“Uns allen blüht der Tod” – Der mexikanische “dia de los muertos”

“Uns allen blüht der Tod…” – Das mexikanische Totenfest. Siehe auch den Buchhinweis am Ende dieses Beitrags.

Von Alfons Vietmeier, Mexiko – Stadt.

Das mexikanische Totenfest (“Días de los Muertos”) ist das (fast)  wichtigste Volksfest des Jahres. Zuerst und vor allem ist es ein Familienfest. Fast so wie an Weihnachten wird das Wohnzimmer geschmückt mit Girlanden und es wird ein Altar gebaut: statt Geschenke für uns Lebende, werden die Verstorbenen empfangen und beschenkt mit all den Lieblingspeisen und –Getränken, die ihnen im Leben wichtig waren; so darf auch ein Tequila nicht fehlen. Und für jeden Lebenden und Toten der Familie steht auf dem Altar ein kleiner Totenschädel aus Schokolade oder Amaranto mit einem Zettel der den jeweiligen Namen angibt. Auf dem Altar sind zudem die Fotos der Verstorbenen, einige persönliche Erinnerungsstücke und symbolisch die vier Elemente: Blumen als Zeichen von Erde, Kerzen (zumindest vier für die Himmelsrichtungen) als Zeichen des Feuers, Weihrauch als Zeichen des Windes und dann ein Wasserglas. In einigen Regionen kommen schon am 31. Oktober abends die verstorbenen Kinder; in der Mehrzahl der Regionen kommen sie am 1. November abends und am 2. November dann die verstorbenen Erwachsenen. Damit sie den Weg zum Altar auch finden, streuen viele Familien einen Weg mit den gelben Blütenblättern der “Cempasúchil – Totenblume”: gelb ist die Farbe des Lebens und der Sonne: Himmel und Erde sind vereint. Es wird gebetet, gesungen, Erinnerungen erzählt und es wird miteinander gegessen: das süsse “Totenbrot” und heisser Kakao. Natürlich werden die Gräber auf den Friedhöfen mit diesen gelben Bumen üppig geschmückt. in vielen Orten ist des Brauch , abends im Dunkeln sich auf dem Friedhof zu treffen mit vielen Kerzenlichtern: Lebende und Tote besuchen sich und nachdenklich – dankbar werden Erinnerungen, Essen und Trinken miteinander geteilt.

Die Wurzeln dieser Festtage reichen weit zurück in die vorspanische Kultur und Religion. Über Jahrtausende erwuchs diese Kosmosvision einer integralen Welt, in der Natur und Menschen eine Einheit bilden. So wie die Pflanzen blühen, Frucht bringen und sterben und dann als Dünger neues Leben zu ermöglichen, so ist es auch mit dem menschlichen Lebenszyklus. Wir sind Teil eines sich immer erneuernden Ökosystems. Tod und Leben gehören zusammen.

In solchem Begreifen eines ewigen Austausches von Leben und Tod ist auch die indigene Religion einzuorden: Das Göttliche beseelt Alles: auch die Natur hat Seele. Jedes Ökosystem, einschlieslich menschliches Leben, macht das göttliche Leben und sein Geheimnis sichtbar. Die uralten Schöpfungsmythen der verschiedenen mesoamerikanischen Völker haben gemeinsam, dass die vier Elemente “Erde – Wasser – Feuer – Wind” alleine nicht den Bestand des Kosmos und des Lebens in ihm schaffen konnten. Deshalb war ein weiterer göttlicher Schöpfungsakt notwendig: um die Dunkelheit  zu erhellen, opfert sich die Gottheit der Kranken und Leidenden, wirft sich ins heilige Feuer und beim sich Verbrennen verwandelt er sich in die Sonne (= die fünfte Dimension), die Alles erhellt und belebt. Krankheit, Leiden und Tod verwandeln sich in Licht und Leben für den ganzen Kosmos und das immer neu!

Wir müssen deshalb keine Angst vor dem Tod haben: Wir sind weiter wichtig für die nach uns Lebenden und diese pflegen zugleich uns weiter! Und zugleich auch: Mensch und Natur sind verwoben: deshalb müssen wir die Umwelt pflegen und auch immer neu die Menschenwürde verteidigen! Genau das empfinden weiterhin ganz Viele, denn es lebt im Unbewussten als kulturelles Erbgut.

Als vor 500 Jahren, nach der politischen Eroberung durch Hernán Cortés, auch der iberische Katholizismus begann die indigene Religion zu erobern, hatten die ersten Missionare kein Problem mit solchen Totenbräuchen. Sie spürten Übereinstimmung mit der christliche Sicht: “Von der Erde sind wir genommen und zur Erde kehren wir zurück!”, so wird bei Beerdigungen gebetet  und am Aschermittwoch als Aschekreuz auf die Stirn gezeichnet. Von sich selbst sagte Jesus: “Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht” (Joh. 12, 24). Das “Gottesopfer” geschah am Kreuz und Ostern besiegte den Tod. Also Aschermittwoch und Allerseelen, Karfreitag  und Ostern zusammen! Auch bis heute wird das so im katholisch – kirchlichen Milieu ausgedrückt: jeder Kirchenraum hat seinen “Totenaltar”, reich geschmückt mit der Vielfalt indigener religiöser Symbole und keine kommt auf die Idee zu sagen: das ist aber heidnisch! Es ist ein kreativer Synkretismus! Ihn hat es immer schon in der Geschichte des Christentums gegeben, zum Beispiel bei den Weihnachtsbräuchen.

Weil es sich beim Totenfest um eine integrale Kosmosvision handelt, ist notwendigerweise die ganze Gesellschaft mit einbezogen. Jeder Kindergarten, jeder Schule, jedes Büro oder Geschäft hat seinen “Totenaltar” und überall dabei Girlanden und die “Totenblumen”. Jede Stadt und jeder Ortsteil hat auf seinem Hauptplatz einen Wettbewerb von “Totenaltäre” und dazu gibt’s Volksmusik und Essens- und Getränkestände: so etwas wie Weihnachtsmarkt – Stimmung, aber mit weniger Rummel und mehr Volkskultur, mit weniger Kommerz und mehr politisch satitrisch, insbesondere in den letzten Jahren.

Ich war mit meiner Familie auf dem Campus der UNAM der grössten Universtät in Lateinamerika mit rd. 250 tausend Studenten. Einige tausend Studenten und auch Professoren, Ehemalige usw. schlendern gelockert und nachdenklich über die riesige Grünfläche vor dem Rektorat  zwischen Hunderten von grossflächigen Totenaltären: Studenten und Mitarbeiten fast aller Fakultäten und Forschungsstätten haben Kreativen in wochenlanger Vorarbeit erarbeitet. Tema war in diesem Jahr die Erinnerung an das 25. Todesjahr von Jorge Luis Borges, einer der grössten lateinamerikanischen Dichter und tiefsinniger Denker des Lebensdramas. Medizinstudenten visualsieren dies scharf – kritisch mit der Darstellung von Opfern ärztlicher Fehldiagnosen, unterlegt mit Gedichten von Borges. Die Biologie hat natürlich den Tod der Umwelt zum Thema und die Fakultät der Rechtswisenschaften arbeitet das ab mit Beispielen der realen Ungerechtigkeit: die Gefängnisse von voll Kleindelinquenten, verurteilt zum sozialen Tod oder als Kanonenfutter des Drogenkrieges. Und die Täter mit weissen Kragen? Auch sie müssen sterben: der Tod ist gerecht. Uns allen blüht der Tod!

Ich sehe im Fernsehen die Übertragung der Totenfeier der neuen “Bewegung für Frieden mit Gerechtigkeit und Menschenwürde”: Tausende mit Lichtern in der Händen sind in der Dämmerung um die “Siegessäule” versammelt. Ihr Sprecher, der Poet Javier Sicilia, liest einen bewegenden Appell: Es gilt, sich heute zu erinnern insbesondere der Tausenden Opfern einer wilden Unmoral, die sich unseres Landes bemächtigt hat. Jedes Opfer hat einen Namen, ein Gesicht und seine ureigene Lebensgeschichte. Die Gesellschaft und der Staat sind tief verschuldet durch fehlende Gerechtigkeit den Opfern gegenüber und den Lebenden! Zugleich listet es einen hochpolitischen Forderungskatalog auf! Verschuldung beinhaltet auch Entschuldung und Aufbau eines gerechteren Gesellschaftsstuktur. Das mexikanische Totenfest in seiner familiären, sozialen, kulturellen und politischen Ausfächerung hat Zentrum, ein  Herz das klopft und so Herzen bewegt.

Ich höre dann in den Nachrichten vom “G 20 – Gipfel” die markante Aussage: “Der Euro ist das Herz von Europa!”. Ich werde betroffen und wütend: Geld ist zum Herzstück tausendjähriger abendländischer Kultur geworden?! Das darf doch nicht wahr sein: der brutal – orgiastische “Tanz um’s goldene Kalb” ist jetzt Herzenssache?! Genau deshalb erleiden wir eine herzlosen Zeit! So lese ich mit Genugtuung, dass sogar die FAZ (Mitherausgeber Schirrmacher, 4.11.2011) unterstreicht “…wie massiv gerade moralische Übereinkünfte der Nachkriegszeit im Namen einer höheren, einer finanzökonomischen Vernunft zerstört werden. Solche Prozesse laufen schleichend ab, sie tun ihr Werk im Halbbewussten, manchmal über Jahrzehnte, bis aus ihnen eine neue Ideologie entstanden ist. So war es immer in den Inkubationsphasen der großen autoritären Krisen des zwanzigsten Jahrhunderts. (…) Es ist gut, einen Schritt zurückzutreten, um klar zu sehen, was sich hier vor unser aller Augen abspielt. Es ist das Schauspiel einer Degeneration jener Werte und Überzeugungen, die einst in der Idee Europas verkörpert schienen”.

