Picasso und das Christentum: Überlegungen anläßlich des 50. Todestages Picassos am 8.April 2023.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.

Picasso hat seine Distanz gegenüber dem christlichen Glauben und der katholischen Kirche oft geäußert. Deswegen ließ er sich zur Mitarbeit an der inzwischen berühmten „Künstler-Kapelle“ von Assy (Savoyen) nicht gewinnen. Pater Alain Couturier, Künstler und Kunstexperte, hatte ihn – wie etliche andere andere Künstler – dazu eingeladen. Auch die Mit-Gestaltung der Rosenkranz-Kapelle in Vence bei Nizza (eingeweiht 1951), von Matisse gestaltet, hat Picasso abgelehnt.
Picasso,1881 in Malaga geboren, kannte den volkstümlichen Katholizismus Spaniens der Prozessionen und Heiligenverehrung, mit der Bindung des Klerus an die herrschenden Großgrundbesitzer. In Barcelona lernte er die frühe anarchistische Bewegung kennen, die auch die mächtige Klerus-Herrschaft bekämpfte. 1901 kam er in Paris an und war dort mit einer katholischen Kirche konfrontiert, die noch um Macht und Einfluss kämpfte. Erst 1905 wurden Kirchen und Staat getrennt. Es war der Klerikalismus, den Picasso stark ablehnte. Seine eigene, ungewöhnliche, nicht den kirchlichen Dogmen konforme Spiritualität zeigt er in seinen Werken. Man muss sie nur suchen.

2.

Vor allem ein – vom Umfang her – kleines Gemälde aus dem Jahr 1930 kann als eine der wenigen expliziten Darstellungen Picassos christlicher Motive gelten: die „Kreuzigung“. In einigen Zeichnungen (1929) hat Picasso dieses Gemälde vorbereitet: Eine weibliche Gestalt, mit dem Kopf nach unten, umschließt die Beine Jesu von Nazareth am Kreuz. Der Kunsthistoriker Horst Schwebel über diese enge Verbindung von Jesus und der Frau: „Dieses Bild ist eindeutig als Koitus zwischen dem Gekreuzigten und der Frau zu verstehen“ („Die Kunst und das Christentum“, München 2022, S. 160). Eine provokative Deutung des kirchlich gepredigten „Erlösungsgeschehens“ am Kreuz, auf die dann Picasso letztlich doch verzichtete: In dem Ölbild von 1930 ist dieses Motiv nicht mehr sichtbar.

3.

Man wird auch „Die Kreuzigung“ von 1930 mit der Lebensgeschichte Picasso verbinden müssen, es ist die letzte Zeit der Ehe mit der Tänzerin Olga Koklowa, die Ehe erlebte Picasso in ihrer letzten Phase als unerträglich…
Das kleine Gemälde „Kreuzigung“ (jetzt im Picasso Museum in Paris) hatte für Picasso immer eine große Bedeutung, er hat es bis zu seinem Tod nicht weggegeben (verkauft), sondern bei sich behalten. Das Gemälde erschließt sich dem Betrachter nur mit viel Ausdauer.
Der Betrachter ist gewarnt, durch die Hinweise des Kunstkritikers John Berger („Glanz und Elend des Malers Pablo Picasso”, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 44), beim Verstehen der Arbeiten Picassos zu sehr aufs begriffliche Verstehen zu setzen: „Picasso leugnet die Kraft der Vernunft…Er hasst jede verstandesmäßige Erklärung und verachtet Ideen“ (S. 43 f.). Dennoch ist es normal, dass sich die Betrachter auch der “Kreuzigung“ eigene Gedanken machen… und die haben immer eine sprachliche, eine begriffliche also dann doch vernünftige Struktur…

4.

Zum Gemälde „Kreuzigung“:
Jesus am Kreuz ist von kleiner Gestalt, dabei eher an eine Skizze erinnernd, die Person ist kaum wahrzunehmen. Der Gekreuzigte wird in heller, weißer Umgebung dargestellt. Sonst dominieren die Farben Gelb, Rot, Orange, aber Schwarz als üblicher Ausdruck der Trauer wird vermieden. Der in heller, lichter Umgebung Hängende ist umstellt von Figuren, die man als bedrohlich und ungeheuerlich mit aufgerissen Maul deuten kann. Wollen sie die schmale Jesus-Gestalt verschlingen? Man entdeckt, wie ein Typ in die rechte Hand Jesu einen Nagel hämmert, eine andere Gestalt sticht mit in einer Lanze in Jesu Körper. Ein weibliches Wesen, ist es Maria (?), kann erahnt werden. Sie ist wie Jesus selbst eher schemenhaft dargestellt, dabei erscheint sie eher unsympathisch, aber offenbar abwehrend-aggressiv gegen die Widersacher?
Zu denken geben die hellen Farben, die Picasso für diese Darstellung von Leiden und Gewalt und Tod Jesu wählt: Picasso sieht offenbar in diesen lichtvollen Farben, dass der Gekreuzigte schon den Tod überwunden hat.

5.

Der in Künstler-Kreisen damals sehr bekannte Dominikanerpater Marie-Alain Couturier ( 1897-1954) stand auch mit Picasso in Verbindung. (Quelle: http://forezhistoire.free.fr/pierre-couturier.html) Pater Couturier hat die Darstellung christlicher Motive durch eher kirchenferne Künstler stets unterstützt und verteidigt. Zusammen mit dem Dominikaner Pater Pie R. Régamey (1900-1996) hatte er einige Jahre die angesehene Zeitschrift „l Art sacré“ geleitet, der Grundsatz dieser Zeitschrift war: Das Können der Künstler ist wichtiger als deren konfessionelle Bindung oder religiöse Orientierung. Er wandte sich gegen alle schlichte, bloß erbauliche Kirchen-Kunst. Die große intellektuelle Offenheit machte ihn in klerikalen Kreisen nicht gerade beliebt. Sein Freund Pater Regamey sagte: „Jedes gute Gemälde ist in sich edel und fromm und von daher geeignet, Gott zu ehren, ohne dass dazu der übernatürliche Glaube nötig sei“ (Régamey, „Kirche und Kunst im 20. Jahrhundert“, Graz-Wien, 1954, S. 245.)

6.

Vermag der Betrachter des Gemäldes „Kreuzigung“ (1930) die bei Picasso oft erlebte Erfahrung zu machen, förmlich hineingezogen zu werden in das Bildgeschehen? Wer etwa den „Spiegel“, 1932, oder den „Weiblicher Akt“,1939, betrachtet, ist geradewegs gezwungen, alle übliche Distanz zum Bild aufzugeben und ins Bild „hineinzutreten“ und auf vertraute Interpretations-Konventionen zu verzichten. Beim Gemälde „Kreuzigung“ ist die Erfahrung prägend, „dass das Minimum an Abstand“ (John Berger, S. 132) gegenüber dem Gemälde doch noch erhalten bleibt.

7.

Spiritualität im Werk Picassos sollte also gerade außerhalb der expliziten „christlichen Darstellungen“ zu suchen sein.
Der „frühe“ Picasso zeigte in Paris (etwa 1904) ein starkes Interesse und eine Leidenschaft für die armen Menschen, für jene, die aus der Gesellschaft ausgestossen waren.Man denke etwa an das Gemälde „Das kärgliche Mahl“ von 1904. „Das (hungernde) Paar verlangt nur das (eigene) Kranksein, um damit das von der Bourgeoisie monopolisierte und vulgarisierte Wohlbefinden zu beschämen. Es ist die entsetzliche Überlegenheit (des armen Paares)“, schreibt John Berger über dieses Picasso-Gemälde (a.a.O.,S. 54). Auch das berühmte Gemälde „Les Demoiselles d Avignon“ (von 1907) gehört in seiner kraßen Darstellung der fünf nackten Frauen zu den frühen Provokationen Picassos, zu seiner Kritik an der so genannten Zivilisation, die für ihn nichts als dekadent ist. Auch in diesem frühen Eintreten Picassos für die Armen und Ausgestoßenen zeigt sich eine Form von Spiritualität, die dem Geist des armen Jesus von Nazareth so fern bekanntlich nicht ist. Insofern ermuntert Picasso dazu, das ungewöhnliche Gesicht des Christlichen, des Jesuanischen, zu suchen und vor allem Spiritualität von Kirchenbindung zu unterscheiden.

8.

