„Kriege enden immer“: Wie trivial dürfen Aussagen von WissenschaftlerInnen sein?

Die 11. Unerhörte Frage
Ein Hinweis von Christian Modehn   Was bedeutet „unerhört“? „Unerhört“ werden außerordentliche Themen genannt. Unerhörte Fragen müssen entfaltet, beschrieben werden, um ihre provokative Kraft zu bezeugen.

1.

Diese These hört und liest man jetzt oft: „Kriege enden immer“. So auch jetzt, von der Soziologin Eva Illouz (Jerusalem und Paris) in DIE ZEIT vom 16. 2. 2023, auf Seite 46. Sie schreibt diesen Satz ganz an den Anfang ihres auch sonst verstörenden Beitrags.

Die „unerhörte Frage“ also heißt: Enden Kriege immer?
Die Antwort, kurz und knapp: Nein. Kriege enden nie. „Nach dem Krieg ist immer vor dem Krieg“, heißt ein populäres, aber realistisches und treffendes Sprichwort. Oder auch das Wort ist gültig: „Wir leben immer in Zwischenkriegszeiten“.

2.

Einige Hinweise zum Hintergrund dieser 11. „unerhörten Frage“:
Die „Erkenntnis“ ist trivial, dass bestimmte Kriege, zu bestimmten Zeiten von bestimmten Kriegsparteien begonnen und über eine bestimmte Zeit im blutigen Schlachtengetümmel ausgetragen… einmal enden. Der 30-Jährige Krieg endete 1648, und der 1. Weltkrieg 1918 und der 2. Weltkrieg endete 1945…

Aber was soll der Satz: „Kriege enden immer“ in dieser Unbestimmtheit? Soll er die LeserInnen beruhigen? Und welche LeserInnen, und in welchen Staaten? Etwa die jetzigen Opfer des Krieges Russlands gegen die Ukraine trösten?

„Endeten“ denn mit einem so genannten Friedensschluss die bisherigen Kriege wirklich und wirksam zugunsten eines bleibenden Friedens? Was passierte zum Beispiel nach dem Versailler Friedensvertrag? Die Nazis nutzten gewisse Belastungen des Friedensvertrages aus und begannen mit Zustimmung des deutschen Volkes in kriegerischem und antisemitischem Wahn einen neuen Krieg, einen Weltkrieg.
Und was passierte in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg in Europa? Es gab z.B. Kriege auf dem Balkan, die bis heute eigentlich nicht „beendet“ sind. Oder man denke an den „Kalten Krieg“. Dessen Auswirkungen, mindestens auf die Mentalitäten in Ost und West, sind bis heute wirksam. Von den Kriegen, die von den USA, nach 1945, etlichen fernen Ländern erklärt wurden, ganz zu schweigen. Man müsste auch von Russland und seinen Kriegen in Tschetschenien ( seit 1994 bis 2009) sprechen…Sind die Tschetschenen jetzt friedlich?

3.

Es ist historisch evident: Friedensschlüsse beenden Kriege immer nur kurzfristig. Die Kriegsbereitschaft ist in nationalistischen und ideologisch verwirrten (!) Nationen nicht „tot zu kriegen“, so dass es immer wieder zu Mord und Totschlag größten Ausmaßes kommt.

Darum ist es unerfindlich, wie die Soziologin wie Prof Eva Illouz diese triviale These verkünden kann: „Kriege enden immer“. Eine sinnvolle, weiterführende These müsste lauten: „Frieden gibt es z.B. nur durch eine universale Friedenserziehung, sie muss Pflichtfach in allen Schulen aller Länder werden“. Friedenserziehung muss also in den Zeiten zwischen den Kriegen wirksam werden und aus Kriegstreibern langfristig Friedensfreunde machen. Und aus Nationalisten Weltbürger. Ein Ziel, das in die fernere Zukunft weist? Gewiss, aber es ist ein Ziel, das sich die humane Menschheit vornehmen muss, wenn sie Menschenrechte und Menschenwürde nicht als Floskeln versteht.

