Es ist heute problematisch, die Toten in Mexiko zu feiern. Tausende werden pro Jahr ermordet in einem brutalen Krieg der Banden, der Drogenbosse und der unfähigen Polizei. Journalisten sind oft die bevorzugten Opfer dieser bestialischen Mörder. Selbst katholische Priester werden erschossen, und das in einem angeblich katholischen Land. Nun wird deutlich, wie oberflächlich die religiöse Bildung ist, wenn es sie denn für die weitesten Kreise überhaupt gibt, in Mexiko, und nicht nur dort. Ein gewisser spiritueller Rettungsanker in diesem Land des Mordens ist der traditionelle Totenkult, der “Dia de los Muertos” am 1. und 2. November. Indigene Bräuche werden mit Volksritualen des Katholizismus verbunden. Diese volkstümlichen Feiern finden immer noch viel Anklang. Es ist den Religionspsychologen überlassen, das Ausmaß des “Aberglaubens” in diesen Volksfesten zu beschreiben. Der Theologe Alfons Vietmeier aus Mexiko-Stadt hat in einer Beitragsreihe über Mexiko für diese website auch über den “dia de los muertos” publiziert. Wir erinnern noch mal, wegen vielfältiger Nachfragen, an das Thema … lesen Sie diesen Beitrag und klicken hier.
Schlagwort: Alfons Vietmeier Mexiko
Ist “das System” reformierbar? Perspektiven aus Mexiko
Mexikanische Friedensbewegung:
Wer kann das “System” verändern?
Wenn die Opfer öffentlich sprechen und der Dialog beginnt.
Alfons Vietmeier schreibt aus Mexiko – Stadt im Juli 2011
Etwas für Mexiko bisher Undenkbares ereignete sich am Vormittag des 23. Juni. Im historischen Stadtschloss begannen Vertreter der neuen Friedensbewegung (“Bewegung für Frieden in Menschenwürde und Gerechtigkeit”) einen öffentlichen Dialog mit der Regierung. Er wurden die drei Stunden life im Fernsehen bundesweit übertragen. Beim Regierungsantritt vor dreieinhalb Jahren hatte die “öffentliche Gewalt” den Krieg erklärt dem “organisierten Verbrechen”. Letzteres ist inzwischen ein riesig gewachsener Wirtschaftszweig geworden mit Milliardenumsatz im Umfeld des Drogenhandels. Krieg beinhaltet Tote, inzwischen sin des über 40.000; viele wurden umgebracht in Kämpfen unter den Drogenkartellen, aber es gibt auch zu viele zivile Opfer. Sind diese Menschen bloß “unvermeidbare Nebenkosten”, wie sie im technokratischen Jargon genannt werden? Verzweifelte Mütter und Väter, Ehepartner, Verlobte, sie alle haben Ermordete zu beklagen. Ungezählte Opfer wurden zudem “irgendwo” verscharrt; immer neue Massengräber werden gefunden.
Wird der Schmerz der Angehörigen und die wachsende Empörung unter vielen einfach nur runtergeschluckt oder können und müssen sie rausgeschrien werden?! Genau hier ist der Auslöser der neuen Friedensbewegung zu sehen. Immer mehr Opfer geben Zeugnis, bewegen sich und schaffen eine Bewegung. An ihrer Spitze steht der Poet Javier Sicilia, der selbst einen Sohn verloren hat. Er ist glaubwürdig und kann Betroffenheit, Trauer und Wut in Worte fassen, die wiederum andere Opfer bewegen, ihren inneren Schmerz rauszulassen. Das bezieht inzwischen Tausende ein. Ein “dumpfes Empfinden” in der Gesellschaft, dass dieser Krieg eigentlich ein Wahnsinn ist, wird sprachfähig und dialogfähig: Vielleicht konnte nur ein Poet genau diese Veränderung bewirken.
Das machte den politischen Dialog einzigartig: Opfer gaben zuerst einmal ausführlich Zeugnis. Der Staats- und Regierungschef, mit Innen- und Sicherheitsminister und anderen hohen Beamten des Sicherheitskabinetts hörten zu und antworteten. Es stiessen extrem verschiedene Logiken aufeinander: Sachrationalität gegen Betroffenheit, Gemeinsinn – Argumente gegen Systemzwänge. Es wurde jedoch zumindest argumentiert, zugehört und vor allem eine weiterführende Agenda vereinbart. Damit ist noch keine Lösung da, aber es gab einen Beginn. Zugleich ist die Skepsis groß: Sind wirklich Veränderungswille und Veränderungsmöglichkeiten vorhanden?
Zu einen gibt es die äusseren Bedingungen. Die mexikanische Regierung hängt fast total vom “Big Brother” im Norden ab: 70 % der Drogen werden in den USA konsumiert. Wenn Bedarf ist, dann gibt es eben auch Produktion und Handel: Das entspricht der kapitalistischen Marktlogik. Und damit gibt es auch Gewinn: die Milliardenumsätze werden durch die dortigen Banken in den Finanzkreislauf gebracht. Zugleich beinhaltet ein Krieg auch Waffenhandel und damit erneut unglaublich viel Gewinn. Ein Nationalstaat ist in solchem Kontext schon lange nicht mehr souverän. Im Alleingang kann Mexiko dieses riesige Problem nicht lösen.