Auch beim bekanntesten Gemälde Picassos „Guernica“ (1937 ) werden spirituelle Dimensionen und eine Verbundenheit mit christlichen Traditionen vielfach besprochen. Das Gemälde entstand als Versuch einer Antwort auf die zerstörerische Gewalt der deutschen („Legion Condor“) und italienischen Faschisten, sie hatten die kleine, hilflose baskische Stadt Guernica 1937 in einem Bombenangriff fast total vernichtet, etwa 2.000 Tote sind zu beklagen.
Picasso hatte sich mit dem Isenheimer Altar auseinandergesetzt, das ist bekannt, und manche Betrachter des Gemäldes Guernica entdecken etwa das Motiv der Pietà in „Guernica“. In jedem Fall ist dieses Gemälde deutlicher Ausdruck für den Willen Picassos, mit seiner Kunst an der Seite der Leidenden, der Ausgegrenzten, der Opfer sinnloser Gewalt zu stehen.

Dabei ist nicht zu übersehen, dass in “Guernica”, von der Wahl der Farben her, eindeutig eine pessimistische Grundstimmung sich offenbart, durch die Schwarz-Weiß und GRAU Töne, die dominieren. Es ist, angesichts des Niedergangs der Macht der Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg, ein Dokument der Trauer, vielleicht ein ahnungsvolles Zeugnis des Nahen der Finsternis…(siehe dazu Werner Spiess, Picasso – Die Zeit nach Guernica”, Hatje Verlag Stuttgart  1993, “Picasso”, S. 18 ff.).

1955 wird das riesige Original „Guernica“ im Haus der Kunst in München gezeigt. „Doch es dient dort nicht zur Aufklärung über die Luftangriffe der deutschen Legion Condor auf den baskischen Ort Guernica. Das ist besonders auffällig“, erklärt Julia Friedrich, Kuratorin im Museum Ludwig in Köln, „wenn so ein Bild, das die Verbrechen der Legion Condor zeigt, im Haus der Kunst in München präsentiert wird und dieser Zusammenhang ausgeblendet wird, sodass sich die deutschen Besucher, die dieses Bild angucken, mit den Opfern auf dem Bild identifizieren können, obwohl sie dem Kollektiv der Täter angehört haben.“ (Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/der-geteilte-picasso-im-osten-verehrt-als-kommunist-im-100.html, vom 25.9.2021). Und dieses ignorante Verhalten damals ist sicher typisch für den Umgang der frühen BRD- (Kultur)-Politiker mit der Vergangenheit, den Verbrechen des Nazi-Deutschland.

Über Picassos innere Verbundenheit mit der Kommunistischen Partei Frankreichs, der er 1944 beitrat und aus der nie austrat, müsste in dem Zusammenhang weiter nachgedacht werden. Und muss bedenken: Die Kommunisten und ihre Partei PCF galten in Frankreich als die stärksten Kräfte der Résistance gegen die Herrschaft der Nazis in Frankreich unter dem Pétain-Regime.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Das Erdbeben und die Philosophie. Sind religionsphilosophische Hinweise etwa zynisch?

Ein Hinweis von Christian Modehn. Die 10. “Unerhörte Frage”.

Was bedeutet „unerhört“?
„Unerhört“ werden außerordentliche Themen genannt.
Als „unerhört“ gilt, wenn ein wahres Wort, ein vernünftiger Vorschlag, von anderen nicht gehört und nicht wahr-genommen wird, also un-erhört bleibt. Unerhörte Fragen müssen entfaltet, beschrieben werden, um ihre provokative Kraft zu bezeugen.

1.

Das Erdbeben in der Türkei und Syrien vom 6. Februar 2023 ist zuallererst eine Herausforderung, ein Appell, eine Verpflichtung, schnell und umfassend den leidenden Menschen zu helfen.

Das Erdbeben in der Türkei und Syrien ist eine der ganz erschreckenden, großen Erdbeben – Katastrophen der Geschichte.

Es erinnert an das heute immer noch zitierte Erdbeben von Lissabon am 1.11. 1755, das so heftig war, dass die Erschütterungen viele hundert Kilometer von Lissabon entfernt deutlich spürbar waren.

Das Erdbeben von Lissabon 1755 hat tiefe Erschütterungen auch unter damaligen Philosophen ausgelöst, vor allem die Arbeiten Voltaires sind vom Erdbeben in Lissabon bestimmt.

Es wurde damals die Frage gestellt: Wie kann Gott diese Katastrophe zulassen? Ist er noch der gute Gott, der gute Schöpfer dieser Welt?

Wird diese Frage auch angesichts der Erdbeben – Katastrophe in der Türkei und Syrien 2023 gestellt? Interessiert sie die Menschen, wird sie von Philosophen und Theologen reflektiert werden?

Das ist möglich und wahrscheinlich, trotz aller Säkularisierung des Denkens im allgemeinen. Wie dieses konkrete Ereignis im islamischen – theologischen Kontext diskutiert wird? Das bleibt abzuwarten (geschrieben am 8.2.2023, CM).

Aber entscheidend ist, bevor man in unkritische, sich bloß “metaphysisch” nennende Fantasien abschweift: Es muss genau festgestellt werden, in welchem nachweisbaren Umfang menschliches Versagen, also auch das Versagen von Politikern, für den Tod so vieler Menschen wegen des Erdbebens verantwortlich ist. Das Erdbeben  in der Türkei vom 6. Februar 2023 ist nicht nur “Schicksal”.

2.

Wer sich religionsphilosophisch mit diesem Thema befasst, muss also zuerst die politischen Kontexte analysieren, bevor philosophische Reflexionen interessant sein können:

Also: Was hat die türkische Regierung ignoriert an Warnungen kompetenter türkischer Geologen?  „Hüseyin Alan leitet die Kammer der Ingenieur-Geologen in der Türkei. Er hatte Behörden und sogar das Präsidialamt erst kürzlich vor Erdbeben in der Region gewarnt, die es jetzt getroffen hat – doch keine Antwort erhalten.“ (Der SPIEGEL, 7.2.2023).

Wurden die Häuser in dem Erdbeben gefährdeten Gebiet in der Türkei entsprechend sicher gebaut, was ja prinzipiell möglich ist? Die türkischen Geologen und Ingenieure und kritischen Politiker sagen: Nein.

Es gab Dutzende Beben in den vergangenen 20 Jahren in der Türkei. Viele tausend Menschen kamen ums Leben. Es ist nachweislich (und wohl bewusst) versäumt worden, alle Häuser und Neubauten erdebensicher zu bauen.  Staatspräsident Recep Erdogan lügt also, wenn er jetzt sagt: “Diese Dinge (Erdbeben) geschehen einfach, das ist ist Schicksal” (Tagesspiegel, 11.2.2023, Seite 8). Erdbeben als Erdbeben werden Menschen nicht verhindern können, insofern ist Erdbeben AUCH “ein bißchen” Schicksal; aber die Ausmaße des Leidens der Menschen in Erdbebengebieten können eingeschränkt, wenn nicht verhindert werden. Bleibt zu hoffen, dass die Menschen in der Türkei sich jetzt, förmlich im Leiden “aufgewacht”, von Erdogan befreien können.

Erst wer menschliche Fehler und Versäumnisse angesichts dieser (und anderer) Katastrophe(n) festgestellt und bewiesen hat, kann zur religionsphilosophischen Frage kommen:
„Warum hat Gott als der Schöpfer der Welt diese Katastrophe nicht verhindert und zugelassen?“

Diese Frage wird nur diejenigen bewegen, die einen „Schöpfer“ der Welt noch im Denken annehmen können.

Wer sich in seinem Denken einmal darauf einlässt, kommt zu einigen Einsichten: Und die erscheinen etwas abstrakt, sie sind vorsichtige Hinweise, die gar nicht zynisch gemeint sind. Auch wenn diese Frage die Grenzen des Erkennbaren berührt, können doch einige Hinweise weiteres Nachdenken fördern:

Wenn Gott die Welt erschaffen hat, dann hat er die Welt als Welt erschaffen. Welt ist dann als endliche, begrenzte, fehlerhafte Welt zu verstehen. Wäre die Welt vollkommen, fehlerfrei, nicht-endlich, dann wäre sie förmlich eine göttliche Wirklichkeit neben dem „schöpferischen Gott“. Und die klassische Metaphysik sagt dazu: Wenn Gott wirklich als Gott gedacht ist, dann kann er neben sich nicht noch einen weiteren Gott, also eine göttliche und perfekte Welt neben sich haben. In einer als Gott gedachten perfekten Welt gäbe es dann auch keinen Tod mehr. Der Mensch wäre selbst ein ewiges Wesen, würde er dann noch (ewige?) Nachkommen zeugen und gebären usw.? Die philosophische Spekulation erreicht jetzt förmlich absurd wirkende Dimensionen. Bescheidenheit ist also auch philosophisch gefordert. Diese ist aber etwas anderes als der prinzipielle Denk – Verzicht, überhaupt das Erdbeben mit einem schöpferischen Gott oder göttlichen Wesen in Verbindung zu bringen.