Wenn man in dem Zusammenhang das Wort Pazifismus noch verwenden will: Pazifismus hat nur Sinn als vorbereitende Verhinderung von Kriegen. Sind Kriege erst einmal Realität, kommt aller Pazifismus (oder harmloser: alle Option für ein friedliches Miteinander Verschiedener) zu spät. Da helfen eher diplomatische Verhandlungen für einen kurzfristigen Frieden.

4.

Trübe Aussichten also im Blick auf den Krieg, den Russland gegen die Ukraine seit einem Jahr aufs Widerlichste und Grausamste führt. Die Brutalität vieler Russen gegenüber „den Ukrainern“ wird auch nach einem Friedensvertrag fast unheilbar sein. Und auch die zutiefst verletzten UkrainerInnen müssen ihr Leiden in langen Therapien „bearbeiten“. Daran scheint die Soziologin Eva Illouz nicht zu denken.

5. Eva Illouz wünscht sich einen “totalen und vernichtenden Sieg für die Ukraine”

Es gibt eine weitere, sehr verstörende Aussage in DIE ZEIT, wenn Illouz ihren verständlichen Wunsch nach einem Ende des Krieges mit den fetten Lettern überschreibt: „Ich wünsche mir einen totalen Sieg“. Sie ergänzt, unglaublich, aber wahr: „Ich wünsche mir einen totalen und vernichtenden Sieg für die Ukraine“ (ebd.). Also, mit anderen Worten: Sie wünscht sich einen totalen Sieg über Russland. Ich will die Bedeutung eines „totalen Sieges“ nicht weiter reflektieren, was das im einzelnen heißt. Aber das Wort „totaler Sieg“ oder „totaler Krieg“ weckt jedenfalls hoffentlich schlimme Erinnerungen an die Zeit der Nazi-Propaganda.

Nein! Ein „totaler und vernichtender Sieg“ über Russland kann kein „Ende bringen“, wie Illouz es sich wünscht. Ein solcher Sieg könnte „Frieden“ kurzfristig bringen, nicht aber den dauerhaften Frieden für die Ukraine, für Russland und die Welt. Wie kann eine gebildete Frau solches schreiben und veröffentlichen? Russland in Schutt und Asche legen, das heißt doch „totaler Sieg“. Kann man das als Mensch, als Demokrat, als Christ als Jude usw. wünschen – trotz aller widerlichen Ungeheuerlichkeiten der Russen in diesem Krieg gegen die Ukraine?
Man muss kein Prophet sein: Russen, die in Schutt und Asche darniederliegen nach einem „Sieg“ der Ukraine und Europas und der USA, werden, sobald sie wieder „bei Kräften“ sind, kriegerisch zuschlagen, Krieg führen. So taten es die meisten Nationen nach einer vergleichsweisen Niederlage.

6. “Die Ukraine wird auf Territorium verzichten müssen”

Aber Eva Illouz hat dann wohl während des Schreibens ihres Beitrags selbst Zweifel an ihren Behauptungen bekommen. Sie hält es am Ende ihres Artikels für, so wörtlich, „wahrscheinlich“, dass weder die USA noch Europa sich wegen der Ukraine auf einen Krieg mit Russland einlassen werden. Darum „wird der Krieg wahrscheinlich durch UKRAINISCHE territoriale Kompromisse enden“. Mit anderen Worten: Eva Illouz meint, die demokratische Welt wird nach einer gewissen Zeit die Ukraine, und das sind die Menschen in der Ukraine, fallen lassen. Die demokratische Welt werde also die Ukrainerinnen dazu bringen, auf ihr eigenes Territorium zugunsten des Tyrannen Putin zu verzichten. Und es ist schon eine Unverschämtheit, wenn die Soziologieprofessorin Eva Illouz dann noch schreibt: „WIR müssen uns wohl widerwillig auf die Option einstellen“. Wer ist „WIR“? Die Demokraten oder auch die UkrainerInnen? Ich vermute, das WIR sind die Demokraten, auch Frau Illouz, die dem Tyrannen nachgeben, weil die demokratische Welt viel zu spät und immer zögerlich der Ukraine wirksame Hilfe leistete.