Gerade unsere kritisch – chaotische Zeit im Umbruch benötigt vor allem auch Zeiten – Erfahrungen, die uns ermöglichen, den tieferen Sinn der Existenz von Welt und Mensch zu entdecken und wieder ins Zentrum zu rücken. Immer dringlicher gilt es, tiefer und weiter zu denken, umzudenken und: anders leben und handeln!

Das neue Buch:
Alfons Vietmeier, 1942 in Emsdetten geboren, studierte inMünchen und Münster Theologie. Als katholischer Priester arbeitete er an der Basis in Cardonal, bei Tula, Mexiko. 1991 zog er nach Mexiko Stadt, um außerhalb des Amtspriestertums ökumenische Bildungsarbeit zu leisten, vor allem im Blick auf die zunehmende Urbanisierung. Er ist mit einer Anthropoligin und Historikerin verheiratet.
Seit seiner Pensionierung im Jahr 2005 engagiert er sich ehrenamtlich in der Gestaltung eines zivilgesellschaftlich relevanten Netzes von der Basis aus zugunsten einer gerechten, demokratischen Gesellschaft und zugunsten von christlichen Gemeinden, die ihre politisch – soziale Aufgabe neu entdecken, und dabei gerade die religiöse Dimension auch neu wahrnehmen.
Sein neues Buch hat den Titel „Mexiko tiefer verstehen“, es bietet einen kritischen Einblick die vielfältige Realität Mexikos.
Viele Menschen in diesem Land sind dem brutalen internationalen Drogenhandel ausgesetzt, Frauen werden abgeschlachtet (Ciudad Juarez), die Zivilgesellschaft wird tyrannisiert, aber sie wehrt sich und braucht Unterstützung weltweit: Denn der Bedarf an harten Drogen in den USA und der so genannten „reichen Welt“ wird geweckt durch eine tiefe Sinnkrise, um nicht zu sagen Sinnleere, in der Millionen reicher und weniger begüterter Menschen leben. Angesichts dieses massenhaften Bedarfs an berauschenden Mitteln bis hin zu total benebelnden Giften darf man sich fragen, was es bedeutet, wenn sich die USA eine christliche Nation nennen. In god we trust, diese und ähnliche Sprüche verdecken nur die Tatsache, dass das Christentum, die Kirchen, in den USA eben nicht wirksam und prägend geworden sind. Die große Sinnleere hat der Glaube eben nicht ausfüllen können. Das Christentum in der Drogen -Konsumenten – Nation USA ist, dürfen wir es sagen, weithin nichts als schöner Schein, als eine Blase, mit der Politik (auch Außenpolitik) gemacht werden kann und mit dem sich viel Geld in Gemeinden machen lässt… das dann aber unter den Hand wieder für harte Drogen ausgegeben wird. Dies sind Randbemerkungen von Christian Modehn.

Das Buch von Alfons Vietmeier „Mexiko tiefer verstehen“ ist im Herbst 2013 im Dialog Verlag Münster erschienen.
copyright: Religionsphilosophischer Salon.

Das mexikanische Füllhorn: Reichtum geht, Armut bleibt. Ein Beitrag von Alfons Vietmeier, Mexiko – Stadt

Alfons Vietmeier hat im Herbst 2013 ein Buch veröffentlicht, das die Beiträge unserer Serie: “Der andere Blick – Alfons Vietmeier schreibt aus Mexiko” enthält, aber auch weitere Aufsätze, die ein recht umfassendes Bild zur sozialen, politischen und vor allem religiösen Situation in Mexiko heute bieten. Das Buch “Mexiko tiefer verstehen” ist im Dialog Verlag Münster erschienen, es hat 192 Seiten mit zahlreichen Fotos. Das Buch eignet sich gut als Einführung in die vielschichtige mexikanische Lebenswelt. Alfons Vietmeier lebt seit vielen Jahren in Mexiko Stadt, er ist als Theologe und als Berater für neue kommunikative Formen in Großstädten vor allem.

Vor kurzem hat unser Freund Alfons Vietmeier regelmäßig für den religionsphilosophischen Salon aus Mexiko berichtet. Jetzt schickt er uns einen Vortrag, den er kürzlich in Emsdetten gehalten hat.

 

Gold und Silber lieb ich sehr: Das mexikanische Füllhorn: Reichtum geht, Armut bleibt.

Von Alfons Vietmeier,  Mexiko – Stadt

Es gibt keinen der zahlreichen Besucher aus Deutschland in Mexiko, der nicht nachdenklich auf das Thema der weltweiten Finanzkrise und konkret auf die Krise des Euro zu sprechen kommt. Auch die Medien sind voll davon, wenn ich im Internet Nachrichten aus Deutschland checke. Die Meinungen gehen weit auseinander über Ursachen und Konsequenzen. Bei den –zig Milliarden, die hin und her geschoben werden, wird es einfachen Menschen schwindelig, die schon wegen eines fehlenden Tausenders schlaflose Nächte haben. Sind solche Mega-Summen was für Zirkus – Jongleure, Spielmarken beim Monopoly oder Seifenblasen, die dann platzen? Allgemeine Ratlosigkeit und oft die Problemverschiebung auf Sündenböcke wie: “Die Griechen, die haben halt nur auf Pump gelebt!” Und wer von uns nicht auch? Mehr als Einer sagt dann, das Sicherste sei, in Gold und Silber anzulegen.

Bei diesem Punkt erzähle ich gerne etwas aus der Geschichte, das mich nachdenklich macht und lade ein, ebenfalls nach- und weiterzudenken.

Das mexikanische Füllhorn.

1803 war das Allroundgenie Alexander von Humboldt über ein Jahr in Mexiko. Er forschte wie wild, unter anderem über die vorhandenen und nicht ausgebeuteten Edelmetalle. Seine Erkenntnis: Mexiko ist wie ein Füllhorn, voll von Silber und Gold. Es muss nur mit moderner Technologie ausgebeutet werden.

In jener Zeit begann im südlichen Ruhrgebiet die deutsche Industrialisierung. Einige Industrielle lasen von Humboldts Forschungsbericht und waren fasziniert: In Mexiko ist schnell und leicht riesiger Gewinn zu machen; der vorhandene Bergbau muss nur modernisiert werden! Dazu werden Geld und damit Inversionisten benötigt! 1824 wurde in Elberfeld (jetzt Stadtteil von Wuppertal) eine “Deutsch – Mexikanische Bergwerksgesellschaft” gegründet, und Aktien wurden ausgegeben; unter anderem kaufte auch Goethe. Mit diesem Kapital wurden in Mexiko soweit wie möglich lokale Minen aufgekauft, die seit Jahrhunderten unter den Spaniern sehr rustikal etwas Bergbau betrieben und insbesondere Silber abbauten. Die anfängliche Euphorie war so groß, dass bis 1827 etwa 30 Silber- und Goldgruben, sowie drei Schmelzhütten erworben wurden, heißt es in einem zeitgenössischen Bericht. Weiterlesen ⇘

Lebendige Spiritualität in Mexiko: Hoffnung “mit Hand und Fuß”

Sprittualität in Mexiko: Hoffnung “mit Hand und Fuß”

Zur Jahreswende 2011-2012  – Rückblick und Ausblick von Alfons Vietmeier.  Anfang Januar 2012

Unser Gastautor, der Theologe Alfons Viermeier in Mexiko – Stadt, hat im vergangenen Jahr 2011 11 aktuelle Beiträge geschrieben  aus dem Umfeld Religionen – Politik – Spiritualitäten. Anfang Januar 2012 sandte er uns seinen – wir hoffen vorläufig ! – letzten Beitrag zum Thema:”Hoffen mit Hand und Fuß”. Herzlichen Dank Alfons für deine inspirierenden Beiträge! Selbst bei den Analysen von Gewalt und Elend wurden immer wieder Perspektiven der Hoffnung erschlossen! Die anderen Artikel von Alfons Vietmeier sind nach wie vor in der Rubrik “Der andere Blick” zur Lektüre sehr zu empfehlen, die email Adresse zur Konktaufnahme mit Alfons Vietmeier ist am Ende dieses Beitrags angegeben.

Es sind ruhige Tage zur Jahreswende in Mexiko – Stadt. Viele sind auf dem Land bei Familienangehörigen, und atmen auf für einige Tage. Denn 2011 war ein äusserst schwieriges Jahr. Ich mache einen kleinen Spaziergang durch unser Wohnviertel und frage so Diesen und Jene, was ihnen Sorgen so sind. Es ist hier leichter als in Deutschland, “einfach so” ins Gespräch zu kommen.

Eine Taxifahrerin wartet auf Kunden. Sie klagt über die ständige Erhöhung des Benzinpreises  “…und insgesamt alles wird teurer und deshalb gibt’s auch weniger Kunden. Statt so 8 bis 10 Stunden bin ich jetzt mindestens 12 Stunden hinter dem Steuer; sonst reicht’s nicht!” Schlimm für sie ist dabei, dass sie fast nicht Zeit für ihre noch schulpflichtigen Kinder hat. “Aber meine Mutter kümmert sich um sie! Ich habe das Taxi vom meinen Mann übernommen. Der war stinkfaul und zu nicht’s nutze. Vor 4 Jahren habe ich ihn rausgeschmissen und nun muss ich alleine meine Familie durchziehen…”

Der Müllwagen hält; er kommt alle 7 Tage in der Woche. Zum Erstaunen vieler Besucher aus Deutschland sieht die Stadt erheblich sauberer aus als bei früheren Besuchen. Zudem ist seit einem halben Jahr  Mülltrennung vorgeschrieben zwischen “organisch” und “nichtorganisch”. “Das klappt inzwischen. Die Leute sind lernbereit.” So erzählt mir ein junger Müllarbeiter, während aus den Häusern die Leute in grossen Beuteln ihren Hausmüll zum Wagen bringen. An dessen Aussenwänden hängen riesige Säcke, denn sofort sortieren die drei Arbeiter Glas- und Plastikflaschen und Papier – Karton. Diese werden weiter verkauft zur Wiederverwertung. “Von diesen Einnahmen leben wir, und wir sind stolz, wie sauber unsere Stadt ist!”

