Ist “das System” reformierbar? Perspektiven aus Mexiko

Mexikanische Friedensbewegung:
Wer kann das “System” verändern?
Wenn die Opfer öffentlich sprechen und der Dialog beginnt.
Alfons Vietmeier schreibt aus Mexiko – Stadt im Juli 2011

Etwas für Mexiko bisher Undenkbares ereignete sich am Vormittag des 23. Juni. Im historischen Stadtschloss begannen Vertreter der neuen Friedensbewegung (“Bewegung für Frieden in Menschenwürde und Gerechtigkeit”) einen öffentlichen Dialog mit der Regierung. Er wurden die drei Stunden life im Fernsehen bundesweit übertragen. Beim Regierungsantritt vor dreieinhalb Jahren hatte die “öffentliche Gewalt” den Krieg erklärt dem “organisierten Verbrechen”. Letzteres ist inzwischen ein riesig gewachsener Wirtschaftszweig geworden mit Milliardenumsatz im Umfeld des Drogenhandels. Krieg beinhaltet Tote, inzwischen sin des über 40.000; viele wurden umgebracht in Kämpfen unter den Drogenkartellen, aber es gibt auch zu viele zivile Opfer. Sind diese Menschen bloß “unvermeidbare Nebenkosten”, wie sie im technokratischen Jargon genannt werden? Verzweifelte Mütter und Väter, Ehepartner, Verlobte, sie alle haben Ermordete zu beklagen. Ungezählte Opfer wurden zudem “irgendwo” verscharrt; immer neue Massengräber werden gefunden.
Wird der Schmerz der Angehörigen und die wachsende Empörung unter vielen einfach nur runtergeschluckt oder können und müssen sie rausgeschrien werden?! Genau hier ist der Auslöser der neuen Friedensbewegung zu sehen. Immer mehr Opfer geben Zeugnis, bewegen sich und schaffen eine Bewegung. An ihrer Spitze steht der Poet Javier Sicilia, der selbst einen Sohn verloren hat. Er ist glaubwürdig und kann Betroffenheit, Trauer und Wut in Worte fassen, die wiederum andere Opfer bewegen, ihren inneren Schmerz rauszulassen. Das bezieht inzwischen Tausende ein. Ein “dumpfes Empfinden” in der Gesellschaft, dass dieser Krieg eigentlich ein Wahnsinn ist, wird sprachfähig und dialogfähig: Vielleicht konnte nur ein Poet genau diese Veränderung bewirken.
Das machte den politischen Dialog einzigartig: Opfer gaben zuerst einmal ausführlich Zeugnis. Der Staats- und Regierungschef, mit Innen- und Sicherheitsminister und anderen hohen Beamten des Sicherheitskabinetts hörten zu und antworteten. Es stiessen extrem verschiedene Logiken aufeinander: Sachrationalität gegen Betroffenheit, Gemeinsinn – Argumente gegen Systemzwänge. Es wurde jedoch zumindest argumentiert, zugehört und vor allem eine weiterführende Agenda vereinbart. Damit ist noch keine Lösung da, aber es gab einen Beginn. Zugleich ist die Skepsis groß: Sind wirklich Veränderungswille und Veränderungsmöglichkeiten vorhanden?
Zu einen gibt es die äusseren Bedingungen. Die mexikanische Regierung hängt fast total vom “Big Brother” im Norden ab: 70 % der Drogen werden in den USA konsumiert. Wenn Bedarf ist, dann gibt es eben auch Produktion und Handel: Das entspricht der kapitalistischen Marktlogik. Und damit gibt es auch Gewinn: die Milliardenumsätze werden durch die dortigen Banken in den Finanzkreislauf gebracht. Zugleich beinhaltet ein Krieg auch Waffenhandel und damit erneut unglaublich viel Gewinn. Ein Nationalstaat ist in solchem Kontext schon lange nicht mehr souverän. Im Alleingang kann Mexiko dieses riesige Problem nicht lösen.
Bei dieser Erkenntnis werden jedoch schnell zentrale Mitursachen des Problems nicht genügend aufgegriffen. Im Dialogprozess haben das sehr deutlich Mütter und Väter von ermordeten Jugendlichen ausgedrückt: “Ist unser derzeitiger Staat mit seinen überforderten Strukturen überhaupt noch fähig, reale Zukunftsmöglichkeiten zu schaffen für Millionen von jungen Leuten?”
Mexiko ist ein Land voller junger Menschen: Mehr als die Hälfte der 112 Millionen Bevölkerung ist jünger als 30 Jahre und davon befinden sich 29 Millionen befinden im schulpflichtigen Alter. Jedoch dieses Schulsystem knirscht an allen Ecken. Ein wichtiger Faktor dabei ist die Lehrergewerkschaft im öffentlichen Schulsystem. Sie ist die zahlenmässig grösste und politisch mächtigste in Lateinamerika. In Mexiko ist sie Staat im Staate, ohne interne Demokratie und mit einer hochkorrupten Funktionärsklique. Diese bestimmt die Staatssekretäre im Erziehungsministerium, diese dann die Schulräte, diese dann Schulrektoren, etc. So schaffen sie es, Planstellen zu verschachern, Kontrollen der Lehrerqualität unterbinden, etc. Damit das funktioniert wurde eine eigene politische Partei geschaffen (“Nueva Alianza – Neue Alianz”). Sie ist der Verhandlungsarm mit der Regierung, die seit dem Beginn ihrer Amtszeit ohne Parlamentsmehrheit ist, und deshalb zur Regierungfägigkeit solche “Zünglein an der Waage” benötigte. Deshalb wurde das Erwähnte als “politischer Pakt” diskret vereinbart und durchgezogen. Durch gezielte Indiskretion kam er in diesen Tagen ans Licht der Öffentlichkeit. Und es gibt erneut Grund, dass immer mehr “…die Schnauze voll” haben.
Und was ist dann nach der Schulpflicht? In diesen Tagen suchen über eine Million junger Leute nach ihrem Schulabschluss einen Arbeitsplatz. An formaler Arbeitsmöglichkeit (mit Vertrag, Versicherung, etc.) sind jedoch nur weniger als ein Drittel des realen Bedarfs vorhanden und zumeist schon ausgehandelt unter Bekannten. Dabei hatte der jetzige Regierungschef im Wahlkampf sich als “Präsident der Arbeitsplätze” propagiert. Also zwei Drittel der Schulabgänger versuchen “irgendwie und irgendwo” zu jobben: im Millionenheer der Schattenwirtschaft als Schwarzarbeit in den Millionenstädten oder ohne Papiere als Gastarbeiter in die USA. Aber dort ist seit 2 Jahren wegen der Finanzkrise die Luft raus aus dem Arbeitsmarkt. Also, wohin und was?! Ein Teufelskreis wird sichtbar: warum nicht jobben in der organisierten Kriminalität?!
Das Schul- und Bildungssystem und vor allem auch das Wirtschaftssystem sind Schlüsselthemen im Dialogprozess über das Gewaltproblem. Wenn zur Gewalt neue Lösungen gefunden werden müssen, dürfen Systemveränderungen in Bildung und Wirtschaft nicht tabuisiert werden. Das ist kompliziert, denn es sind gewichtige Machtinteressen im Spiel. Genau deshalb ist die Skepsis auf allen Seiten groß.
Ernst gemeinte Dialogprozesse sind nicht einfach. In Deutschland wurde ein solcher in Stuttgart bezüglich “S 21” begonnen. Die deutsche Katholische Kirche hat jetzt ebenfalls einen Dialogprozeß eingeläutet. Systemveränderungen sind bitter notwendig! Sind sie jedoch auf dem Dialogweg möglich? Wird es Ergebnisse geben? Welche?
Wer über solche Zusammenhänge nachdenkt, dem kommt der Mythos vom Sisyphos im Sinn. Der Überhebliche, der es wagte ins “Göttersystem” sich einzumischen, wurde bestraft, einen Felsblock den Gipfel hoch zu rollen, ohne je es zu erreichen. Ist Gesellschaftserneuerung und damit verbundene Systemveränderung, ob Kirchen-, Gewerkschaft-, Verkehrs-, Wirtschafts-, Finanzssystem oder welches auch immer, solch eine Sisyphusarbeit und damit letztlich absurd?
Danach wurde der Poet und sozialer Kämpfer Sicilia in verschiedenen Interviews gefragt. Und er antwortete im folgendem Sinn: “Sicher denke ich manchmal so und die philosophischen Reflexionen von Albert Camus kommen mir in den Sinn. Aber dann kommt im Innern hoch: Nein! Als Mensch, Bürger und Christ mache ich nicht etwas letzlich Absurdes! Mich inspiriert dann Galilei mit seinem trotzigen: ‘Und sie bewegt sich doch!’ Unsere so fatale Realität ist bewegbar, wenn auch unser Weg lang ist und voller Steinbrocken, die beseite geschafft werden müssen. Dann spüre ich und weiss es immer klarer: Wir sind betroffen und empört und das sind immer mehr. Zudem vernetzen wir uns immer besser. Bei Gesprächen untereinander in unseren Friedensmärschen erinnern wir uns an eine afrikanische Weisheit, die seit langem unseren Basisgemeinden langem Atem schenkt: Viele kleine Leute, an vielen kleinen Orten, die viele kleine, aber vernünftige Dinge tun, werden das Antlitz dieser Welt verändern!”