Dieser Verrat an der Ukraine ist gemeint, wenn die Soziologieprofessorin Illouz ihren Essay mit dem trivialen Satz beginnt: „Kriege enden immer“. So rundet sich der Artikel mit den Worten: „Der Krieg wird wahrscheinlich durch ukrainische territoriale Kompromisse enden“. Was für eine Niederlage der demokratischen Welt! Was für ein Skandal der Humanität.

PS: Ich habe wahrlich nicht die Absicht, die Reihe „Unerhörte Fragen“ in Zukunft mit so ausführlichen Erläuterungen auszustatten. Aber der Beitrag von Eva Illouz, die früher vernünftige Sachen (etwa in „Lettre International“) geschrieben hat, ist so verstörend, dass ich für die Ausführlichkeit meines kritischen Hinweises um Verständnis bitte. Dieser Hinweis weckt hoffentlich den Wunsch, in diesen verrückten Zeiten aufmerksam Zeitungsbeiträge zu lesen und sich zu fragen: Was schreiben da eigentlich diese berühmten Intellektuellen?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

Wer sich abschottet, der stirbt. Zum “Philosophie Magazin”, Ausgabe Februar-März 2017

Ein Hinweis von Christian Modehn

Wer heute für eine immer größere Abschottung und Abgrenzung von „den anderen“, den „Fremden“, eintritt, schließt sich selbst ein, begibt sich in einen Raum, in dem es auf Dauer nichts mehr zu atmen gibt: Weil die anregende frische Luft fehlt, die es nur im Austausch, also in der Offenheit gibt. Wolfram Eilenberger, der Chefredakteur des „Philosophie Magazin“, bringt diese Erkenntnis auf den Punkt: „Nur wer offen ist, kann dicht bleiben“ (Seite 3). Diese „Mitte“ zwischen Offenheit und Abgrenzung erst formt die eigene Identität; diese Mitte ist je neu in unterschiedlichen Situationen zu finden. Jede Selbstbegrenzung ist allerdings immer schon – zumindest geistig – über die eigenen Grenzen hinaus, also auf die anderen bezogen. Abschottung, Nationalismus usw. sind ein Selbst-Widerspruch, und somit Unsinn.

Aber wie das so ist mit den philosophischen Erkenntnissen: Sie können als Maxime der eigenen Lebenshaltung nur dargestellt und empfohlen, nicht aber politisch durchgesetzt werden. Gegen bornierte Dummheit, als bequemer Gehorsam gegenüber populistischen Sprüchen der Politiker, hat Philosophie nur die Macht des Arguments und des Dialogs. Wer sich heute mit den sehr rechtslastigen Freunden der Abgrenzung, die sich etwa auch „Identitäre“ nennen, auseinandersetzt, der erlebt einmal mehr die politisch-praktische Schwäche des Denkens, der Philosophie. Vielleicht sollte sie sich mit Künstlern verbinden und verbünden: Der radikale demokratische Aktionskünstler Pjotr Pawlenski, Russland kritisiert den Wahn des Putin-Regimes mit dem schmerzhaften Einsatz seines eigenen Körpers (bis hin zum Zunähen der eigenen Lippen). Über ihn wird im „Philosophie Magazin“ berichtet.

Die Februar Ausgabe (2017) des inzwischen vielfach geschätzten philosophischen Magazins kann, wie immer bei der Philosophie, dem Leser, der Leserin, nur zu denken geben. Und das ist viel. Philosophie kann die üblichen Begriffe stören und den angeblichen gesunden „Verstand des Volkes“ bloßstellen. Nur so können Neu-Orientierungen beginnen. Und dazu bietet das neue Heft ein weites Feld fürs eigene Nachdenken: Sind die ganz großen Pop-Diven die letzten mythischen Lebewesen? Sind Björk, Adele, Beyoncé und die anderen etwa die Göttinnen der (angeblich) säkularen Welt? Kann die so vielfach geliebte japanische Cyber-Celebrity Hatsune Miko die japanische, zenbuddhistisch inspirierte Spiritualität neu beleben? Dass alles Illusion ist, das alles Leibliche und Greifbare, also Menschliches vergeht? Dieses Thema, die neuen Götter und Engel, die sich in der POP-Szene tummeln, könnte weiter ausgebreitet werden: Sind die säkularen Menschen also doch irgendwie (noch) fromm, brauchen sie HalbgöttInnen und Schutzpatroninnen (wie Beyoncé)? Können diese mythische und göttliche Rolle nur Frauen übernehmen? Ist die klassische, männlich geprägte Religion irgendwie dann doch am Ende, trotz oder besser wegen der aggressivsten Männlichkeit, etwa in fundamentalistisch islamistischen Kreisen? Wenn man Göttinnen (des Pop) erzeugen kann, darf man dann auch menschliches Leben künstlich erzeugen, wird gleich im Anschluss im Heft gefragt. Ist das menschliche Leben ein „Designobjekt“ (S. 36) ?

