehnert, Patrick Roth, Ingrid Riedel…), aber auch eine Norwegerin Hanne Orstavik) kommt zur Wort, ein Tscheche (Tomas Halik) usw… Immer aber sind es Menschen, die mehr die Mystik leben und lieben als die Sprachen und die Denkgewohnheiten der Institution Kirche. Das ist entscheidend: Nur weil die Interview-PartnerInnen Distanz haben zu den üblichen religiösen Bindungen, können sie inspirierend und deswegen weiterführend sprechen. Stefan Seidel schreibt in seinem Vorwort. „Heute braucht es viele einzelne unorthodoxe, kreative Stimmen, die gewissermaßen als Mystikerinnen und Mystiker von heute -die Sicht auf den Horizont der Horizonte wiedereröffnen und uns dabei helfen, in einem tieferen Verbundensein mit allem zu ankern“ (S. 18).
Die neunzehn Gottsucher haben eine gemeinsame Spiritualität: Sie ist mit der Mystik verbunden. Mystik ist dabei alles andere als eine Erfahrung von Wundern und erhebenden Momenten, nicht das Verzückten von Gott und den Heiligen, Mystik ist die nüchterne, reflektierte Form der mehr geahnten, mehr gefühlten Verbundenheit mit dem Unendlichen und Ewigen.

7.

Die 19 Interviews können hier natürlich nicht im einzelnen besprochen werden.
Allen Interviews stellt Stefan Seidel biografische und eher werkgeschichtliche Hinweise voran. Seine Fragen haben eine feste Struktur: Seidel fragt eingangs nach der eigenen Gotteserfahrung und dem „Gottesbegriff“, und es scheint sein Lebensthema zu sein, immer wieder auch nach dem „Sprung in den Glauben“ im Sinne des Philosophen Kierkegaards zu fragen.Und so oft fordert der Autor am Ende eines jeden Gesprächs auf, über die persönliche Bedeutung von Sterben und Tod und der Auferstehung Jesu von Nazareth zu sprechen. So zeigt sich eine gewisse metaphysische Dimension. Denkbar wäre ja auch, immer wieder am Ende der Gespräche nach der Hoffnung zu fragen, die sich im politischen Engagement zugunsten der Millionen arm gemachter Menschen zeigt oder in der Mitarbeit in NGOs zugunsten eines letzten Rettungsversuches von Natur und Klima. Oder im Kampf gegen den Rechtsradikalismus, der sich überall (AFD, FPÖ, Fratelli d Italia, Le Pen Frankreich usw.) ausbreitet.

8.

Auf eine GesprächspartnerIn soll hier etwas ausführlicher hingewiesen werden.
Viele LeserInnen, wie der Autor dieser Rezension, werden sich freuen, ein längeres Interview mit der aus Südkorea stammenden Theologin Tara Hyun Kyung Chung zu lesen. Es ist ein überraschendes Erlebnis der eigenen eurozentrischen Begrenzung sich einzugestehen, dass diese außergewöhnliche Theologin hierzulande kaum bekannt ist: Christliche Gemeinden und ihre TheologInnen kreisen in Deutschland um sich selbst, wissen so wenig, wie viele Inspirationen gerade ChristInnen aus dem Süden dieser Welt bieten. Frau Chung, geboren 1956, lebt und arbeitet seit einigen Jahren in New York, sie hat unter der koreanischen Diktatur Widerstand geleistet und gelitten, hat den Buddhismus nicht nur studiert, sondern ihn als buddhistische Nonne praktiziert. Frau Chung versuchte, das enge eurozentrische und oftmals nationale Denken der europäischen Protestanten zu weiten, als sie auf der 7. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Canberra, Australien, im Jahr 1991, eine neue ökumenische Spiritualität aus Korea nicht nur in Worten beschrieb, sondern ihr leiblichen Ausdruck im Tanz verlieh. Das war damals für viele ein Skandal. Tara Hyun Kyung Chung ist eine außergewöhnliche Grenzgängerin: Theologin, Buddhistin, Therapeutin. Stefan Seidel schreibt: „Das entscheidende Kriterium religiöser Wahrheit ist für Frau Chung, ob diese Wahrheit zur lebensspendenden Kraft wird, mit der wir unser Leben erhalten und befreien können“ (S. 187).

9.

Der bekannte schwedische Dirigent Herbert Blomstedt erläutert, wie beim genauen Hören von Musik eine Spiritualität entstehen kann, „wo man sich von der Gottheit angesprochen fühlt“ (S.288).
Der bekannte Lyriker und Theologe Christian Lehnert beantwortet die Frage Stefan Seidels: „Wie kann heute von Gott gesprochen werden?“ „Vielleicht mit einer Wiederentdeckung der Poesie des Glaubens. Christentum ist kein System von Aussagen. Es geht nicht darum, was man sagen kann, sondern darum, was sich in der Sprache vollzieht, welche Kraft in der Sprache entsteht. Es geht darum, ein Spannungsfeld in der Sprache zu schaffen, das eine Beziehung zu Gott ermöglicht“ (S. 72).

10.

Der bloß angenommene, nur angelernte und übernommene Glaube, so schreibt Seidel im Gespräch mit der norwegischen Schriftstellerin Hanne Ørstavik, ist in der Gefahr, eine „Spielart der Macht und Manipulation und Lenkung“ durch andere zu sein, es gelte, hin zu einem „wahrhaftigen Glauben zu gelangen, und der ist eine „ureigene Rückbindung an das göttliche Ganze“ (S. 83).

11.

Grenzgänger sind die wahren spirituellen und theologischen LehrerInnen…Wer nicht religiöser Grenzgänger ist, bleibt ein Gefangener in seiner kleinen endlichen Welt. Grenzgänger können auch Friedensstifter, vielleicht Vermittler des Friedens sein. Denn sie sind in mindestens zwei verschiedenen Welten zu Hause.
Stefan Seidel: Grenzgänge. Gespräche über das Gottsuchen. Claudius-Verlag München 2022. 26,00 €.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.