Die klassische Metaphysik beharrt also auf der Erkenntnis: Die Welt ist endlich, fehlerhaft, begrenzt. Die Menschen sind dem Geschehen einer nicht immer voll kontrollierbaren Natur ausgesetzt, wie etwa dem Erdbeben. Es kann ja prinzipiell sein, dass eines Tages die verheerenden Erdbeben stark eingeschränkt werden können, durch Forschung, Voraussage, und kompetente Politiker…

3.

Trösten diese Gedanken der unvollkommenen Schöpfung die betroffenen Opfer? Zunächst ist ihre Wut auf die korrupten “Politiker” in der Türkei und den Diktator in Syrien am größten. Aber solange die Überlebenden und Leidenden noch die Hoffnung und den Überlebensmut bewahren und aus ihm heraus das „Danach“ gestalten, ist doch eine geistvolle inspirierende Kraft in ihnen lebendig und wirksam. Sie werden sich hoffentlich für demokratische Politiker in ihren Ländern einsetzen können, mit Hilfe der wenigen auf dieser noch Welt noch verbliebenen Demokratien! Die heldenden Demokraten werden gleichsam auch zu Boten der Hoffnung, um es einmal etwas pathetisch, aber treffend zu sagen.

Philosophen und Metaphysiker nennen diese geistvolle und inspirierende Überlebenskraft der Hoffnung eine Art „Funken“ der Ewigkeit, der in den Menschen (als den „Geschöpfen eines Ewigen, Göttlichen…) lebt. Und hoffentlich niemals zum Verschwinden zu bringen, niemals zu töten, ist.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Das Wenige und das Wesentliche. Ein “Stundenbuch” von John von Düffel.

Ein ungewöhnliches „Stundenbuch“ des Philosophen von Düffel.
Ein Hinweis von Christian Modehn.

1. Was ist ein Stundenbuch?
Wer kennt noch Stundenbücher? Sie waren in katholisch geprägten Kulturen des Spätmittelalters weit verbreitet. Es waren meist reich „verzierte“, prächtig geschmückte Bücher. Sie enthielten Gebete, vor allem die auch literarisch erstaunlichen Psalmen der hebräischen Bibel. Noch heute beten und singen Mönche und Nonnen in ihren Klöstern zu festen Zeiten mehrfach während des Tages und der Nacht ihr Stundengebet.
Als die Kultur des christlichen Betens allmählich immer marginaler wurde und fast kein Mensch mehr verstand, dass Beten etwas mit der persönlichen Poesie zu tun hat, entstanden manchmal noch moderne „Stundenbücher“. Sie hatten sich inhaltlich von der kirchlichen Lehre und Dogmatik losgesagt. Man denke etwa an das „Stundenbuch“ von Rainer Maria Rilke, entstanden zwischen 1899 und 1903.
Nun hat der Philosoph, Autor und Dramaturg am Deutschen Theater Berlin John von Düffel ein Buch vorgelegt mit dem Untertitel „Ein Stundenbuch“. Der Ober-Titel kündigt ein dringendes Thema der Philosophie an, also auch der politischen Ethik und der Frage nach dem Sinn von Dasein: „Das Wenige und das Wesentliche“. Wie können sich Menschen in der reichen kapitalistischen Welt vom Konsumrausch des Immer-Mehr und dem Wahn des stetigen ökonomischen Wachstum befreien? Wie kann die vom Autor genannte „himmelschreiende Ungerechtigkeit“ (S. 127) überwunden werden? Wie können wir unsere Zeit verstehen, die der Autor als „Endzeit“ versteht?

2. Lehren und Meinungen nach der Wanderung.
John von Düffels „Stundenbuch“ weckt den Eindruck, der Autor hätte an einem einzigen Tag, dem Neujahrstag, von fünf Uhr früh („Die fünfte Stunde“) bis zur 18. Stunde am Abend, jeweils zu jeder Stunde philosophische Meditationen direkt aus dem gelebten Erleben heraus verfasst. Aber das so genannte Stundenbuch enthält Einsichten, die sich dem Autor beim Wandern im einsamen Hinterland Liguriens, in der Nähe von Ventimiglia, zeigten. Und die er danach in der Ruhe der „Herberge“ zu Papier brachte.

3. Etliche Bonmots.
Dieses Stundenbuch enthält, anders als die ursprünglichen Stundenbücher, keine Gebete, aber auch keine poetischen Texte, keine Poesie. Manchmal und zwischendurch aber zweizeilige Merkverse: „Wo Sinn war, ist Suche“ (S. 120). Oder: „Jeder Gang ist ein Umgehen mit dem Unverfügbaren“ (S. 44), ein Bonmot sozusagen, das auch von Martin Heidegger stammen könnte. Oder auch, in Heideggers Sinn, etwas kryptisch: „Das Wenige ist wesentlich, wenn es den Unterschied macht, zwischen Nichts und etwas“. Oder auch: „Weil ich nie bekomme, was ich wirklich brauche, bekomme ich nie genug“ (S. 145. (Diese Zitate sind hier nicht „poetisch gedruckt“ wie in dem Buch selbst).
Von Düffel lässt seine Einsichten und Lehren wie Elegien, Hymnen oder Oden drucken, so, wie man sie etwa von Hölderlins langen Gedichten kennt. Zudem geht er äußerst sparsam mit Kommata um, Punkte setzt er fast gar nicht, offenbar soll dadurch der Eindruck von Poesie geweckt werden. Für die Lektüre ist diese Art zu drucken allerdings eher selten eine Hilfe.

4. Politische Kritik am Kapitalismus.
Der Titel „Das Wenige und das Wesentliche“ zielt deutlich auf eine Gesellschaftskritik, eine Kritik des herrschenden Konsumieren, des Verbrauchens der Natur bis hin zu ihrer Zerstörung wegen der Gier nach dem „Immer mehr“, dem Haben und Herrschenwollen des westlichen Konsumenten. Im Mittelteil seines Stundenbuches (Die Vierzehnte Stunde, ab Seite 107) wird diese Perspektive sehr explizit ausgeführt. Diese Einsichten und Lehren sind für mich das philosophische und gesellschaftskritische Zentrum des Buches. Gelegentlich spricht von Düffel sogar explizit vom Kapitalismus (etwa Seite 179) als dem System, das die Ökologie der Ökonomie unterordnet und so „eine Zerstörungsdynamik“ (S. 123) erzeugt. „Wir sind Patienten, die die eine tödliche Diagnose erhalten“ (S. 125). Wir wissen, „dass es (gemeint ist die Naturzerstörung, C.M.) „so nicht weitergeht, und machen dennoch so weiter“ (S. 128). Sehr wichtig sind die Reflexionen über die Dominanz des Digitalen heute: „Die digitale Welt der Verfügbarkeit ist eine Welt ohne Erfahrung…Die Weglosigkeit des Virtuellen, seine Lösung von Raum und Zeit, ist eine Form der Körperlosigkeit“ (S. 176). „Von allen Dualismen ist das Digitale die säkularste Form der Transzendenz“ (S. 179):
Das moderne Stundenbuch will also aufrütteln, den einzelnen als einzelnen zur Vernunft bringen und zum maßvollen Handeln motivieren, auch wenn der Autor mehrfach betont, dass letztlich das Engagement wenig erfolgreich sein wird. Der Mythos des Sisyphus wird dabei mehrfach ausführlich bedacht und – darin Albert Camus folgend – Sisyphus „als glücklicher Mensch“ empfohlen (S. 131).

