„Wir Israelis sind nach Gewalt süchtig geworden“: Sagt Yishai Sarid

Erkenntnisse des Schriftstellers und Juristen Yishai Sarid.
Im Gespräch mit dem „Tagesspiegel“. Von Tessa Szyszkowitz: LINK      Vom Tagesspiegel veröffentlicht am 27.10.2025, 09:20 Uhr

Ein Hinweis von Christian Modehn:   Yishai Sarid, geboren 1965 in Tel Aviv-Jaffa, ist ein israelischer Jurist und Schriftsteller. 2009 veröffentlichte er den Politthriller Limassol. Sein Roman Monster erschien 2017. In seinem Roman Siegerin setzt er sich mit israelischem Heldentum und Traumabewältigung in der Armee auseinander. Sein neuestes Buch „Chamäleon“ ist im Verlag „Kein & Aber“ erschienen. Yishai Sarid lebt und arbeitet in Tel Aviv.
Wir empfehlen die Lektüre einiger wichtiger Erkenntnisse Yishai Sardis aus dem Interview mit dem Tagesspiegel, zusammengestellt von Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Frage des Tagesspiegel: Herr Sarid, Sie haben fast jeden Samstag für die Freilassung der Geiseln und einen Waffenstillstand in Gaza demonstriert. Sind Sie erleichtert, dass der Krieg vorerst vorbei ist?

Antwort: Ich spüre die Erleichterung mit meinem ganzen Körper. Die Geiseln sind befreit. Das Töten in Gaza musste endlich aufhören. Wir können die Palästinenser nicht so behandeln. Es hat fürchterliche Folgen für Israel.

Frage: Weil die Soldaten und die Gesellschaft moralisch verletzt aus diesem Krieg zurückkommen?

Antwort: Natürlich. Es ist grauenvoll, was wir in Gaza angerichtet haben. Das ist aber eine Frage der Führung. Die Soldaten haben getan, was ihnen befohlen wurde. Wir hätten nie das Leben der Geiseln aufs Spiel setzen dürfen, um den einen oder anderen lausigen Hamas-Kämpfer zu erwischen…

Premierminister Benjamin Netanjahu ist ein Taktiker, kein Stratege. Um seine Regierung zu retten, ließ er sich von der extremistischen Ideologie der Siedlerminister Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir treiben. Die wollten die Palästinenserfrage durch ethnische Säuberung lösen. Netanjahu ist heute für die ganze Welt ein Kriegsverbrecher. Er hat nichts mehr zu verlieren. Wir sind also nach wie vor in einer sehr gefährlichen Situation. Wir haben immer noch eine kriminelle Regierung. Wir brauchen so schnell wie möglich Neuwahlen….

Netanjahus Strategie ist: Bloß nicht mit den moderaten Kräften sprechen, sonst könnte ja noch ein Friedensprozess herauskommen oder sogar eine Zweistaatenlösung. Er zieht die disruptiven Kräfte vor, die Terroristen und die Antisemiten. Solange er gegen die kämpfen kann, kann er weitermachen…

Netanjahu arbeitet wie die römischen Kaiser Nero oder Caligula. Es wird immer so getan, als wären sie verrückt gewesen, aber das waren sie wohl nicht. Sie haben taktisch gegen die Eliten gehetzt, gegen die Aristokraten, gegen die Senatoren. Das Volk liebte sie dafür. Auch hier in Israel gehen Netanjahus Wähler nicht an die Urne und überlegen sich, wer die Wirtschaft und die Gesellschaft voranbringen könnte. Sie wählen ihn, weil ihnen zwei Dinge wichtig sind: Sie hassen die Araber und sie hassen die Linken….

Nach dem 7. Oktober hat sich Israel grundsätzlich verändert. Die Leute haben kein moralisches Rückgrat mehr, es wurde gebrochen. Sie sagen Dinge, die früher unmöglich gewesen wären….Es sollte ein kompaktes Verfahren geben, in dem Netanjahu wegen Korruption angeklagt wird, und ein schnelles Urteil. Tatsächlich wird das Urteil erst in zwei Jahren erwartet und wenn er dann noch drei, vier Jahre in Berufung geht, ist das Ganze irgendwann nicht mehr relevant….

Das Gerücht, Netanyahu solle begnadigt werden, steht seit geraumer Zeit im Raum. Die Sache hätte einen Vorteil: Dann könnte er aufhören, sich als Regierungschef an die Macht zu klammern, weil er seine Immunität nicht verlieren will.
Wir müssen zur Besinnung kommen, wir brauchen eine Regierung, die den Siedlern im Westjordanland Einhalt gebietet. Sie haben jetzt einen Passierschein, sie quälen und ermorden Palästinenser, sie brennen Häuser nieder, es ist grauenvoll.

Frage: Die 1967 im Sechstagekrieg besetzten Gebiete Westjordanland, Gaza und Ostjerusalem sollten die Grundlage für einen Staat Palästina werden?

Antwort: Ja, jetzt aber geht es längst um 1948. Was Israel damals verbrochen hat. Man sieht uns nicht mehr als einen gerechten, säkularen, liberalen Staat. Unser Problem ist: Wir sind es auch nicht mehr. Für Leute wie mich, die Israels Existenz als moralisch und richtig ansehen, ist das eine Tragödie.
Unser größter Sieg ist unsere größte Tragödie: 1967. Seitdem sind alle üblen Geister der jüdischen Geschichte, die früher fest unter einem Deckel eingeschlossen waren, entwischt.

Die Siedler unterscheiden sich von der ursprünglichen zionistischen Bewegung. Sie beanspruchen das gesamte Land aufgrund von messianischen Fantasien. Sie sind aber die einflussreichste Strömung im heutigen Israel. Ich schreibe darüber in meinen Büchern: Wir Israelis sind längst nach Gewalt süchtig geworden. Aber mit all der militärischen Schlagkraft wurden wir trotzdem am 7. Oktober ohne richtige Verteidigung erwischt. Als ob wir wieder ein hilfloses Volk wären. Das ist schlimm.
Wir müssen zur Besinnung kommen, wir brauchen eine Regierung, die den Siedlern im Westjordanland Einhalt gebietet. Sie haben jetzt einen Passierschein, sie quälen und ermorden Palästinenser, sie brennen Häuser nieder, es ist grauenvoll.

Wir empfehlen die Lektüre des vollständigen Interviews mit Yishai Sarid im Tagesspiegel: LINK

 

 

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