Bei dieser Erkenntnis werden jedoch schnell zentrale Mitursachen des Problems nicht genügend aufgegriffen. Im Dialogprozess haben das sehr deutlich Mütter und Väter von ermordeten Jugendlichen ausgedrückt: “Ist unser derzeitiger Staat mit seinen überforderten Strukturen überhaupt noch fähig, reale Zukunftsmöglichkeiten zu schaffen für Millionen von jungen Leuten?”
Mexiko ist ein Land voller junger Menschen: Mehr als die Hälfte der 112 Millionen Bevölkerung ist jünger als 30 Jahre und davon befinden sich 29 Millionen befinden im schulpflichtigen Alter. Jedoch dieses Schulsystem knirscht an allen Ecken. Ein wichtiger Faktor dabei ist die Lehrergewerkschaft im öffentlichen Schulsystem. Sie ist die zahlenmässig grösste und politisch mächtigste in Lateinamerika. In Mexiko ist sie Staat im Staate, ohne interne Demokratie und mit einer hochkorrupten Funktionärsklique. Diese bestimmt die Staatssekretäre im Erziehungsministerium, diese dann die Schulräte, diese dann Schulrektoren, etc. So schaffen sie es, Planstellen zu verschachern, Kontrollen der Lehrerqualität unterbinden, etc. Damit das funktioniert wurde eine eigene politische Partei geschaffen (“Nueva Alianza – Neue Alianz”). Sie ist der Verhandlungsarm mit der Regierung, die seit dem Beginn ihrer Amtszeit ohne Parlamentsmehrheit ist, und deshalb zur Regierungfägigkeit solche “Zünglein an der Waage” benötigte. Deshalb wurde das Erwähnte als “politischer Pakt” diskret vereinbart und durchgezogen. Durch gezielte Indiskretion kam er in diesen Tagen ans Licht der Öffentlichkeit. Und es gibt erneut Grund, dass immer mehr “…die Schnauze voll” haben.
Und was ist dann nach der Schulpflicht? In diesen Tagen suchen über eine Million junger Leute nach ihrem Schulabschluss einen Arbeitsplatz. An formaler Arbeitsmöglichkeit (mit Vertrag, Versicherung, etc.) sind jedoch nur weniger als ein Drittel des realen Bedarfs vorhanden und zumeist schon ausgehandelt unter Bekannten. Dabei hatte der jetzige Regierungschef im Wahlkampf sich als “Präsident der Arbeitsplätze” propagiert. Also zwei Drittel der Schulabgänger versuchen “irgendwie und irgendwo” zu jobben: im Millionenheer der Schattenwirtschaft als Schwarzarbeit in den Millionenstädten oder ohne Papiere als Gastarbeiter in die USA. Aber dort ist seit 2 Jahren wegen der Finanzkrise die Luft raus aus dem Arbeitsmarkt. Also, wohin und was?! Ein Teufelskreis wird sichtbar: warum nicht jobben in der organisierten Kriminalität?!
Das Schul- und Bildungssystem und vor allem auch das Wirtschaftssystem sind Schlüsselthemen im Dialogprozess über das Gewaltproblem. Wenn zur Gewalt neue Lösungen gefunden werden müssen, dürfen Systemveränderungen in Bildung und Wirtschaft nicht tabuisiert werden. Das ist kompliziert, denn es sind gewichtige Machtinteressen im Spiel. Genau deshalb ist die Skepsis auf allen Seiten groß.
Ernst gemeinte Dialogprozesse sind nicht einfach. In Deutschland wurde ein solcher in Stuttgart bezüglich “S 21” begonnen. Die deutsche Katholische Kirche hat jetzt ebenfalls einen Dialogprozeß eingeläutet. Systemveränderungen sind bitter notwendig! Sind sie jedoch auf dem Dialogweg möglich? Wird es Ergebnisse geben? Welche?
Wer über solche Zusammenhänge nachdenkt, dem kommt der Mythos vom Sisyphos im Sinn. Der Überhebliche, der es wagte ins “Göttersystem” sich einzumischen, wurde bestraft, einen Felsblock den Gipfel hoch zu rollen, ohne je es zu erreichen. Ist Gesellschaftserneuerung und damit verbundene Systemveränderung, ob Kirchen-, Gewerkschaft-, Verkehrs-, Wirtschafts-, Finanzssystem oder welches auch immer, solch eine Sisyphusarbeit und damit letztlich absurd?
Danach wurde der Poet und sozialer Kämpfer Sicilia in verschiedenen Interviews gefragt. Und er antwortete im folgendem Sinn: “Sicher denke ich manchmal so und die philosophischen Reflexionen von Albert Camus kommen mir in den Sinn. Aber dann kommt im Innern hoch: Nein! Als Mensch, Bürger und Christ mache ich nicht etwas letzlich Absurdes! Mich inspiriert dann Galilei mit seinem trotzigen: ‘Und sie bewegt sich doch!’ Unsere so fatale Realität ist bewegbar, wenn auch unser Weg lang ist und voller Steinbrocken, die beseite geschafft werden müssen. Dann spüre ich und weiss es immer klarer: Wir sind betroffen und empört und das sind immer mehr. Zudem vernetzen wir uns immer besser. Bei Gesprächen untereinander in unseren Friedensmärschen erinnern wir uns an eine afrikanische Weisheit, die seit langem unseren Basisgemeinden langem Atem schenkt: Viele kleine Leute, an vielen kleinen Orten, die viele kleine, aber vernünftige Dinge tun, werden das Antlitz dieser Welt verändern!”