Auf einer Bank vor einem Kaffeeausschank an der Hauptstrasse wärmen sich 5 ältere Männer, unter ihnen Don Memo, der gegenüber eine offene Garage als Uhrmacherwerkstatt hat und damit “so leidlich durchkommt”, wie er mir sagt. Wir kennen uns; er ist Sprecher des Komitees der Ortsteilfeste. Bei einem Capuchino beginnen wir zu philosophieren: “Natürlich ist ganz viel faul in unserer Gesellschaft und es ist schwieriger und schlimmer geworden. Sicher haben viele inzwischen materiell mehr zu Hause: Kühlschrank, ein neueres Auto, Breitbildfernseher, neueste Handys und ¡Pod, ein besseres Sofa. Aber sind sie deshalb glücklicher? Wer mehr hat, engagiert sich hier im Ortsteil weniger. Sie haben einen dickeren Wagen und mehr Schulden, mehr Arbeitsstunden und Hektik, fast keine Zeit mehr für Familie und Kinder. Wie sollen diese seelisch gesund erwachsen werden? Genau das macht uns Sorgen!” Und alle nicken und erzählen weitere Beispiele. Don Chuy, ebenfalls im Komitee, fügt hinzu: “Zu Viele sind nur hinter’m Geld her. Die uns regieren, lassen sich kaufen von den Mächtigen und diese saugen sich voll. So viel hier im Land funktioniert nicht,  wegen der Korruption. Die politischen Strukturen sind überfordert, die riesigen Probleme unserer Gesellschaft korrekt aufzugreifen!” – “Also viel Pessimismus bei Euch, wenn Ihr nach vorne schaut?” – “Nein! Wir hier sind und bleiben zuversichtlich. Als vor 25 Jahren das schreckliche Erdbeben hier ganze Stadtteile zerstörte, gab es zig – tausend Tote. Die Regierung war völlig unfähig zu handeln. Wir wurden wütend und halfen uns selbst. Wir organisierten uns nach Viertel im Ort.. So ist unser Komitee entstanden! Die guten Kräfte in uns und unter uns wurden wach.” Und Emilio ergänzt: “Mit uns Menschen ist das nicht einfach. Da  gibt’s schlimme Instinkte in uns. Aber es gibt auch die wunderbaren Solidaritätserfahrungen! Genau die müssen kultiviert werden! Schau, was dieser Poet Sicilia in wenigen Monaten mit der Friedensbewegung alles bewegt hat! Keiner hier will eine blutige Revolution! Vom Herzen her beginnt Erneuerung: ein radikaler Umbruch liegt an. Es tut sich was! Es grummelt weltweit!”

 

Eine Jahresbilanz ist nicht auf einen einzigen Nenner zu bringen. Die große Mehrheit der mexikanischen Bevölkerung macht sich schwere Sorgen in vier vitalen Lebensbereichen. In Workshops haben wir sie erarbeitet und nennen es unser “Besorgnisviereck”. In verschiedenen Beiträgen dieser Serie sind sie genauer belegt.

Da ist vor allem die extreme gewachsende Gewaltkriminalität.  Dazu kommen weiterhin die Sorgen um Arbeit und Finanzen, prekärer geworden für die Bevölkerungsmehrheit. Die öffentlichen Institutionen mit zuviel Burokratie, Vetternwirtschaft und Korruption sind dabei immer weniger auf der Höhe der Herausforderungen. Und in all dem: ein im Altersschnitt ganz junges Mexiko tut sich unsäglich schwer, der Jugend reale Zukunftsperspektiven zu ermöglichen.

Dieses “Besorgnisviereck” ist zugleich durchsetzt mit konkreten Hoffnungen. Solche haben sicher alle Menschen überall auf der Welt. In Mexiko sind sie tief verwurzelt in drei Dimensionen Wir nennen es unser “Hoffnungsdreieck”.

Zuerst und vor allem ist es die geschichtlich gewachsene Weisheit: Wir können alleine und nach der Devise “alle gegen alle” nicht überleben und weiterkommen! So ist gelebte Alltagssolidarität immer noch ein real existierender kultureller Wert. Großfamiliäre Beziegungen, Nachbarschafts- und Kollegenhilfe, Landsleute reichen sich die Hand u.s.w. All das komplexe Miteinander von dem, was wir das “soziale Netz” nennen, funktioniert immer noch, insbesondere unter den einfachen Leuten und das ist die Bevölkerungsmehrheit. Ein Grundgefühl von Zuversicht herrscht vor: “Was auch immer kommen mag und was auch immer “die da oben” machen: Wir helfen uns und kommen durch!” Das nenne ich Hoffnung mit Hand und Fuß.

In der mexikanischen Seele hat dieser kulturelle Wert auch eine religiöse Tiefendimension. Wie in verschiedenen Beiträgen der letzten Monate erläutert, ist in der weiterhin gelebten Volksfrömmigkeit der Indio- und Mestizenbevölkerung (zugleich auch die verarmte Mehrheit Mexikos) Erhebliches der vorspanischen Indioreligion präsent. Diese hat sich mit Christlichem vermischt, aber nur sehr wenig (im Unterschied zu Europa) institutionalisiert im Sinne einer Amts- und Kleruskirche. Diese wird respektiert und einige Dienste benötigt, aber der religiöse Alltag ist sozial – kulturell selbstbestimmt. Zudem hat die Säkularisierung, verstanden als sozialer Bedeutungsverlust des Religiösen durch die aufklärerische Vernunft in den westlichen Gesellschaften, in Lateinamerika in der Bevölkerungsmehrheit nicht wirklich gegriffen. Weniger als 10 % bezeichnen sich als “Atheisten”, wenn auch  quasi – religiöse Formen in einer wachsenden Konsumgesellschaft zunehmen. Jedoch für die arme Bevölkerungsmehrheit gehören Glaube, Hoffnung und Liebe gehören als Lebensessenz einfach untrennbar zum Alltag. Sie müssen deshalb auch  gemeinschaftlich gelebt und auch gefeiert werden. Zu diferenzieren ist hierbei, ob “das Religiöse” darin eine Untertanenhaltung verstärkt, d.h. “domestiziert” (um einen Begriff des grossen brasilianischen Pädagogen Paulo Freire aufzugreifen) oder ob es “befreit”, weil es um “Gottesherrschaft und seine Gerechtigkeit” (Jesus) zu gehen hat,  hier mitten unter uns und zuerst und vor allem ausgehend von den immer Zu – Kurz  – Gekommenen. Genau hier ist der Motivationskern der befreienden Praxis ungezählter Christinnen und Christen in christlichen Basisgemeinden und in Sozialbewegungen, dann auch systematisiert in der weiterhin wichtigen und nach wie vor aktuellen Befreiungstheologie.

Beides, Alltagssolidarität und religiöse Tiefendimension, ist von zentraler Wichtigkeit, wenn es eine Krisensituation gibt wie die derzeitige, etwas erklärt im “Besorgnisviereck”. Das zuversichtliche “Wir kommen schon durch, Gott sei es gedankt!” transformiert sich in “Jetzt reicht’s! Veränderung ist notwendig!” Solch sozial – solidarischer Schmerz ist immer der Beginn von Sozialbewegungen, die Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit im Blick haben. So war es in den zwei mexikanischen Revolutionen vor 200 und 100 Jahren. Ähnliches ist geschehen in fast allen lateinamerischen Ländern. Es floss viel Blut und zu rasch etablierten sich neue Mächtige, neue Unterdrücker. Das ist im kollektiven Bewusstsein. Derzeit gibt es in Mexiko fast keine Strömung, die für eine erneute gewaltsame Revolution plädiert. Es geht um die Suche nach neuen und gewaltfreien Formen von Systemveränderungen. Wiederum sei hier als zentraler Denker und zugleich als pädagogischer Praktiker Paulo Freire erwähnt, er ist gerade in der derzeitigen Umbruchssituation von grosser Aktualität.

Konkret und im Blick auf’s neue Jahr: Die in früheren Artikeln erwähnte neue Friedensbewegung greift um sich und ist ein Hoffnungsträger. Es verstärken sich ökologische Bewegungen, derzeit konzentriert auf den Schutz der Wälder gegen exzessiven Holzabbau und gegen Mega- Ausbeutung von Gold, Silber und Zink durch offenen Bergbau. Neue Formen solidarischer Wirtschaft und urbaner Ökologie wachsen, vernetzen sich und werden zu sozialpolitischen  Bewegungen mit Agenda. Hoffnung auf Veränderung verstärken auch seit Jahren die Menschenrechtsbewegung und seit jüngerer Zeit vielfälige Initiativen gegen alle Art von Diskriminierung. Die mexikanische Gesellschaft bewegt sich, und das immer mehr.