5. Der einzelne als einzelner.
Der Autor vertraut als Philosoph darauf, dass Menschen durch Erkenntnis des Richtigen auch zum richtigen Handeln finden könnten. Erkenntnis – nur darum geht es ihm. Dem Erkennen spricht er eine heilsame, erlösende (?) Wirkung zu. Schon gleich am Anfang seines Textes wird das betont. Und mehrfach erinnert er an ein berühmtes Adorno-Zitat – ohne ihn zu erwähnen – wenn er schreibt: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen, aber es gibt im Falschen eine richtige Richtung“ (etwa S. 133). Wobei Adorno nicht DAS Falsche meinte, sondern das falsche Leben. Wie auch immer: Also ist DAS Falsche doch nicht ganz falsch, sonst gäbe es ja nicht darin noch die RICHTIGE Richtung.
Immer ist offenbar der/die einzelne gemeint, der/die von der richtigen Erkenntnis zur guten Tat schreiten soll. Gruppen, Gemeinschaften, Klima-NGOs, Öko-Parteien, werden als solche nicht genannt. So ist das „Stundenbuch“ nur „milde“ politisch und nur etwas politisch präzise. Dabei klingt durchaus ein gewisser Pessimismus an, etwa wenn von Düffel schreibt. „Nichts ändert sich, wenn ich mich ändere“ (S. 130). So ist es wohl auch, wenn man nur an den kleinen einzelnen als einzelnen politischen Akteur – ohne jegliche Verbindung mit Gruppen etc. – denkt.

6. Der gottlose Asket der Zukunft.
John von Düffel plädiert in seinem neuen Buch für den „Asketen bzw. die Askese der Zukunft“. Dabei lässt er schon in den ersten Zeilen seines Stundenbuches keinen Zweifel: Mit Religion oder gar Gott haben es diese „Asketen der Zukunft“ ganz und gar nicht zu tun. „Das Ideal des modernen Asketen ist nicht Gottesnähe, sondern die größtmögliche Nähe zum richtigen Leben“ (S. 10). Aber normativ im Sinne Kants und seiner praktischen Vernunft gedacht, gibt es keinen Gegensatz zwischen dem richtigen Leben und einer absoluten, möglicherweise göttlich genannten Wirklichkeit. Diese strenge Abwehr einer göttlichen Wirklichkeit durch von Düffel ist vielleicht auch biographisch bedingt: In einem Interview mit dem Deutschlandfunk Kultur am 25.9.2016 hat er auf seine atheistische familiäre Prägung verwiesen.
Erstaunlich bleibt dann, dass von Düffel einen bekannten Text aus der hebräischen Bibel reflektiert, die Hiobs-Erzählung (Seite 109 ff.). Hiob ist für den Autor ein Beispiel der sturen Glaubenshaltung, „ein Exempel der Unerschütterlichkeit“ (S. 111). „Man kann Hiobs Geschichte auch anders lesen, seine Standfestigkeit lässt sich als Starrsinn kritisieren“ so kann man Hiob dann als „Fanatiker“ oder Fundamentalisten“ sehen (S. 115). Auf den Gedanken, auch Mythen und Erzählungen des Neuen Testaments für seine Argumentation (Das Wesentliche!) heranzuziehen, kommt von Düffel nicht. Etwa die Bergpredigt Jesu von Nazareth zu erwähnen, wäre recht passend zum Thema gewesen.

7. Tod als Sturz ins Nichts.
Die in von Düffels Buch mitgeteilten philosophischen Lehren und Überzeugungen laufen angesichts dieser als trostlos beschriebenen Welt und der weitgehenden Hilflosigkeit des einzelnen, das Bessere zu schaffen, auf eine Annahme des Todes, meines Todes, hinaus. Im Sinne von Düffel kann der Tod nur das absolute Ende sein. Er sagt es ein wenig poetisch, dem Naturgeschehen und der ewigen Wiederkehr des Gleichen in der Natur abgelesen: „Auf den Abend folgt die Nacht, die völlige Dunkelheit“. (S. 199) – das heißt: es folgt das Versinken ins Nichts. Woher weiß das Herr von Düffel so genau? Wie ein Dogma betont er kurz und bündig :„Das ist so“ (S. 198). Punkt. Ende der Debatte.

8. Sisyphus als Vorbild.
Dem Sisyphus-Mythos der alten Griechen wird, wie gesagt, viel Aufmerksamkeit geschenkt, Sisyphus passt bestens in die Erfahrung der Aussichtslosigkeit allen Tuns, auch der „Asket“, der Philosoph Diogenes wird gerühmt. Bei der genannten weitgehenden Abwehr christlicher Traditionen und christlicher Mythen durch den Autor in diesem „Stundenbuch“ wundert es nicht, dass die alten Asketen, wie er sagt, wie verblendete Leute dargestellt werden. Weil von Düffel keine konkreten Namen dieser „alter Asketen“ nennt, denkt er wohl an die Wüstenheiligen irgendwo hoch oben auf einer Säule hockend…
Dass sie leibfeindlich waren, ist gar keine Frage! Aber gibt es nur diese eher verwirrten Typen in der Wüste als Beispiel für die so genannte „alte Askese“. War ein Franziskus von Assisi ein alter, also überholter, ad acta zu legender Asket? Sicher nicht! Um nur zwei aktuelle Beispiele zu nennen: War Bischof Helder Camara aus Recife unter den Armen Brasiliens (1909 – 1999) ein alter, belanglos gewordener Asket? Oder war Oscar Romero (1917-1980), der sich dem Befreiungskampf in El Salvador zugunsten der Armen hingegeben hatte, etwa ein „alter“, ein „überholter Asket? Wollte er als „alter Asket“ wirklich nur das „Aufgehen in der Immaterialität und dem ewigen Leben“ (S. 189). Und die als Ideal beschworenen neuen Asketen: Diese sind nur die vielen einzelnen, sie haben ein Vorbild, ihren Sisyphus, den sie sich als glücklichen Menschen vorstellen MÜSSEN“ (S. 131). Von Düffel spricht wirklich von MÜSSEN. Ein Dogma, auch bei ihm.

9. Ist der Mensch vor allem auch ein Tier?
Viele philosophisch Gebildete und andere Nachdenkliche stört es sehr, wenn sogar Philosophen pauschal behaupten, der „Mensch sei doch vor allem auch ein Tier“. Die große philosophische Tradition – etwa Aristoteles – hatte doch recht, wenn sie durchaus Tierisches im Menschen sah, den Menschen dann aber immer als ANIMAL RATIONALE, als vernünftiges Tier, als „Lebewesen, das Vernunft hat“, definierte! Ich frage: Sollte man philosophisch korrekt nur vom Menschen als dem einzigen denkenden, rationalen „Tier“ sprechen? Ich habe jedenfalls von keinem Schwein eine Sonate am Klavier gehört, von keinem Kamel Reflexionen über die Wüste… Von Düffel nennt den Menschen, so wörtlich, „das seltsamste aller Tiere“ (S. 183). Dabei geht er so weit zu behaupten: Das herumkrabbelnde Kleinkind habe wie ein Tier, vielleicht ein Hund, förmlich vier Füße, seine zwei Hände noch als Füße nutzend…das Kleinkind könnte also eher dem Tierischen zugerechnet werden ? (S. 191). Und der Greis hat dann, so von Düffel, mit seinem Krückstock – ein bißchen tierisch – ein drittes Bein, der alte Mensch nähert sich also am Ende des menschlich-tierischen Daseins wieder mehr dem Tierischen an. Nur der Erwachsene (der Gesunde ?) läuft auf „zwei Beinen wie kein Tier“ (S. 191)…Und wandert im Winter durch Ligurien…

10. Wo sind die Meditationen, die zu einem “Stundenbuch” gehören?
Das Stundenbuch, das John von Düffel vorlegt, ist insgesamt kein meditatives Buch, kein poetisches, schon gar nicht ein religiöses Stundenbuch. Es ist ein Buch der Lehre und der Weisungen, der Behauptungen und der Thesen …und eben auch – siehe oben – etlicher geistvoller Bonmots. Und das ist schon viel, wenn man als LeserIN durch diese Lehrtexte ins Denken und selbstverständlich dann auch ins Widersprechen kommt. Dazu anzuregen, ist ja Sache der Philosophien. Nur muss man aufpassen, dass nicht schnell wieder Dogmen verbreitet werden.