Wie kann in Mexiko Veränderung gelingen?

“ÜBERDURCHSCHNITTLICH ZUFRIEDEN” UND ZUGLEICH “DIE SCHNAUZE VOLL!”
Wie kann in Mexiko Veränderung gelingen?
Von Alfons Vietmeier, Mexiko – Stadt, Anfang Juni 2011

Viele Reisende aus Deutschland kommen nach Mexiko mit Informationen über ein landschaftlich und kulturell reiches Land, das aber zugleich in einer tiefen Krise steckt mit einem besorgniserregend hohem Armuts – und Gewaltindex. Beim Spaziergang durch die Straßen kleiner und großer Städte gibt es dann schnell ein Erstaunen: Überall herzlich – erfreuliches Leben! Es gibt viel mehr Kinder und Jugendliche als in Deutschland und die haben ihren Spass auf den Strassen und in den Park; in der Metro zwitschern verliebte junge Pärchen; ältere Menschen erklären höflich den Weg ;lachende junge Frauen stehen zusammen beim Schwatzen an der Tortilla-Bäckerei. Um nicht zu idealisieren: Natürlich fallen auch viele bekümmerte und müde Gesichter auf. Jedoch der Eindruck bleibt, auch nach Wochen und Jahren in Mexiko . Trotz all des Schlimmen, was tagtäglich passiert und wovon die Nachrichten voll sind: Die Stimmungslage der ganz großen Mehrheit der mexikanischen Bevölkerung ist “überdurchschnittlich zufrieden”.
Das ist erneut im internationalen Vergleich dokumentiert worden im jüngsten Zufriedenheitsindex der “Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung” (OECD). Das verwundert sogar die öffentlichen Medien. “Mexiko, GLÜCKLICH trotz schlechter Lebensqualität!”, so steht es groß als Titelzeile in einem Massenblatt. Und das trotz aller objektiven Daten, die eigentlich auf ein depressives und zugleich aggressives Grundempfinden der mexikanischen Gesellschaft schliessen müssten.
Wie erfasst man, wie lebenswert ein Land ist? Der klassische Ansatz fragt vor allem nach materiellen und politischen Eckpunkten: Beschäftigungindex, Einkommensniveau und Kaufkraft, Wohnung, Gesundheitsversorgung, Bildungssystem, Rechtssicherheit usw. Laut dieser seit Jahren realisierten Studie der OECD befindet sich Mexiko unter den 34 Mitgliedsstaaten bezüglicher solcher Eckpunkte an vorletzter Stelle und Deutschland in der Spitzengruppe. Als Beispiele mögen folgende Daten dienen: Das durchschnittliche Jahreseinkommen in Mexiko beträgt 12.100 Dollar, im Vergleich zu 22.200 Dollar im OECD – Schnitt. Zugang zur Bildung: Im Mexiko haben nur 34 % der arbeitenden Bevölkerung einen Schulabschluss, während der OECD Standard bei 73 % liegt. Jedoch bei der Frage, wie zufrieden insgesamt die Befragten sich fühlen, liegt Mexiko deutlich über über Deutschland, ein “Volk notorischer Nörgler auf hohem Niveau” (Spiegel – Online, 26.05.2011).
Warum? Die Antwort ist nicht leicht, man muss sich differenzierter nachdenken.
Da sind zuerst und vor allem die sozialen Beziehungen, die weithin noch halten und als Sicherheitsnetz dienen, “trotz allem…” Fast jeder hat Onkel und Tanten, Cousinen und Vetter, Hochzeits- und Taufpaten; und diese haben wiederum… Aus vitaler Notwendigkeit über Jahrhunderte kultiviert, befindet sich fast jeder in einem Beziehungsgeflecht. Das heißt konkret: wir helfen uns gegenseitig! Und das macht zufrieden! Wer es akzeptiert z. B. eine Patin zu sein, rechnet damit, dass “irgendwann” auch dem Patenkind geholfen werden muss, einen Job zu finden oder… Das ist gleichsam eine kulturell – moralische Norm. Also, trotz Arbeitslosigkeit und eines schlechten Gesundheitssystems gilt: “Wir kriegen das schon hin, “irgendwie” einen Weg zu schaffen, der uns zufrieden macht und erhält”.
Von solcher Grundeinstellung her gibt es eigentlich nicht die Krise einer deutschen Mittelschichtsgesellschaft, die nach oben gekommen ist, Wohlstand geschaffen hat und dann immer in Angst lebt, das Erworbene zu verlieren. “Wir in Mexiko waren halt immer schon knapp dran. Aber meine Familie ist jetzt etwas besser dran als damals die Familie meiner Eltern. Wir haben eine kleine und dezente Wohnung und 2 Kinder studieren sogar!,” erzählt mir Josefina, die eine kleine kirchliche Basisgruppe leitet.
Soche Beziehungen müssen gepflegt werden. Im Laufe des Jahres gibt es immer Gelegenheiten miteinander zu feiern: Es vergeht kein Monat ohne irgendein soziales, ziviles oder religiöses Fest. Das ist immer Anlass, sich zu treffen, um miteinander zu essen, zu trinken, zu singen und zu tanzen… und –ganz wichtig- sich auszutauschen und konkrete Absprachen zu treffen. Das hat Kultur und ist Kultur.
Sicher hat solche positive Grundstimmung auch ihre erheblichen Schattenseiten: Beziehungsgeflecht beinhaltet auch Vetternwirtschaft, Seilschaften und “Klüngel”. Da ist Tür und Tor offen für Korruption (“der Pate regelt das schon…”) und für Kleptokratie (statt Demokatie): “Da sowieso die Institutionen schwach und korrupt sind, warum sollen wir nicht das für uns rausholen, was möglich ist…!”
Und hier wird dann konkret die tiefere Krise eines solchen “Systems”, das bisher es noch ermöglichte, “mehr oder weniger” zufrieden zu sein mittels solcher Umgangsformen und Absicherungsstrategien. Aber wie lange noch? Für wie viele ist ein solches Sichheitsnetz schon zerrissen? Die Millionen Migranten, die Drogenökonomie und die damit verbundene extrem schnell wachsende Gewaltszene machen das sehr deutlich.
Es geht dabei nicht darum, die soziale Beziehungskultur abzuwerten, sondern sie umzuformen und mit neuen Werten zu füllen. Zum Beispiel: Für Transparenz der öffentlichen Finanzen sich einzusetzen, auch wenn “Schmieren” eine übliche Alltagspraxis ist! Solidarisch sein mit den Opfern einer korrupten Wirtschaftspolitik (Betriebsschliessung mit Massenentlassung), auch wenn der politische “Pate” ein Teil der Ursache ist! Es geht um Menschenwürde und Menschenrechte, die höhere Werte sind als das Beziehungsgeflecht einer Vetternwirtschaft.
Solches Umformen ist nicht leicht, geschieht aber seit Jahren in einer großen Vielzahl von Sozialbewegungen und Organisationen der Zivilgesellschaft, von denen sehr viele christlich inspiriert sind. Oft waren es engagierte Leute in kirchlichen Basisgruppen, die dort gelernt haben die “Unterscheidung der Geister” zu praktizieren und denen dann irgendwann das “Pfarreimilieu” zu eng wurde: Einfach deshalb, weil der Kleriker immer gefragt werden will und Unterordnung erwartet und weil auch die grosse Mehrheit der pastoralen Ehenamtlichen religiös und politisch sehr konservativ ist. Die große Mehrheit der mexikanischen Solidar-, Öko- oder Menschenrechtsszene hat (im Auszug aus dem pfarrkirchlichen Milieu und bei bleibendem christlichen Engagement) hier ihren Ursprung. Seit Jahren wächst in diesem weiten Bereich eine “kritische Bewegung”, die gesellschaftsverändernde Dynamik voranbringt und gerade diesen Einsatz als erfüllend empfindet und deshalb “kritisch – zufrieden” ist: “Wir können noch ‘ne Menge bewegen! Fast ohne materielle Mittel, aber mit großer Kreativität kommen wir voran! Das macht Freude!”, meint Oscar, engagiert im Netzwerk “Alle Rechte für Alle!”
Eine solche “kritische Massenbewegung” hat ein enormes Potential in sich, das sich sozusagen entlädt, wenn “etwas ganz Ernstes” passiert. Das geschah in Mexiko z.B. 1985, als ein schlimmes Erdbeben ganze Straßenzüge, Kliniken usw. zerstörte. Es war zugleich auch ein soziales und politisches Erdbeben. Seit langer Zeit befindet sich Mexiko in einem zivilen Krieg (Drogenkrieg), in dem es in den letzten dreieinhalb Jahren über 40.000 Ermordete gegeben hat, allein im letzten April waren es 1 427 Tote. Am 8 März 2011 wurden in Cuernavaca (eine Autostunde von Mexiko – Stadt entfernt und “Stadt des ewigen Frühling” genannt; jetzt vom Volksmund umbenannt in “Stadt der ewigen Schiesserei”) 7 junge Erwachsene ermordet gefunden, unter ihnen der Sohn des Dichters und Schriftstellers Javier Sicilia, ein im ganzen Land bekannter Interlektueller aus dem Kreis um den berühmten Theologen und Gesellschaftskritiker Ivan Illich (1926 bis 2002): Jetzt war das “Fass übergelaufen”! Es bildete sich spontan eine Solidarbewegung, insbesondere christlicher Provenienz, wo Sicilia groß geworden war und weiterhin aktiv ist. Die Empörung war enorm! “…hasta la madre!” (so ungefähr wie “… die Schnautze voll!”), war das Poeten – Leitwort, das den Zorn orientierte. Es wurde ein viertägiger Marsch nach Mexiko – Stadt initiiert mit Schneeballefekt: Am Sonntagnachmittag füllten 150.000 Schweigende solidarisch den Hauptplatz: Das Motto: “Nicht mehr Blut!”. Es war die Stunde der Berichte und Zeugnisse der Mütter von Ermordeten und von Poeten, die besser als geübte Aktivisten oder Politiker in Worte und Zeichen fassen konnten, was viele Tausende im Innern bewegt hat. Ich habe sehr viele weinen gesehen und auch meine Augen wurden feucht. In Gesprächen wurde immer wieder betont: “Meine Tränen fließen aus Trauer und Wut über das, was passiert. Aber es sind auch auch Freudentränen: Endlich bewegt sich unsere Gesellschaft! Schaut, wie wir uns neu vernetzen !”
Dieser Nachmittag war zugleich die Geburtsstunde einer neuen mexikanischen Friedensbewegung: ein nationaler “Pakt für ein Mexiko in Frieden mit Gerechtigkeit und Menschenwürde” beginnt sich zu vernetzen. In diesen Tagen bricht eine Karavane auf nach Ciudad Juárez, dieser traurig – berühmten Millionenstadt an der Grenze zu den USA. Am Sonntag, dem 10. Juni, wird dort dieser Nationalpakt der Zivilgesellschaft vertieft. Dieses Datum hat auch symbolische Bedeutung. Vor genau 40 Jahres (es war das Fronleichnamsfest 1971) gab es in Mexiko – Stadt eine grosse Studentendemostration, die brutal von paramilitarischen Gruppen zusammengeschlagen wurde mit über 70 Toten (“Leichnamsfest”): Geschichte bleibt lebendig!
Der Pakt beinhaltet folgende 6 Forderungen, von denen jede wiederum eine Liste von Konkretisierungen beinhaltet:
Wir fordern:
1. Die Morde und das Verschwinden von Personen aufzuklären und diese Opfer auch namentlich bekannt zu geben…
2. Die Kriegsstrategie (gegen die Drogenkartelle) zu beenden und den Schwerpunkt auf die Sicherheit der Bürger zu setzen…
3. Die Korruption und das Straffreibleiben zu bekämpfen…
4. Die ökonomische Wurzel und die Gewinne der Verbrechensorganisationen zu bekämpfen…
5. Eine dringende Aufmerksamkeit auf die Situation der Jugend und effektive Aktionen zur Erneuerung des sozialen Netzes…
6. Eine Demokratie mit mehr Bürgerbeteiligung…