 

Ein Wort zum Schluß:

Mit diesem Beitrag endet ein Versuch, mittels 12 monatlicher Vertiefungen in eine jeweils aktuelle mexikanische Realität eine andere Kultur zu bedenken, besser zu verstehen und vor allem auch religionsphilosophische Herausforderungen für unser okzidentales Denken und Handeln zu benennen. Ich hoffe, das Mitdenken war fruchtbar.

alfons.vietmeier@gmail.com

 

 

 

Guadalupe – Perspektiven für eine mexikanische Lebensphilosophie

Guadalupe, Persepktiven für eine mexikanische Lebensphilosophie

Von Alfons Vietmeier, Mexiko-Stadt, im Dezember 2011

Vorweihnachtliches Marketing überschwemmt auch die  Strassen, Geschäfte und Massenmedien in den Großstädten Mexikos, dort leben inzwischen 80 % der Bevölkerung. Überall gibt es üppig geschmückte Weihnachtsbäume, Lichterketten, Nikolaus Figuren und die obligate europäische und nordamerikanische Weihnachtsmusik. Kaufen und Verkaufen ist oberstes Gebot. Besonders die Unterhaltungselektronik stellt sich riesig heraus mit verführerischen Sonderangeboten. Kreditmöglichkeiten werden gleich genannt: “Auch wenn Du es nicht (bezahlen) kannst, mit uns kannst Du doch alles!” Das ist “Kommerz – Philosophie”.

Insbesondere in der verarmten Bevölkerungsmehrheit hat deshalb ein beängstigender Stress begonnen. In Gesprächsrunden über “kritischer Konsum” versicherten mir in diesen Tagen verschiedene Eltern: Es gibt eine Art “affektive Erpressung” durch die heranwachsenden Kinder, die die neuesten Versionen von Videospielen, iPad, I Phone, MP3 Player mit Touchscreen u.s.w. nicht nur wünschen, sondern glasklar erwarten, mit Argumenten wie  “… meine Freundinnen bekommen auch und wie stehe ich dann da?” Bei den Eltern wächst zugleich das schlechte Gewissen. So erzählt eine Mutter von drei Heranwachsenden: “Wir Eltern, wir müssen beide arbeiten, sonst reicht’s nicht. So haben wir zu wenig Zeit für die Kinder… Zumindest mit diesen Geschenken können wir’s wieder gut machen, auch wenn wir uns weiter verschulden!” – Geht das wirklich so: Wieder gut machen?!

Beim weiteren Nachdenken über dieses “wieder gut machen”, kommen die beiden tieferen religiösen Wurzeln der Dezemberfeiern in Mexiko ins Gespräch. Das ist zuerst und vor allem das wohl wichtigste religiöse Fest des Jahres, das “Fest der Guadalupe”. Vorbereitet durch eine Novene (9 Tage) wird es am 12 Dezember bundesweit gefeiert. Und anschliessend beginnen die “Posadas” (Herbergssuche), wiederum eine Novene, um in der Weihnacht am 24. Dezember dann die “Menschwerdung Gottes” mitten unter den armen Menschen zu feiern.

Das Guadalupefest benötigt für Deutsche eine etwas ausführlichere Deutung. Die Eroberung Mexikos durch spanische Truppen, die mit den Fall der Aztekenhauptstadt Tenochtitlan (jetzt Mexiko – Stadt) 1521 endete, war für die Bevölkerung wie eine Katastrophe, sie war traumatisch. Das seit undenkbaren Generationen geschaffene integrale Kultursystem, das dem Ganzen (= Kosmovision) wirtschaftlich, sozial, politisch und religiös Zusammenhalt und Sinn gegeben hatte, lag zerstört am Boden. Es war nicht nur ein verlorener Krieg, sicher schlimm genug, sondern tatsächlich “das Ende” einer Kultur, und zwar total!  In diesem “Chaos” erscheint das “göttliche Geheimnis” der zerstörten und verstörten Indio – Bevölkerung: eine weiblich – mütterliche Gestalt: “Unsere Frau von Guadalupe”, “Tonantzin” (in der Nahua – Sprache der Azteken), “la Morena” (unsere Dunkelhäuige, wie sie die einfachen Leute nennen).  Die Erscheinungslegende berichtet, dass “die Frau” dem Indio “Sprechender Adler”, getauft auf  “Juan Diego”,  Anfang Dezember 1531 ingesamt viermal begegnet. Diese Gestalt Juan Diego selbst ist eine Legende. Die Frau stellt sich ihm vor als “Eure erbarmungsreiche Mutter, die Mutter aller Menschen, all jener, die mich lieben, die zu mir rufen, die Vertrauen zu mir haben. Hier will ich ihr Weinen und ihre Sorgen hören und will ihre Leiden, ihre Nöte und ihr Unglück lindern und heilen!” Das ist das Herz der Botschaft, und es gibt fast keine Mexikanerin und keinen Mexikaner, der diese Worte nicht in seinem Herzen hat. Damit diese Zusage eine institutionelle “Dauererfahrung” werden kann, bittet sie Juan Diego, vom Bischof die Erlaubnis zu erwirken, genau an diesem Erscheinungsort eine “Begegnungsstätte” zu errichten, dort, wo ein (zerstörtes) Heiligtum der göttlichen “Mutter Erde” war. Gesagt, getan. Der misstrauische Bischof bittet jedoch den Indio um einen Beweis. In einer erneuten Erscheinung gibt die geheimnisvolle Dame ihm die Anweisung, auf dem nahen Hügel Rosen zu pflücken und seinen Umhang damit  zu füllen. Juan Diego findet sie dort unter großem Vogelgezwitscher: “Blumen und Gesang”, in der indigenen Symbolsprache bedeutet es “das ist wahr und gut!” Mit dieser Wahrheit als Beweis, kehrt Juan Diego zum Bischof zurück, berichtet die Legende. Als er seinen Umhang mit den Blumen öffnet, wird im Stoff das Bild der “Frau von Guadalupe” sichtbar. Der Bischof ist ergriffen, er kniet sich voller Ehrfurcht hin: Die Amts – Kirche bekehrt sich und muss anerkennen: Die gesamte indianische Religion ist nicht einfach nur Teufelswerk, das zerstört werden muss. Das göttliche Geheimnis offenbart sich inmitten der Besiegten, in deren Symbolsprache. Ein Neuanfang kann nun beginnen von den eigenen indigenen Wurzeln, der eigenen Kultur, Philosophie und Religion her. So erzählt es die Legende, aufgeschrieben im Nican Mopohua, es ist wohl eine der tiefsinnigsten poetisch – philosophisch – theologischenen Schriften in der damaligen Nahua – Sprache.

Wir wissen natürlich aus der Geschichte, dass dann doch die offizielle Religion iberischer Ausprägung auf die Indio – Religion draufgesetzt und durchgesetzt wurde mit all dem, was das schmerzvoll beinhaltete, nämlich die Zerstörung der alten Kultur, auch wenn diese in vielen Elementen bis heute weiter präsent ist .  Zugleich jedoch entstand ein komplexer Synkretismus, wie immer bei kultureller Mischung, ob friedlich oder gewaltsam. So war es schon beim Eindringen des ursprünglich jüdischen Christentums in die griechische, dann römische, dann germanische Welt. Immer ergibt sich ein Vermischen mit der jeweiligen Kultur, Religion und Philosophie. Unser Weihnachtsfest ist ein typisches Beispiel solchen Synkretismus. Aber immer gibt es dabei Sieger und Besiegte, auch in der Verschmelzung religiöser Traditionen.

In Mexiko wurde “Guadalupe” immer mehr zum Symbol der langsam wachsenden nationalen Identität: die indigenen Völker haben sie als die Ihrige angenommen und ebenso auch die wachsende Zahl der Mestizenbevölkerung. Mit dem Bild der Guadalupe als Standarte rief 1810 der Pfarrer Miguel Hidalgo zum Unabhängigkeitkrieg gegen die spanische Kolonialherrschaft auf: eine Offenbarungserfahrung des Trostes und der Ermutigung im brutalen Alltag wird Botschafterin politischer Befreiung! Diese beiden Elemente sind bleibend präsent. Heute gibt es in Mexiko sicher kein Dorf und keine Stadt, wo nicht zumindest eine Kapelle, ein Weiler oder ein Wohnviertel “Guadalupe” heisst und wo sie am Abend zum 12. Dezember gefeiert wird – besinnlich, gemeinschaftlich und herzlich-  als Fest des Trostes und der Ermutigung zum Neubeginn in allen Lebensdimensionen. “Guadalupe” als Wallfahrtsort inmitten der Riesenstadt Mexiko zählt jährich etwa 20 Millionen Pilger und ist somit mit Abstand der grösste Wallfahrtsort der Welt. An diesem 12. Dezember werden erneut mehr als 3 Millionen Pilger erwartet. “Mexiko ist sicher mehr guadalupanisch als katholisch”, urteilt ein bekannter mexikanischer Religionsforscher. “Wer Mexiko in seiner Tiefendimension verstehen will, muss zuerst und vor allem dieses “Guadalupe – Phänomen” begreifen versuchen”.

Aber nun zurück zum Weihnachtskommerz, dem Konsumkult als dem “Tanz um das goldene Kalb”. Da treffen zwei Welten konträr aufeinander: Zum einen ist es die materialistische Logik der Gewinnmaximierung als Motor von Fortschritt mit immer raffinierteren Verführungsinstrumenten (Symbolsprache) zu noch höherem Konsum, was auch immer er koste. Zum anderen ist es die kulturell – religiös gewachsene Wertewelt mit anderer Symbolsprache, die inmitten eines oft harten oder sogar brutalen Lebensalltag kollektive “himmlische” Begegnungen ermöglicht als Trost und Ermutigung, die auch befreiend werden kann. Genau hier ist der sensible “Ort” menschlicher Betroffenheit, wo “das tut weh” sich umformt in “wir machen es zusammen anders und besser”: Nachbarschaftsgruppen, Bürgerinitiativen, soziale, zivile oder kirchliche  Basisgemeinden praktizieren “anders besser leben” und das schließt Konsumkritik ein: Sich Befreien von Abhängigkeiten und sich neu solidarisch verknüpfen!