11. Auch Atheismus ist nichts als ein Glaube.
Und mindestens diese Erkenntnis ist kein Dogma, sondern eine Evidenz: Auch der Atheismus ist ein Glaube! Atheismus ist keine Wissenschaft oder gar der letzte Schrei der Philosophie. Aber bitte, das heißt nicht, dass der Autor dieses Hinweises ein klerikaler Verteidiger der (römischen) Kirche wäre. Ganz und gar nicht. Er meint nur. Es gibt vernünftige Traditionen und Mythen im Christentum und im Judentum, die es verdienen, vernünftig oder auch meditativ aktualisiert zu werden. Gerade bei dem Thema!! Und zumal in einem Buch, das sich als „Stundenbuch“ nennt.

John von Düffel, „Das Wenige und das Wesentliche. Ein Stundenbuch“. Dumont Verlag, Köln, 2022, 208 Seiten, Hardcover, 23 €.

Copyright: Christian Modehn, religionsphilosophischer-salon.de

Heiliges Privat-Eigentum. Weil einige viel zu viel Privateigentum haben, müssen heute 3 Milliarden Menschen hungern.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 17.10.2022. ZUR “BÜRGERBEWEGUNG FINANZWENDE”: Siehe die Informationen am Ende dieses Beitrags (Nr.11)

Das Leitwort: “330 Milliarden US-Dollar könnten helfen, um Hunger und Armut zu beenden, laut einer von der deutschen Regierung unterstützten Studie. Dies betont Thomas Rath,  vom “Fond für landwirtschaftliche Entwicklung”, IFAD, im Tagesspiegel, 18. Oktober 2022. Und ich füge hinzu: Diese 330 Milliarden könnten die vielen Milliardäre zusammen mit solidarischen Millionären heute weltweit mit Leichtigkeit aufbringen. Und ethisch korrekt gesagt: Wenn diese Herren Milliardäre ein soziales Gewissen hätten… Und eine entsprechende politische Debatte geführt würde. Aber die demokratischen Politiker sind dazu zu feige…

1.
Die Fixierung aufs Privat-Eigentum ist eine der leidenschaftlichsten Energien der meisten Menschen, sie ist mit grenzenloser Gier und Habsucht verbunden. Und die äußern sich aggressiv, kriegerisch, tötend. Auch Nationalismus ist Gier, wird zum Wahn, siehe Putin, siehe Xi. Wer viel Eigentum hat, etwa die Millionäre und Milliardäre, denkt bestenfalls daran, mit den üblichen Spenden das elende Leben von hungernden Millionen Menschen zu verbessern. Dabei könnte, pauschal gesagt, die gesetzliche Halbierung des Privateigentums von Milliardären den Hunger in der Welt besiegen, abgesehen von vielen anderen Wohltaten für die Menschheit. Aber nein, diese gesetzliche Halbierung will fast niemand, spricht fast niemand an, so krepieren Millionen Hungernder weiterhin und die Milliardäre zählen ihr Geld. Geld als Geldvermehrung ist ihr Lebenssinn. Die Welt dieser Leute ist auch erbärmlich, diese Leute sind ausgehungert an Geist und humaner Vernunft.

2.
Wer philosophisch – kritisch denkt, von christlichem Geist des Teilens soll gar keine Rede mehr sein, weil selbst die reichen Kirchen auch meist zu bescheidenen Spenden bereit sind, wer also philosophisch-kritisch denkt, beachte diese Erkenntnis: Sie wird von der seriösen und gar nicht marxistisch angehauchten „Enzyklopädie Philosophie“ mitgeteilt: „Es gibt keine pauschale Rechtfertigung für die eigentumsrechtlichen Strukturen der gegenwärtigen Marktgesellschaften… Es gibt jedenfalls wohl erworbene und schlecht erworbene Eigentumsrechte. Und auch die wohl erworbenen Eigentumsrechte müssen dem politischen Zugriff offen stehen, wenn sie der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung schädlich sind, wie es sich in der Geschichte der Übergang der Feudalgesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft gezeigt hat“, „Enzyklopädie Philosophie”, Band I, S. 454, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2010, der Beitrag „Eigentum“ ist verfasst von Helmut Rittstieg.
Der Psychoanalytiker und Philosoph hat daran erinnert, welche seelischen Schäden die Fixierung aufs Eigentum bewirkt, man denke an sein Werk „Haben oder Sein“, in dem er klar die Alternative formulierte: Erstarrtes Ego-Leben in der Fixierung aufs Haben (Eigentum) ODER lebendiges Miteinander im Sein, in der umfassenden Bejahung des geistigen Lebens und des Teilens. Wer allen Wert aufs Eigentum, aufs Haben legt, meint: Ich bin, was ich habe. Mein Eigentum begründet meine Identität. Ich kontrolliere dann alles, was ich habe, auch Menschen. Der aufs Eigentum fixierte Mensch definiert sich durch seine Bindung an die Objekte, ans Eigentum. Er verliert sich selbst als Subjekt.

3.
Trotz dieser üblichen Verbindung von Gewalt und der maßlosen Liebe zum Privat-Eigentum bleibt für die reiche Welt, inklusive der Frommen und der religiösen Führer aller Religionen, Eigentum wichtigster Lebenssinn. Die Privateigentümer legen wert auf ein undifferenziertes Verständnis des Eigentums, es wird so getan, als wäre das maßlose Privateigentum der Milliardäre genauso ein unstrittiger Wert wie das selbstverständliche Eigentum der Bürger: Diese nutzen ihr bescheidendes Privateigentum als persönliches Gebrauchseigentum nur für die individuelle Lebensgestaltung. Ethisch steht fest: Nur dieser überschaubare, praktische Gebrauch meines Eigentums zur privaten Lebensgestaltung ist ethisch sinnvoll. Eigentum ist nicht automatisch und in jedem Umfang und immer etwas Gutes, eine geradezu banale Aussage, die längst nicht selbstverständlich ist. Das Eigentum muss, das lehrte schon Aristoteles, in den Dienst des Lebens aller Menschen gestellt werden. Privateigentum in extremem Auswuchs darf nicht das Menschenrecht aushebeln, dem folgend alle Menschen Anspruch auf menschenwürdiges Leben haben, und nicht nur einige. Darauf haben jetzt u.a die Philosophin Martha Nussbaum und der Ökonom Amartya Sen immer wieder hingewiesen.

4.
Falls man noch christlich interessiert ist im Sinne des Propheten Jesus von Nazareth, könnte als Motto zu diesem philosophischen Hinweis ein Zitat des außergewöhnlichen sozialkritischen Bischofs und Theologen Johannes Chrysostomos (349-407) stehen: “Den Armen nicht einen Teil der eigenen Güter zu geben bedeutet: Von den Armen zu stehlen. Es bedeutet: Sie ihres Leben zu berauben. Und: Was wir besitzen, gehört nicht uns,  sondern ihnen”. Das Zitat findet sich auch im Schreiben (“Enzyklika”) von Papst  Franziskus “Fratelli Tutti” (2020), dort unter Nr. 119 mit dem Titel: “Über die Geschwisterlichkeit und die die soziale Freundschaft”. (Zu Johannes Chrysostomos: De Lazaro Concio, II, 6: PG 48, 992D.) Wegen seines radikalen Eintretens für die Rechte der Armen wurde Bischof Johannes Chrysostomos (349-407) von den reichen Christen gehasst und verfolgt… Bekanntlich haben sich die Kirchenleitungen nicht an die Weisungen von Johannes Chrysostomos gehalten… Die Päpste haben die Etablierung des Adels geduldet, sie haben die oberen Klassen des Klerus selbst dem Adel reserviert, sie haben die Gier der Priester zum üblichen Alltag gemacht und Armutsbewegungen wie die Franziskaner erst dann geduldet, als diese sich den Päpsten unterwarfen. Und heute? Die Gehälter der Bischöfe und Erzbischöfe, der Landesbischöfe und Generalsuperintendenten in Deutschland sind auch Beweis, dass es diesen hohen Herren und auch protestantischen kirchenleitenden Damen doch sehr auf ein sehr reichlich bemessenes Eigentum ankommt. Kürzlich hat Kardinal Marx aus seinem „Privateigentum“ 500.000 Euro in eine soziale Stiftung umgewandelt, aus Ersparnissen seines Gehaltes von 13.654,43  Euro monatlich kann solch eine Summe kaum entstehen… Leider hat Kardinal Marx in seiner Großzügigkeit unter seinen „Mit-Oberhirten“ keine Nachfolger gefunden. (Quelle: https://juedischerundschau.de/article.2020-05.corona-elftausend-euro-mannbedford-strohm-fordert-verzicht-von-anderen.html)
5.
Die Gesellschaft und die Staaten sind jetzt, in diesen Zeiten vielfältiger Krisen gespalten, katastrophal gespalten, nicht Kooperation, sondern Feindschaft ist die Ideologie der um Eigentum an Land, Bodenschätzen, Einflusssphären kämpfenden Staaten. In den demokratischen Gesellschaften kämpfen die vielen prekär lebenden, eigentumslosen Menschen mit den eher wenigen, die auch in Krisenzeiten ökonomisch privilegiert dastehen. Weltweit wird die ungerechte Verteilung des Eigentums immer bedrohlicher: Arme gegen Reiche, Millionen Bettelarmer gegen einige tausend Milliardäre. Millionen Menschen mit einem Dollar pro Tag stehen schwach und ausgehungert gegen Leute mit einer Million Dollar pro Tag als „Taschengeld“. „Die armen Länder sollten Anrecht auf einen Teil der Steuern multinationaler Konzerne und der Milliardäre dieser Erde haben. „Denn der Wohlstand der reichsten Akteure ist völlig dem globalen Wirtschaftssystem und der internationalen Arbeitsteilung geschuldet“ (Thomas Piketty, „Ungleichheit“, C.H.Beck Verlag 2022, S. 232). Die „reichen Länder verdienen an den armen Ländern aufgrund des von der Welt der Reichen bestimmten kapitalistischen Wirtschaftssystems.