Die da einbezogen sind, sie stecken einander in ihrer Begeisterung an, machen Mut, man vernetzt sich… Die “kritische Massenbewegung” wirkt wie Sauerteig und die oben beschriebene Qualifizierung der mexikanischen Bevölkreung als “überdurchschnittlich zufrieden” erhält neue Motive und Aufgaben.

Arbeit: Eine Möglichkeit, menschenwürdig zu leben?

ARBEIT: Eine Möglichkeit, menschenwürdig zu leben?

Von Alfons Vietmeier. Der andere Blick aus Mexiko – Mai 2011

Enrique ist einer von etwa 30.000 Taxifahrern in Mexiko – Stadt. Sein Chef besitzt so etwa 20 Taxis. Er leiht ihm das Taxi aus und er muss dafür wöchentlich eine vereinbarte Summe zahlen. Das Weitere ist sein Problem. Eine Schramme am Auto? “Das muss ich regeln, d.h. bezahlen.” Benzín? “Das wird immer teurer! Wir haben jedoch einen Taxifestpreis. Also, anstelle von 10 Stunden im Taxi wie in den letzten Jahren, fahre ich derzeit so 12 – 14 Stunden. Denn die Kosten zu Hause sind erheblich gewachsen!” Arbeitsvertrag? Arbeitsrechte wie Unfall- oder Krankenversicherung? “Was ist das? Das gibt’s hier nicht!”
Dies ist hier in Mexiko die generelle Arbeitssituation. Mehr als 60 % der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter sind “irgendwie am Jobben” in Minibetrieben und Einzelhandel, im Strassenverkauf oder Baugewerbe… für Stunden-, Tages- oder Wochenlohn, bar in die Hand und ohne Verträge und damit auch ohne Rechte! In Deutschland heisst das “Schattenwirtschaft” oder auch “Schwarzarbeit”. Es gibt viel “Schatten” hier auf dem Arbeitsmarkt. Der ist sehr, sehr “schwarz”!
Es gibt natürlich auch die formelle Arbeit im öffentlichen Dienst und in der mittelgroßen und großen Privatwirtschaft. Hier gibt es eine erheblich Bandbreite an Gewerkschaften. Die mexikanische Revolution (1910 – 1917), war sozialradikal und im Industriesektor sozialistisch inspiriert. Nur, die Revolution wurde anschließend institutionalisiert, und die Gewerkschaften wurden eine wichtige Säule des politischen Systems. Im Laufe der Jahrzehnte wuchsen Bürokratisierung und Korruption und damit ein sich schamlos bereichernder “Apparat” (= die politische Klasse, einschließlich der Gewerkschaftsführer). Die Gewerkschaftsangehörigen zahlen Beiträge und treten gehaltlich immer kürzer, da die Inflationsrate höher ist als die Lohnerhöhungen. Zum Beispiel. Viele Lehrerinnen und Lehrer haben zwei Jobs, da das Gehalt zu gering ist: entweder vormittags und nachmittags im Schuldienst, das bedeutet: eine doppelte Stelle zu haben oder eine Schicht in der Schule und dann eine andere als Taxifahrer. Dass deshalb die Unterrichtsqualität in öffentlichen Schulen oft schlecht ist, findet hier ihre Erklärung.
Was nachdenklich macht, ist jedoch nicht so sehr diese Arbeitsrealität. “So war das immer schon!” erklären mir viele. Es ist ein komplexes Netz von Hintergrundsproblemen, das diese “Welt der Arbeit” entmenschlicht. Und das macht betroffen!
Da gibt es zum Einen seit etwa 20 Jahren eine dramatische Umschichtung der öffentlichen Wirtschaft. Es wurde und wird privatisiert soweit es nur machbar ist: Finanzsystem (Stadtsparkassen sind unbekannt), Bildungssystem (es boomen die Privatschulen und Privatuniversitäten und es verschlechtern sich die öffentlichen Schulen), Sicherheitssystem (ein riesiges Heer an Privatpolizei wächst), etc.
Der “Faktor Arbeit” steht im Dienst der Gewinnmaximierung, die Arbeiter dürfen – um ein Bild zu verwenden – ausgepresst werden wie eine Orange. Die Zahlen sprechen für sich: 1993 gab es 3 mexikanische Milliardäre, die zusammen 1, 98 % des Brutosozialproduktes besaßen.
Knapp 20 Jahre später (März 2011) sind es 11 Milliardäre mit einem Anteil von 15, 23 % am großen “Kuchen” des gesamten Volkseinkommens. In diesen knapp 20 Jahren hat die Bevölkerung um 30 Millionen zugenommen und natürlich auch das gesamte Inlandseinkommen. Jedoch für jeden Mund ist das Stück “Kuchen” erheblich kleiner geworden. Das hat eine klare kapitalistische Systemlogik, die gemeinhin “Neoliberalismus” genannt wird.
Hinzu kommt ein weiterer Faktor: das wachsende Konsumbedürfnis. Es wird mehr ausgegeben insbesondere für Modisches und Elektronisches. Kindersendungen im Fernsehen sind voll solcher Werbespots. Handys für jedes Kind gehört schon zum Alltag der armen Bevölkerungsmehrheit und Digitales wie ¡Pod steht auf der Kinderwunschliste zu Weihnachten an erster Stelle. Nicht von ungefähr ist der Mexikaner Carlos Slim, mit seinem breit gefächerten Konsortium im elektronisch – digitalen Wirtschaftssektor, der reichste Mann der Welt. Immer mehr diese immer neuen Dinge haben zu wollen, dramatisiert den Familienalltrag und macht zugleich auch schlimme Konsequenzen zu mindest verständlich:
Zum einen ist hier ein Hauptgrund der dramatischen Zunahme der Migranten hin in die USA zu sehen. Die dort verdienten und an die mexikanische Familie überwiesenen Dollar gehen zu einem erheblichen Prozentsatz in diesen erwähnten Konsum. Zugleich hat die dramatische Finanzkrise in den USA die Verdienstmöglichkeiten fast aller Migranten geschmälert oder unmöglich gemacht. Die Folge: fast eineinhalb Millionen Migranten nach Mexiko zurückgekehrt. Aber wie hier zu Hause den gewohnten “Konsumlevel” halten? Das ist genau der Auffanghaken der Drogenkartelle. Sie bieten attraktive Verdienstmöglichkeiten an, mit allem, was das einschließt.