Es ist zudem sinnvoll, über weiteres nachzudenken: Alle Völker und Kulturen haben Mythen und Legenden, die Wesentliches ihrer Identität in Symbolsprache ausdrücken: für Israel war es die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten, für die Römer die Gründung Roms durch Romulus und Remus, für die Christen die Geburt von Jesus von Nazareth in Bethlehem. Ähnliches wäre anzugeben vom indischen Buddhismus oder dem arabischen Islam. Mythen und Legenden haben immer auch Historisches im Ursprung und darüber gibt es wissenschaftliche Forschungen. Dieses Besser- Verstehen erfasst jedoch nicht unbedingt das notwendige Begreifen der Herzensbotschaft, z.B. einer Ursprungslegende, die Millionen von Herzen bewegt. Denn diese tröstet und ermutigt und schafft damit reale Veränderung im Alltag: es sind Lebens- (verändernde) Philosophien.

Möglicherweise ist hier auch die derzeitige Krise eurozentrierter Logik einzuordnen: Eine einseitige, instrumentelle Rationalität mit technologischer Kapazität, die dem nicht mehr hinterfragbaren Fortschritt anhängt, hat unsere Welt an den Rand des Abgrunds gebracht. Die Bilanz ist erschreckend: Industrialisierung mit Ausbeutung der Arbeiter, 2 Weltkriege mit atomarer Zerstörung und Aufbau einer Vernichtungswaffenindustrie (sie hat z.B. in Mexiko in den Drogenkartellen finanzkräftige  Kunden der High – Tech Maschinengewehre), Zerstörung der Umwelt, genmanipulierte Lebensmittel usw.

Es gibt historisch gewachsene andere Logiken. Sie zu begreifen (Empathie), zu bedenken (Philosophie) und wertzuschätzen und dann zu bewerten (Ethik), ist die derzeitige und künftige Lernaufgabe für die okzidentale (westliche) Gesellschaft. Ich habe den Eindruck, dass immer mehr weltweit anerkannt wird, dass wir auf einem pluriökologischen und plurikulturellen Planeten leben. Alle Kulturen haben ihre Geschichte, einschließlich der Mythen und Religionsformen und alle haben darin auch ihre Weisheitsdeutungen, ihre je eigene Philosophie. Diese Vielfalt ist Reichtum und ihre wechselseitige Wertschätzung kann alle bereichern und ist damit eine nicht versiegende Quelle der Zukunftsfähigkeit der Menscheit. Solches Verständnis von Reichtum und Wertschätzung ist wie ein brutaler Widerspruch zu den “Werten”, die an Wertpapier – Börsen gehandelt werden und die Ratingagenturen “bewerten”. Genau darin wird der Kern der derzeitigen Zivilisationskrise sichtbar.

 

 

 

 

 

Der Kampf um Befreiung – und die Theologie

Neue Herausforderungen und Perspektiven für die Befreiungstheologie

Von Alfons Vietmeier, Mexiko – Stadt, Mitte Oktober 2011

Alfons Vietmeier lebt seit vielen Jahren in Mexiko, er beobachtet als Theologe die religiöse, soziale und polische Entwicklung in Mexiko und Lateinamerika. Als Gastautor schreibt er in der Rubrik “Der andere Blick” über Themen, die sich im Zusammenhang von Befreiung und Unterdrückung stellen. Der religionsphilosophische Salon ist der philosophischen Aufklärung – und der Kritik der Religionen – verplichtet, deswegen haben Alfons Vietmeiers kritische Berichte zur Gegenwart Lateinamerikas ihren wichtigen Platz.

“Befreiende Hoffnung und Theologie”, so stand es groß auf der Leinwand im Versammlungszelt der Veranstaltung  “Theologische Tage” in Mexiko. Über 200 engagierte Christinnen und Christen waren Anfang Oktober dreieinhalb Tage zusammengekommen, um – endlich, so sagte eine ältere Teilnehmerin – die Impulse der lateinamerikaischen Befreiungstheologie im heutigen Kontext noch einmal grundlegend neu zu buchstabieren und zu “dynamisieren”, wie es hieß.

Es war kein akademischer Kongress. Natürlich haben auch einige akademisch in Sozialwissenschaften und Religionswissenschaft Arbeitende teilgenommen, aber Mexiko hat fast keine universitäre Theologie, wegen der historisch gewachsenen scharfen Trennung von Kirche und Staat. Einstiegsreferate als persönliches Zeugnis haben eingebracht Enrique Dussel, seit vielen Jahren in Mexiko  lebender Historiker und Philosoph, und María Pilar Aquino, in den USA lehrende mexikanische Theologin. Es war auch kein Dialogforum mit Representanten  aus Kirche, Gesellschaft und Politik. Wohl gab es ein öffentliches Forum im überfüllten Auditorium der Menschrechtskommision über “Menschrechte und Friedensarbeit”, mit Zeugnissen des Koordinierungsteam der neuen mexikanischen Friedensbewegung, alle sind  engagierte Christinnen und Christen.  Das hatte Resonanz in den Medien, wobei man sehen muss: Das öffentliche, “mediale”  Kirchenbild ist fixiert auf amtskirchliche Äußerungen!

Es war ein seit Jahren immer erneut gefordertes und endlich gelungenes (Wieder-) Treffen der befreiungsttheologisch Motivierten im gesellschaflichen und kirchlichen Feld: sicher eine Minderheit, die sich jedoch bewegt. Wichtig war ein kreatives Miteinander dreier Generationen. Es brachten sich viele ältere “AktivistInnen” ein, insbesondere Ordensschwestern und Priester progressiver Provenienz, erfahren in ungezählten Auseinandersetzungen innerkirchlicher und außerkirchlicher Art, wenn sie sich bemühten die “Option für die Armen” und für eine gerechte Gesellschaft konkret, “vor Ort”, zu gestalten. Dann war dabei die Generation der 30- bis 50 Jährigen. Viele haben in den letzten 20 Jahren sogenannte “Zivilorganisationen” geschaffen, haben dort ihr Christsein gestaltet, weil das innerkirchliche Milieu zu erstickend für sie wurde. Und – das ist besonders erfreulich – war eine erstaunlich grosse Gruppe junger Leute unter 30 Jahren dabei, die  sich “frisch und munter”, möchte man sagen, in die Diskussionen einbrachten. Für Mexiko absolut neu war eine ökumenische Orientierung und zugleich ihre organisative Vernetzung mit einem progressiven Spektrum freikirchlicher Organisationen, insbesondere baptistischer, methodistischer und presbyterianischer Herkunft. Diese und andere prostestanische Kirchen haben in Mexiko – Stadt ein gemeinsames Aus- und Fortbildungsseminar; dort war auch der Tagungsort. Prägend war insbesondere die Teilnahme von Schlüsselleuten der mittlerer Führungsebene in Kirchen und Zivilgesellschaft, d.h. Multiplikadoren mit der Fähigkeit, sozialwissenschaflich und zugleich theologisch zu denken und zudem mit realem Einfluss in Prozessen vor Ort. Das brachte immer wieder frische Luft in den Erfahrungsaustausch und deren Vertiefung.

Das vitale, vieles umgreifende Thema war: “Gewalt und Spiritualität für den Frieden”. Befreiung geschieht immer im konkreten Kontext und dieser ist derzeit in Mexiko die schreckliche Realität von wachsender Gewalt und gleichzeitig ist der Schrei nach Gewaltlosigkeit, nach Frieden – Schalom, immer deutlicher zu vernehmen. Das Thema wurde vertieft in sechs Arbeitsforen: Ökonomie, Ökologie, Migration, Menschenrechte, Bürgerbeteiligung und kirchliche Praxis. Schon diese Auffächerung zeigt, wo es derzeit brennt und wo man sich bemüht um eine christlich befreiende Praxis und eine entsprechende theologische Vertiefung.

Die lateinamerikanische Befreiungstheologie hat ihre 40 – jährige Geschichte: Katholischerseits formulierte sie 1971 der Peruaner Gustavo Gutiérrez in seinem Buch “Theologie der Befreiung” , so wurde der Titel dieser neuen weltweiten theologischen Orientierung verbreitet. Seitens des Protestantismus hatte der Brasilianer Rubem Alves schon 1968 theologisch am Thema gearbeitet über “Theologie der menschlichen Hoffnung als Befreiung”.

Damals waren  autoritäre Regime, fast ausnahmslos von Militärdiktaturen, der gesellschaftliche Kontext in Lateinamerka. Davon galt es sich zu befreien. Das beinhaltete den Sturz der Diktaturen und das kostete auch ungezählte Opfer, Christen ließen ihr Leben, sie werden als Martyrer verehrt. Der kirchlich wohl bekannteste Martyrer ist Oscar Romero, Erzbischof von San Salvador in Zentralamerika.

Aber leben wir seit dem Ende dieser grausigen Miilitärdiktaturen etwa im “gelobten Land” der formalen Demokratien und deshalb in Gerechtigkeit und Frieden?