6. Erinnerung an einige Fakten:
Die internationale Hilfsorganisation OXFAM schreibt am 12.1.2022:
Die Reichsten verdoppeln ihr Vermögen – während über 160 Millionen zusätzlich in Armut leben. Die einen verdienen, die anderen sterben: Wie die Covid-19-Pandemie Ungleichheit befeuert. Während der Covid-19-Pandemie konnten die zehn reichsten Milliardäre ihr Gesamtvermögen verdoppeln, auf insgesamt 1,5 Billionen US-Dollar.
Ungleichheit ist zudem eine Frage von Leben und Tod: Jedes Jahr sterben Millionen Menschen, etwa weil sie keine adäquate medizinische Versorgung bekommen. Oxfam fordert von den Regierungen weltweit, Konzerne und Superreiche zur Finanzierung sozialer Grunddienste stärker zu besteuern, für globale Impfgerechtigkeit zu sorgen und die Wirtschaft am Gemeinwohl auszurichten“. (Quelle: OXFAM, 12.1.2022)

7.
Zur dramatischen Nahrungsmittelkrise: „Wir entfernen uns immer weiter von der Beendigung des Hungers“. Zum Welternährungstag am 16. Oktober 2022 zeichnet sich ab, „dass die globalen Ernährungssysteme versagen. Die Lage verschlechtert sich drastisch“. (Tagesspiegel 16.10.2022)
Laut Paritätischem Armutsbericht 2022 hat die Armut in Deutschland mit einer Armutsquote von 16,6 Prozent im zweiten Pandemie-Jahr (2021) einen traurigen neuen Höchststand erreicht. 13,8 Millionen Menschen müssen demnach hierzulande, in DEUTSCHLAND, derzeit zu den Armen gerechnet werden, 600.000 mehr als vor der Pandemie.
Die Öffentlichkeit weiß mehr über Armut und Arme als über die Reichsten, sie sind diskret. Es gibt Armutsforschung, aber fast keine Reichtums Forschung. Das kann sich ändern, wenn sich mehr Leute informieren: Über die Top 20 deutschen Milliardäre: LINK https://www.merkur.de/wirtschaft/reichste-deutsche-vermoegen-geld-deutschland-milliardaere-gehalt-thiele-aldi-lidl-sap-plattner-bmw-albrecht-zr-90101849.html
Die reichsten Milliardäre weltweit: LINK: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/181482/umfrage/liste-der-top-25-milliardaere-weltweit/

8.
Wie kann Gerechtigkeit gesetzlich geschaffen werden in einer Welt zunehmender Ungleichheit in der Verteilung des Privateigentums? An die gesetzliche Halbierung des Milliardärs-Eigentums ist kaum zu denken. ABER:
Die Frage wird eher selten gestellt. Wer sind konkret namentlich diejenigen, die über eine offenbar allmächtige Lobby auch weltweit verfügen und über bestimmte, sich in Europa liberal nennende Parteien durchsetzen, um ihren luxuriösen Luxus-Standart gesetzlich festschreiben lassen: Also Parteien, die als Vertretungen eher von Minderheiten so mächtig sind, dass sie etwa in Deutschland gerechte Vermögenssteuer verhindern und gerechte Erbschaftssteuer, gerechte Verfolgung von Milliardären, die sich als Oligarchen aus autokratischen Regimen in Demokratien niederlassen usw.

9.
Der Religionsphilosophische Salon befasst sich mit dem Thema „Eigentum“, weil Privat-Eigentum, in welcher Form auch immer, in weiten Kreisen als heilig gilt, also als unantastbar, als verehrungswürdig, als Phänomen, vor dem man förmlich niederkniet, dem man als Geld und als Wachstum des eigenen Vermögens alles opfert … an eigener Lebens-Zeit und geistiger Energie: Dieses Privateigentum ist also göttlich. Eigentum also ein dringendes religionsphilosophisches Thema. Ein Thema der Religionskritik: Zu den vielen Göttern der kapitalistischen Gegenwart gehört als einer der Ober-Götter das Privateigentum.Vor ihm knien alle nieder. Insofern ist unsere „säkulare“ Gesellschaft frei vom Glauben an den Gott der Bibel, aber es gibt genug Ersatz-Götter.

10.
Im August 2021 hatte ich einen etwas ausführlicheren Hinweis zu Pierre-Joseph Proudhon veröffentlicht unter dem Titel, auf sein Werk bezogen: Eigentum ist Diebstahl“. Dieser Beitrag hat viel Aufmerksamkeit gefunden: LINK https://religionsphilosophischer-salon.de/13911_eigentum-ist-diebstahl-proudhon-1809-1865_aktuelle-buchhinweise/philosophische-buecher

11.

Ist die Debatte über Eigentum überhaupt die richtige Diskussion? Müsste man sie nicht umlenken auf die Debatte über Reichtum und über das Vermögen?, so fragt der Ökonom und Sozialethiker Friedhelm Hengsbach SJ. Er ist Mitbegründer einer wichtigen Initiative: “Finanzwende”: https://www.finanzwende.de/ueber-uns/wer-wir-sind/

Bürgerbewegung Finanzwende e. V.
Motzstraße 32 · 10777 Berlin  
Telefon 030 208 370 810
newsletter@finanzwende.de
www.finanzwende.de

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Das Massaker in Mellila (Spanien) am 24.Juni 2022

Lesen Sie bitte diesen Bericht von Alexander Kern (UNI Frankfurt/M.), veröffentlicht auf der website “Geschichte der Gegenwart” ,über das Massaker in Melilla am 24.6.2022, um den Umgang des “demokratischen” (“christlichen” ???…..) Europa mit Flüchtlingen aus Afrika zu verstehen. LINK

Sowie den Hinweis des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin vom 13.6.2022 auf die sehr “merkwürdige”, d.h. skandalöse Flüchtlingspolitik der EU, eine Buchbesprechung: LINK:

Räume, wo wir SCHREIEN können…

Ein Hinweis von Christian Modehn am 14.4.2022.

1.Wir brauchen heute Orte, wo wir schreien können, brüllen, fluchen, oft auch ohne Worte. Nur diese laute Klage! Kein eleganter Klage-Gesang, sondern nur brüllendes Stammeln, weil wir Krieg, Mord, Massenmord, Völkermord, nicht mehr runterschlucken und verdrängen können.

2. Der Krieg Putins gegen die Menschen im demokratischen Staat Ukraine sprengt unsere Geduld. Wir können das Abschlachten nicht mehr ertragen und nicht die horrenden Fehler der demokratischen Politiker gegenüber Putin seit spätestens 2014. Wir möchten unsere Wut darüber auch rausbrüllen.

Das kann uns dann wieder zur Sprache zurückführen, zum Disput, zur politischen Aktion.
Aber jetzt wollen viele ihre maßlose Wut, die hilflos ist, erst mal rausbrüllen, als Zeichen eines verzweifelten Neins zu diesem Verbrecher, der sich Politiker nennt und viele Jahre hofiert wurde, auch von deutschen Politikern…Auf Demonstrationen darf eher nicht geschrieen werden.