Ein weiterer Ausweg aus der Finanzklemme besteht darin, immer mehr Stunden zu arbeiten und zudem immer mehr Familienmitglieder in die Arbeitswelt einzubeziehen. In einer jüngsten Studie der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) gehört Mexiko zu denjenigen Ländern, wo im Schnitt mehr als 10 Stunden täglich gearbeitet wird und in der informellen Wirtschaft sin des noch mehr Stunden! Zudem nimmt die Kinderarbeit wieder zu. Also, der “faule Mexikaner in der Dauersiesta im Schatten eines grossen Kaktus”: Das ist eine bekannte, aber völlig unzutreffende Karrikatur der mexikanischen Arbeitswelt!
In der christlich – solidarischen Szene, in der ich vernetzt bin, wird immer heftiger und radikal nachgefragt: Ist das eben Geschilderte nicht immer mehr und immer orgiastischer der “Tanz um’s goldene Kalb”? Jesus hat gesagt: “Sammelt keine materiellen Reichtümer hier auf Erden! (…) Euer Herz wird immer dort sein, wo Ihr Euren Reichtum habt! (…) Ihr könnt nicht zwei Herren dienen: Gott und dem Geld!” (Mt 6, 16-24).
Christsein ist in seiner Essenz antikapitalistisch. Daran kommen auch die christlichen Kirchen nicht vorbei.
Wenn seit 110 Jahren die katholischen Sozialenzykliken deutlich die Priorität der Arbeit über das Kapital herausstellen: Wo und wie konkret wird dieses kritische Wertepotential aktiv?! Es geht heutzutage darum, persönlich, familiar, sozial und gesellschaftspolitisch sich zu befreien vom materiellen Bereicherungszwang. Ethischer und solidarischer Konsum ist not – wendig! Zwar leben wir weltweit inmitten dieses System und es gibt Systemzwänge aller Art. Jedoch engagiert christlich zu leben, beinhaltet auch, ernsthaft an einer Systemveränderung mitzuarbeiten.
Diese Aufgabe haben z.B. vor 10 Jahren diferenzierter herausgearbeitet der evangelische Theologe Ulrich Duchrow (Heidelberg) und der katholische Nationalökonom, Philosoph und Theologe Franz Hinkelammert (jetzt in Costa Rica) im Buch “Leben ist mehr als Kapital – Alternativen zur globalen Diktatur des Kapitals”. Inzwischen sind weltweit und auch hier in Mexiko die Basis – und Sozialbewegungen stärker geworden, die daran arbeiten, eine andere Welt und darin auch eine andere Ökonomie zu gestalten: solidarisch unter den Menschen und solidarisch mit der Natur. Und dieses Denken und Handeln existiert schon, und wir vernetzen uns immer mehr.
copyright: alfons vietmeier.

Die Energie indigener Kultur und Religion

Die Energie indigener Kultur und Religion: Eine bedeutende Quelle des Widerstands und der Lebensgestaltung
Alfons Vietmeier schreibt aus Mexiko
“Der andere Blick”, Ausgabe April 2011

1.
Am Sonntagnachmittag des 20. März bewegen hunderttausende ihre Arme hin zur abendlichen Sonne: Diese Menschen bewegen und schütteln Hände und Arme, sie tanzen dabei in kleinen Kreisen im Reigen. Es ist genau die Stunde des Frühlingsbeginns. Zu Füßen der großen Sonnenpyramide von Teotihuacan (etwa eine Autostunde entfernt von der Megacity Mexiko) sind es etwa 50.000 Menschen nach Schätzungen der Medien und insgesamt eine halbe Million in den verschiedenen archeologischen Zonen. “Wir füllen uns mit kosmischer Energie. Diese braucht unsere Seele: Ich selbst und wir hier und unsere Gesellschaft. Denn wir alle sind schlimm entseelt”, erzählt eine junge Frau im Interview in den Abendnachrichten. “Ich bin Biologin. Unsere Gruppe hier arbeitet in der Universität und wir wissen was los ist. Überall Gewalt, unter uns Menschen und gegen die Natur! Schaut doch mal jetzt, was in Japan passiert ist! Und vor einem Jahr bei der Erdöltiefbohrung im Golf von Mexiko… Ist das Fortschritt, wenn wir Überfluss haben, immer mehr Milliardäre …sowie schädliche Energie, Katastophen …und vor allem immer mehr Müll produzieren? Der Krebs nimmt zu und vernichtet unsere Körperzellen. Auch unsere Gesellschaft insgesamt hat Krebs. Deshalb sind wir hier. Die Weisheit unserer Vorfahren, ihre Kultur und Religion erfüllt uns mit Energie!”
Wer sind diese Hunderttausende? Es ist ein buntes Gemisch aus vielen jungen Familien und Jugendlichen die eine “Event- Atmosphäre” geniessen, viele Anhänger neuer religiöser New-Age-Bewegungen sind dabei, viele Verunsichterte aus der großstädtischen Berufswelt, die “irgendwie” spüren, dass ihr Leben immer sinnloser wird. Sie finden keine reale affektiv – solidarische Alternative in ihren Kirchen; eine wachsende Szene der “Eine andere Welt ist möglich” – Bewegungen, unter ihnen auch viele Akademiker und dann natürlich auch traditionelle indigene, also “indianische” Organisationen. Und da fast alle hier zumindest “irgendwas” an “Indio – Blut” in sich haben, ist deren Kulturerbe und ihre Utopie das Verbindende.

2.
Nach den neuesten Daten des Statistischen Bundesamtes gehören von den 112 Millionen Mexikanern etwa 15 %, d.h. über 18 Millionen Personen, zu den über 50 registrierten Indio – Volksgruppen. In Wirklichkeit ist der Prozentsatz erheblich höher, wenn kulturelle und religiöse Kriterien hinzugenommen werden. Die zahlenmäßig stärksten Volksgruppen sind beheimatet in den Bundesländern Yucatan (Maya Yucateco), Chiapas (Tzotzil, etc.), Oaxaca (Zapteken und Mixteken), Veracruz und Guerrero. In der Megacity Mexico wohnen mehr als doppelt so viele Indios wie es indianische Völker in ganz Brasilien gibt. Sie überleben und widerstehen. Ihre Zahl nimmt zu, sie haben mehr Kinder als andere. Mexiko hat also nicht nur eine reiche Indio – Vergangenheit, die in Museen zu bewundern ist, sondern eine gewichtige indigene Gegenwart. Und: Die Energie ihrer Kultur und Religion ist ganz wichtig, um die schwierigen Zeiten auszuhalten und persönliche, soziale und gesellschaftliche Zukunftsperspektiven zu vitalisieren.