Im bewährten befreiungstheologisch  – methodischen Dreischritt “Sehen – Urteilen – Handeln” ging es zuerst um eine kritische Bestandsaufnahme und Analyse der derzeitigen und zu erwartenden und zu befürchtenden gesellschaftlichen Grundprobleme. Es gibt mehr Verarmte als vor 10 Jahren (siehe den neuen Welthungerbericht der UNO), diese Verarmten, arm gemachten Menschen, haben konkrete Gesichter und Leidensgeschichten. Das Ökosystem geht kaputt (grossflächige Abholzungen, zerstörerische Ausbeutung der Bodenschätze etc.). Die ländliche Räume bluten bevölkerungsmäßig weiter aus (Mais-, Kaffee- und andere Agrarrohstoffe werden an den Börsen hochspekuliert; die Gewinne bleiben im Agrobusiness). Das ist ein zentraler Grund für die Migration in die Megastädte (die chaotisch wachsen, sich mit Konsumtempeln füllen, wo alles mit immer mehr Pump finanziert wird und damit neue Elendsformen sich ergeben). Es gibt die Migration in den “Norden”, in die USA, dort sind die Latinos ohne Papiere wehrlos der Diskriminierung ausgesetzt. Aber auch dort ist Krise, z.B. in der Bauwirtschaft oder in der Hotelbranche: also Handlanger, Zimmermädchen und Kellner “raus”, heißt dort das Motto. Also zurück nach Mexiko! Und dort? Kanonenfutter der Drogenkartelle?! “Menschenrechte” verkommen dabei zu frommen Sprüchen und “Demokratie” wird zu einer leeren Worthülse, denn die wahre Macht haben einige Wenige , die minutenschnell mit Billionen “Wertpapiere” weltweit spekulieren, verzocken und vor allem ruinieren. Ein Teufelskreis wird sichtbar, zuerst einmal in konkreten Geschichten von Angehörigen und Bekannten in den eigenen Regionen.

Eine Systemkrise des “neoliberaler Spätkapitalismus” wird immer deutlicher: Ein sich immer schneller um Gewinnmaximierung drehendes Teufelsrad schmeisst immer mehr aus dem halbwegs menschlichen Leben “raus”: Riesige Bevölkerungsmehrheiten und nun auch ganze Länder. “Wir stecken im Sumpf.  Alle milliardenschwere Umschuldungen und Rettungsschirme sind wie der Versuch von Münchhausen, sich an den eigenen Haaren  aus dem Sumpf herauszuziehen!” merkte ein Teilnehmer an. Eine Teilnehmerin zitierte daraufhin Einstein: “Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind!” Und unter viel Zustimmung sagte sie energisch:  “Hier sind wir als Cristen eingefordert, Bekehrung voranzubringen in Gedanken, Worten und Werken! Schon Paulus ermahnte: Gleicht Euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt Euch!” Die Reflexion konzentrierte sich auf das, was “Wandel” konkret beinhaltet: er beginnt im eigenen Leben und in den Nahbeziehungen (= In Basisgemeinden und solidarischen Kollektiven schon praktizieren, was wir “nach aussen” als Gesellschaftsveränderung fordern.)  Zudem und zugleich beinhaltet der Wandel auch Vernetzung mit gesellschaftsverändernden Initiativen und deren Agenda.

Christsein ist befreiende Botschaft und befreiende Praxis. Diese ist natürlich verwoben mit Ökologie und Ökonomie, mit Migration, Menschenrechte und Bürgerbeteiligung. Gott ist nicht ausserhalb der realen Lebens mit ihrer Nöten und Hoffnungen. Dies ist keine Kopfgeburt einiger Theologen, sondern vitale Notwendigkeit der unter Sklaverei, Ausbeutung und Willkürherrschaft Leidenden. Diese Menschen sind weiterhin in vielen Teilen der Welt die absolute Bevölkerungsmehrheit.

Deshalb ist es auch für alle Religionen notwendig, klar zu sagen,wo konkret ihr Gott beheimatet ist: bei den Mächtigen oder bei den Ohnmächtigen? Gott verkörpert im ägyptischen Pharao? Nein! Jahwe hörte den Schrei der Sklaven und begleitete sie auf dem Weg der Befreiung! Gott verkörpert im römischen Kaiser? Nein, sagten die Christinnen und Christen, auch wenn es ungezählte Martyrer kostete. Macht darf nicht vergöttlicht werden. Gott selbst ist ein armer Machtloser geworden In Jesus von Nazareth. Wegen seiner Parteilichkeit (vgl. die Bergpredigt und sein Durchbrechen von Systemregeln) ist er selbst Opfer geworden. Ostern ist das neue Leben, trotz allem…  Von unten, von und mit den Verarmten und Opfern, wächst die andere Art von Sinn und Zukunft als Gerechtigkeit für alle!

Das seit etwa 20 Jahren sich immer mehr verschärfende “Gesetz der totalen Gewinnmaximierung” als Systemregel und Grundstruktur wirtschaftlichen Handeln ist Götzendienst. “En god we truth” steht auf der Dollarnote: “Nein, an diesen Götzen glauben wir nicht, davon müssen wir uns befreien!”, war einhellige Meinung. Christsein ist in seiner Essenz antikapitalistisch: “Ihr könnt nicht zwei Herren dienen, Gott und dem Geld!”, sagte Jesus und praktizierte einen anderen, den solidarischen Weg. “Alle teilten untereinander was sie hatten und alle wurden satt”, so bei der Brotvermehrung., einer Geschichte aus dem Leben Jesu von Nazareth.

Die bei den “Theologische Tagen” Versammelten sahen genau hier die neuen Herausforderungen für “die befreiende Hoffnung und Theologie”. Ähnliche Treffen fanden in den letzten Monaten in anderen Regionen Lateinamerikas statt oder werden noch stattfinden. Das mündet im Oktober 2012 in einen lateinamerikanischen Kongress in Brasilien. “Die Befreiungstheologie ist nicht tot!”, unterstrich die Sprechergruppe  der Begegnungstage. “Die Herausforderungen sind heutzutage anders als vor 40 Jahren. Viele der damaligen Theologen sind alt geworden oder leben nicht mehr. Wir haben eine neue Generation, die befreiungstheologisch denkt und kämpft. Sie ist aktiv im solidarischen Teil unserer Kirchen, in Basisgemeinden und auch in  Bürgerinitiativen zugunsten der Zivillgeschaft, es gibt neue Vernetzungen, daraus erwächst eine neue Spiritualítät mit einer neuern  Agenda. Wir finden sie in fast allen Regionen Mexikos und über die Grenzen hinaus.”

Worum geht es in der neuen Agenda? Da ist zuerst und vor allem eine neue “Öko – Theologie”, die Ökologie, Ökonomie und Ökosysteme als integrales Ganze und göttliche Gabe begreift, daraus werden ökumenische Projekte: Befreiung von Ausbeutung der Natur und der Menschen, einfach Leben und gesund Leben und das in solidarischer Vernetzung (solidarische Wirtschaft). Das schließt ein, mit der Logik zu brechen von “Alles auf Pump” mittels Kreditkarten und dann mit lebenslanger Verschuldung. Deshalb gilt es, vor allem ein kritisches Konsumbewußstsein zu entwickeln, das sich emanzipert vom manipulierenden Marketing. So wie Drogenabhängige nicht mit gut gemeinten Ratschlägen, sondern nur einen Entziehungtherapie (“Entgiftung”) sich von dieser Abhängigkeit befreien können, benötigt auch ist unsere Konsum – (Kredit-, IPod-, Tabletten- etc.) Sucht viele Selbsterfahrungsgruppen, die diese “Entziehungskuren” einüben (“anders besser Leben”), wir brauchen therapeutische Begleitung. So wachsen und vernetzen sich immer mehr “Alternativ – Zellen”, die sich wiederum einsetzen für eine psycho – sozial gesundere Gesellschaft, die ihre plurikulturelle Vielfalt als Bereicherung annimmt und deshalb jegliche Diskriminierung  (aus sexuellen, rassischen, kulturellen, religiösen u.a. Gründen) überwindet. Das benötigt neue Sprach-, Aktions- und Organisationsformen, insbesondere in Vernetzung mit und inmitten der Vielfalt der Zivilgesellschaft.

Perspektiven und motivierte Leute sind da. Nun gilt es weiter machen.

 

 