3. Haben wir fürs Schreien noch entsprechend große Räume und Orte? Nein. Obwohl diese Gebäude herumstehen, diese leeren Kirchen, die nur ein paar Stunden pro Woche von ein paar Leuten genutzt werden, sonst aber verschlossen sind als Beweis dafür, dass Kirche eigentlich verschlossen ist für die Menschen von heute und sich nichts Neues einfallen lässt, um in Kriegszeiten den Menschen auch hier beizustehen.

4.Gewiss: Wir brauchen Gesprächsräume angesichts des Krieges, Begegnungsräume mit Flüchtlingen, Räume, die Solidarität organisieren.
Aber wir müssen auch an unser seelisches Leiden denken. Für eine Therapie wären Räume nötig, wo wir schreien dürfen.

5. Eine Erinnerung:
“Räume des Schreiens” habe ich in San Francisco Mitte der neunzehnhundertachtziger Jahre erlebt. Sie waren in Kliniken und in Hospizen eingerichtet. Hier konnten Menschen laut schreien und heulen und klagen in ihrer seelischen Qual, in den Stunden, wo sie gerade Freunde verloren hatten. Sie waren als Schwule an AIDS gestorben. Da konnten nur die hartherzigen Moralapostel fundamentalistischen evangekikalen christlichen Glaubens stumm bleiben oder die Schwulen als Schweine titulietren.
Diese Schrei-Räume waren „ehrlich“, das heißt: Sie hatten nichts von der vornehmen Verschwiegenheit der Abschiedsräume in Krematorien und auf Friedhöfen. In den Schrei-Räumen von San Francisco durfte wirklich gebrüllt werden. Schreien ist eine Sprache, die der Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit. Und auch die Sprache des Gebets, man lese bitte mal wieder die allgemein zugängliche Poesie der Psalmen.
Diese Räume des Schreiens hatten gepolsterte Wände, so dass die Außenwelt nicht gestört wurde. Sie hätte ruhig gestört werden sollen, aber die USA sind nun mal darauf bedacht, eine gewisse Sterilität zu pflegen.
Die Schreienden blieben meist unter sich, wenn nicht einige mitfühlende Freunde das Schwererträgliche mit ertragen und mit hören wollten.

6. Heute aber müssen wir schreien, angesichts des Krieges in der Ukraine, eines Krieges, der die ganze bisherige Welt-„Ordnung“ durcheinander schmeißt. Alles wird umgekrempelt, auch aller gute und vertraute Sinn geht weltweit verloren, wird bewusst vernichtet, bloß weil ein Verbrecher in Moskau sich diesen Krieg ausgedacht hat. Und dabei unterstützt wird von dem Chef der russisch-orthodoxen Kirche, dem Patriarschen Kyrill I., auch er, wie Putin, führendes KGB Mitglied und wie sein Ideal ebenfalls Multimillionär.

7. Ich habe schon vor zwei Jahren auf dieser website für Räume plädiert, wo wir schreien können als spirituell – philosophische Initiative, damals dachte ich daran wegen des Abschlachtens der Menschen in Syrien, ich dachte an die auf dem Mittelmeer krepierenden Afrikaner, an die Menschen in den Lagern in Libyen, in Nordkorea …

8. Schreien ist auch eine Therapie-Form bei Leiden im engeren, persönlichen Erleben. Auch hier ist Schreien eine Tat der Befreiung von Unerträglichem.

9. Ich empfehle, in den Städten, möglichst in Parkanlagen, „Häuser des Schreiens“ einzurichten. Vielleicht kleine Rundbauten, kahl die Wände, eher dunkel der Raum. Ohne Schmuck. Eher ein Raum „ohne alles“, ein Raum des Nichts. Und da können die Menschen, die das Unerträgliche der Politik, den Hass in der Welt, nicht länger runterschlucken können, nicht länger ersaufen können, wenigstens laut schreien. Das kann ohne Worte geschehen, vielleicht schreit man nur „Hilfe“ oder „Es ist genug“ oder „Ihr verdammten Mörder“ oder nur das flehentliche Gebet „Hört auf“. Der Raum sollte so groß sein, dass mehrere Menschen, selbstverständlich in unterschiedlichen Sprachen, dort schreien können.

10. Vielleicht treffen sich diese schreienden verzweifelten Rebellen danach, seelisch ein wenig erleichtert, in einem separaten Raum innerhalb des „Hauses des Schreiens“ wieder und verabreden sich zum Gespräch. Vielleicht auch zu einer Aktion zugunsten der besonders Leidenden. Zugunsten der Menschenrechte.

11. Natürlich wäre es, wie gesagt, viel einfacher, die vielen leerstehenden Kirchen als Orte des Schreibens einzurichten. Orte für Urnen-Bestattungen, Kolumbarien, sind manche Kirche, sogar in Deutschland, schon geworden. Warum nicht auch diese leer stehenden Kirche in etwas Lebendiges verwandeln, in Orte des Schreiens.

12. Vielleicht sollte ein Bild, als  große Kopie, in einem sonst bildlosen Schrei – Raum hängen: Ein Gemälde, das der britische Maler Francis Bacon geschaffen hat und das in verschiedenen Formen Papst Innozenz den Zehnten (gestorben 1655) zeigt, nach einem Vorbild von Velasquez gemalt. Dieser Papst sitzt wie gefesselt auf einem Stuhl und brüllt. So wie, Papst Franziskus in seinen so prophetischen Weihnachtsansprachen vor den Kardinälen der Kurie auch am liebsten brüllen würde. … Natürlich war Innozenz der X. wie so viele Kirchenfürsten und Vatikan-Prälaten damals völlig haltlos. Also jähzornig brüllend. Aber dieses großartige Gemälde eines brüllenden Papstes geht tiefer: Weil selbst der so genannte Stellvertreter Christi und die Kirchen insgesamt absolut hilflos sind, bestenfalls noch schreien und brüllen können: Die Kleriker als Kleriker können den Mörderbanden weltweit keinen Einhalt gebieten. Der Glaube ist in der traditionellen Form absolut schwach. Ein Nichts? Wahrscheinlich: Den Päpsten und den Kirchen gelingt es nicht, mit Ethos und Glauben die Mörderbanden zu besiegen. Und dann reden sie von Erlösung. Da können die einzelnen nur noch schreien … und danach, seelisch erleichtert, auf die eigene Art Gutes tun. Vielleicht werden nur in kleinen Schritten Revolutionen vorbereitet.

13. Die Gemeinde der Schreienden ist ökumenisch und nicht-konfessionell. Sie ist über die etbalierten verschlossenen Kirchen hinausgewachsen, die bekanntlich wirklich oft “zum Schreien” sind … nicht nur wegen der Verbrechen sexuellen Missbrauchs durch Kleriker.

Copyright: CHRISTIAN MODEHN, Religionsphilosophischer Salon Berlin.
…….
Clara F. Janning schreibt uns:
Der Text „Räume wo wir schreien können“ ist mir aus dem Herzen gesprochen! Und dann wäre da ja, zur gedanklich-therapeutischen Unterfütterung, auch noch Arthur Janov mit seiner “Urschrei”-Therapie zu lesen – wobei ich meine, dass ein solches Zu-seinem-Schmerz-Gehen der professionellen, zumindest aber emotional intelligenten bzw. kompetenten Begleitung bedarf.
Goethes Tasso begnügt sich übrigens mit Wort und Träne, dank der von “einem Gott” gegebenen Gabe, “zu  s a g e n, was [er] leide[t.
Das sei mit Dank für Ihre inspirierenden Gedanken (das utopische Denkmodell) hier zur Sache noch zitiert, mit besten Grüßen an den und in den Philosophischen Salon von Clara F. Janning
Ja, du erinnerst mich zur rechten Zeit! –
Hilft denn kein Beispiel der Geschichte mehr?
Stellt sich kein edler Mann mir vor die Augen,
Der mehr gelitten als ich jemals litt,
Damit ich mich mit ihm vergleichend fasse?
Nein, alles ist dahin! – Nur eines bleibt:
Die Träne hat uns die Natur verliehen,
Den Schrei des Schmerzens, wenn der Mensch [im Original: Mann] zuletzt
Es nicht mehr trägt – Und mir noch über alles –
Sie ließ im Schmerz mir Melodie und Rede,
Die tiefste Fülle meiner Not zu klagen:
Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.

Spiritualität oder Religion? Drei Fragen an den protestantischen Theologen Prof. Wilhelm Gräb, Berlin.