Angesichts der bevorstehenden Wahlen in Frankreich (im Mai ) ist die Reportage über die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz besonders interessant: Sie besucht die Stadt Sarcelles in der Nähe von Paris; dort hat sie als Jugendliche gelebt, dort gab es immer wieder Auseinandersetzungen zwischen Juden und Muslims. Heute werde dort der Schein des guten Zusammenlebens aufrecht erhalten, meint Frau Illouz: Religiöse Juden und religiöse Muslime sind vereint in der Ablehnung des Laizismus, der als Trennung von Religionen und Staat immer noch ein entscheidendes (und in unserer Sicht richtiges) kulturelles und religiöses Merkmal Frankreichs ist. Beim Kampf (Demonstrationen und Polemiken) gegen die „Ehe für alle“ waren religiöse Führer aller Religionen (bis auf Protestanten, also Reformierte und Lutheraner) ökumenisch vereint.

Die Ehe für alle ist dann – Gott sei dank – doch Gesetz geworden. Für die konservativen Religionen, auch in Deutschland, ist das Thema allerdings nicht beendet….

Im offensichtlichen Sinne philosophisch sind die Beiträge über Epikur, da breitet Pierre Vesperini, Experte für antike Philosophie, die These aus: Epikur habe in seinem berühmten Garten so etwas wie einen religiösen Verein geleitet; eine These, der im Heft auch widersprochen wird. Dabei spricht vieles für die These des Philosophen Pierre Vesperini, Epikur habe wie die anderen großen Philosophen in Athen eine spirituelle Schule geleitet und sich selbst als religiösen Meister gesehen. Die religiöse Bedeutung der antiken Philosophieschulen hat ja auch Pierre Hadot in seinem umfangreichen Werk hervorgehoben, er ist sicher einer der besten Kenner. Etwa wenn er von den religiösen Exerzitien und geistlichen Übungen im Umfeld der griechischen Philosophen spricht. Der Beitrag verführt dazu, die Verbindungen der frühen Kirche mit der griechischen Philosophie weiter zu studieren: Etwa: Der Apostel Paulus hat in Athen den Dialog mit Philosophen auf dem Areopag gesucht, und in ihrem Sinne (so berichtet die Apostelgeschichte) allen Ernstes betont: „Da wir Menschen nun göttlichen Geschlechts sind…“ eine Formulierung, die auch an Epikur und andere erinnert. In der Theologie und der Philosophie ist leider auch die Tatsache der praktischen Hilfsbereitschaft der Philosophen für die frühe Kirche vergessen: Paulus hat nämlich in Ephesus zwei Jahre Unterkunft bei dem Philosophen Tyrannus gefunden und in dessen Schule gepredigt (!), weil der Apostel in der Synagoge nicht mehr reden konnte und wollte… (APG., 19, 8 ff.)

Erfreulich und inspirierend ist weiter, dass ein Interview mit dem umfangreichen Werk des Philosophen Hermann Schmitz (Kiel) bekannt macht: Schmitz ist der Begründer der „neuen Phänomenologie“: Sie will die Vielfalt subjektiver Erlebnisse, vor allem die unwillkürlichen Lebenserfahrungen, zur Sprache bringen und kritisch untersuchen, ein bislang oft übersehenes, schwieriges Unternehmen.

…..diese wenigen Hinweise können zeigen: Es lohnt sich wieder, das Philosophie Magazin zu lesen.

www. philomag.de

Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon, Berlin