Wenn die Institutionen überholt sind…Alfons Vietmeier schreibt aus Mexiko

Der andere Blick: Anfang März 2011
Alfons Vietmeier berichtet aus Mexiko – Stadt.
Wenn die Institutionen überholt sind: Über die Fähigkeit, die Gesellschaft kreativ von unten neu zu organisieren

I.
“Mexiko ist krank. Fast alle sind wir einverstanden mit dieser schmerzhaften Diagnose.” So beginnt eine Presseerklärung der mexikanischen Bischofskonferenz am Montag, 21. Februar 2011.
Versuchen wir zuerst blitzlichtartig einige Symptome dieser Erkrankung sichtbar zu machen.
Das öffentliche Gesundheitssystem ist krank. Über meine Frau bin ich mitversichert im ISSTE, dem Nationalinstitut für Angestellte im Öffentlichen Dienst (in Mexiko gibt es nicht das deutsche Beamtensystem.). In der für uns zuständigen Klinik unseres Ortsteils in Mexiko – Stadt bin ich dem 18. Sprechzimmer der Nachmittagsschicht zugeordnet. Ich beantrage bei der Ärztin für den jährlichen Check eine kostenlose Blut- und Urinanalyse. Für die erste Untersuchung gibt es 3 Tage später einen Termin. Als ich um 7 Uhr ankomme, reihe ich mich in eine riesige Schlange ein: Nach 1 ½ Stunden bin ich dran, der 233-igste (!) an diesem Morgen. Für die Urinanalyse bekomme ich leider einen Termin erst in 6 (!) Wochen. So gehe ich zu einem Privatlabor, bin sofort dran, bezahle 30 Euros und hole abends das Ergebnis ab.
In den Nachrichten an diesem Abend gibt es einen längeren Bericht über die Krise im öffentlichen Gesundheitssystem: den Klinikenapotheken mangelt es an Medikamenten, es fehlen Kliniken, neuere Apparate, es fehlen Ärzte, sie werden schlecht bezahlt. Deswegen haben viele Ärzte noch eine zusätzliche Privatpraxis oder einen weiteren Job…
Aber vor allem, das System ist völlig überschuldet und für eine grundlegende integrale Sanierung und Modernisierung reichen nicht die im Haushaltsplan vorgesehen Mittel. Denn der Krieg gegen die organisierte Gewalt (sprich Drogenkartelle) hat Priorität. Konsequenz: Die beiden grossen öffentlichen Gesundheitsinstitutionen (es gibt noch das IMSS für die Angestellten der Privatwirtschaft) erweisen sich als unfähig und die Kranken suchen die Privatversorgung, falls sie zahlen können. Oder sie bleiben krank und sterben schneller. Zugleichzeitig ist es sehr interessant: Die Rückbesinnung auf die traditionelle Naturheilkunde boomt! “Gesundheit in den Händen der Leute!” ist zu einer wichtigen Sozialbewegung geworden. In Mexiko – Stadt hat z.B. das zivile Netzwerk “Gesundheit und Natur” in den letzten 12 Jahren etwa 10.000 Personen ausgebildet, die wiederum Selbsthilfegruppen gründen und inspirieren: Viele Kräuter haben Heilkräfte und reinigen Nieren, regulieren den Blutdruck usw. Dann gibt es eine Vielfalt von Massagen, wichtig für eine integrale Gesundheit.
Fast alle Systeme haben ähnliche, wenn nicht gleiche Krankheitssymtome: Das Bildungssystem mit Schulen und Hochschulen (laut PISA Studie befindet sich Mexiko an 30. Stelle der teilnehmenden Länder; Deutschland an 8. Stelle), das Wirtschaftssystem und die miserable Arbeitsmarktlage (deswegen wollen und müssen Millionen in die USA emigrieren), das Rechtssystem (98 % aller krimineller Handlungen führen nicht zu Verurteilungen; zugleich sind die Gefängnisse überfüllt vor allen von Kleintätern, die erst dort lernen “wie man’s macht”, um grösser einzusteigen und nicht erwischt zu werden), das Parteiensystem (“Formaldemokratie von politischer Elitegruppen, die sich bereichern mittels der öffentlichen Parteienfinanzierung” (so heute in einer wichtigen Tageszeitung), die öffentliche Verwaltung (mit rudimentärer Professisonalisierung,, denn alle 3 Jahre wird ein neuer Bürgermeister gewählt, der dann fast das gesamte Personal auswechselt und die ihm Vertrauten anstellt). Und es darf auch nicht übersehen werden: Die kirchlichen Institutionen werden ebenfalls den Herausforderungen der Realität absolut nicht mehr gerecht! Es wird ganz überwiegend eine “K3” – Pastoral praktiziert, die sich auf Kult, deshalb Klerus und deshalb Kirchenräume reduziert und ganz wenig zum wirklichen Christsein im Alltag beiträgt. Dieses nehmen dann die Leute selbst in die Hand, z.B mittels volksreligiöser Formen. Oder es werden Antworten auf vitale Notwendigkeiten in anderen Religionsorganisationen gesucht, wie z.B. die Pfingstkirchen sie anbieten.
Kürzlich zitierte ich in einem Podiumsgespräch über Gewalt und ihre Ursachen Hamlet: “Es ist etwas faul im Staate…”. Darauf sagte ein Teilnehmer: “Etwas? – Fast alles ist in einem dramatischen Verfaulungsprozess!”

II.
Die Analyse dieses “Verfaulungsprozesses” zeigt komplexe Ursachen:
Da ist zum einen das Gewicht der mexikanische Geschichte. Fast alle erwähnten öffentlichen Institutionen wurden in der postrevolutionären Etappe (nach 1917) geschaffen, als versucht wurde, die Revolution zu institutionalisieren. So wuchs ein sehr eigenes mexikanisches politisches System. Dieses hat sich durch den Druck der Zeitumstände etwas modernisiert und formal etwas besser demokratisiert. Aber es ist inzwischen überfordert und sehr viele Institutionen sind völlig obsolet, sie sind überholt. Eine radikale Neuorientierung wäre dringend notwendig, so wie sie in Bolivien und Ecuador vor kurzem erreicht wurde. Das ist derzeit und in absehbarer Zeit politisch jedoch nicht durchsetzbar.
In diesem Kontext spielt u.a. eine Schlüsselrolle die Korruption. Sie war ursprünglich und ist weiterhin eine Überlebens- und Aufstiegsstrategie durch Beziehungspflege und Seilschaften. Bei nicht vorhandenen oder schwachen, ungerechten oder obsoleten Institutionen braucht jede Familie oder gesellschaftliche Gruppe geeignete soziale Mechanismen um durchzukommen und weiterzukommen. Das geschieht dadurch, dass Beziehungen geschaffen werden: “compadrazgos” d.h. Patenschaften. Konkret sind das Hochzeits- und Taufpaten, Paten bei Haus- und Betriebssegungen und bei Anlässen aller möglichen Art. Solche “neufamiliären Beziehungen” helfen, z.B. eine Bauerlaubnis oder einen Studienplatz oder eine Arbeitstelle (schneller) zu bekommen. Und dabei wird natürlich auch Gegenleistung eingefordet. Der kritische Punkt ist dann überschritten, wenn eine solche Gegenleistung darin besteht, Wählerstimmen zu verpflichten, bei “schmutzigen Geschäften” zu schweigen oder kräftig finanziell dabei zu “schmieren”. Das ist Alltag geworden! Vieles läuft nur, wenn immer mehr und immer größere Summen dabei im Spiel sind. Laut jüngstem Bericht (Oktober 2010) von “Transparency International” befindet sich Mexiko auf dem 98. Platz bei der Länderbewertung über Korruption: diese verbreitet sich wie ein Strahlenkrebs und ist in allen Institutionen immer mehr präsent .
Dann ist seit etwa 20 Jahren der “neoliberale Zeitgeist” als Hegemonie und Herrschaft durchgesetzt. Der “big brother” im Norden und sein “american way of life” ist allgegenwärtig mit der Botschaft: Alles “Öffentliche” ist überholt, bürokratisch, ohne Effizienz und vor allem korrupt! Die einzige Lösung ist die Privatisierung, soweit es eben geht”. Also, deswegen soll das öffentliche Gesundheitssystem vermodern: Wer gesund werden will, soll halt die privaten Angebote nutzen (und bezahlen)! Private Kindergärten, Schulen, Universitäten: Das ist “in”! Autobahnen und Schnellstrassen mit Mautgebühren. Privatisierung der öffentlichen Sicherheit (Privatpolizei, geschlossene Wohnviertel mit Wächtern, etc): das ist ein blühender Wirtschaftsektor.
Nun benötigt die Privatwirtschaft natürlich “wohlgesonnene” gesetzliche Rahmenbedingungen, Erlaubnisse, öffentliche Aufträge, Steuererleichterungen etc. Und hier sind wiederum “Beziehungspflege und Seilschaften” grundlegend. So hat sich über viele Jahre ein “Klüngel – System” eingespielt von Komplizenschaft zwischen den politischen und wirtschaftlichen Eliten; sie sind die “faktischen Mächte”, die auf den drei Strukturebenen Stadt – Land – Bund herrschen, auch wenn es formaldemokratisch funktioniert. Aber wer bringt welche Abgeordnete in die jeweiligen Parlamente und Ministerien, sponsert Wahlkämpfe, unterstützt Präsenz in den Massenmedien (es gibt keine öffentlich – rechtlichen Radio- und Fernsehanstalten)?

III.
Er ist einfach nicht wahr, dieser Slogan: “öffentlich = schlecht” und “privat = gut”. Die Polarisierung in der Gesellschaft wächst erneut und immer dramatischer zwischen “die da oben” (die Wenigen, die die Systeme und deren Institutionen -öffentlich und privat- kontrolieren) und “die da unten” (inzwischen erneut ca. 60 % der Bevölkerung unterhalb der Armutsschwelle). Und wo Armut dominiert, funktioniert sehr schlecht die Demokratie.
In der solidarisch orientierten Szene in Mexiko und Lateinamerika (von Basisgruppen über soziale und zivile Netzwerke, der sozial orientierte Sektor der Kirchen und anderer Institutionen, auch unterstützt von einer wachsenden Zahl nicht – neoliberalen Akademiker) wird eine Neubesinnung auf die Prinzipien “Gerechtigkeit für alle und Solidarität” als konstitutiv für jegliche Gesellschaft eingeklagt und begründet; und nicht nur abstrakt “an sich”, sondern als konkrete Orientierungsvorgaben für Gesetzesrahmen, Institutionen und die praktische Politik bezüglich “öffentlich – privat – gesellschaftlich”. Die ethische und zugleich rechtliche Basis finden wir in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO, insbesondere im 3. Teil, wo u.a. festgeschrieben ist: “Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit (Art. 22). Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit (Art. 23). Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände (Art. 25). Menschenrechte müssen stets in ihrer Gesamtheit verwirklicht sein. Eine Umsetzung von Freiheitsrechten ist nicht möglich, wenn nicht gleichzeitig das Recht z.B auf Nahrung und Arbeit verwirklicht ist.
Wie weit entfernt sind wir noch in Mexiko und weltweit von dieser praktizierten Gültigkeit dieser neuen Weltgerechtigkeitordung! Aber auch kritisch nachgefragt: Setzt sich die deutsche Bundesregierung für die Gültigkeit dieser Rechte weltweit ein? Ist die neue Entwicklungspolitik ihres dafür zuständigen Ministeriums an diesem Pakt wirklich orientiert?
Aber währenddessen muss unsere Gesellschaft überleben und das mit Kreativität und mit Hand und Fuss. Insofern wachsen und vernetzten sich von unten nach oben ungezählte Selbsthilfeprozesse wie Gesundheit…, Sicherheit im Stadtviertel…, ethisch orientierter Konsum…, Rückgewinnung von öffentlichen Plätzen…, Kulturvielfalt…, Christsein in Basisgemeinden… und Vieles mehr…: Das alles in den Händen der Leute!. Solidarische Gesellschaft wächst von unten nach oben!
Solcher Standortwechsel benötigt auch einen Bewußtseinswechsel und viel Fähigkeit zur “Unterscheidung der Geister”: Wie befreien wir uns vom internalisierten korrupten Klüngelsystem und vernetzten uns horizontal? Wie schaffen wir dabei eine solidarische demokratische Kultur?
Das ist alles noch sehr bescheiden; aber es wächst und verbreitet sich wie aus “vitaler Notwendigkeit”. In einem Workshop von kirchlichen Basisgemeinden erklärte das ein junger Mann, engagiert in einer ökologischen Bewegung: “Was verfault, kann entweder vergiften, aber es kann auch zu Dünger werden!” Über diesen Impuls haben wir dann weitergearbeitet: Es geht darum, eine Vielfalt von Begegnungsformen zu ermöglichen und zu begleiten, in denen konkrete Alltagssorgen und Hoffnungen miteinander geteilt werden und Lebensmut und Solidarität wächst. Das sind dann „Biotope von Glaube, Hoffnung und Liebe“, das sind Zellen und Gruppen in Kleingemeinden. Darin zeigt sich eine Praxis, die mehr evangeliumsgemäss ist. Und diese Basisgruppen sind zudem so etwas wie „Sauerteig“ inmitten der immer komplexeren Gesellschaft, die sicher schlimm erkrankt ist, aber sie kann sich zugleich auch durch eigene Heilungskräfte erneuern.

Copyright: Alfons Vietmeier
Email: alfons.vietmeier@gmail.com

Angesichts der Gewalt – die Hoffnung kultivieren.

In der neuen Rubrik “Der andere Blick” wird ab 1. Februar 2011 der Theologe, Supervisor und Autor Alfons Vietmeier einmal im Monat aus Mexiko – Stadt (dort lebt er seit fast 30 Jahren) als Gastautor schreiben; er wird Themen aufgreifen aus den Bereichen Ethik, Soziales, Religionen in Mexiko und Lateinamerika. Dies ist eine wichtige Horizonterweiterung für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon. Der kulturelle Dialog über die europäischen Grenzen hinaus ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit philosophischer Dispute. Jetzt können wir damit starten und hoffen auf regen Austausch. Selbstverständlich können LeserInnen und TeilnehmerInnen des “Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons” Themen-Vorschläge und Fragen zu dieser Rubrik mitteilen. Ein weiterführender Kommentar wurde am 4. 2. 2011 zugesandt, siehe am Ende des Beitrags von Alfons Vietmeier.

Angesichts der Gewalt: Die Hoffnung kultivieren

Von Alfons Vietmeier, Mexiko, im Januar 2011
I.
Mexiko – Stadt: Am Neujahrsvormittag spazieren wir durch den nahen Park. Unsere Töchter entdecken es zuerst: ein Schwarm von Raben verfolgt einen kleinen Wellensittich, wohl entkommen seinem häuslichen Käfig. Sie picken auf ihn ein und er flattert zu Boden. Wir laufen hin und vertreiben die Raben. Der Kleine lebt noch. So bringen wir ihn zu einer uns bekannten Tierärztin. “Wie heißt er?” Die Mädchen (12 und 16 Jahre) entscheiden: “Esperanza (Hoffnung) soll er heissen!” Eine kurze Behandlung ergibt: “Hoffnung” hat noch etwas Überlebenschance! Erfreut fahren wir nach Hause. Jedoch nach 5 Stunden finden wir ihn tot auf. Uns werden die Augen feucht. So traurig beginnt das Neue Jahr!
Beim Abendessen zünden wir eine Kerze an und erzählen… Wir kommen zu sprechen auf wachsende Aggressivität in den Schulen und auf der Strasse, auf Gewalt und Drogenkrieg: “2011, das wird ein Rabenjahr werden!”, meint bedrückt die Jüngste.
Das Dreikönigsfest ist in Mexiko der Tag der Geschenke. Die Töchter bekommen je einen neuen Wellensittich: Es darf doch nicht sein, dass Hoffnung stirbt! Aber, sie muss behutsam und kontinuierlich gepflegt werden. Und die Augen leuchten!
II.
Das neue Jahr begann mit dem Eingeständnis der mexikanischen Regierung, dass der “Krieg gegen die organisierte Kriminalität” im Jahr 2010 über 15 000 Tote gefordert hat, mehr als je zuvor. Zum Vergleich: im Krieg in Afganistan und Pakistan gab es 2010 zusammen über 6 800 Opfer. Konkret heisst das für Mexiko, dass einerseits diese fürchterliche Zahl sich zusammensetzt aus Opfern der verschiedenen Kriege unter den Drogenkartellen um die Kontrolle über ihrer Einflusszonen (Bundesstaaten, Grossstädte und Transportwege) und andererseits aus dem Krieg des mexikanischen Heeres gegen diese Kartelle. Die Hauptkampfgebiete sind in den nördlichen Bundesländern hin zur Grenze zu den USA. Zudem gewinnt an schlimmer Bedeutung das Kartell der “Zetas”, (gegründet von ehemaligen Spezialeinheitten des. guatemaltekischen Heeres und berüchtigt durch extreme Grausamkeit), mit seiner wachsenden Kontrolle über mehrere Millonen von Migranten aus den zentralamerkanischen Ländern auf dem Weg in die USA.
Das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung im “Konfliktbarometer 2010” ordnet Mexiko unter die 6 Länder mit der größten Gewaltrealität weltweit ein, d.h. zusammen mit Somalia, Sudan, Irak, Afganistan und Pakistan. Ciudad Juárez, mexikanische Grenzstadt zu den USA hat den traurigen Rekord, sich weltweit an der Spitze der gewalttätigsten Städte zu befinden. Die Tendenz ist steigend, d.h. für weitere Jahre wird es mehr Leid und mehr Tote geben. Also, doch ein “Rabenjahr”?!
III.
Worum geht’s und was steckt dahinter?
Es geht zuerst einmal um Drogen und ihrem Konsum: Der Drogenkonsum wächst und wächst! Und da wachsender Bedarf ist, wird entsprechend produziert und kommerzialisiert. So ist die Marktlogik. Die USA sind das Land mit dem absolut höchsten Drogenkonsum. Sicher ist das Thema “Drogenkonsum” sehr komplex und es ist wichtig zu differenzieren: So ist Marihuana nicht gleich Kokain und auch Alkohol und Tabak sind Drogen. Wie auch immer, ein wachsender Drogenkonsum indiziert auf jeden Fall auch eine wachsende Krise des jeweiligen Gesellschaftssystems und dessen Werteskala. Der soziale Druck nach immer mehr Leistung, Gewinn und Vermögen beinhaltet zugleich auch mehr Stress mit wachsender Agressivität oder Depressivität. Da haben Drogen einen leichten Einstieg!
Es geht dann vor allem um’s Geld. Im Drogenhandel werden extrem hohe Gewinne erzielt. So kostet ein Gramm Kokain in der Herstellung ca. 1 US-Dollar, wird aber dem Konsumenten für etwa das 50- bis 100-fache verkauft. Der Umsatz von illegal verkauften Drogen wird weltweit derzeit ca. 500 Milliarden US-Dollar jährlich geschätzt. Das heist, dieses enorme Geschäft braucht Organisation, inzwischen gewachsen zu internationalen Wirtschaftskonzernen mit all dem was das beinhaltet: tausende hochspezialisierte Mitarbeiter, hightech Logistik, Optimierung der Geldanlagen, usw. Dieser “Wirtschaftssektor” hat seit Jahren zudem begonnen, ihre “Produktenpalette” zu diversifizieren: ist aktiv geworden im Waffenhandel, in der “Entführungsindustrie”, usw. Deshalb sprechen wir immer weniger von Drogenkartellen, sondern von “organisierter Kriminalität”. Diese braucht ihre spezialisierten Exekutivgruppen, z.B. zum brutalen Hinrichten von Kontrahenten im eigenen Herrschaftsbereich; und immer mehr Minderjährige sind bereit zu diesem Tötungsgeschäft.
All das verunsichert zutiefst: Warum? In wem und in ‘was können wir noch vertrauen?! Wie viel Wert hat überhaupt noch das menschliche Leben? Ist Leben ein Wegwerf – Produkt?
IV.
Schon vor über 50 Jahren ging Erich Fromm, der damals im mexikanischen Cuernavaca lebte, in einer sozialpsychologischen Studie der Frage nach: Gibt es nur psychisch erkrankte Individuen oder und vor allem kann nicht auch eine Gesellschaft psychisch erkranken? Sein Ergebnis: “Wege aus einer kranken Gesellschaft”.
Heute sollten wir uns fragen: Woran krankt unsere (westlich – nördlich – okzidentale) Gesellschaft? Das muss radikal (an die Wurzeln gehend) und interdisziplinär analysiert werden. Es tauchen dann wichtige Fragen auf: Welches Leitbild prägt unser Fühlen und Denken? Einzig: Wohlstandsvermehrung? Und das für immer weniger, weil die Mächtigeren sich durchsetzen? (“Ellbogengesellschaft”). Wäre es nicht wertvoller das Leitbild “Wohlleben für alle” voran zu stellen, wie es Bolivien und Ecuador in ihre neue Verfassung eingeschrieben haben? Deshalb “anders besser leben!” Welche persönliche, soziale, ökonomische, kulturelle und politische Konsequenzen beinhaltet das. Und für Christinnen und Christen: Für welche andere Sozialgestalt unserer Kirchen müssen wir uns deshalb einsetzen?
Beim “Sehen – Urteilen – Handeln” in Basisgruppen und Kleingemeinden der christlich – solidarischen Szene, in der ich mich in Mexiko bewege, kommen wir immer wieder genau auf diese Punkte. Und dann wird’s konkret: Wie können wir eine “aktive Hoffnung weben”? So heisst das Leitwort der diesjährigen Kampagne unseres Kollektivs “Mission Brüderlichkeit”, seit 15 Jahren präsent mit einfachem Arbeitsmaterial, Workshops und Solidarinitiativen in einigen tausend Basisgemeinden mit ihren Gruppen. Und wir sind vernetzt mit vielen Organisationen der mexikanischen Zivilgesellschaft und diese über Mexiko hinaus. In der Gesellschaft selbst erwachsen immer neu Lebenskräfte. Sie kommunizieren und organisieren sich, insbesondere wenn ein “kritischer Punkt” sich ergibt, der das Vitale des gesellschaftlichen Miteinanders gefährdet, wie derzeit wohl der Fall ist. So hat es sich beim riesigen Erdbeben 1985 erwiesen. Es gibt wachsend innovative Praktiken und komplexe Strategien gesellschaftlicher Transformationen, “…um auszureissen und niederzureissen, aufbauen und einpflanzen.”(Jer 10.10). Solche hoffnungsvolle Praxis einer gesünderen Gesellschaft gilt es zu kultivieren.
Copyright: alfons vietmeier.

Alfons Vietmeier, Diplomtheologe und Supervisor, lebt und arbeitet seit 1983 in Mexiko. Zuerst 7 Jahre pastoraler Mitarbeiter in einem integralen Entwicklungsprojekt unter Indiobevölkerung. Seit 1991 Bildungs-, Beratungs- und Vernetzungsarbeit in einem ökumenischen Studienzentrum, inmitten der Megacity Mexiko und auf Nationalebene. Seit 3 Jahren emeritiert und ehrenamtlich tätig in verschiedenen Netzwerken und Stiftungen im Übergang von Kirche, Zivilgesellschaft und alternativer Ökonomie. Mitbegründer des Nationalen Netzwerkes für Grossstadtpastoral.
Email: pasosalfonso@att.net.mx

Ein KOMMENTAR, zugesandt von Benedikt am 4. 2. 2011:
Lesenswert der Artikel von Alfons Vietmeier.
Mir fallen zu Mexiko immer gleich die
illegalen Waffenverkäufe von heckler & koch ein, in die
Nordprovinzen von Mexiko und die Schulungen von
Polizisten dort. In der Wikipedia tobte in den letzten
Wochen ein Kampf um den Umfang der Kritik an dieser
“feinen” Firma, die im Wahlkreis von Herrn Kauder (CDU Politiker, ergänzt von CM)
liegt, hoch verschuldet ist und Waffen verkauft, wie andere Kokain…