Die Fragen stellte Christian Modehn

1.

Wenn heute von Religionen und Kirchen gesprochen wird, auch vom persönlichen Glauben, wird sehr oft der Begriff Spiritualität verwendet. Selbst Menschen, die sich Veganer, Astrologen, Yoga-Praktizierende usw. nennen, verwenden für ihre eigene Lebensphilosophie den Begriff Spiritualität. Wie beurteilen Sie diesen Trend?

Ich nehme diesen Spiritualitätstrend schon seit längerem wahr. Die Rede von Spiritualität schimmert merkwürdig. Für die einen, die vor allem, die Sie in Ihrer Frage anführen, steht Spiritualität für ein breites Spektrum an Praktiken, die Ausdruck eines bewussten, alternativen Lebensstils sind, bis hin zur Kontaktaufnahme mit einer anderen übersinnlichen Wirklichkeit. Andere wiederum verbinden mit Spiritualität den subjektiven, persönlichen Zugang zum Göttlichen. Diese Rede von Spiritualität, die auf die katholische Ordenstheologie zurückweist, findet sich inzwischen zunehmend auch in den evangelischen Kirchen. Spiritualität hat den Begriff der Frömmigkeit, der einst für die Praxis gelebten Glaubens stand, ersetzt.

Dass Menschen heute, wenn sie auf Religion angesprochen werden, sich eher als spirituell oder spirituell interessiert bezeichnen, hängt, so denke ich, mit zwei Dingen zusammen. Spiritualität bindet zum einen nicht an eine Kirche oder Religionsgemeinschaft. Sie verlangt keine Verpflichtung auf ein vorgegebenes Bekenntnis. Spiritualität weckt die eigene Neugier nach Erklärungen des Unerklärlichen. Zum anderen bieten die gängigen Formen der Spiritualität erlernbare Praktiken an. Sie ermächtigen zum Handeln, auch dort noch, wo wir vor Unerklärlichem und Unverfügbarem stehen. Sie stellen über die Erklärung des Unerklärlichen hinaus, auch noch die Verfügung über das Unverfügbare in Aussicht. Oft verschwimmen dabei die Grenzen zwischen der Religion, zu der die Anerkennung der Transzendenz und damit des Unverfügbaren gehört, und der Magie, die das Unverfügbare durch menschliches Handeln in den Griff bekommen will.

Praktiken der Spiritualität zielen darauf, auf außergewöhnliche Weise handlungsfähig zu bleiben. Ihre Attraktivität gewinnen sie aus dem Versprechen, sein Leben auch noch angesichts der ungewissen Zukunft deuten zu können, sogar selbst etwas tun zu können, um es grundlegend zu ändern.

Im Spiritualitätstrend zeigt sich, bei aller Ambivalenz wie sie der Religion immer eigen ist, dass Menschen auf die Dimension des Religiösen ansprechbar sind, weit über die Kirchen und Religionen hinaus. Bei aller Ambivalenz und auch Gefährlichkeit, der Spiritualitätstrend ist für mich doch der deutlichste Beleg dafür, wie sehr die quantitative Religionsforschung, die nur noch einem Drittel der deutschen Bevölkerung ein Interesse an Religion meint bescheinigen zu können, in die Irre führt. Die Sehnsucht der Menschen nach Lebensdeutungen, die das Unbestimmbare (z.B. Geburt, Krankheit, Liebe, Glück, Verlust, Gelingen, Scheitern, Katastrophen, Tod) bestimmbar machen, ist enorm groß. Die Menschen suchen nach Praktiken, die ein Verhalten zum Unverfügbaren möglich machen (Horoskop, Yoga, Veganismus, Mediation, Gebet). Diese Praktiken sind deshalb sehr viel weiter verbreitet als die Zugehörigkeit zu Kirchen und Religionsgemeinschaften erahnen lässt.

Religionskulturdiagnostisch ist der Spiritualitätstrend deshalb für mich ein ungeheuer interessantes Phänomen.

Neben die Kirchen und verfassten Religionen ist heute eine Fülle anderer Anbieter auf dem religiösen Markt getreten, wobei auch recht obskure Geschäftemacher ihre Dienste anbieten. Es ist dennoch schwierig, Kritik wirksam vorzubringen, da diese sehr schnell sich mit der Frage konfrontiert sieht, ob sie nicht nur der Deutungsmacht der traditionellen Religionsinstitutionen Vorschub leisten möchte. Gibt es auf dem religiösen Markt noch funktionierende Regulierungsinstanzen? Die Kirchen haben diesen Kredit verspielt, aus verschiedenen Gründen, aber auch deshalb, weil sie selbst kein frei zugänglicher und die Menschen eigenaktiv einbeziehender Ort religiöser Erfahrungs- und Deutungskultur mehr sind.

2.

Es fällt in Europa auf, dass politische Praxis zugunsten der Menschenrechte gerade nicht mit dem Begriff Spiritualität beschrieben wird. Dabei haben Menschen, die sich bei „Amnesty International“ oder den „Ärzten ohne Grenzen“ oder den Flüchtlingsrettern engagieren, zweifelsfrei eine „menschenfreundliche Spiritualität“. Falls Sie das bejahen, wie würden sie diese „weltliche“ Spiritualität deuten?

Das wäre eine interessante Weiterführung des Spiritualitätstrends. Ich wäre froh, wenn er sich auch in dieser Richtung durchsetzen würde. Verschiedentlich habe ich von einer universalen Religion der Menschenrechte gesprochen. Dies deshalb, weil sich ja doch Menschen aus den verschiedenen Religion, zusammen mit solchen, die gar keiner Religion angehören, für die Menschenrechte und notwendige Maßnahmen zu ihrer Durchsetzung engagieren.

Die religiöse Dimension im Kampf für die Menschenrechte liegt für mich darin, dass sie auf der Anerkennung der unverletzlichen Würde jedes Menschen aufruhen. Mit den Menschenrechten, so kann man sagen, verschafft sich die Selbsttranszendenz und damit die menschliche Unverfügbarkeit des Menschen Geltung. Die Menschenrechte verlangen anzuerkennen, dass kein Mensch in seinen natürlichen, sozialen, politischen, religiösen, ökologischen und sonstigen Verhältnissen aufgeht. Jeder Mensch ist Zweck an sich selbst (Kant) und darf deshalb nicht zum Mittel der Durchsetzung sozialer, politischer, religiöser, ökologischer oder sonstiger Absichten, und seien sie noch so dringlich, gemacht werden.

Wer sich für die Menschenrechte einsetzt, lebt insofern auch eine Form der Spiritualität. Es wäre besser von der Spiritualität statt von der Religion der Menschenrechte zu sprechen. Damit hätte man die ihnen innewohnende religiöse Dimension zum Ausdruck gebracht, aber sich nicht zugleich dem Verdacht ausgesetzt, man wolle sie letztlich doch für das Christentum vereinnahmen.

3.

Gibt es für Theologen, die sich, wie Sie, der „liberalen Theologie“ verpflichtet wissen, eine Norm, die bei der Fülle der Spiritualitäten innerhalb der weiten Ökumene eine befreiende und eine unterdrückende Spiritualität unterscheidet? Oder sind alle christlichen Spiritualitäten etwa gleichwertig?

Natürlich tun nicht alle Formen der Spiritualität gleich gut. Wir versuchen deshalb ethische Kriterien zu berücksichtigen. Für mich ist die Frage nach der Lebensdienlichkeit ganz wichtig, ob die Spiritualität, die Menschen praktizieren, ihnen und letztlich auch der Gesellschaft und dem Planeten guttut oder eher nicht.

Als Theologe bin ich dennoch vorsichtig, mich zum Richter über gute oder schlechte Spiritualität zu machen. Denn mit dem Spiritualitätstrend verbindet sich zunächst einmal ein großes Freiheitsversprechen. Nicht mehr Theologie und Kirche sollen bestimmen dürfen, welcher Glaube zu leben ist, sondern jeder und jede soll das Recht auf Selbstbestimmung in religiösen Angelegenheiten haben.

Das Recht auf religiöse Autonomie möchte ich als liberaler Theologe anerkennen. Dann, so hoffe ich, eröffnet sich die Gelegenheit zum Gespräch über das, was auf diesem Gebiet guttut, was sinnvoll ist oder wo wir eher auf Abwege und in dunkle oder gar absurde Machenschaften geraten.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin