Im religionsphilosophischen Salon wollen wir immer auch die Realität der Religionen weltweit wahrnehmen, die internen Fragen und Probleme, Entwicklungen und Aufbrüche studieren und kritisch bewerten.
Unser Korrespondent in Mexiko – Stadt, der Theologe Alfons Vietmeier, weist in seinem neuen Beitrag auf ein Thema hin, das etliche Beobachter der religiösen Szene in Deutschland interessieren kann; vor allem angesichts der Umstrukturierungen des Katholizismus, bedingt durch den Mangel an Priestern.
In den Händen der Leute
Über die Veränderungen von Glauben und Gemeinden in Mexiko
Von Alfons Vietmeier, Mexiko – Stadt, August 2011
In diesen Wochen bin ich zu verschiedenen Begegnungen und Vorträgen in Deutschland und stelle mit Freuden fest, dass endlich (!) hier die Bereitschaft wächst, auch vom lateinamerikanischen Kirchenalltag zu lernen. In der deutschen Mentalität ist (teilweise immer noch) tief internalisiert: Wir haben ´s und verschicken es dann! So wurden im kirchlichen Bereich jahrzehntelang exportiert: deutsche Ordensschwestern und Priester (das ist jedoch schon seit Jahren ausgelaufen), deutsche Philosophie und Theologie ( in mexikanischen Priesterseminaren schwitzen die Studenten über Kant, Hegel, Rahner usw.; studieren aber nicht die eigene Indio – Philosophie und Indio – Theologie; diese Materien gibt es fast noch nicht) und deutsche Technologie als Entwicklungshilfe. Ist das nicht Neo-Kolonialisierung?, so fragte provozierend schon vor 40 Jahren der Theologe und Kulturkritiker Ivan Illich im mexikanischen Cuernavaca.
Den in Deutschland überall spürbare große Kirchenfrust bekomme ich sehr deutlich mitgeteilt. Ich empfinde ihn jedoch auch als Chance, sich zu öffnen für das. was schon seit vielen Jahren in Lateinamerika anders und ermutigend praktiziert wird, vor allem in der christlich – kirchlichen Selbstorganisation. Ich mache das fest an den derzeitigen Strukturreformen vor Ort. Leider gibt es diese Strukturreformen nicht auf anderen Ebenen und nicht, z.B. in der dringend zu überwindenden Klerusfixierung. Die Gründungen neuer Großpfarreien haben Konfusionen, Irritationen und Verletzungen mit sich gebracht. So wird nachgehakt: Jetzt haben wir neue Strukturen: Und was dann? Aber: Wie macht Ihr das in Mexiko konkret? Können wir davon etwas lernen, bei uns anwenden?
Großpfarreien sind seit Jahrzehnten die typische Form einer Pfarrei in Mexiko. Denn im Vergleich zu Deutschland gab schon immer viel weniger Priester und damit auch größere Pfarreien. Denn nur Priester dürfen nach dem Kirchenrecht Pfarreien leiten. Hinzu gekommen ist in den letzten Jahrzehnten ein starkes Bevölkerungswachstum. Insofern haben die Pfarreien an Mitgliedern zugenommen, ohne dass entsprechend die Priesterzahl gewachsen ist. Ein typisches mexikanisches Bistum mit heute etwa einer Million Katholiken hat zwischen 50 bis 70 Priester. Die in der realen Pastoralarbeit vor Ort Eingespannten, einschließlich Generalvikar, Pastoralvikar, usw. sind alle Pfarrer in Pfarreien mit 20 – 30 Tausend oder noch mehr Katholiken.
Sicher gilt es, historisch gewachsene unterschiedliche Rahmenbedingen wahrzunehmen und nicht naiv Übertragungen vorzuschlagen. Auf deutschem Boden wachsen halt andere Bäume mit anderen Früchten. Unterschiedlich sind vor allem:
Die materielle Basis: Eine immer schon finanziell und personell (im Sinne der Anzahl hauptamtlicher Mitarbeiter) arme Kirche ist zugleich freier, kreative Veränderungen voranzubringen als eine reiche deutsche Diözese mit hunderten Hauptamtlichen im Generalvikariat und mit vielen Pfarreien, die oft zugleich die größten Anstellungsträger vor Ort sind.
Die Volksreligiösität und Selbstorganisation: Immer schon wenig Priester beinhaltet auch, dass die Leute es gelernt haben, selbst ihr Christ Sein zu leben und zu pflegen und die notwendigen kirchlichen Dienste vor Ort, d.h. in ihrer Kleingemeinde, soweit wie eben möglich selbst in die Hand zu nehmen. Deshalb ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Laie als Zelebrant oder Zelebrantin (so werden sie genannt) den Sonntagsgottesdienst (in Abwesenheit eines Priesters; das kommt sehr oft vor) oder die Beerdigungsfeier leitet. Dem steht kirchenrechtlich nichts im Weg und das allgemeine Priestertum hat so Hand und Fuß.
Kulturell verschiedener Umgang mit Ordnung und Normen: Aus vitaler Notwendigkeit heraus haben die Menschen gelernt, so weit wie möglich das Notwendige selbst zu regeln: Normen müssen dem Leben dienen und damit auch die kirchlichen Ordnungssysteme mit ihren Regeln: Was nicht verboten ist, ist zuerst einmal erlaubt, und was nicht so anwendbar ist vor Ort, wird mit natürlicher Freiheit gestaltet.