Ein Grund zum Feiern? Der schwierige Umgang mit dem “Vaterland” in Mexiko

Ein Grund zum Feiern?
Der schwierige Umgang mit dem “Vaterland” in Mexiko
Von Alfons Vietmeier, Mexiko – Stadt
In diesen Tagen werden in jeder Stadt Mexikos auf Plätzen und an Strassenecken Nationalfahnen in jeglicher Grösse verkauft, zudem Wimpel, Trompeten, Sombreros, Konfetti… Strassen und Hauptplätze sind voller Girlanden und Lichterketten. Nein, es steht keine Fussballweltmeisterschaft an, sondern es ist unser “Monat des Vaterlandes” und mittendrin, der Nationalfeiertag, am 16. September. Dieser beginnt am Abend des 15. September um 23 Uhr in allen Städten vor dem Rathaus, bundesweit eröffnet das Fest der Staatspräsidenten vom Balon des Nationalpalastes aus. Dreimal wird feierlich deklamiert: “Viva! Es leben die Helden, die uns das Vaterland gaben! Es lebe Mexiko!” Dann wird mit der Nationalfahne gewunken, die Freiheitsglocke (vom Ort Dolores; jede Stadt hat eine Kopie) geläutet und alle singen bewegt die Nationalhymne. Es gibt Feuerwerk und Tanz auf allen Plätzen bis in die späten Nachtstunden. Der 16. ist dann geprägt von Militärparaden und von Sport- und Folkloregruppen. Es ist wirklich ein Nationalfeiertag: überall und für alle!
Für die Gefühlswelt fast aller 112 Millionen Mexikanerinnen und Mexikaner gibt es keinen Zweifel: Mexiko ist unser Vaterland und unsere Mutter ist “Maria von Guadalupe”! Das gibt uns Heimat und Identität! So kenne ich das nicht von Deutschland.
Diese Zeremonie, “grito”, Aufschrei, Aufruf genannt, erinnert jährlich an Miguel Hidalgo, Pfarrer der kleinen Stadt Dolores im geographischen Zentrum des flächenmässig enormen Vizekönigsreichs, Mit dem Glockengeläut seiner Pfarrkirche in den frühen Morgenstunden des 16. September 1810 rief Hidalgo zum Aufstand gegen die spanische Kolonialherrschaft auf. Er schrie dabei: “Es lebe die Muttergottes von Guadalupe! Nieder mit der schlechten Regierung!” Das Fass war überlaufen: es ging um Aufhebung der Sklaverei, um soziale Gerechtigkeit und um politische Freiheit, d.h. die Unabhängigheit von der spanischen Krone.
Rasch fand der bewaffnete Kampf erheblichen Zulauf, insbesondere in der verarmten ländlichen Bevölkerung. Die “Helden, die uns das Vaterland gaben”, insbesondere die Pfarrer Hidalgo und Morelos, (nach ihnen sind zwei Bundesländer benannt) wurden schon nach wenigen Monaten gefangen und hingerichtet. Es folgten ungezählte blutig – grausame regionale Auseinandersetzungen, die etwa einer halben Million Menschen (bei einer Bevölkerungszahl von 11 Millionen) das Leben kostete. Erst nach 11 Jahren (1821) endete dieser Krieg mit der faktischen Unabhängigkeit, wenn auch erst 1836 diese anerkannt wurde. Damit war jedoch nicht ein “neues Vaterland” geschaffen. Das wirtschaftliche und polítische Chaos setzte sich über Jahrzehnte fort. Der Weg, “ein schlimmes Machtsystem zu stürzen” hin zu dem Ziel “ein gerechteres aufbauen” ist lang und dornig!
1910 beispielsweise verfügte rund ein Prozent der Bevölkerung über den Besitz und die Kontrolle von über 90 Prozent des Grundes und Bodens, sicher ein wesentlicher Grund für den Ausbruch einer neuen politisch-gesellschaftlichen Umbruchsphase, die als mexikanische Revolution (1910 – 1920) in die Geschichte einging und über eine Million Opfer forderte, Zuerst und vor allem ging es um “Land und Freiheit”, das ist der Schlachtruf der historischen Zapatistenbewegung, der es insbesondere um eine gerechte Landverteilung ging. Die Erhebung im Herbst 1910 gegen den Langzeitdiktator Porfirio Díaz war der Beginn einer vieljährigen Serie blutiger Kämpfe, die große Teile Mexikos erfassten. Das Land kam erst zur Ruhe mit der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas (1934 – 40), der ernsthaft die Grundprobleme des Landes aufgriff: Nationalisierung der Erdölwirtschaft, um eine Einnahmebasis zu schaffen, Agrarreform mit Enteignung vieler großer Haciendas und ihre Übertragung an die ehemaligen Knechte als Gemeinschaftsbesitz (Ejido), Aufbau eines Bildungs- und Gesundheitssystems u.a.m. Damit wurde zum Teil auch eine echte soziale Revolution verwirklicht.
Was ist heute daraus geworden, nach 200 Jahren (Beginn des Unabhängigkeitskrieges) und dann erneut nach 100 Jahren (Beginn der bewaffneten Revolution)? Gibt es ernsthafte Gründe, so zu feiern, als hätten wir nach sovielem Leid und so vielen Toten in zwei langen Kriegen nun endlich ein “Vaterland”?
Natürlich ist Mexiko heute anders als vor 200 und vor 100 Jahren. Es gab und gibt das rasante Bevölkerungswachstum, weltweit die industrielle Revolution mit einem in Mexiko bedeutenden Ausbau der Infraestruktur, des Wohnbaus und vieler neuer Arbeitsplätze. Dann gibt es in den letzten Jahren die technologisch – kybernetische Revolution, insbesondere sichtbar in der Elektronik (fast jeder hat Handy) und mit einer mehr oder weniger funktionierenden Wahldemokratie. Mehr Wohlstand wird sichtbar, z. B. an den vielen Autos. Und das Wohlempfinden (Glücklichsein) des Bevölkerungsdurchschnitts, so die Umfragen, liegt oberhalb entsprechender Werte in Deutschland. Aber sind damit alle Probleme gelöst?
Die vitalen Probleme eines riesigen Gemeinwesens wie Mexiko haben andere Gesichter bekommen, aber sie sind weit entfernt von einer zufrieden stellenden Realität. Da ich schon in vorherigen Beiträgen das ausfühlicher dargestellt habe, jetzt nur einige kurze Blitzlichter:
Alexander von Humbolt, der 1803, d. h. 7 Jahre vor dem Beginn des Unabhängkeitskrieges, in Mexiko forschte, kam zum Urteil, dass er in all seinen Forschungsreisen nirgends auf der Welt eine Gesellschaft vorgefunden habe, die so markiert sei vom extremen Gegensatz zwischen Wenigen im überbordenen Luxus und den unendlich vielen in extremer Armut. So ist es heute noch: mehr als die Hälfte der Bevölkerung muss unterhalb der Armutsschwelle irgendwie und irgendwo jobben, um das Lebensnotwendige zu verdienen. Neue Formen von Sklaverei nehmen zu, insbesondere mittels der Verschleppung und Ausbeutung von Migranten.
Deshalb wird immer mehr kritisch nachgefragt:
Welche Wirtschaft benötigen wie in Mexiko und weltweit , die für alle qualifizierte Ausbildung, adäquate Arbeit und “einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet” (Art 25) . Hierbei handelt es sich um universelle Menschenrechte, festgelegt im 3. Teil der UNO – Charta.
Welche politische Strukturen sind notwendig, die genau dies ermöglichen? Zu vieles ist hier obsolet oder gar verrottet. Wie ist es möglich, von einem Rechtsstaat zu sprechen, wenn bleibend Korruption ein Grundelement der politischen “Kultur” ist? Ein Justizsystem verdient nicht diesen Namen, wenn zwar die Gefängnisse überfüllt sind von den kleinen Leuten, die klauen oder dealen, aber über 95 % (!) der angezeigten Straftaten nicht zur Verurteilung führen. Solche reale Straflosigkeit führt leicht zur Versuchung: Warum nicht bei grossen Betrügereien, bei Geldwäsche von enormen Drogengewinnen oder bei Ermordungen mitmachen, wenn nur weniger als 5 % eine Verurteilung erwartet?!
Jedes Land hat seine eigene Geschichte, die Vieles erklärt über die Ursachen heutiger Dramatik. Die derzeitigen Vorgänge in der arabischen Ländern machen dies offensichtlich.
Die aktuelle spätkapitalistischen Strukturkrise macht zunehmend deutlich, dass wir weltweit gerechte Strukturen benötigen, das zukunftsträchtig ist, d.h. nachhaltig ein menschenwürdiges Leben für alle ermöglicht. Der jetzt über 90 – jährige gebürtige Berliner Stéphane Hessel, Mitautor der Charta der Menschenrechte der UNO in 1948 und derzeit für Viele weltweit “das Gewissen der westlichen Welt” (FAZ) machte Furore mit seinem Aufruf “Empört Euch!”: gewaltloser Widerstand gegen die Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft, gegen die Diktatur des Finanzkapitals, gegen die Unterdrückung von Minderheiten, gegen die Umweltzerstörung unf unserem Planeten. Empörung ist ist wichtig und not-wendig, denn sie ist Ausdruck vitaler Verletzungen in ungezählten Menschenherzen in sozialer Vernetzung. Nun legt er nach: “Engagiert Euch!” Eine komplexer gewordene Welt, so Hessel, erfordert komplexe Strategien: “Widerstand darf aber nicht nur im Kopf passieren. Wir müssen handeln, und zwar mit den Mitteln der Demokratie. Dazu gehören die Beteiligung an Protesten, internationale Zusammenarbeit sowie persönliches Engagement im Kleinen. Aber vor allem brauchen wir eines: den Glauben daran, dass unser ziviles Engagement die Welt verändern kann”.
Unser Planet, ein “Vaterland für alle”, besteht aus seiner Fülle von miteinander vernetzten gleichberechtigten “Vaterländern”! Ohne nationalistische Gefühle! Ein solches Leitbild sich zu erträumen, über schlimme Mißstände sich zu empören und sich zu engagieren für eine gerechte Zukunft: Darin liegen die wirklichen Gründe zu feiern. Wir brauchen ein Fest des “Vaterlandes”, das die bessere Zukunft schon einen Moment erlebbar macht und für das Engagement Mut macht.

In den Händen der Leute. Wie sich der Katholizismus in Mexiko “modernisiert”

Im religionsphilosophischen Salon wollen wir immer auch die Realität der Religionen weltweit wahrnehmen, die internen Fragen und Probleme, Entwicklungen und Aufbrüche studieren und kritisch bewerten.
Unser Korrespondent in Mexiko – Stadt, der Theologe Alfons Vietmeier, weist in seinem neuen Beitrag auf ein Thema hin, das etliche Beobachter der religiösen Szene in Deutschland interessieren kann; vor allem angesichts der Umstrukturierungen des Katholizismus, bedingt durch den Mangel an Priestern.

In den Händen der Leute
Über die Veränderungen von Glauben und Gemeinden in Mexiko
Von Alfons Vietmeier, Mexiko – Stadt, August 2011

In diesen Wochen bin ich zu verschiedenen Begegnungen und Vorträgen in Deutschland und stelle mit Freuden fest, dass endlich (!) hier die Bereitschaft wächst, auch vom lateinamerikanischen Kirchenalltag zu lernen. In der deutschen Mentalität ist (teilweise immer noch) tief internalisiert: Wir haben ´s und verschicken es dann! So wurden im kirchlichen Bereich jahrzehntelang exportiert: deutsche Ordensschwestern und Priester (das ist jedoch schon seit Jahren ausgelaufen), deutsche Philosophie und Theologie ( in mexikanischen Priesterseminaren schwitzen die Studenten über Kant, Hegel, Rahner usw.; studieren aber nicht die eigene Indio – Philosophie und Indio – Theologie; diese Materien gibt es fast noch nicht) und deutsche Technologie als Entwicklungshilfe. Ist das nicht Neo-Kolonialisierung?, so fragte provozierend schon vor 40 Jahren der Theologe und Kulturkritiker Ivan Illich im mexikanischen Cuernavaca.
Den in Deutschland überall spürbare große Kirchenfrust bekomme ich sehr deutlich mitgeteilt. Ich empfinde ihn jedoch auch als Chance, sich zu öffnen für das. was schon seit vielen Jahren in Lateinamerika anders und ermutigend praktiziert wird, vor allem in der christlich – kirchlichen Selbstorganisation. Ich mache das fest an den derzeitigen Strukturreformen vor Ort. Leider gibt es diese Strukturreformen nicht auf anderen Ebenen und nicht, z.B. in der dringend zu überwindenden Klerusfixierung. Die Gründungen neuer Großpfarreien haben Konfusionen, Irritationen und Verletzungen mit sich gebracht. So wird nachgehakt: Jetzt haben wir neue Strukturen: Und was dann? Aber: Wie macht Ihr das in Mexiko konkret? Können wir davon etwas lernen, bei uns anwenden?
Großpfarreien sind seit Jahrzehnten die typische Form einer Pfarrei in Mexiko. Denn im Vergleich zu Deutschland gab schon immer viel weniger Priester und damit auch größere Pfarreien. Denn nur Priester dürfen nach dem Kirchenrecht Pfarreien leiten. Hinzu gekommen ist in den letzten Jahrzehnten ein starkes Bevölkerungswachstum. Insofern haben die Pfarreien an Mitgliedern zugenommen, ohne dass entsprechend die Priesterzahl gewachsen ist. Ein typisches mexikanisches Bistum mit heute etwa einer Million Katholiken hat zwischen 50 bis 70 Priester. Die in der realen Pastoralarbeit vor Ort Eingespannten, einschließlich Generalvikar, Pastoralvikar, usw. sind alle Pfarrer in Pfarreien mit 20 – 30 Tausend oder noch mehr Katholiken.
Sicher gilt es, historisch gewachsene unterschiedliche Rahmenbedingen wahrzunehmen und nicht naiv Übertragungen vorzuschlagen. Auf deutschem Boden wachsen halt andere Bäume mit anderen Früchten. Unterschiedlich sind vor allem:
Die materielle Basis: Eine immer schon finanziell und personell (im Sinne der Anzahl hauptamtlicher Mitarbeiter) arme Kirche ist zugleich freier, kreative Veränderungen voranzubringen als eine reiche deutsche Diözese mit hunderten Hauptamtlichen im Generalvikariat und mit vielen Pfarreien, die oft zugleich die größten Anstellungsträger vor Ort sind.
Die Volksreligiösität und Selbstorganisation: Immer schon wenig Priester beinhaltet auch, dass die Leute es gelernt haben, selbst ihr Christ Sein zu leben und zu pflegen und die notwendigen kirchlichen Dienste vor Ort, d.h. in ihrer Kleingemeinde, soweit wie eben möglich selbst in die Hand zu nehmen. Deshalb ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Laie als Zelebrant oder Zelebrantin (so werden sie genannt) den Sonntagsgottesdienst (in Abwesenheit eines Priesters; das kommt sehr oft vor) oder die Beerdigungsfeier leitet. Dem steht kirchenrechtlich nichts im Weg und das allgemeine Priestertum hat so Hand und Fuß.
Kulturell verschiedener Umgang mit Ordnung und Normen: Aus vitaler Notwendigkeit heraus haben die Menschen gelernt, so weit wie möglich das Notwendige selbst zu regeln: Normen müssen dem Leben dienen und damit auch die kirchlichen Ordnungssysteme mit ihren Regeln: Was nicht verboten ist, ist zuerst einmal erlaubt, und was nicht so anwendbar ist vor Ort, wird mit natürlicher Freiheit gestaltet.
40 Jahre lateinamerikanischer Weg der Pfarreierneuerung: Die Bischofsversammlung von Medellin (Kolumbien, 1968) hat in Anwendung der Konzilsbeschlüsse für die ganze lateinamerikanische Kirche klare Orientierungen erarbeitet. Als Schlaglichter erwähne ich: Option für die Armen und für eine integrale Evangelisierung und deshalb die Option für Basisgemeinden, Laienmitarbeit und eine kreative Vielfalt von Diensten. Wenn auch über konfliktreiche Etappen hinweg, die letzte Bischofsversammlung in Aparecida (Brasilien, 2007) hat erneut und eindringlich unterstrichen: Weg von einer bewahrenden und hin zu einer missionarischen Pfarreipastoral; und „missionarisch Sein“ ist Aufgabe aller Getauften. Deshalb geht es nicht anders: Kirche in den Händen der Leute! Das benötigt vor allem eine ganz eigene Spiritualität christlicher Verantwortung, benötigt aber auch Leitbilder, Pastoraloptionen und – das ist der sensible Punkt – Pfarrer / Pastoralteams, die nicht Alles bestimmen wollen, sondern die loslassen und zulassen, die ermutigen und begleiten. Hierarchie ist nicht Monarchie; „wer der Erste sein will, soll der Diener Aller sein“, sagte schon Jesus.
Was so schon seit langem Praxis ist, nicht nur Folge von Priestermangel: Wir haben uns daran gewöhnt, von drei Kirchenebenen auszugehen: Weltkirche (Vatikan), Ortskirche (Diözese) und Pfarrei (Basiskirche). In den ersten drei Jahrhunderten des Beginns der Kirche war das nicht so. Die Basis bestand vielmehr aus einer Vielzahl von Hauskirchen / Kleingemeinden, dann gab es die Vernetzung dieser Basis auf Stadtebene und schließlich die universelle Kirche.
Das entscheidend Christlich – Kirchliche findet vor Ort statt, nicht als Kleinfamilie, sondern als Basisgemeinde. Sie kann territorial (Wohnviertel) sein oder auch ausdifferenzierter je nach Milieus und Lebenswelten. Entscheidend ist: das reale Leben mit Ängsten und Hoffnungen wird geteilt (Koinonie) und solidarisch verteilt (Diakonie), das „neue Leben in Christus“ wird bedacht und vertieft (Katechese) und dann gefeiert in vielfältigen Formen (Liturgie). In der Wichtigkeit steht nicht an erster Stelle „sie gingen zum Tempel“, sondern das Miteinander als Hauskirche – Kleingemeinde (vgl. die Berichte der Apostelgeschichte). Genau dies macht sie attraktiv. Es ist die Zeit gekommen, in den komplexen heutigen Umbrüchen („Epochenwechsel“ nennt es Aparecida) sich von dieser frühkirchlichen Praxis inspirieren zu lassen.
Das beinhaltet unter anderem die internalisierte Vorstellung zu überwinden, das “Pfarrei” gleich “Gemeinde” ist. Eine Pfarrei, der formal Tausende von Katholiken angehören, kann nicht direkt diese “Koinonie“ zwischen Allen leben und deshalb nicht wirklich „Gemeinde“ sein. Sie kann bestenfalls eine Gemeinschaft von vielen Gemeinden sein, von Gemeinschaften, Basisgruppen, Solidarkreisen, „Christseinsbiotopen“, ein möglicher neuer Begriff?
Es ist deshalb heutzutage auch notwendig, die historische Fixierung auf das vom Johannes Evangelium geprägte Pastoralmodell (Hirt und Herde:, der Pastor, der alle bei Namen kennt und dem Verlorenen nachgeht! Wie ist das möglich bei 20 Tausend?) zu überwinden. Wir haben doch vier Evangelien! Es gilt, den Übergang zu gestalten zu einem vom Apostel Paulus geprägten Evangelisierungsmodell: viele kleine Gemeinden (Christus –und nicht der Pfarrer- ist das Haupt und alle sind Glieder) mit unterschiedlichen Diensten und Ämtern.
Der Theologe José Comblin (Brasilien) drückte das so aus: „Wir müssen die Kirche in einer Stadt uns vorstellen wie ein Archipel mit vielen kleinen Inseln, d.h. Gemeinden, wo bei hohem Wellenschlag die Boote anlegen können“. Bei einem Workshop stellte ein ehrenamtlicher Gemeindeleiter seine Pfarrei wie folgt vor: „Wir verstehen uns wie einen großen Obstgarten. Jeder Gemeinde ist ein eigener Baum mit Ästen und den Früchten je nach Baumart; und es gibt Große und Kleine, Junge und Alte, Krumme und gerade Gewachsene. Alle zusammen sind wir unsere Pfarrei. Ein solcher Obstgarten muss natürlich kultiviert werden; da machen wir alle mit. Unser Pfarrer hilft auch mit, gibt Ratschläge, schult uns, erarbeitet mit uns zusammen den Jahresplan und steht uns zur Verfügung in Sorgen und Freuden.“
Genau diese Erfahrungen in Großpfarreien, die „mehr Christ sein und Kirche sein in den Händen der Gläubigen“ ermöglichen, können für die derzeitigen Bemühungen um Pastoralerneuerung in den neuen deutschen Großpfarreien zumindest inspirierend sein. in Mexiko geht es darum, dass die vielen kleinen Gemeinden den Menschen in der Stadt oder auf dem Land helfen, miteinander das Leben zu gestalten, Auswege aus der Gewalt zu suchen, Hilfsbereitschaft zu fördern, politisch sensibel zu werden. Denn für uns sind diese vielen kleinen Gemeinden kein Selbstzweck! Es geht ja nicht primär um die Kirche, nichr nur um Gottesdienste im engeren Sinne, schon gar nicht um den Ausbau der Macht der Kirche. Es geht einzig darum, in diesen Gemeinschaften den Menschen zu dienen und Schritte zu einer größeren Gerechtigkeit zu finden, die natürlich auch politisch Ausdruck finden muss.