3.
Worin besteht diese Energie? Die indigenen Völker in Lateinamerika haben sich über Jahrtausende, selbständig und ohne Fremdeinfluss, ihre Antworten erarbeitet auf die vitalen Grundfragen menschlicher Existenz:
Wie können wir überleben? Ökologie und Ökonomie gehen Hand in Hand, Gemeinwirtschaft gibt es ohne Privateigentum, Tauschwirtschaft ohne Gold und ohne Geld, etc.
Wie können wir zusammenleben? Es gibt ein komplexes Dienstsystem an der Gemeinschaft: Jeder ist irgendwann in jedem Dienst eingespannt; für jeden Dienst gibt es eine Feder und alle Dienste zusammen ergeben den großen Federschmuck und das Recht der Teilnahme am “Rat der Weisen”.
Wie können wir dies alles mit den kosmischen Kräften verknüpfen, die unsere Existenz ordnen? Alles, was wir sind und schaffen, ist verknüpft mit dem Ganzen und alles ist durchwoben von göttlicher Energie, die immer neu Leben schafft, erhält und erneuert.
Der Mond macht die weiblichen Dimension (Monatsregel) des Kosmos sichtbar, also alles, was mit Fruchtbarkeit, Geburt und Erhalt von neuem menschlichen Leben und dem Leben der Natur zu tun hat. Es gibt einen naturbedingten Rhythmus des Jahres und des Lebens. Es ist der Weg vom Süden (tropische Lebensfülle) in den Norden (Kälte und Tod). Deshalb gebührt der “Mutter Erde” Respekt und Pflege, denn sie erhält uns. Sie darf deshalb z.B. nicht in Privatbesitz zerstückelt oder genetisch manipuliert werden. Sie wird in einer religiösen Zeremonie um Erlaubnis gebeten, das Feld zu beackern… Das Leben von Natur und Mensch ist mittels eines Mondkalenders geordnet.
Dieser Naturrythmus wird täglich durchkreuzt von der Sonne, der männlichen Dimension des Lebens. Die Sonne geht auf (wird geboren) in Osten und geht unter (stirbt) in Westen. Die Sonne wird damit zum Ordnungssymbol für den täglichen Einsatz um ein gutes und gerechtes Miteinander. Das konkretistert sich dann im sozialen und politischen System, das das Gemeinwohl garantiert. Dies wird mittels eines Sonnenkalenders geordnet.
Beide Dynamiken durchkreuzen sich täglich und bilden das “Kreuz des Lebens”. Insofern ist die göttliche Energie immer fruchtbar in der Ergänzung zweier Kräfte: Frau und Mann, Sonne und Mond, Tag und Nacht, Leben und Tod… Es gibt nur Leben – Sinn – Zukunft im Miteinander von beiden.
Die symbolische Synthese dieser Kosmovision – Philosophie / Theologie finden wir im Quetzalcoatl – Mythos die “gefiederte Schlange”: Als Schlange lebt sie in der Erde und verkörpert Leben und Tod. Und sie bekommt Federn, d.h. Himmel und Erde integrieren sich. Transzendenz in Immanenz, und umgekehrt. Wäre das nicht dialogfähig zum Thema “Christus”?

4.
Mir geht es hier keinesfalls darum, die indigene Kultur und Religion zu idealisieren. Im realen Geschichtsverlauf hat sich eine pyramidalen Mehrklassengesellschaft herausgebildet, es gab grausame Könige, Menschenopfer und Kriege.
Aber es gab vor allem auch die Eroberung durch die Spanier: Das war ein dramatischer Schock zweier Welten, Kulturen und Religionen mit brutalen Siegern und vergewaltigten Verlierern, ein noch heute andauerndes Trauma. Der große Anthropologe und Soziologe Tzvetan Todorov hat das in seiner Studie “Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen” differenziert herausgearbeitet bezüglich der Alterität, d.h. der Schwierigkeit bis Unfähigkeit, mit anderer Kultur und Religion adäquat umzugehen. Ein wirklicher interkultureller und interreligiöser Dialog auf Augenhöhe war tragischerweise damals unmöglich und ist bis heute nicht einfach. Um von Deutschland zu sprechen: Liegt hier nicht auch heute noch ein Schlüsselproblem im Umgang mit dem Islam?
“Die offene Adern Lateinamerikas”, das berühmte, beinahe klassische Buch von Eduardo Galeano ist weiterhin gültig in seiner Grundstruktur: Der Herrschaftskontext ist fast immer auf Ausbeutung orientiert: Die offenen Adern von Natur (Bodenschätze) und Menschen (Arbeitskräfte) bluten weiter aus…
Mir ist wichtig zu unterstreichen, dass in der mexikanischen Volksseele, d.h. in ihrem “kollektiven Unbewussten” (um einen Begriff von C.G. Jung aufzugreifen), die Grundelemente indigener Kultur und Religion weiterleben, aber unerklärt und ohne entsprechendes kritisch – erneuerndes Bewusstsein. Darüber gestülpt wurden die religiösen Gebräuche spanisch – katholischen Frömmigkeit des 16. Jahrhunderts und Katechismusnormen der Gegenreformation, Beides als das neue “Über – Ich”.
So entstand die typisch mexikanische Volkfrömmigkeit. Für die Menschen, insbesondere wenn sie arm, unterdrückt und ohne Schutz leben, sind religiöse Ausdrucksformen (Zeichen und Riten) notwendig, um so Vitales wie Geburt und Tod, Krankheit und Konflikten, die Freuden einer Hochzeit oder einer gelungenen Ernte mit dem Göttlichen zu verbinden und Gnade zu erfahren. Was als heilsam erfahren wurde von der ererbten Religion (und nicht direkt verboten bzw. verteufelt wurde), das wurde beibehalten. Und was von der neuen (christlichen) Religion nicht als Widerspruch zum Traditionellen erlebt wurde, das wurde integriert. Das Ergebnis ist viel Synkretistisches. Ich möchte das kurz erläutern an den beiden Ursymbolen “Mond” und “Kreuz”:
Das göttlich Weibliche als Urenergie hat sich in der Mariengestalt, der “Señora de Guadalupe” verdichtet. Sie ist “Gott und Mutter”, die immer hilft, wenn Not ist. Sie tröstet, heilt und ermutigt. Ihr Heiligtum steht auf einem vorspanischen Wallfahrtsort der “Mutter Erde” (Tonantzin). Es gibt kaum eine Familie, kaum ein Taxi, einen Markt oder oder ein Geschäft, beinahe alle verehren ihr Bild in einer Art “Herrgottswinkel”. In dieser Mariengestalt und mit ihr humanisiert sich unser familiärer und sozialer Alltag. Sicher hat das Tröstliche viel mit Verdrängung zu tun. Hier wird deshalb die Wichtigkeit der Basisgemeinden und der befreienden Erziehung (Paolo Freire) deutlich.
Das göttlich Männliche hat sich in verschiedenen Figuren des “Gekreuzigten” verdichtet: Er ist “Gott und solidarischer Bruder”. Sein Erleiden von Gewalt ist auch unsere brutale Alltagserfahrung. Er nimmt sie in sich auf und verwandelt sie in positive Energie. In ihm und mit ihm humanisiert sich unser gesellschaftliche Alltag und wächst die österliche Kraft des immer neuen und befreienden Auferstehens inmitten von Ungerechtigkeit aller Art.
5.
Die vitalen Grundfragen menschlicher Existenz bleiben, auch wenn sie neue Ausdruckformen bekommen und neue Organisationsformen benötigen.
Im Blick auf die großen ökologischen Katastrophen: Wir Menschen müssen begreifen, dass wir nicht über die Natur herrschen, um sie beliebig auszubeuten. Wir sind Teil eines umfassenderen Ökosystems und es ist dringend not-wendig, uns mit unserer “Mutter Erde” zu versöhnen.
Im Blick auf die wachsende Gewalt im alltäglichen Miteinander, unter den gesellschaftlichen Gruppen und in den soziopolitischen Strukturen: Wir Menschen müssen (statt immer mehr haben zu wollen und dies gegen alle anderen durchboxen zu müssen) erneut begreifen, dass nur im solidarischen Miteinander unsere Gesellschaft überlebenfähig ist.
Diese Neuorientierung beinhaltet radikale wirtschaftliche Umstrukturierungen und Veränderungen der entsprechenden politischen Rahmenbedingen. Diese sind nur möglich, wenn zugleich auch ein radikaler Bewusstseinswandel und damit ein Kulturwandel in der Bevölkerungsmehrheit sich vollzieht. Die verschiedenen Lebens- und Gesellschaftsbereiche müssen insgesamt und integral neu beseelt werden. Es geht dabei nicht um den in der griechischen Philosophie gestalteten Begriff “Seele”, sondern um Energie, die Natur mit Wirtschaft, Sozialkultur mit Politik, Kunst mit Religion, etc. wieder neu in positive Beziehungen bringt. Es geht um einen holistischen Neuansatz.
Wir in Mexiko besitzen sicher dafür nicht den “Stein der Weisen”. Wir erfahren jedoch einen Umschwung: Statt arrogant aufklärerisch auf die “armen, dummen, zurückgebliebenen, abergläubisch – frommen, naiven, … Indios” herabzuschauen, wird erneut deren Reichtum einer Spiritualität entdeckt, die verschiedenen Lebensdimensionen verbindenet. Sie ist für Millionen Menschen die reale Quelle, um den harten Alltag auszuhalten. Und sie ist zudem und immer mehr eine Art Vitalisierungskraft, um den Kulturwandel voranzubringen, der die reale Not wendet.
Copyright: Alfons Vietmeier, Mexiko.

Wenn die Institutionen überholt sind…Alfons Vietmeier schreibt aus Mexiko

Der andere Blick: Anfang März 2011
Alfons Vietmeier berichtet aus Mexiko – Stadt.
Wenn die Institutionen überholt sind: Über die Fähigkeit, die Gesellschaft kreativ von unten neu zu organisieren

I.
“Mexiko ist krank. Fast alle sind wir einverstanden mit dieser schmerzhaften Diagnose.” So beginnt eine Presseerklärung der mexikanischen Bischofskonferenz am Montag, 21. Februar 2011.
Versuchen wir zuerst blitzlichtartig einige Symptome dieser Erkrankung sichtbar zu machen.
Das öffentliche Gesundheitssystem ist krank. Über meine Frau bin ich mitversichert im ISSTE, dem Nationalinstitut für Angestellte im Öffentlichen Dienst (in Mexiko gibt es nicht das deutsche Beamtensystem.). In der für uns zuständigen Klinik unseres Ortsteils in Mexiko – Stadt bin ich dem 18. Sprechzimmer der Nachmittagsschicht zugeordnet. Ich beantrage bei der Ärztin für den jährlichen Check eine kostenlose Blut- und Urinanalyse. Für die erste Untersuchung gibt es 3 Tage später einen Termin. Als ich um 7 Uhr ankomme, reihe ich mich in eine riesige Schlange ein: Nach 1 ½ Stunden bin ich dran, der 233-igste (!) an diesem Morgen. Für die Urinanalyse bekomme ich leider einen Termin erst in 6 (!) Wochen. So gehe ich zu einem Privatlabor, bin sofort dran, bezahle 30 Euros und hole abends das Ergebnis ab.
In den Nachrichten an diesem Abend gibt es einen längeren Bericht über die Krise im öffentlichen Gesundheitssystem: den Klinikenapotheken mangelt es an Medikamenten, es fehlen Kliniken, neuere Apparate, es fehlen Ärzte, sie werden schlecht bezahlt. Deswegen haben viele Ärzte noch eine zusätzliche Privatpraxis oder einen weiteren Job…
Aber vor allem, das System ist völlig überschuldet und für eine grundlegende integrale Sanierung und Modernisierung reichen nicht die im Haushaltsplan vorgesehen Mittel. Denn der Krieg gegen die organisierte Gewalt (sprich Drogenkartelle) hat Priorität. Konsequenz: Die beiden grossen öffentlichen Gesundheitsinstitutionen (es gibt noch das IMSS für die Angestellten der Privatwirtschaft) erweisen sich als unfähig und die Kranken suchen die Privatversorgung, falls sie zahlen können. Oder sie bleiben krank und sterben schneller. Zugleichzeitig ist es sehr interessant: Die Rückbesinnung auf die traditionelle Naturheilkunde boomt! “Gesundheit in den Händen der Leute!” ist zu einer wichtigen Sozialbewegung geworden. In Mexiko – Stadt hat z.B. das zivile Netzwerk “Gesundheit und Natur” in den letzten 12 Jahren etwa 10.000 Personen ausgebildet, die wiederum Selbsthilfegruppen gründen und inspirieren: Viele Kräuter haben Heilkräfte und reinigen Nieren, regulieren den Blutdruck usw. Dann gibt es eine Vielfalt von Massagen, wichtig für eine integrale Gesundheit.
Fast alle Systeme haben ähnliche, wenn nicht gleiche Krankheitssymtome: Das Bildungssystem mit Schulen und Hochschulen (laut PISA Studie befindet sich Mexiko an 30. Stelle der teilnehmenden Länder; Deutschland an 8. Stelle), das Wirtschaftssystem und die miserable Arbeitsmarktlage (deswegen wollen und müssen Millionen in die USA emigrieren), das Rechtssystem (98 % aller krimineller Handlungen führen nicht zu Verurteilungen; zugleich sind die Gefängnisse überfüllt vor allen von Kleintätern, die erst dort lernen “wie man’s macht”, um grösser einzusteigen und nicht erwischt zu werden), das Parteiensystem (“Formaldemokratie von politischer Elitegruppen, die sich bereichern mittels der öffentlichen Parteienfinanzierung” (so heute in einer wichtigen Tageszeitung), die öffentliche Verwaltung (mit rudimentärer Professisonalisierung,, denn alle 3 Jahre wird ein neuer Bürgermeister gewählt, der dann fast das gesamte Personal auswechselt und die ihm Vertrauten anstellt). Und es darf auch nicht übersehen werden: Die kirchlichen Institutionen werden ebenfalls den Herausforderungen der Realität absolut nicht mehr gerecht! Es wird ganz überwiegend eine “K3” – Pastoral praktiziert, die sich auf Kult, deshalb Klerus und deshalb Kirchenräume reduziert und ganz wenig zum wirklichen Christsein im Alltag beiträgt. Dieses nehmen dann die Leute selbst in die Hand, z.B mittels volksreligiöser Formen. Oder es werden Antworten auf vitale Notwendigkeiten in anderen Religionsorganisationen gesucht, wie z.B. die Pfingstkirchen sie anbieten.
Kürzlich zitierte ich in einem Podiumsgespräch über Gewalt und ihre Ursachen Hamlet: “Es ist etwas faul im Staate…”. Darauf sagte ein Teilnehmer: “Etwas? – Fast alles ist in einem dramatischen Verfaulungsprozess!”

II.
Die Analyse dieses “Verfaulungsprozesses” zeigt komplexe Ursachen:
Da ist zum einen das Gewicht der mexikanische Geschichte. Fast alle erwähnten öffentlichen Institutionen wurden in der postrevolutionären Etappe (nach 1917) geschaffen, als versucht wurde, die Revolution zu institutionalisieren. So wuchs ein sehr eigenes mexikanisches politisches System. Dieses hat sich durch den Druck der Zeitumstände etwas modernisiert und formal etwas besser demokratisiert. Aber es ist inzwischen überfordert und sehr viele Institutionen sind völlig obsolet, sie sind überholt. Eine radikale Neuorientierung wäre dringend notwendig, so wie sie in Bolivien und Ecuador vor kurzem erreicht wurde. Das ist derzeit und in absehbarer Zeit politisch jedoch nicht durchsetzbar.
In diesem Kontext spielt u.a. eine Schlüsselrolle die Korruption. Sie war ursprünglich und ist weiterhin eine Überlebens- und Aufstiegsstrategie durch Beziehungspflege und Seilschaften. Bei nicht vorhandenen oder schwachen, ungerechten oder obsoleten Institutionen braucht jede Familie oder gesellschaftliche Gruppe geeignete soziale Mechanismen um durchzukommen und weiterzukommen. Das geschieht dadurch, dass Beziehungen geschaffen werden: “compadrazgos” d.h. Patenschaften. Konkret sind das Hochzeits- und Taufpaten, Paten bei Haus- und Betriebssegungen und bei Anlässen aller möglichen Art. Solche “neufamiliären Beziehungen” helfen, z.B. eine Bauerlaubnis oder einen Studienplatz oder eine Arbeitstelle (schneller) zu bekommen. Und dabei wird natürlich auch Gegenleistung eingefordet. Der kritische Punkt ist dann überschritten, wenn eine solche Gegenleistung darin besteht, Wählerstimmen zu verpflichten, bei “schmutzigen Geschäften” zu schweigen oder kräftig finanziell dabei zu “schmieren”. Das ist Alltag geworden! Vieles läuft nur, wenn immer mehr und immer größere Summen dabei im Spiel sind. Laut jüngstem Bericht (Oktober 2010) von “Transparency International” befindet sich Mexiko auf dem 98. Platz bei der Länderbewertung über Korruption: diese verbreitet sich wie ein Strahlenkrebs und ist in allen Institutionen immer mehr präsent .
Dann ist seit etwa 20 Jahren der “neoliberale Zeitgeist” als Hegemonie und Herrschaft durchgesetzt. Der “big brother” im Norden und sein “american way of life” ist allgegenwärtig mit der Botschaft: Alles “Öffentliche” ist überholt, bürokratisch, ohne Effizienz und vor allem korrupt! Die einzige Lösung ist die Privatisierung, soweit es eben geht”. Also, deswegen soll das öffentliche Gesundheitssystem vermodern: Wer gesund werden will, soll halt die privaten Angebote nutzen (und bezahlen)! Private Kindergärten, Schulen, Universitäten: Das ist “in”! Autobahnen und Schnellstrassen mit Mautgebühren. Privatisierung der öffentlichen Sicherheit (Privatpolizei, geschlossene Wohnviertel mit Wächtern, etc): das ist ein blühender Wirtschaftsektor.
Nun benötigt die Privatwirtschaft natürlich “wohlgesonnene” gesetzliche Rahmenbedingungen, Erlaubnisse, öffentliche Aufträge, Steuererleichterungen etc. Und hier sind wiederum “Beziehungspflege und Seilschaften” grundlegend. So hat sich über viele Jahre ein “Klüngel – System” eingespielt von Komplizenschaft zwischen den politischen und wirtschaftlichen Eliten; sie sind die “faktischen Mächte”, die auf den drei Strukturebenen Stadt – Land – Bund herrschen, auch wenn es formaldemokratisch funktioniert. Aber wer bringt welche Abgeordnete in die jeweiligen Parlamente und Ministerien, sponsert Wahlkämpfe, unterstützt Präsenz in den Massenmedien (es gibt keine öffentlich – rechtlichen Radio- und Fernsehanstalten)?

III.
Er ist einfach nicht wahr, dieser Slogan: “öffentlich = schlecht” und “privat = gut”. Die Polarisierung in der Gesellschaft wächst erneut und immer dramatischer zwischen “die da oben” (die Wenigen, die die Systeme und deren Institutionen -öffentlich und privat- kontrolieren) und “die da unten” (inzwischen erneut ca. 60 % der Bevölkerung unterhalb der Armutsschwelle). Und wo Armut dominiert, funktioniert sehr schlecht die Demokratie.
In der solidarisch orientierten Szene in Mexiko und Lateinamerika (von Basisgruppen über soziale und zivile Netzwerke, der sozial orientierte Sektor der Kirchen und anderer Institutionen, auch unterstützt von einer wachsenden Zahl nicht – neoliberalen Akademiker) wird eine Neubesinnung auf die Prinzipien “Gerechtigkeit für alle und Solidarität” als konstitutiv für jegliche Gesellschaft eingeklagt und begründet; und nicht nur abstrakt “an sich”, sondern als konkrete Orientierungsvorgaben für Gesetzesrahmen, Institutionen und die praktische Politik bezüglich “öffentlich – privat – gesellschaftlich”. Die ethische und zugleich rechtliche Basis finden wir in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO, insbesondere im 3. Teil, wo u.a. festgeschrieben ist: “Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit (Art. 22). Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit (Art. 23). Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände (Art. 25). Menschenrechte müssen stets in ihrer Gesamtheit verwirklicht sein. Eine Umsetzung von Freiheitsrechten ist nicht möglich, wenn nicht gleichzeitig das Recht z.B auf Nahrung und Arbeit verwirklicht ist.
Wie weit entfernt sind wir noch in Mexiko und weltweit von dieser praktizierten Gültigkeit dieser neuen Weltgerechtigkeitordung! Aber auch kritisch nachgefragt: Setzt sich die deutsche Bundesregierung für die Gültigkeit dieser Rechte weltweit ein? Ist die neue Entwicklungspolitik ihres dafür zuständigen Ministeriums an diesem Pakt wirklich orientiert?
Aber währenddessen muss unsere Gesellschaft überleben und das mit Kreativität und mit Hand und Fuss. Insofern wachsen und vernetzten sich von unten nach oben ungezählte Selbsthilfeprozesse wie Gesundheit…, Sicherheit im Stadtviertel…, ethisch orientierter Konsum…, Rückgewinnung von öffentlichen Plätzen…, Kulturvielfalt…, Christsein in Basisgemeinden… und Vieles mehr…: Das alles in den Händen der Leute!. Solidarische Gesellschaft wächst von unten nach oben!
Solcher Standortwechsel benötigt auch einen Bewußtseinswechsel und viel Fähigkeit zur “Unterscheidung der Geister”: Wie befreien wir uns vom internalisierten korrupten Klüngelsystem und vernetzten uns horizontal? Wie schaffen wir dabei eine solidarische demokratische Kultur?
Das ist alles noch sehr bescheiden; aber es wächst und verbreitet sich wie aus “vitaler Notwendigkeit”. In einem Workshop von kirchlichen Basisgemeinden erklärte das ein junger Mann, engagiert in einer ökologischen Bewegung: “Was verfault, kann entweder vergiften, aber es kann auch zu Dünger werden!” Über diesen Impuls haben wir dann weitergearbeitet: Es geht darum, eine Vielfalt von Begegnungsformen zu ermöglichen und zu begleiten, in denen konkrete Alltagssorgen und Hoffnungen miteinander geteilt werden und Lebensmut und Solidarität wächst. Das sind dann „Biotope von Glaube, Hoffnung und Liebe“, das sind Zellen und Gruppen in Kleingemeinden. Darin zeigt sich eine Praxis, die mehr evangeliumsgemäss ist. Und diese Basisgruppen sind zudem so etwas wie „Sauerteig“ inmitten der immer komplexeren Gesellschaft, die sicher schlimm erkrankt ist, aber sie kann sich zugleich auch durch eigene Heilungskräfte erneuern.

Copyright: Alfons Vietmeier
Email: alfons.vietmeier@gmail.com

Angesichts der Gewalt – die Hoffnung kultivieren.

In der neuen Rubrik “Der andere Blick” wird ab 1. Februar 2011 der Theologe, Supervisor und Autor Alfons Vietmeier einmal im Monat aus Mexiko – Stadt (dort lebt er seit fast 30 Jahren) als Gastautor schreiben; er wird Themen aufgreifen aus den Bereichen Ethik, Soziales, Religionen in Mexiko und Lateinamerika. Dies ist eine wichtige Horizonterweiterung für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon. Der kulturelle Dialog über die europäischen Grenzen hinaus ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit philosophischer Dispute. Jetzt können wir damit starten und hoffen auf regen Austausch. Selbstverständlich können LeserInnen und TeilnehmerInnen des “Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons” Themen-Vorschläge und Fragen zu dieser Rubrik mitteilen. Ein weiterführender Kommentar wurde am 4. 2. 2011 zugesandt, siehe am Ende des Beitrags von Alfons Vietmeier.

Angesichts der Gewalt: Die Hoffnung kultivieren

Von Alfons Vietmeier, Mexiko, im Januar 2011
I.
Mexiko – Stadt: Am Neujahrsvormittag spazieren wir durch den nahen Park. Unsere Töchter entdecken es zuerst: ein Schwarm von Raben verfolgt einen kleinen Wellensittich, wohl entkommen seinem häuslichen Käfig. Sie picken auf ihn ein und er flattert zu Boden. Wir laufen hin und vertreiben die Raben. Der Kleine lebt noch. So bringen wir ihn zu einer uns bekannten Tierärztin. “Wie heißt er?” Die Mädchen (12 und 16 Jahre) entscheiden: “Esperanza (Hoffnung) soll er heissen!” Eine kurze Behandlung ergibt: “Hoffnung” hat noch etwas Überlebenschance! Erfreut fahren wir nach Hause. Jedoch nach 5 Stunden finden wir ihn tot auf. Uns werden die Augen feucht. So traurig beginnt das Neue Jahr!
Beim Abendessen zünden wir eine Kerze an und erzählen… Wir kommen zu sprechen auf wachsende Aggressivität in den Schulen und auf der Strasse, auf Gewalt und Drogenkrieg: “2011, das wird ein Rabenjahr werden!”, meint bedrückt die Jüngste.
Das Dreikönigsfest ist in Mexiko der Tag der Geschenke. Die Töchter bekommen je einen neuen Wellensittich: Es darf doch nicht sein, dass Hoffnung stirbt! Aber, sie muss behutsam und kontinuierlich gepflegt werden. Und die Augen leuchten!
II.
Das neue Jahr begann mit dem Eingeständnis der mexikanischen Regierung, dass der “Krieg gegen die organisierte Kriminalität” im Jahr 2010 über 15 000 Tote gefordert hat, mehr als je zuvor. Zum Vergleich: im Krieg in Afganistan und Pakistan gab es 2010 zusammen über 6 800 Opfer. Konkret heisst das für Mexiko, dass einerseits diese fürchterliche Zahl sich zusammensetzt aus Opfern der verschiedenen Kriege unter den Drogenkartellen um die Kontrolle über ihrer Einflusszonen (Bundesstaaten, Grossstädte und Transportwege) und andererseits aus dem Krieg des mexikanischen Heeres gegen diese Kartelle. Die Hauptkampfgebiete sind in den nördlichen Bundesländern hin zur Grenze zu den USA. Zudem gewinnt an schlimmer Bedeutung das Kartell der “Zetas”, (gegründet von ehemaligen Spezialeinheitten des. guatemaltekischen Heeres und berüchtigt durch extreme Grausamkeit), mit seiner wachsenden Kontrolle über mehrere Millonen von Migranten aus den zentralamerkanischen Ländern auf dem Weg in die USA.
Das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung im “Konfliktbarometer 2010” ordnet Mexiko unter die 6 Länder mit der größten Gewaltrealität weltweit ein, d.h. zusammen mit Somalia, Sudan, Irak, Afganistan und Pakistan. Ciudad Juárez, mexikanische Grenzstadt zu den USA hat den traurigen Rekord, sich weltweit an der Spitze der gewalttätigsten Städte zu befinden. Die Tendenz ist steigend, d.h. für weitere Jahre wird es mehr Leid und mehr Tote geben. Also, doch ein “Rabenjahr”?!
III.
Worum geht’s und was steckt dahinter?
Es geht zuerst einmal um Drogen und ihrem Konsum: Der Drogenkonsum wächst und wächst! Und da wachsender Bedarf ist, wird entsprechend produziert und kommerzialisiert. So ist die Marktlogik. Die USA sind das Land mit dem absolut höchsten Drogenkonsum. Sicher ist das Thema “Drogenkonsum” sehr komplex und es ist wichtig zu differenzieren: So ist Marihuana nicht gleich Kokain und auch Alkohol und Tabak sind Drogen. Wie auch immer, ein wachsender Drogenkonsum indiziert auf jeden Fall auch eine wachsende Krise des jeweiligen Gesellschaftssystems und dessen Werteskala. Der soziale Druck nach immer mehr Leistung, Gewinn und Vermögen beinhaltet zugleich auch mehr Stress mit wachsender Agressivität oder Depressivität. Da haben Drogen einen leichten Einstieg!
Es geht dann vor allem um’s Geld. Im Drogenhandel werden extrem hohe Gewinne erzielt. So kostet ein Gramm Kokain in der Herstellung ca. 1 US-Dollar, wird aber dem Konsumenten für etwa das 50- bis 100-fache verkauft. Der Umsatz von illegal verkauften Drogen wird weltweit derzeit ca. 500 Milliarden US-Dollar jährlich geschätzt. Das heist, dieses enorme Geschäft braucht Organisation, inzwischen gewachsen zu internationalen Wirtschaftskonzernen mit all dem was das beinhaltet: tausende hochspezialisierte Mitarbeiter, hightech Logistik, Optimierung der Geldanlagen, usw. Dieser “Wirtschaftssektor” hat seit Jahren zudem begonnen, ihre “Produktenpalette” zu diversifizieren: ist aktiv geworden im Waffenhandel, in der “Entführungsindustrie”, usw. Deshalb sprechen wir immer weniger von Drogenkartellen, sondern von “organisierter Kriminalität”. Diese braucht ihre spezialisierten Exekutivgruppen, z.B. zum brutalen Hinrichten von Kontrahenten im eigenen Herrschaftsbereich; und immer mehr Minderjährige sind bereit zu diesem Tötungsgeschäft.
All das verunsichert zutiefst: Warum? In wem und in ‘was können wir noch vertrauen?! Wie viel Wert hat überhaupt noch das menschliche Leben? Ist Leben ein Wegwerf – Produkt?
IV.
Schon vor über 50 Jahren ging Erich Fromm, der damals im mexikanischen Cuernavaca lebte, in einer sozialpsychologischen Studie der Frage nach: Gibt es nur psychisch erkrankte Individuen oder und vor allem kann nicht auch eine Gesellschaft psychisch erkranken? Sein Ergebnis: “Wege aus einer kranken Gesellschaft”.
Heute sollten wir uns fragen: Woran krankt unsere (westlich – nördlich – okzidentale) Gesellschaft? Das muss radikal (an die Wurzeln gehend) und interdisziplinär analysiert werden. Es tauchen dann wichtige Fragen auf: Welches Leitbild prägt unser Fühlen und Denken? Einzig: Wohlstandsvermehrung? Und das für immer weniger, weil die Mächtigeren sich durchsetzen? (“Ellbogengesellschaft”). Wäre es nicht wertvoller das Leitbild “Wohlleben für alle” voran zu stellen, wie es Bolivien und Ecuador in ihre neue Verfassung eingeschrieben haben? Deshalb “anders besser leben!” Welche persönliche, soziale, ökonomische, kulturelle und politische Konsequenzen beinhaltet das. Und für Christinnen und Christen: Für welche andere Sozialgestalt unserer Kirchen müssen wir uns deshalb einsetzen?
Beim “Sehen – Urteilen – Handeln” in Basisgruppen und Kleingemeinden der christlich – solidarischen Szene, in der ich mich in Mexiko bewege, kommen wir immer wieder genau auf diese Punkte. Und dann wird’s konkret: Wie können wir eine “aktive Hoffnung weben”? So heisst das Leitwort der diesjährigen Kampagne unseres Kollektivs “Mission Brüderlichkeit”, seit 15 Jahren präsent mit einfachem Arbeitsmaterial, Workshops und Solidarinitiativen in einigen tausend Basisgemeinden mit ihren Gruppen. Und wir sind vernetzt mit vielen Organisationen der mexikanischen Zivilgesellschaft und diese über Mexiko hinaus. In der Gesellschaft selbst erwachsen immer neu Lebenskräfte. Sie kommunizieren und organisieren sich, insbesondere wenn ein “kritischer Punkt” sich ergibt, der das Vitale des gesellschaftlichen Miteinanders gefährdet, wie derzeit wohl der Fall ist. So hat es sich beim riesigen Erdbeben 1985 erwiesen. Es gibt wachsend innovative Praktiken und komplexe Strategien gesellschaftlicher Transformationen, “…um auszureissen und niederzureissen, aufbauen und einpflanzen.”(Jer 10.10). Solche hoffnungsvolle Praxis einer gesünderen Gesellschaft gilt es zu kultivieren.
Copyright: alfons vietmeier.

Alfons Vietmeier, Diplomtheologe und Supervisor, lebt und arbeitet seit 1983 in Mexiko. Zuerst 7 Jahre pastoraler Mitarbeiter in einem integralen Entwicklungsprojekt unter Indiobevölkerung. Seit 1991 Bildungs-, Beratungs- und Vernetzungsarbeit in einem ökumenischen Studienzentrum, inmitten der Megacity Mexiko und auf Nationalebene. Seit 3 Jahren emeritiert und ehrenamtlich tätig in verschiedenen Netzwerken und Stiftungen im Übergang von Kirche, Zivilgesellschaft und alternativer Ökonomie. Mitbegründer des Nationalen Netzwerkes für Grossstadtpastoral.
Email: pasosalfonso@att.net.mx

Ein KOMMENTAR, zugesandt von Benedikt am 4. 2. 2011:
Lesenswert der Artikel von Alfons Vietmeier.
Mir fallen zu Mexiko immer gleich die
illegalen Waffenverkäufe von heckler & koch ein, in die
Nordprovinzen von Mexiko und die Schulungen von
Polizisten dort. In der Wikipedia tobte in den letzten
Wochen ein Kampf um den Umfang der Kritik an dieser
“feinen” Firma, die im Wahlkreis von Herrn Kauder (CDU Politiker, ergänzt von CM)
liegt, hoch verschuldet ist und Waffen verkauft, wie andere Kokain…