40 Jahre lateinamerikanischer Weg der Pfarreierneuerung: Die Bischofsversammlung von Medellin (Kolumbien, 1968) hat in Anwendung der Konzilsbeschlüsse für die ganze lateinamerikanische Kirche klare Orientierungen erarbeitet. Als Schlaglichter erwähne ich: Option für die Armen und für eine integrale Evangelisierung und deshalb die Option für Basisgemeinden, Laienmitarbeit und eine kreative Vielfalt von Diensten. Wenn auch über konfliktreiche Etappen hinweg, die letzte Bischofsversammlung in Aparecida (Brasilien, 2007) hat erneut und eindringlich unterstrichen: Weg von einer bewahrenden und hin zu einer missionarischen Pfarreipastoral; und „missionarisch Sein“ ist Aufgabe aller Getauften. Deshalb geht es nicht anders: Kirche in den Händen der Leute! Das benötigt vor allem eine ganz eigene Spiritualität christlicher Verantwortung, benötigt aber auch Leitbilder, Pastoraloptionen und – das ist der sensible Punkt – Pfarrer / Pastoralteams, die nicht Alles bestimmen wollen, sondern die loslassen und zulassen, die ermutigen und begleiten. Hierarchie ist nicht Monarchie; „wer der Erste sein will, soll der Diener Aller sein“, sagte schon Jesus.
Was so schon seit langem Praxis ist, nicht nur Folge von Priestermangel: Wir haben uns daran gewöhnt, von drei Kirchenebenen auszugehen: Weltkirche (Vatikan), Ortskirche (Diözese) und Pfarrei (Basiskirche). In den ersten drei Jahrhunderten des Beginns der Kirche war das nicht so. Die Basis bestand vielmehr aus einer Vielzahl von Hauskirchen / Kleingemeinden, dann gab es die Vernetzung dieser Basis auf Stadtebene und schließlich die universelle Kirche.
Das entscheidend Christlich – Kirchliche findet vor Ort statt, nicht als Kleinfamilie, sondern als Basisgemeinde. Sie kann territorial (Wohnviertel) sein oder auch ausdifferenzierter je nach Milieus und Lebenswelten. Entscheidend ist: das reale Leben mit Ängsten und Hoffnungen wird geteilt (Koinonie) und solidarisch verteilt (Diakonie), das „neue Leben in Christus“ wird bedacht und vertieft (Katechese) und dann gefeiert in vielfältigen Formen (Liturgie). In der Wichtigkeit steht nicht an erster Stelle „sie gingen zum Tempel“, sondern das Miteinander als Hauskirche – Kleingemeinde (vgl. die Berichte der Apostelgeschichte). Genau dies macht sie attraktiv. Es ist die Zeit gekommen, in den komplexen heutigen Umbrüchen („Epochenwechsel“ nennt es Aparecida) sich von dieser frühkirchlichen Praxis inspirieren zu lassen.
Das beinhaltet unter anderem die internalisierte Vorstellung zu überwinden, das “Pfarrei” gleich “Gemeinde” ist. Eine Pfarrei, der formal Tausende von Katholiken angehören, kann nicht direkt diese “Koinonie“ zwischen Allen leben und deshalb nicht wirklich „Gemeinde“ sein. Sie kann bestenfalls eine Gemeinschaft von vielen Gemeinden sein, von Gemeinschaften, Basisgruppen, Solidarkreisen, „Christseinsbiotopen“, ein möglicher neuer Begriff?
Es ist deshalb heutzutage auch notwendig, die historische Fixierung auf das vom Johannes Evangelium geprägte Pastoralmodell (Hirt und Herde:, der Pastor, der alle bei Namen kennt und dem Verlorenen nachgeht! Wie ist das möglich bei 20 Tausend?) zu überwinden. Wir haben doch vier Evangelien! Es gilt, den Übergang zu gestalten zu einem vom Apostel Paulus geprägten Evangelisierungsmodell: viele kleine Gemeinden (Christus –und nicht der Pfarrer- ist das Haupt und alle sind Glieder) mit unterschiedlichen Diensten und Ämtern.
Der Theologe José Comblin (Brasilien) drückte das so aus: „Wir müssen die Kirche in einer Stadt uns vorstellen wie ein Archipel mit vielen kleinen Inseln, d.h. Gemeinden, wo bei hohem Wellenschlag die Boote anlegen können“. Bei einem Workshop stellte ein ehrenamtlicher Gemeindeleiter seine Pfarrei wie folgt vor: „Wir verstehen uns wie einen großen Obstgarten. Jeder Gemeinde ist ein eigener Baum mit Ästen und den Früchten je nach Baumart; und es gibt Große und Kleine, Junge und Alte, Krumme und gerade Gewachsene. Alle zusammen sind wir unsere Pfarrei. Ein solcher Obstgarten muss natürlich kultiviert werden; da machen wir alle mit. Unser Pfarrer hilft auch mit, gibt Ratschläge, schult uns, erarbeitet mit uns zusammen den Jahresplan und steht uns zur Verfügung in Sorgen und Freuden.“
Genau diese Erfahrungen in Großpfarreien, die „mehr Christ sein und Kirche sein in den Händen der Gläubigen“ ermöglichen, können für die derzeitigen Bemühungen um Pastoralerneuerung in den neuen deutschen Großpfarreien zumindest inspirierend sein. in Mexiko geht es darum, dass die vielen kleinen Gemeinden den Menschen in der Stadt oder auf dem Land helfen, miteinander das Leben zu gestalten, Auswege aus der Gewalt zu suchen, Hilfsbereitschaft zu fördern, politisch sensibel zu werden. Denn für uns sind diese vielen kleinen Gemeinden kein Selbstzweck! Es geht ja nicht primär um die Kirche, nichr nur um Gottesdienste im engeren Sinne, schon gar nicht um den Ausbau der Macht der Kirche. Es geht einzig darum, in diesen Gemeinschaften den Menschen zu dienen und Schritte zu einer größeren Gerechtigkeit zu finden, die natürlich auch politisch Ausdruck finden muss.