Was ist unmittelbar? Unsere Erkenntnis und sogar die Gotteserkenntnis?

Einführende Hinweise von Christian Modehn

1.
Das Thema hat weitreichende Bedeutung, nicht nur fürs allgemeine menschliche Erkennen, sondern auch speziell fürs Erkennen dessen, was man das Göttliche, Gott, nennt. Kann ein Mensch etwa Gott „als solchen“ unmittelbar erleben und „als“ Gott erkennen und sogar in Worten „fassen“? Können Wunder als göttliches Eingreifen in die Naturgesetze unmittelbar als solche geschehen? Kann die Kirche eine unmittelbare Begegnung mit der Jungfrau Maria behaupten, die als Himmelskönigin irgendwelche historisch sehr konkreten Worte übermittelt? Etwa in Fatima, Portugal, 1917, als die Himmelskönigin sich höchst persönlich zum kommunistischen Russland äußerte? Keine Frage: Die Frage nach dem Unmittelbaren ist für die Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie und die Religionskritik aktuell und eine “Pflichtaufgabe“.
2.
Für ein „alltägliches“ Leben ist die Behauptung einer unmittelbaren Erfahrung (von Weltlichem) und deren – angeblich – unmittelbaren Erkenntnis üblich. In der unmittelbaren Erfahrung, als einer Form der mit den Sinnen geschehenen Verbundenheit / Beziehung zur Welt, wird durch die Sinne eine Gewissheit erzeugt beim Menschen. Etwa der Schmerz, wenn der Mensch Feuer berührt. Der Schmerz ist zwar unmittelbar, aber er ist immer bereits im Moment des Erlebens sprachlich geprägt, selbst wenn er noch nicht in Worten gesprochen wird. In der „sinnlichen Erfahrung“ mit der durch die Sinne erzeugten sinnlichen Gewissheit (Schmerz) ist also die Sprache und damit die Vernunft immer schon anwesend. Die Unmittelbarkeit gibt es als Erleben, aber sie ist immer schon durch die Sprache und Begriffe für den Erlebenden wie die anderen Menschen vermittelt.
3.
In dieser „unmittelbaren“ Erfahrung gibt es vier Determinanten:
Es ist das JETZT (also nicht später, nicht früher) dieser Erfahrung.
Das HIER (nur an diesem bestimmten Ort) dieser Erfahrung.
Es gibt – wie gesagt – eine immer schon latent anwesende begriffliche Form der Erfahrung und
es gibt selbstverständlich ein Ich, ein Subjekt, das diesen Komplex dieser sinnlichen Erfahrung erlebt und eben auch davon weiß. Das Subjekt ist der „Ort“ der Vermittlung und Aufhebung des Unmittelbaren.
4.
Diese (in Nr. 3 genannten) Strukturen sind allgemein für alle Subjekte im Umgang mit Welt und mit sich selbst vorhanden und gültig. Welt und Objekte werden immer mit diesen „Determinanten“ erlebt und dann auch verstanden. Die menschliche Erfahrung eines einzelnen Objekts geschieht also immer in diesen allgemeinen Determinanten. Wer vom Individuellen, Besonderen, spricht, ist also immer auf den Gebrauch allgemeiner Begriffe angewiesen. Total individuelle Begriffe einer einmaligen Erfahrung könnten nur zu einer Geheimsprache gehören, die dann aber nur der Erfinder dieser Sprache versteht.
Damit wird den Behauptungen einer total einmaligen und angeblich nicht aussagbaren, „nur“ privaten Erfahrung widersprochen.
Das einzelne Unmittelbare ist also immer in allgemeinen Begriffen vermittelt. Auch Hegel hat daran erinnert, dass das Einzelne NICHT ausschließlich in seinen engen Grenzen als einzelnes, sozusagen wie ein isolierter Punkt begriffen werden kann. Das einzelne Ding steht in einem Vermittlungszusammenhang, wie in einem Netz, mit anderen, auf die es bezogen ist.
5.
Alles Wahrnehmen und Erkennen des Unmittelbaren wird sprachlich in allgemeinen Begriffen vermittelt. Wolfgang Welsch schreibt in seinem Essay „Hegel und die analytische Philosophie“ (in: „Information Philosophie“, 2000): „Jede Berufung auf unmittelbares Wissen ist epistemologisch naiv“.
6.
Wer also das Verbundensein des Menschen mit der Welt begreifen will, muss die vernünftigen Strukturen im Subjekt analysieren. Es geht darum, die Leistungen des Bewusstseins und der Vernunft im Subjekt als konstitutiv für die Verbindung mit dem Objekt zu erkennen. Schon im praktischen Verhalten ist es so: Unser Handeln in der äußeren Wirklichkeit ist dergestalt, dass es als begrifflich geprägtes, vernünftiges Handeln diese dann ebenfalls vernünftig bestimmte Wirklichkeit tatsächlich erreicht, es gibt also eine Übereinstimmung zwischen unseren Handlungsideen und der äußeren Wirklichkeit. Das hat Hegel auch aufs theoretische Erkennen übertragen. Er sah eine Kongruenz von menschlichem Begriff und äußerem Gegenstand.
Es ist wichtig, sich in dem Zusammenhang weiter mit Hegel zu befassen: Für ihn ist der unmittelbare Mensch der in Ego – Strukturen befangene Mensch. Hegel spricht von „der Partikularität, den Leidenschaften, der Eigensucht“ (Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, Suhrkamp, 323) Diese beherrschen den Menschen, der sich als total vereinzelter, als Veräußerlichter, in dem Sinne als unmittelbarer versteht. Das wahre Wesen des Menschen ist seine Teilhabe am universalen Geist, und dieses wahre Wesen muss dieser unmittelbar lebende Mensch sich durch seine Vernunft erst noch „erarbeiten“. „Der Mensch ist nur durch diese Vermittlung, er ist nicht unmittelbar“ (303 ebd.) Aber diese Arbeit der Überwindung der Unmittelbarkeit als der falschen Lebensform geschieht nicht ohne den Schmerz des Abschieds von dieser „Leidenschaft und Eigensucht“. Von diesem „natürlichen Herzen, worin der Mensch befangen ist, dies ist der Feind, der zu bekämpfen ist“ (ebd.).
Aber der universale Geist ist auch in diesen falschen Haltungen anwesend, in seiner Energie kann der Mensch die Freiheit erreichen.
7.
Wer Religionen – auch philosophisch – verstehen will, muss sich auf die Bedeutung der „Unmittelbarkeit“ einlassen: Im Christentum ist häufig die Rede von der „unmittelbaren Erfahrung Gottes“. Glaubende, die sich Mystiker nennen und von anderen als Mystiker bezeichnet werden, betonen: Ihre besondere Spiritualität zeichne sich durch die „unmittelbare Erfahrung Gottes“ aus. Diese Erfahrung hat immer einen existentiellen Aspekt. Sie berührt den ganzen Menschen, sie ist mehr als eine theoretische Einsicht: Diese kennt nur das fremde Gegenüber von Menschen und Göttlichem. In der Mystik hingegen löst sich dieses Gegenüber in ein Gefühl der Einheit auf. Die Untersuchungen dieser drei zusammenhängenden Begriffe „unmittelbar“, „Erfahrung“ und „Gott“ füllen riesige Bibliotheken. Hier nur einige Hinweise:
8.
Die Karmeliter-Nonne Theresa von Avila (1515 – 1582) gilt in der Mystik-Forschung als Vorbild mystischer Frömmigkeit. Sie hat ein umfangreiches literarisches, spirituelles, mystisches und theologisches Opus hinterlassen. Wer bei ihr nach der Bedeutung ihrer unmittelbaren Gotteserfahrung fragt, kann sich z.B. mit einem Text ihrer „Vida“ befassen. Der Mystik-Forscher Alois M. Haas hat sich damit in seinem Buch „Mystik als Aussage“ (Suhrkamp 1996) befasst. Er zitiert (S. 54) Theresa, wenn sie von der ihr zuteil gewordenen Gnade spricht, die „von kurzer Dauer“ war, nämlich Christus erfahren zu haben. Dazu waren für Theresa aber Voraussetzungen nötig: Diese Erfahrung habe sich ereignet, als „ich mich in die Nähe Christi versetzte“ und „bisweilen auch, als ich (die Bibel) las (leyendo, auf Spanisch): In diesen Momenten „überkam“ sie „ein Gefühl der Gegenwart Gottes, so dass ich gar nicht zweifeln konnte, er sei in mir oder ich sei ganz in ihm versenkt“. „Gott“ „in“ Theresa „versenkt“, eine für sie zweifelsfreie Erfahrung also, eine offenbar unmittelbare Erfahrung.
Dieses Erleben der Vereinigung mit Gott war aber für sie kein irrationaler Rauschzustand, sondern es geschah mit Bewusstsein: Denn Theresa war danach in der Lage, in Worten zu sagen: „Er (Gott) war in mir oder ich ganz in ihm versenkt“. Sie selbst wehrt sich in dem Text ausdrücklich, ihre Gotteserfahrung sei eine, so wörtlich, „Vision“ (also eine Art „Entrückung“) gewesen! Theresa bewertet hingegen ihre Gotteserfahrung überraschend als „mystische Theologie“! Damit will Theresa ihre mystische Erfahrung mit den Begriffen, eben der Theologie, verbinden, also die Unmittelbarkeit des Erlebens in eine begriffliche und „trans-subjektive“, also allgemeine Sprache überführen. Und sie wollte mit ihrem Hinweis auf Theologie ihre dogmatischen Gegner besänftigen, die mit Mystik auch zu ihrer Zeit nur subjektive Eigenwilligkeit und Entrückungen und Verzückungen vermuteten.
Wären Theresas Geist und ihr Erinnerungsvermögen ausgeschaltet gewesen in ihrer „Versenkung“, also in ihrer Gotteserfahrung, hätte sie nicht später davon sprechen können. Entscheidend ist ihr kurzer Satz: „Der Wille liebt“ in diesem Moment der Versenkung: Liebe zu Gott ist für sie die entscheidende bleibende Voraussetzung Zugang zu Gott zu finden. Dann folgen aber diese Worte, in denen sie die Grenzen des Verstehens dieser mystischen Erfahrung anspricht: „Das Gedächtnis scheint mir beinahe verloren, der Verstand denkt nicht nach, aber er verliert sich nicht. Der Verstand ist nur untätig und wie von Staunen hingerissen über das viele, das der Verstand hier gewahrt.“ Also, der Verstand selbst nicht mehr aktiv, er ist passiv „hingerissen“ von dem, was sich ihm zeigt. Und dann folgen die das mystische Geschehen wieder relativierenden Worte, um jegliches „Wegschweben“ und das Entrücktsein auszuschließen: „Denn Gott lässt den Verstand erkennen, dass der Verstand nichts von dem begreift, was seine Majestät (Gott) ihm vorstellt.“ Die mystische Erfahrung erschließt also keinen inhaltlich breiten Gewinn an Erkenntnis Gottes, keine „Details“ seines inneren, göttlichen Lebens. Vielmehr ist das Resultat: Gott zeigte sich, aber der Verstand begreift nichts Inhaltliches. Mit anderen Worten: Die Mystikerin wurde mit dem unauflösbaren Geheimnis Gottes konfrontiert.
9.
Diese Aussage als theologische Erkenntnis ist ein wichtiger Hinweis: Eine sich unmittelbar nennende Erfahrung Gottes gibt es nicht, die Erfahrung selbst enthält schon den Verstand, der dann später die Erfahrung in Worte fassen kann. Und diese vermittelnden Worte sind jeweils historisch, von der Bildung des Erlebenden, geprägt: Wenn sich Theresa, wie sie sagt, in die „Nähe Christi versetzt“, dann ist es der konkrete bildhafte Christus, der ihr auch durch die Lehre der Kirche und der Theologie ihrer Zeit und ihrer Umgebung vermittelt wurde.
10.
Warum ist es so wichtig, darauf zu insistieren, dass in der unmittelbaren mystischen Erfahrung immer die Vermittlung durch Begriffe besteht? Weil nur mit dieser Erkenntnis die immer subjektive, einzelne Erfahrung in den Bereich des allgemeinen Gesprächs und der kritischen Debatte treten kann. Das ist heute politisch so wichtig: Wer auf einer absoluten Unmittelbarkeit der religiösen Erfahrung besteht, will sich autoritär abkapseln, will sich bedeutend machen, sich als Meister und Guru aufspielen. Es wäre zu prüfen, in wie weit diese autoritäre Unmittelbarkeit von Propheten und Aposteln usw. in der kirchlichen Bibelinterpretation oder in der Korandeutung behauptet wird. Nur wer die immer vermittelte Unmittelbarkeit bejaht und kritisch durchleuchtet, will einen freien, nicht-autoritären, einen nicht-fundamentalistischen Glauben.
11.
Es ist wichtig, noch einmal auf den Philosophen G.W.F. Hegel (1770 – 1831) zurückzukommen. Für ihn ist der christliche Glaube nicht die Bindung an eine historische Gestalt (Jesus) oder an ein Buch (Bibel) oder an eine Institution. Für ihn als Philosophen, der die Religionsgeschichte und damit auch die Christentums-und Kirchen-Geschichte auf den Begriff gebracht hat, ist der Glaube des Menschen an Gott die Beziehung zum Geist, dem göttlichen. Und dieser ist als solche (weil Gott das andere seiner selbst, die Welt „schafft“) auch im Menschen selbst anwesend, eben als „Geist des Menschen“. Diese Beziehung des Geistes im Menschen auf den in ihm auch anwesenden göttlichen Geist ist das Entscheidende. Darum sagt Hegel: „Der Glaube ist Zeugnis des Geistes vom Geist“. (Vgl. dazu Walter Jaeschke, Hegels Philosophie, Hamburg 2020, Seite 387). Hegel betont immer wieder, „dass es nicht zweierlei Vernunft und nicht zweierlei Geist geben kann, nicht eine göttliche und eine menschliche, nicht einen göttlichen Geist und einen menschlichen, die schlechthin verschieden voneinander wären. Die menschliche Vernunft ist Vernunft ÜBERHAUPT, ist das göttliche im Menschen… Gott ist gegenwärtig, allgegenwärtig und als Geist gegenwärtig im (menschlichen) Geist“. (Dieses Hegelzitat siehe S. 388, Jaeschke).
12.
Daraus zieht Hegel die Konsequenz zur Erkenntnis Gottes: „Wir wissen unmittelbar von Gott, dies ist eine Offenbarung Gottes in uns. Weder die positive Offenbarung (also die Bibel) noch die Erziehung kann Religion bewirken“, denn dann wäre Religion etwas von außen Gewirktes, sagt Hegel. Dieses unmittelbare Wissen bei Hegel überrascht! Aber auch hier gilt: Es muss vermittelt werden in Begriffen. Das ist möglich, weil im unmittelbaren Erkennen die Tendenz zum Wissen schon angelegt ist. Wichtig ist für Hegel: Wenn Religion (oder auch Sittlichkeit) im Menschen immer „vorkommt“, dann wird Religion als Geistiges „im Menschen nur erregt“. „Der Mensch ist Geist an sich, die Wahrheit liegt in ihm, und so muss ihm das zum Bewusstsein gebracht werden“. (Dieses Hegelzitat stammt aus dem genannten Buch von Jaeschke S. 390). Religion „schlummert“ also förmlich im Menschen und muss zum Bewusstsein und zum begrifflichen Wissen gebracht werden. Es gibt also eine Offenbarung Gottes in den Menschen als Menschen, weil sie vom Geist, der heilig ist, sich bestimmen lassen. Dieses unmittelbare Verbundensein des Menschen mit dem göttlichen Geist ist die Basis.
In meinem eigenen Bewusstsein bin ich mit Gott unmittelbar verbunden, er ist nichts Fremdes, sondern Geist, wie ich Geist bin. Dieses Selbstverhältnis des Geistes ist also nach Hegel Ausdruck der Freiheit.
13.
Auch in der Literatur ist das Thema Unmittelbarkeit und Vermittlung naturgemäß ständig präsent. Ich denke etwa an das neue Buch „Ein Monat in Siena“ von Hisham Matar, als Übersetzung von „A month in Siena“. Der Autor, 1970 geboren, lebt als Literaturwissenschaftler in England; seine Eltern stammen aus Libyen. Sein Vater wurde als Oppositioneller 1990 aus Ägypten entführt und von Gaddafis Mördern hingerichtet.
14.
Den Tod des Vaters versucht Hisham Matar regelmäßig durch eine „unmittelbare“ Begegnung mit Kunst, mit Gemälden, zu „bearbeiten“. Hisham Matar betont, im Dialog mit einem Gemälde zu leben, vor allem eben mit den Gemälden in Siena. Es gibt für ihn einen Austausch mit dem Gemälde. Es wird für ihn zu einem geistigen und physischen Raum. „Wie ein Zimmer, in das man von Zeit zu Zeit flüchtet, um Gespräche, zu haben, die man sonst irgendwo haben kann“. In dem Beitrag von Le Monde sagt er: „Ich spreche zu den Gemälden und sie antworten mir“.
15.
Es ist das geduldige, oft stundenlange Sich-Versenken in ein Gemälde (Theresa von Avila sprach von einem Sich – Versenken in die Gestalt Jesu Christi), die zu neuen Erkenntnissen, zu rettenden Einsichten führt. Es ist dieses Sich-Hineinbegeben in eine geistige Gestalt außer mir, die zunächst zu einer Unmittelbarkeit, zu einer Vereinigung führt, die dann aber als reflektierte Unmittelbarkeit Erkenntnisse vermittelt, vielleicht neuen Mut zum Leben.
Wir sollten also das Hineintreten in eine langdauernde Unmittelbarkeit (Beispiel: Christus-Betrachtung der Theresa von Avila oder das Sich in ein Gemälde Versenken) nicht nur zulassen, sondern für uns fördern, wenn wir denn nach dem Erfahrungserlebnis Worte finden wollen, für uns selbst wie für andere.
16.
Man spürt es etwa bei trockenen theologischen Texten: Da hat der Autor keine Unmittelbarkeit erlebt, er war nicht „versenkt“ in eine Sache, eine Person, ein Bild etc., sondern er hat Begriffe hin und her gewendet. Begriffliche Trockenheit und Öde, das bestimmt etwa dogmatische Texte.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Wie christlich war das „christliche Europa“?

Ein zentrales Thema französischer Historiker und Religionssoziologen
Ein Hinweis von Christian Modehn

Vorwort:
Man sollte nicht vergessen, mit welchen Bravour und Penetranz der polnische Papst Johannes Paul II. (er regierte von 1978 bis 2005) sein Programm „Wir brauchen (wieder) ein christliches Europa. Wir brauchen eine Neu-Evangelisierung Europas” öffentlich überall äußerte! Das christliche Europa (gemeint war immer das katholische unter päpstlicher Leitung) beschwor er: Es war explizit nicht das liberale, also demokratische Europa! Dieses galt in päpstlicher Sicht als das relativistische und konsumistische Europa. Und es war auch NICHT das sozialistische Europa, sondern ein Europa, das sich „auf seine Wurzeln“, wie Johannes Paul II. gern sagte, besinnt … und entsprechend, vergangenheitsbezogen, handelt. Diese Wurzeln waren für den Papst das christliche Menschenbild, wie er es deutete, also der Mensch als Ebenbild Gottes. Und dieser Gott hat seine Rechte, Gottesrechte, sie waren für den Papst immer wichtiger waren als die Menschenrechte, die auf der Autonomie des Menschen (Kant) allen Wert legen. Gottesrechte kann bekanntlich allein die katholische Kirche deuten! Dieses alte Europa in der Phantasie des Papstes hat so nie bestanden, darin sind sich die Historiker einig. Aber der Papst brauchte diese Propaganda und Illusion, um kirchliche, d.h.klerikale Macht in Europa durchsetzen zu können. Die von ihm so geliebte neuen geistlichen Bewegungen (Opus Dei, Neokatechumenale, Legionäre Christi, Emmanuel, Communione e liberazione und andere) waren und sind noch immer die „Kampftruppen“ der neuen Evangelisierung Europas. (vgl. zu dem Themenkomplex die Studien in dem Buch „Le Reve de Compostelle“, Edition Centurion, Paris, 1989).
Man sieht an dem Vorwort einmal mehr auch die kirchenpolitische und religionskritische Relevanz unseres Themas…Und muss sich erinnern, wie sehr etliche der Führer und Gründer dieser neuen geistlichen Gemeinschaften inzwischen des sexuellen Missbrauchs bzw. des spirituellen Missbrauchs angeklagt und z.T. überführt wurden…

1.
Die Frage: „Wie christlich waren eigentlich die sich christlich nennenden Europäer?“ ist ein umfassendes Forschungsprojekt, wenn man die Kulturen Europas verstehen will.

Aber welche Kriterien sollen gelten, um die Christlichkeit der Europäer oder Europas „festzustellen“?
Da gibt es einerseits die Kriterien, die in den Dogmen der Kirchen vorgegeben sind: Danach ist christlich der Mensch, der an den Sakramenten teilnimmt und regelmäßig am Gottesdienst, der Hl. Messe,  und gehorsam die Weisungen der jeweiligen Hierarchie befolgt usw. Ethische Kriterien, etwa Friedfertigkeit, Toleranz für Andersdenkende, diakonisches Engagement usw. spielen dann eine untergeordnete Rolle. So kann man allen Ernstes lesen, das europäische Mittelalter und die Neuzeit seien christlich gewesen, weil Kathedralen errichtet wurden und fromme Orden durch viele tausend Mitglieder florierten und die Leute Pilgerfahrten unternahmen. Welch fromme Zeiten…Weniger Beachtung finden dabei die Kreuzzüge, die Ketzerverfolgung, die Judenverfolgung, die Missachtung und Tötung von Homosexuellen, die Degradierung von Frauen, die Hexenverbrennungen, die auch kirchlich geduldete Sklaverei und der Kolonialismus und so weiter.
Man sieht also, das Kriterium zur „Messung“ der Christlichkeit Europas, das sich an den Dogmen der Kirchenführung orientiert, ist höchst problematisch.
Aber ist eine Alternative als Kriterium so viel überzeugender, die betont: Respektieren wir die unterschiedlichen Glaubensformen und religiösen Praktiken, die etwa im Mittelalter und der Neuzeit und auch heute vorhanden sind. Und schätzen wir diese bunte und unüberschaubare Vielfalt als normal und üblich ein. Seien wir also „liberal“ und freuen uns über Astrologie und Teufelskult, über trinitarischen Glauben und antitrinitarischen Glauben, über Marienkulte und Wunderglauben, über Reliquienverehrung und Glossolalie usw. Wer als Kriterium einfach nur die bunte Vielfalt nimmt und diese gut und richtig findet als erfreuliche Pluralität aller nur denkbaren Glaubensformen, wird kaum dazu neigen, irgendeinen Augenblick der europäischen Geschichte als „Verlust des Christlichen“ bzw. als Böüte des Christlichen. zu bewerten. Religion war ja schließlich immer „irgendwie“ vorhanden.
Weiter führt und richtig ist nur ein Kriterium, das NICHT den Religionen und ihren Dogmen entnommen ist, sondern das aus der allgemeinen Vernunft stammt. Gemeint sind der auch politisch realisierte Respekt und die tatsächliche Förderung der Menschenrechte. Das ist das entscheidende Kriterium, um eine Epoche christlich oder weniger christlich zu nennen. Was als Kriterium säkular, weltlich, auf den ersten Blick erscheint, ist de facto eng gebunden an die Ethik Jesu, die im ethischen humanen Handeln den besten Gottesdienst sah und dann förmlich als Fortsetzung in der philosophischen Ethik etwa von Kant fand.

2.
Historiker und Soziologen, die noch den dogmatischen Vorgaben der Kirchen folgen, um eine Gesellschaft christlich zu nennen, verdienen trotzdem unsere Aufmerksamkeit. Denn die Ergebnisse der Historiker und Religionssoziologen müssen sich noch öffentlich, auch in den Kirchen, herumsprechen. Denn sonst besteht das Vorurteil weiter: „Früher waren die Menschen in Europa gläubiger/religiöser als heute“. Soweit man Religiosität eines Menschen überhaupt von außen „feststellen“, also an äußerer religiöser Praxis messen kann: Die These vom christlichen Abendland, bevölkert von dogmatisch und moralisch „hundertprozentigen Christen“, ist falsch. Die Leidenschaft etwa der katholischen Inquisition reagiert bereits auf diese Situation, dass in der Sicht der Kirchenführung eben nur einige als zuverlässige dogmatische Christen eingestuft werden können.
Dese Erkenntnis wirft ein ganz neues Licht auf die vielbesprochene Säkularisierung des Bewusstseins in den letzten Jahrhunderten. Aber was ist der Unterschied zwischen dem weit verbreiteten religiösen Desinteresse im 17. und 18. Jahrhundert und der Säkularisierung und dem Atheismus des 19. und 20. Jahrhunderts? Das muss noch untersucht werden.

3.
Hier geht es zunächst um Darstellung einiger wesentlicher Tatsachen, die die Geschichtswissenschaften bisher vermitteln.
Ich beginne mit Bernhard Groethuysen und seiner umfassenden Studie „Die Entstehung der bürgerlichen Welt und Lebensanschauung in Frankreich“, die zuerst 1927 in Halle erschienen, dann bei Suhrkamp 1978 veröffentlicht wurde. Nur einige zentrale Erkenntnisse können hier aus dem 2. Band dieser Studie vorgestellt werden. Groethuysen bezieht sich auf die Einschätzung des Bürgertums durch die katholische Kirche Frankreichs im 18. Jahrhundert. Und er zeigt die Verbindung, wie mit der Ablehnung des aufstrebenden Bürgertums durch die herrschende Kirche die Bürger sich in dieser Kirche nicht mehr „wohlfühlten“, verstanden fühlten und deswegen in eine radikale Distanz zur Kirche und der Kirchenlehre traten. Die Kirche hatte sich festgelegt auf „eine ein für allemal fixierte Gesellschafts – Ordnung“ (S. 195), die keinen Raum ließ für eine Verbindung des Glaubens mit den Idealen der aufstrebenden Bürger. Die Kirche verurteilte deren Willen, auch finanziell erfolgreich zu sein, etwa durch die Praxis des Geldleihens mit der Zahlung von Zinsen. Die Kirche wollte verhindern, dass der nach (ökonomischem) Erfolg strebende Bürger „über die ihm vorgezeichneten (ewigen) Grenzen hinausstrebt“ (197). Veränderungen, zumal Revolutionen, waren die größten Übel für diese Kirche. Welche Konsequenzen ergaben sich? Groethuysen schreibt: „Der Bürger braucht die Religion nicht mehr. Er hat ihre Lehren nicht eigentlich verworfen, wohl aber hat er sich ein Leben gebildet, das außerhalb des religiösen Vorstellungskreises verläuft. Religion bedeutet für ihn Vergangenheit, sie stellt sich als etwas dar, was am Leben selbst unwahr geworden ist“ (206). „Der Bürger will vor allem ein ehrlicher Mann sein, es kommt ihm nicht mehr darauf an, als frommer Mann zu gelten“ (ebd.) Und das gilt im Frankeich des 18. Jahrhunderts! Die Pfarrer und Theologen damals, so schreibt Groethuysen ausführlich, kommen zu der Überzeugung: „Die Bürger leben außerhalb des Christentums, und es könnte manchmal so scheinen, als seien sie überhaupt niemals Christen gewesen“ (S. 208). Dabei steht fest: Den Maßstab des Christlichen liefert die Kirchenführung! Aber der ehrliche Bürger könnte doch, wenn er ehrlich ist und seine Mitmenschen nicht schädigt, durchaus elementare humane und christliche Werte leben. Aber das kann und will die Kirchenführung nicht sehen und anerkennen. Groethuysen fasst die Überzeugung des nicht – kirchlichen Bürgers zusammen: „Der Bürger bedarf der kirchlichen Vorstellungswelt nicht mehr. Er findet in seinen eigenen Anschauungen und Wertungen und nur in ihnen das, dessen er bedarf, um das gesellschaftlich – wirtschaftliche Leben zu regeln und seine Ansprüche zur Geltung zu bringen.“ (210).
Damit, so müsste weiter geprüft werden, wurde der Bruch und Widerspruch eingeleitet zwischen einer Moral der kapitalistischen Wirtschaft und einer religiösen, traditionell christlichen Ethik. Weil diese sich dem Bürgertum gegenüber als total abweisend verhielt, wurde christliche Ethik später, auch selbst in reflektierter Form, als Gestaltungskraft des maßlos werdenden Kapitalismus ignoriert.

4.
Einige empirische Studien:
Wer anschauliche, eher journalistische Einschätzungen zur Religiosität der Pariser Bevölkerung wenige Jahre vor der Revolution 1789 studieren möchte, dem empfehle ich Louis Sébastien Merciers Werk „Mein Bild von Paris“, auf Deutsch, als Auswahl, als Insel Taschenbuch 1979 erschienen. Die französische Ausgabe „Tableau de Paris“ umfasst 2.400 eng bedruckte Seiten. Mercier, gesellschaftskritischer Autor und Romanschriftsteller, lebte von 1740 bis 1814 in Paris.
In der genannten deutschen Ausgabe gibt es unterschiedliche empirische Beobachtungen und Notizen. Etwa ein Kapitel mit dem Titel „Messen“. Darin beschreibt der Autor, wie die vielen und viel zu vielen Priester in Paris dort ihre (lateinischen, still gesprochenen) Messen „daher beten“ (S. 134), um Geld zu verdienen. Für die Messen müssen die Gläubigen bezahlen, die Messen gelten dem ewigen Seelenheil eines verstorbenen Angehörigen. Aber, so beobachtet Mercier, die Teilnahme an diesen Messen geschieht ohne religiöse Betroffenheit. Den ganzen religiösen Kultus hält kaum noch ein gebildeter Pariser für erwähnenswert, geschweige denn für berührend und wichtig. „Wer heute über die Messen herzieht, riskiert im schlimmsten Fall, sich lächerlich zu machen… Witze über die Messen machen höchstens noch Friseurgehilfen. Soll sie zelebrieren, soll sie hören, wer sie mag. Zu reden gibt es gar nichts mehr über die Messen“, so Mercier (S. 137). Über den sehr lebendigen Aberglauben, dem die Frommen in einem Reliquienkult anhängen, schreibt er in einem Kapitel über die „Sainte Chapelle“ (110 f). Das Niederknien selbst in schmutzigen Straßen wird als Ausdruck einer oberflächlichen Frömmigkeit beschrieben, wenn ein Priester die Straße entlanggeht, sichtbar einen Kelch vor sich hin tragend, um Todkranken die Kommunion zu reichen. Dafür kassiert der Mitarbeiter oder der Ministrant dann im Haus des Sterbenden das Honorar. Eine interessante Beschreibung über die Riten, die man Sterbenden zukommen ließ… Mercier schreibt über den damals selbstverständlichen Zwang, regelmäßig zur Beichte zu gehen, wenn man denn eine kirchliche Trauung wünscht (331). Im ganzen beobachtet Mercier: Die meisten Beichtenden sind noch teils frömmelnde teils aufrichtige Bürgersfrauen, verschiedene Greise … sowie „Dienstmägde, die – gingen sie nicht zur Beichte – von ihrer Herrschaft als Diebinnen verdächtigt würden“ (330). Aufschlussreich ist auch das Kapitel „Sonn – und Feiertage“ (235 ff). „Die Kirchen bleiben also, abgesehen von den großen Feierlichkeiten, deren prunkvolles Zeremoniell noch immer eine gewisse Anziehungskraft ausübt, ziemlich leer“ (236).

5.
Als ein universal gebildeter „Mentalitätshistoriker“ hat Jean Delumeau (1923 – 2020), zuletzt Professor am Collège de France, die „Christlichkeit“ Europas studiert. Vor allem in seinem Buch „Stirbt das Christentum?“ (Walter Verlag, Olten, 1978), hat er sich mit dem gelebten, alltäglichen Christentum an der Basis auseinander gesetzt. Er kommt zu dem Gesamtergebnis: Es geht um eine vergangene „Welt, die, obwohl faktisch fast jedermann in einer Kirche hineingeboren wurde, immer ein christliches Missionsgebiet gewesen ist“ (S. 12). Mit anderen Worten: Die getauften Christen waren de facto Heiden wie in einem Missionsgebiet. Zu der Einschätzung kann Delumeau nur kommen, weil er als praktizierender Katholik die Kriterien der Christlichkeit von der kirchlichen Dogmatik übernimmt. Und er findet Unterstützung bei dem bekannten Mittelalter-Historiker Jacques Le Goff, der betont:“ Die Christenheit um 1500 ist beinahe ein Missionsland“ (S. 32). Dieses christliche Europa „war eher eine autoritäre Konstruktion, ein gemeinsamer Rahmen für die Völker, als der bewusste Glaube der Massen an die Offenbarung“ (S. 46). In einem Vortrag über „Christenheit und Christianisierung“ im Jahr 1984 hat Delumeau erneut das Thema aufgegriffen, die katholisch-theologische Zeitschrift „Theologie der Gegenwart“ hat den Vortrag 1985 zugänglich gemacht. Die Veröffentlichung in Deutschland geschah sicher auch deswegen, weil Delumeau die besorgten Theologen des 20. Jahrhunderts beruhigen wollte. Denn seine zentrale These auch aus seinen anderen Studien lässt sich so zusammenfassen: “Heute sind eigentlich viele Europäer besser christlich gebildet als zu Zeiten der angeblich blühenden Christenheit früher“.

6.
Aber schon bald, spätestens 20 Jahre nach Delumeaus Studien, haben französische Religionssoziologen mit vielen Fakten dokumentiert gezeigt: Die Säkularisierung des Bewusstseins der Europäer spitzt sich heute förmlich zu. Während Delumeau noch ein Fragezeichen hinter seinen Buchtitel „Stirbt das Christentum?“ setzen konnte, so verwenden heute Religionssoziologen und ehrliche Theologen eher ein Ausrufungszeichen hinter diesen Titel: Ja, das Christentum, verstanden als dogmatische Organisation der großen Kirchen, stirbt langsam. Und dazu gibt es zumal in Frankreich viele sehr erhellende Studien vor allem von Religionssoziologen und Historikern. (Man denke etwa an eine Studie „Les Francais sont – ils encore catholiques?“ (hg. Von Guy Michelat u.a.), Paris 1991)

7.
Der Historiker Prof. Guillaume Cuchet hat 2018 seine Studie veröffentlicht “Comment notre monde a cessé d etre chrétien“ („Wie unsere Welt aufgehört hat christlich zu sein“). Das Buch mit dem Untertitel „Anatomie eines Zusammenbruchs“ bezieht sich auf die Situation in Frankreich, erinnert etwa an den Philosophen und Mathematiker Blaise Pascal, der schon im 17. Jahrhundert betonte: „Das authentische Christentum ist immer eine Sache einer Minderheit gewesen“. Oder an den dänischen Philosophen Kierkegaard wird erinnert, der im 19. Jahrhundert betonte: “Das Christentum existiert eigentlich nicht …Was ist das im Grunde für eine furchtbare Komödie im ganzen Land, das sich christlich nennt“ (zit. s. 12). Cuchet wendet sich dann aber sehr ausführlich einer langen Liste von Studien einer auch kirchlich orientierten Religionssoziologie zu, die alle Leidenschaft darauf verwendet(e), Statistiken zum Gottesdienstbesuch in den unterschiedlichen Regionen Frankreich während vieler Jahre zu erheben. Ausführliches Kartenmaterial wurde über all die Jahre angelegt, etwa von dem bekannten Religionssoziologen und Priester Fernand Boulard. „Keine Kirche in der ganzen Welt hat sich (wie die katholische Kirche in Frankreich CM) zu derartigen Übungen der soziologischen Selbstanalyse hingegeben“ (S. 26).
Wer versucht, angesichts der vielen, immer wieder neuen Studien eine Art Gesamteinschätzung zu formulieren, muss erkennen: Die in Frankreich viel besprochene „déchristianisation“ (Entchristlichung) hat sehr früh schon begonnen, schon vor dem Beginn der 3. Republik und den Gesetzen der laicité. Schon im 17. Jahrhundert wird dokumentiert, wie in bestimmten Regionen Frankreichs die getauften Katholiken sich von der Kirche distanzieren (vgl. S 75). Auch auf die Bedeutung der Religionsgesetze der Französischen Revolution muss hingewiesen werden. Dort, wo die Priester die “Zivilkonstitution für dem Klerus“ ablehnten, also die Revolution verurteilten, blieb die religiöse Praxis erhalten. Aber das ist nur ein Element für die Kirchenbindung. Wichtig bleiben vor allem die regionalen Unterschiede der kirchlichen Bindung in Frankreich: Es gab und gibt immer noch stark kirchlich bestimmte Gegenden, wie die Vendée oder die Bretagne UND auch Départements, in den die kirchliche Praxis de facto Null ist, wie im Département Creuse, das übrigens als einziges Département Frankreichs keinen eigenen Bischof hat (der zuständige Bischof sitzt in Limoges). Im Département Creuse “betreut” z.B. 1 Priester in 6 Pfarrgemeinden für ca. 200 Dörfer… Aber das am Rande.

8.
So sehr man auch, verglichen mit dem schwachen Stand der Religionssoziologie in Deutschland, überrascht ist, von der Fülle auch statistischer Studien und spezieller Karten in Frankreich: Die Frage, warum diese Kirche, die sich selbst „älteste Tochter der Kirche“ nennt, nun offensichtlich an ihr zahlenmäßig sichtbares Ende kommt, wird von Religionssoziologen nicht umfassend beantwortet. Dies ist eine theologische und religionswissenschaftliche Frage. Emmanuel Todd und Hervé Le Bras betonen in ihrer Studie „Le Mystère francais“ (2013), dass der französische Katholizismus als System von Glaubenshaltungen und Riten außerhalb eines begrenzten städtischen und eher auf Rentner bezogenen Milieus verschwinden könnte. (S. 83 im Buch von Cuchet). Warum? Die emanzipatorischen Bewegungen des Mai 68 werden als ein Grund genannt, auch innerkatholische Entwicklungen, wie die „Pillenenzyklika“ „Humanae Vitae“. Aber es wird nicht deutlich gesagt: Ein entscheidender Grund für das Verschwinden des katholischen Glaubens in Frankreich und anderswo in Europa sind die starre dogmatische Haltung der Kirchenführer, die Überforderungen eines vor allem alten, wenn nicht greisen Klerus, das Festhalten am klerikalen System, der Ausschluss der Frauen vom Amt sowie in den letzten Jahren: Die vielen nachgewiesenen „Fälle“ sexuellen Missbrauchs durch Priester und die Vertuschungen durch Bischöfe.

9.
Die Menschen, „ehemalige Kirchen-Mitglieder”, bleiben oft an der kulturellen, alten Welt des Katholizismus interessiert, etwa an den prächtigen gotischen Kathedralen und Klöstern, den lateinischen Gesängen und Arbeiten der Künstler. Aber wenn sich in dem Zusammenhang eine Glaubenshaltung entwickelt, dann ist sie nicht mehr oft auf die Organisation Kirche bezogen. Sondern aus solchen „kulturell – katholischen“ Erfahrungen in Kathedralen bildet sich jeder und jede dann seine individuelle Spiritualität. Die man allein lebt und bedenkt oder in kleinem privaten Kreis bespricht. Nach dem Besuch der Kathedrale kann dann selbstverständlich anschließend ein Zen-Buddhistischer Kurs besucht werden oder eine Yoga-Gruppe. Vielleicht auch einen philosophischen Zirkel, in dem die Bibel als ein Buch der Weisheit gelesen wird. So verändert sich die christliche Religion grundlegend, nicht nur in Frankreich. Verschwindet sie auch? Das sicher nicht. „Die Religion zieht um“, hat ein holländischer Theologe einmal gesagt. Nur: Die katholische Kirche beobachtet hilflos ihr eigenes langsames Verschwinden. Sie ist nicht imstande, von such aus undogmatische Gesprächskreise für die vielen Menschen anzubieten, die nach dem Sinn des Lebens fragen, vielleicht auch nach Gott, die aber keine Kirchenbindung mehr ertragen können….wohl aber dringend menschliche Gemeinschaften für ein reifes geistiges Leben suchen.
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Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Voltaire zeigt: Der christliche Glaube sollte sich von vielen Dogmen befreien.

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Gibt es einen einfachen, also einen weithin von Dogmen befreiten und von der Vernunft begründeten christlichen Glauben? Der Philosoph Voltaire ist davon überzeugt und er setzt sich in seinen Büchern dafür ein, meist in Auseinandersetzung mit dem dogmatischen Denken des Philosophen Blaise Pascal.
Es lohnt sich, Voltaires Erkenntnissen zu folgen. Gerade heute, wo die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche in Europa aufgrund eigenen Versagens verschwindet und spirituell Fragende von den vielen Lehren, Moralprinzipien und Dogmen zurecht nichts mehr wissen wollen…

2.
Ich beziehe ich mich auf das neue Buch des bekannten Philosophiehistorikers und Philosophen Kurt Flasch: „Christentum und Aufklärung. Voltaire gegen Pascal“ (2020). Es ist in vielfacher Hinsicht anregend und wichtig, es ist sozusagen eine viel ausführlichere Studie als der Essay: „Voltaire gegen Pascal“ aus dem Buch von Flasch „Kampfplätze der Philosophie“ (2008), dort die Seiten 331 – 347.
Um die durchaus aktuellen Gedanken Voltaires vorzustellen, muss an einige grundlegende Erkenntnisse, „Voraussetzungen“, erinnert werden, die Kurt Flasch in seiner neuen umfangreichen Studie vorstellt.

3.
Grundsätzlich gilt für den Philosophiehistoriker Flasch: Voltaire als Atheisten zu verstehen ist falsch (S. 412). Diese populäre, oberflächliche Deutung ist bis heute in kirchlichen Kreisen noch gängig, dieses Vorurteil verhindert eine für die Kirchen gefährliche, aber fruchtbare Auseinandersetzung mit Voltaire. Er war aber auch kein „Deist“, also ein Denker, der an einen fernen, an der Welt desinteressierten „Uhrmacher – Gott“ glaubt .
Voltaire war nicht nur Theist, (also bezogen auf einen transzendenten Gott, der sich um seine geschaffene Welt kümmert), sondern er war Christ, ein Christ allerdings der besonderen, der kritisch reflektierten Art. „Voltaire hat intensive theologiegeschichtliche Studien betrieben“ (S. 364). „Er hat das Wissen von Lorenzo Valla, Erasmus, Servet, Fausto Sozzini, Denis Pétau und Richard Simon zusammengefasst“ (S. 412), also das Wissen der bekannten Humanisten und historisch – kritisch forschenden Theologen und Bibelwissenschaftler im 16. Und 17. Jahrhundert. Diese genannten Wissenschaftler erschütterten das klerikale und machtvoll durchgesetzte System des veralteten üblichen Wissens. Sie wurden also an den Rand der damaligen Wissenskultur gedrängt, wenn sie nicht sogar als „Irrlehrer“ verfolgt wurden.
Aber „dieses Wissen hat Voltaire gegen Pascal zur Geltung gebracht. Er versuchte, den Grundbestand des Theismus zu sichern, indem er ihn von der Metaphysik auf die Moral herüberzog“ (ebd.). Flasch weist darauf hin, dass dieser Ansatz dann von Immanuel Kant eine ausführliche Vertiefung fand, als dieser Religion in der praktischen Vernunft gegründet wusste.
Noch einmal: Voltaire ist ein theistischer Christ der besonderen, der modernen Art. Jedoch: „Die Dogmen der Welterschaffung, der moralischen Weltregierung und der Gottebenbildlichkeit des Menschen hat er nie aufgegeben, ebenso wenig die christliche Ethik in einer nicht-augustinischen Interpretation“ (402). Voltaire hat sozusagen die Zahl der glaubenden Hypothesen reduziert, er hat dadurch die Menschheit entlastet von allerhand mysteriösem Ballast.
Voltaire weiß, in welchem tiefen geistigen Umbruch er lebt, er will ein vernünftiges Christentum bewahren. „Voltaire hielt das Christentum für gesellschaftlich wünschenswert, sogar für unentbehrlich (290). Und das ist etwas ganz anderes als das leidenschaftliche religiöse Engagement Pascals: Flasch schreibt: „Pascal rettete das Christentum indem er allen blutgetränkten mythologischen Tiefsinn, den er bei Moses, Paulus und Augustin finden konnte, zur Aktualisierung des Christentums aufbot. Vom Irrationalsten (=Erbsünde, C.M.) und Unmöglichen lenkte er dunklen Glanz auf den dogmatischen Altbestand“ (291).

4.
Voltaire will also, wie Pascal hundert Jahre zuvor, den christlichen Glaubens „retten“, so wörtlich Kurt Flasch, und zwar gegen andringende Freigeister und Atheisten, aber auch vor den maßlosen dogmatischen Ansprüchen der Hierarchen und ihrer Theologen. Pascal hatte dies noch auf seine Art etwa in den Notizen, den „Pensées“ versucht. Aber er hatte keinen Respekt vor der historischen Kritik der Bibeltexte oder der philosophischer Religionskritik. Pascal hatte sich absolut an das theologisch wie historisch – kritisch unbegründbare „Mysterium der Erbsünde“ gebunden, die Erbsünde rückte in den Mittelpunkt seines Denkens. „Er machte sie zur zentralen Idee des Christentums“ (S. 414). Die Verdorbenheit der ganzen Menschheit und die Teilhabe nur weniger Erwählter an der Gnade im Sinne des späten Augustinus war für Pascal entscheidend, er wollte das von ihm gedeutete totale Elend der Menschen durch Bezug auf das ideologische Konstrukt Erbsünde des späten Augustinus verstehen. Darin folgte Pascal auch der Bindung an Augustin, die die Reformatoren Luther, Calvin und später auch der katholische Bischof Jansenius bzw. die Jansenisten über alles pflegten und liebten.

5.
Mit vielen Argumenten und Belegen spricht Kurt Flasch auch in seinem neuen Buch von seiner wissenschaftlichen Abwehr der Erbsünden – Ideologie des Augustinus, die sich verheerend auswirkte in der Kirchengeschichte, nicht nur bis zu Pascal, sondern darüber hinaus. „Voltaire ruft Pascal zu, seine Argumentation (bezogen auf die Allmacht des Konstrukts Erbsünde) schaffe Atheisten“ (S. 415). Denn sie mache den Glauben lächerlich, indem behauptet wird: Später Geborene sollen schuldig sein an der Schuld eines Früheren, nämlich des Herrn Adam. Und diese Schuld solle sich durch alle Zeiten aller Völker im „Geschlechtsverkehr“ übertragen. Und überhaupt: Nur wenige Christen werden von diesem Zornes – Gott gerettet. Die meisten sind die „massa damnata“, die verurteilte Masse derer, die zur Hölle bestimmt sind von Gott persönlich.
Was für ein Grauen wird da behauptet, auch durch Pascal. Er mag ja hübsche Sätzchen zitierfähig über das Wesen des Menschen geschrieben haben seinen „Pensées“, aber etwas zynisch gesagt: Wäre er doch bloß nur Mathematiker geblieben…Ohne ihn hätte das Christentum vielleicht einen erfreulichen Anblick erhalten.
Die offizielle dogmatische Lehre von der Erbsünde ist für Voltaire also ein Konstrukt, ein Willkürakt, den Bischof Augustin gegen besser informierte Theologen (wie Bischof Julian von Eclanum) mit Gewalt durchsetzte.
Auch darauf hat Kurt Flasch seit Jahren nun auch in anderen Studien hingewiesen. Wird seine Forschung beachtet? Ich fürchte nein, wenn man nur z.B. bedenkt, dass dem „berühmten“ Eugen Drewermann nichts anderes einfiel, meine Abweisung der Erbsündenlehre in einem Essay für Publik – Forum als „atheistisch“ zu disqualifizieren. LINK
Es ist also immer die alte Leier, die Kirche glaubt, nur Kraft der Erbsünde bestehen zu können, was in diesem System so falsch ja nicht ist: Denn, so die Dogmatik, von der Erbsünde werden Menschen allein durch die Taufe befreit. Die Taufe aber spendet einzig der Klerus. Also ist der Klerus unverzichtbar, der Erbsünden-Erfindung sei Dank, besonders dir, lieber Augustin.

6.
Hier geht es um etwas anderes, genauso Wichtiges:
In seinem genannten neuen Buch befasst sich Flasch mit den hoch gebildeten italienischen Theologen und Reformatoren Sozzini, vor allem mit Fausto Sozzini(1539-1604) und Lelio Sozzini (1525-562). Um diese Reformatoren, die das klassische Trinitätsdogma aus guten Gründen, wissenschaftlich, historisch begründet ablehnten, bildeten sich Gruppen von Gläubigen, die dann Sozzinianer genannt wurden bzw. Polnische Brüder, weil sich die Sozzininis nach Polen flüchten konnten, das damals relativ tolerant war. Dort errichtete diese christliche Gemeinschaft eine viel beachtete Hochschule in Raków. Bekannt ist der polnische Theologe und Philosoph, der Sozzinianer Andreas Wissowatius (Andrzej Wiszowaty) (1608 in Filipów – 1678 in Amsterdam).
Die Sozzinianer bzw. die „Polnischen Brüder“ waren im Studium der christlichen Traditionen schon weiter als Pascal, „sie kannten die Vielfalt der historischen Wirklichkeit aufgrund ihrer Quellenstudien“ (158). Flasch bevorzugt in seinem neuen Buch die Schreibweise „Socinianer“, ich bleibe bei der üblichen.
Es ist wichtig, dass Flasch auf die Wirkungsgeschichte der Sozzinianer auf die Arminianer hinweist. Arminianer ist bekanntlich eine ältere Bezeichnung für die bis heute in den Niederlanden vor allem bestehende humanistische freisinnige christliche Kirche der Remonstranten (vgl. etwa S.352)
Flasch betont eine „Affinitiät“ Voltaires zu den verfolgten Sozzinianern: „Sie sahen Gott … als den Vater aller Menschen, also nicht nur einer Kirche, schon gar nicht mit Jansenius und Pascal als Gott nur der Auserwählten (S 366).

7.
Eine Art Zusammenfassung:
Kurt Flasch zeigt in seinem neuen Buch, wie Voltaire das Christentum und damit die sich „orthodox“ nennenden christlichen Kirchen von vier Dogmen befreite. Sie hätten, so Voltaire, keine Begründung in der Bibel, vor allem im Neuen Testament. Das alles ist keine „theologische Spielerei“! Voltaire betont: Diese Dogmen sind gefährlich, wenn sie gesellschaftlich und politisch gelebt werden.
Diese vier Dogmen sind:
Der Glaube und das Dogma, dass die Bibel wörtlich unmittelbar von Gott selbst stammt, die so genannte Verbalinspiration der Bibel.
Der Glaube und das Dogma, dass Gott eine Trinität ist, bestehend aus drei Personen und dass Jesus von Nazareth ewig-gleich mit Gott-Vater ist.
Der Glaube und das Dogma, das alle Menschen durch die Schuld des einen Manne, Adam, schuldig wurden (Erbsünde) und dass Jesus von Gott (dem liebenden Vater ?) zu einem Sühneopfer am Kreuz zur „Erlösung“ bestimmt wird.
Der Glaube und das Dogma, dass nur einige wenige wegen der Erbsünde von Gott zur Erlösung vorherbestimmt sind.

8.
Kurt Flasch kommentiert lapidar mit Voltaire: „Da ist kein Glaubensartikel dabei, der nicht Bürgerkrieg verursacht hat“ (S. 422). „Die endlosen (dogmatischen) Wortgefechte wurden Kriegsgründe. Nicht das Christentum war abzuwählen, sondern diese vier dogmatischen Unruheherde und die immer noch kampfbereiten Konvulsionäre“ (also Ultrafromme, charismatisch sich begeistert fühlende Christen, die ihren Glauben in Zuckungen und allerhand Geschrei ausdrückten, C.M.) (422).

9.
Kurt Flasch hält sich mit Aktualisierungen seiner Studien zurück. Am Ende seiner großen Studie „Christentum und Aufklärung“ (2020) deutet er seine Skepsis an: Die Kirchen werden sich wohl kaum für den Weg des einfachen und vernünftigen, von Voltaire beschriebenen Glaubens einlassen. Eigentlich bräuchte die moderne Welt ein anderes Christentum als das herschende. Aber das Christentum, also die großen, sich machtvoll gebenden Kirchen, sind alt geworden, starr, können sich nicht aufraffen zu einer dogmatischen Säuberung ihrer ewig mitgeschleppten Lehren. Die allermeisten Kirchen sind erstarrt, haben Angst vor Neuerungen auch dogmatischer Art, weil dies de Eingeständis eines Irrtums gleich käme. Aber dogmatische Irrtümer gibt es in der Ideologie der römischen Kirche nicht, alles einmal definierte Glaubensgut der Dogmen bleibt, auf Teufel komm raus möchte man sagen.

10.
Was bleibt? Daran denken, dass es noch kleine undogmatische christliche Kirchen gibt. Oder: Den eigenen spirituellen Weg allein oder in kleinen Gruppen gehen. Oder: Voltaire lesen oder eben auch die großartigen Studien von Kurt Flasch. Für ihn wie für uns ist Augustin alles andere als ein Heiliger, in seinen letzten 30 -40 Lebensjahren hat er die Kirchen bleibend vergiftet … mit seinem Erbsünden – Wahn. Manche Erkenntnisse aus seinen literarisch so schönen „Confessiones“ bleiben natürlich bedenkenswert.

Kurt Flasch, „Christentum und Aufklärung. Voltaire gegen Pascal“, Verlag Vittorio Klostermann, 2020, 436 Seiten, 49 Euro.

Von Voltaire empfehle ich als Einstieg das „Philosophische Wörterbuch“, das bei Reclam jetzt neu erschienen ist.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Welttag der Philosophie 2020: Welche praktische Bedeutung hat Philosophie heute?

Hinweise von Christian Modehn.

Dieser Beitrag wurde von mir vorbereitet als Grundlage für ein Gespräch in unserem religionsphilosophischen Salon am 21.11.2020, dem Welttag der Philosophie. Nun geht das nicht … wegen Corona. Aber vielleicht hat der eine oder die andere doch noch etwas Lust und vor allem Zeit, selbst, in der Einsamkeit des Nachdenkens, oder im Dialog in kleinstem Kreis, sich auf den Weg des Philosophierens zum Thema zu begeben: Was vermag Philosophie eigentlich heute.

1.
Müssen Philosophen – wieder einmal – beweisen, dass Philosophie heute not—wendig und hilfreich ist für die Gestaltung des individuellen Lebens wie für das Miteinander in Gesellschaften und Staaten? Ja, Philosophen müssen mit allem Nachdruck daran erinnern, dass das systematische und umfassend kritische und selbstkritische Denken (das ist Philosophie) auch heute unverzichtbar ist. Wer bitte schön, soll denn diese Fragen beantworten, etwa Geographen, Mathematiker, Ägyptologen oder Architekten? Also lebenswichtige Fragen wie zum Beispiel: Was ist Gerechtigkeit und wie sollte eine menschenwürdige gerechte Gesellschaft aussehen? Was ist der Maßstab, um etwa einen dem Anschein nach demokratischen Politiker als Diktator zu bezeichnen und ihn möglicherweise als Gefahr für die Menschheit in Pension zu schicken? Wer soll überleben in dem Fall, dass die hilfreichen Medikamente (auch Impfstoffe) für alle Betroffenen nicht reichen? Wer kann mir Wege zeigen, in meinem Leben einen Sinngrund zu entdecken, der das Überleben, geistig wie leiblich, ermöglicht? Ist der Mensch in seinem konkreten Dasein wirklich nur ein Resultat von allerlei Genen oder gibt es auch eine Freiheit des Geistes und des Denkens… Das sind Themen, mit denen sich vorrangig Philosophen befassen sollten und befassen müssen, selbst wenn es durchaus in allen (natur-)wissenschaftlichen Fachgebieten Menschen und speziell Forscher gibt, die über ihren nun einmal begrenzten Fachhorizont (diese fachliche Begrenzung muss ja um der Effektivität willen sein, Begrenzung ist also kein Vorwurf) hinausdenken und damit in den Bereich umfassend philosophischen, umfassend kritischen und selbstkritischen Denkens hinein gelangen.
Philosophie ist also über das spezielle „Fach“ hinausgehend eigentlich und wesentlich „Sache aller Menschen“. Nur: Einige betreiben das Philosophieren dauernd und systematisch forschend, andere, und das sind die meisten, philosophieren explizit gelegentlich, haben Einsichten, die sie im Alltagsgeschäft wieder vergessen.
2.
Damit wird schon Wichtiges angesprochen, wenn es um ein angemessenes Verstehen geht, was denn Philosophie ist. Dazu nur einige Hinweise. Sie werden publiziert anlässlich des „Welttages der Philosophie“ (am 21.11.2020), einer Initiative der UNESCO. Auch der „Religionsphilosophische Salon Berlin“ hatte deswegen in früheren Jahren eigene größere Veranstaltungen gestaltet.
Was also ist Philosophie? Darauf gibt es zahllose Antworten. Einige Elemente einer Beschreibung ihres Wesens scheinen mir gültig zu sein. Denn nicht alles, was behauptet, Philosophie zu sein, verdient diesen Namen. Man denke daran, dass jede Ideologie einer großen Firma sich „Philosophie“ nennt; da ist es fast schon erträglich, wenn Fitness – Studios die eigenen Trainingskonzepte oder Wohlfühlatmosphären als „Philosophie“ bezeichnen.
3.
Angesichts der aktuellen Beliebigkeit im Umgang mit der Philosophie bzw. den Philosophien, betone ich: Es gibt etwas Normatives, das kann nur etwas Geistiges sein, ohne das Philosophie als solche nicht auskommt. Und ohne Normatives ist kein humanes Leben möglich. Jeder Mensch hat seine Normen, die ihm das eigene Leben ermöglichen. Ob diese Normen immer wirklich umfassend human sind, ist eine andere Frage, die sich nur im philosophischen Disput klären lässt. Da kommt es dann darauf an, dass der einzelne der sich zeigenden Vernunft – Erkenntnis tatsächlich für sein eigenes Leben folgt.
4.
Philosophie beginnt immer und lebt immer in allen Gestalten philosophischen Ausdrucks vom Philosophieren. Philosophieren als Denken und Nach – Denken, als kritisches Fragen und sich selbst befragen, ist der lebendige Vollzug, ohne den es keine Philosophie gibt. Dieses zu betonen, mag banal erscheinen, muss aber angesichts der offensichtlichen Vielfalt der „Philosophie – Begriffe“ gesagt werden. So wie die Praxis des Musizierens, also etwas des ständigen Klavier-Übens und Klavierspielens den Pianisten erst „macht“, so wird man Philosoph durch ständiges Fragen, Nachdenken, Innehalten, Prüfen von Begriffen und allgemeinen Selbstverständlichkeiten. Weil nun aber der Mensch, und zwar jeder Mensch, sich durch Geist und Verstand und Vernunft auszeichnet gegenüber allen Tieren, (deswegen ist der Mensch als durch den Geist ausgezeichnet eben KEIN Tier), ist jeder Mensch grundsätzlich in der Lage, zu philosophieren und möglicherweise Philosoph zu werden.
5.
Die Texte, die den Anspruch haben, philosophische Texte zu sein, sind Ausdruck, „Objektivation“, des Philosophierens bestimmter Menschen, die das Philosophieren zu ihrem Lebensmittelpunkt gemacht haben. Auch Dichtung kann Philosophie sein, philosophische Erkenntnisse offenbare, selbstverständlich auch Kunst und auf andere Art auch Musik.
6.
Die Vielfalt der Einsichten, die philosophische Texte offenbaren, ist keineswegs Ausdruck einer gewissen intellektuellen Schwäche der Philosophie. Die Vielfalt philosophischer Einsichten auch zum gleichen Thema ist notwendig und richtig. Denn die Einsichten sind Ausdruck des Geistes einzelner Menschen oder kleiner Gruppen („philosophische Schulen“). Und zum Wesen des Geistes gehört, dass seine Vollzüge, wie Freiheit, Denken, Handeln, Entscheiden, Gerechtsein, Lieben, Hassen usw. niemals auf eine eindeutige Formel für alle Zeiten gebracht werden. Philosophie kann (und will!) niemals die Eindeutigkeit der Mathematik erzielen, und sie darf auch niemals mathematische Eindeutigkeit als Ideal anstreben. Philosophie als Selbstverständnis des Geistes hat es mit der bleibenden Offenheit des Geistes zu tun. Geist ist immer auch geschichtlich, das wissen wir als Individuen genau: Was man als Kind dachte hinsichtlich des Weltzusammenhangs z.B., kann nicht mehr das sich stets wandelnde Weltverstehen eines Erwachsenen sein. Im Disput, im Dialog, wird Wahrheit erschlossen, selbst wenn sie vorläufig ist und weiterer Dialoge später bedarf. Insofern ist Philosophie eine Art unendlicher Prozess. Und dies ist, noch einmal kein Mangel, sondern Ausdruck der Lebendigkeit des Geistes. Auch die exakten Naturwissenschaftler betonen immer wieder: Alle unsere Erkenntnisse sind letztlich vorläufig.
In der herrschenden Mentalität des Machens und Schaffens und Bewältigens hat das Vorläufige von Erkenntnissen keinen Platz. „Man“ will absolute Sicherheit und befragt Wissenschaftler und Ärzte, was sie für die Zukunft, etwa der Gesundheit, denken, man tut so, als könnten Wissenschaftler und Ärzte das so genau wissen. Wir leben in einer Gesellschaft, die das exakte und sichere Wissen, möglichst für alle Zeiten, zum obersten Gott erklärt hat. Man lebt in totaler Unsicherheit und sucht Sicherheit bei den Wissenschaften…
7.
Dem widerspricht Philosophie selbstverständlich. Sie ist nicht nur vielfältig, weil sie sich mit den grundlegenden Fragen des Lebens reflexiv befasst, wie Denken, Fragen, Glauben, Suchen, Wissen etc. Philosophie ist vielfältig, weil alle ihre Antworten – wie sollte es anders sein – in einer bestimmten historisch – kulturell geprägten Sprache gegeben werden.
8.
Das heißt nun aber nicht, dass es in der Philosophie nur um historisch bedingte „relative“ Einsichten gibt. Der einzelne hat als einzelner immer seine (oft unbewusste) Lebensphilosophie, die er naturgemäß ernst nimmt. Dennoch ist der einzelne eben immer auch Mensch, also ein „allgemeines“ menschliches Wesen, das also von bestimmten wesentlichen menschlichen Merkmalen bestimmt ist. Diese allgemeinen Merkmale muss jeder individuelle einzelne mit berücksichtigen für seine eigene Lebensphilosophie. Insofern gibt es immer nur den „allgemeinen Individuellen“. Die Krise auch unserer Gesellschaft besteht sicher auch darin, dass die vielen einzelnen nicht mehr die wesensmäßige Bindung an das Menschlich – Allgemeine sehen und leben wollen.
9.
So sind die Formulierungen des kategorischen Imperativs durch Kant zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort entstanden, wie sollte es auch anders sein? Aber diese historische Eingebundenheit der Formulierungen des kategorischen Imperativs bedeutet auch: Dieser kategorische Imperativ hat allgemeine und universale Bedeutung für jeden Menschen. Dass er erst gegen Ende des 18, Jahrhunderts formuliert wurde, bedeutet: Die Menschheit brauchte lange Zeit, um zu dieser Deutlichkeit zu kommen. Vorher gab es ja in vielen Kulturen, auch in China (Konfuzius), auch in der Bibel, Formulierungen der „Goldenen Regel“, die in ihrer Schlichtheit der Sprache durchaus einem universalen ethischen Imperativ nahekommen. Der Kategorische Imperativ ist zwar universal gültig als Maßstab des Handelns, das heißt aber nicht, dass er auch von anderen philosophischen Ansätzen kritisiert und ergänzt werden kann. Einige (wenige) philosophische Einsichten sind zwar universal gültig, aber sie nicht im Unterschied etwa zu Glaubensdogmen der römischen Kirche unantastbar und in der Sprachgestalt unwandelbar. Philosophieren und Philosophie ist ein lebendiges, sich selbst entwickelndes Geschehen des Geistes.
10.
Philosophieren bietet also für selbstkritisch nachdenkliche Menschen durchaus Gewissheiten, die inmitten des Daseins und zum Überleben unverzichtbar sind. Der kategorische Imperativ wurde genannt. Hinzu kommt die philosophische Abwehr all derer, die sich als Meister vieler absoluter ideologischer Lehren aufspielen, etwa im religiösen, kirchlichen Bereich oder innerhalb atheistischer Kreise, die sich als atheistische Dogmen aufspielen. Hinzu kommt die Einsicht, dass wir oft in Selbst – Widersprüchen leben, das klassische und einfache Beispiel ist etwa der Satz: „Es ist doch alles relativ“. Oder: „Es gibt keine Wahrheit“ Oder „Alles und alle sind sinnlos“. Für Philosophen haben solche Sprüche keinen Bestand vor der Vernunft. Wer kann auf Dauer in Selbstwidersprüchen leben? Offenbar viele, denn sonst würden sie den Einsichten ihrer Vernunft in ihrer Lebenspraxis entsprechen…
11.
Die Hauptaufgabe der Philosophie heute, in Corona -Zeiten zumal, sind die Fragen der Ethik, darauf weist die UNESCO zum diesjährigen Welttag der Philosophie hin. Und dieser Hinweis ist berechtigt, keine Frage.
12.
Ich meine noch dazu In diesen Zeiten der tiefen Krisen: Corona, Demokratie-Abwehr durch Trump und andere Autokraten; Klimakatastrophen, zunehmende Armut usw., ist eine andere philosophische Frage dringend. Und ich sage philosophische Frage und nicht theologische Frage: Wie können wir im philosophischen Denken einen tragenden Sinngrund unseres Lebens entdecken, sozusagen im transzendierenden Nachdenken, das Hegel das „Grenzen-Überschreiten hin zum Absoluten“ nannte? Wenn diese Frage eine gültige vernünftige Antwort findet, werden auch ethische aktuelle Probleme in ein ganz anderes Licht gestellt. Es wird dann nämlich in der Vernunft eine den Menschen, die Welt, gründende „göttliche“ Vernunft wahrgenommen. Sie kann in Zeiten des massiven Zusammenbruchs des alten kirchlich – dogmatischen Glaubens eine neue Gewissheit im Leben geben, ohne dass dabei der alte Vorwurf des „religiösen Opiums“ wiederholt werden muss: Denn dieser vernünftige „göttliche“, „ewige“ „Lebensgrund“ befreit gerade zum Tun, auch zum politischen Tun zugunsten der Gerechtigkeit für alle.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Hannah Arendt: Politisch denken in dieser Zeit der globalen Krisen

Hinweise von Christian Modehn am 11.5.2020

Der folgende, etwas ausführliche Hinweis auf Hannah Arendt wurde aus Anlass der großen „Hannah Arendt Ausstellung“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin zusammengestellt.
Diese vier Beiträge habe ich 2016 geschrieben. Sie können heute hilfreich sein, als Inspiration im Umfeld eines Besuches der Ausstellung. Oder, wichtiger noch: Wenn man sich angesichts des zunehmenden Rechtsradikalismus die Frage stellt nach Ursprung und Überwindung dieser Verirrung, dieses Wahns.

Wesentliche und zum Teil heute weit verbreitete Urteile von Hannah Arendt vor allem zum „Eichmann-Prozess in Jerusalem“ 1961 werden in der Forschung der letzten Jahre immer mehr differenziert, korrigiert oder zurückgewiesen. Dies gilt besonders für Hannah Arendts Einschätzung, Eichmann sei ein Repräsentant der „Banalität des Bösen“ gewesen. Die bekannte Historikerin Irmtrud Wojak hat (in ihrem Buch „Eichmanns Memoiren“, 2001) gezeigt, „dass Hannah Arendt sich von Adolf Eichmanns Verteidigungsstrategie (im Jerusalemer Prozess) täuschen ließ“. So fasst Franziska Augstein die wesentliche Erkenntnis Wojaks zusammen (in: Hannah Arendt, „Über das Böse“. Piper Verlag 2015, Seite 184). Hannah Arendt kannte auch nicht die Protokolle der Gespräche Eichmanns (in Argentinien) mit dem niederländischen SS Offizier Willem Sassen, da sagt Eichmann ganz klar:“ Ich war kein normaler Befehlsempfänger… sondern ich habe mitgedacht, ich war ein Idealist gewesen“ (a.a.O. 185).
In Jerusalem (1961) hat sich Eichmann dann als „gehorsamer Befehlsempfänger“ stilisiert. Wenn die Rede von der Banalität des Bösen bezogen auf Eichmann z.B. überhaupt einen Sinn macht, dann nur, um zu betonen: Dieser entschiedene, von der Nazi-Ideologie total durchseuchte Massenmörder war ein Typ der „Jedermänner“, wie Franziska Augstein sagt. Also nach außen hin brav wirkend, der gehorsame Durchschnittsbürger: Eichmann und die vielen anderen braven, gehorsamen Deutschen waren bereit, den von „oben“, dem NS Staat definierten Feind, die Juden, total zu vernichten. Diese Normalbürger wurden zu Massenmördern weil sie sich gehorsam in die tödlichen „Logik“ des NS Regime einfügten.
Der populär gewordene Hannah-Arendt-Slogan „Die Banalität des Bösen bezogen auf Eichmann“ bedarf also der Korrektur.
Immer wieder wird auch in aktuellen Publikationen daran erinnert. In einem Beitrag über Gabriel Bach, einen der Ankläger in Jerusalem 1961, veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung (23./24. Mai 2020, Seite 51) betont die Autorin Alexandra Föderl-Schmid: „Bach lasse es nicht gelten, Eichmann sei eigentlich nur ein schlichter Schreibtischtäter gewesen. Er habe Hannah Arendt damals angeboten, ausführlicher mit ihm zu sprechen“. Dann wird Gabriel Bach zitiert: “Ich weiß bis heute nicht, warum sie das nicht angenommen hat“. „Das Buch Arendts „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ habe er nur „überflogen“ und rasch wieder weggelegt“. „Es stimmt einfach so vieles nicht“.

Diese Hinweise machen auf die Grenzen der Studien Hannah Arendts aufmerksam. Diese Grenzen gilt es wahrzunehmen, angesichts der großen Popularität Hannah Arendts, populär, schon aufgrund ihrer leicht zugänglichen Sprache. Problematisch bleiben etliche ihrer Ausführungen: Dies gilt auch für ihre auch nach 1945 fortgesetzte Beziehung zu Martin Heidegger: Diese Beziehung berührte nicht nur das „Persönliche“, sondern: Heideggers Philosophie prägte in gewisser Weise auch ihr Denken noch nach 1945, darauf hat der Philosoph Emmanuel Faye hingewiesen. In Berlin, im Rahmen der Forschungen der FU, erscheint eine kritische Gesamtausgabe der Werke Hannah Arendts erscheinen. Dann wird noch mehr kritische Deutlichkeit möglich sein. (https://www.arendteditionprojekt.de/Neuigkeiten/Information_philosophie_29042020.html)

Es bleiben jetzt Fragen offen in der Interpretation ihrer Schriften. Darum ist auch die Auseinandersetzung mit den Studien von Emmanuel Faye in Deutschland wichtig. Hannah Arendt inspiriert zwar, aber sie ist keine umfassend nur positive, von jeglicher Kritik befreite, gar enthusiastisch gefeierte “Meisterin des Denkens”.

Die Ausstellung im DHM in Berlin wurde am 11.5. eröffnet …sie sollte bis zum 18.Oktober 2020 besucht werden.

1.
Hannah Arendt: Die Banalität des Bösen, die „lebenden Leichname“ und die Überflüssigen

Hannah Arendt legte Wert darauf, nicht (nur) als Philosophin (im „klassischen Sinne) zu gelten. Sie verstand sich ausdrücklich eher als Politikwissenschaftlerin, wobei selbstverständlich ihr origineller Blick auf politische Ereignisse und Politiker durchaus philosophische Prägungen (etwa durch die Methode der Phänomenologie) offenbart.

Dieser Blick, unverstellt und ohne ideologische Brille Phänomene zu sehen, wird wirksam in ihrer Beobachtung des Prozesses gegen Eichmann in Jerusalem 1961. Ihr Buch „Eichmann in Jerusalem“ trägt den – gleich nach der Veröffentlichung höchst umstrittenen – Titel „Ein Bericht von der Banalität des Bösen“. Damit wollte Hannah Arendt – entgegen vielfacher und tief verletzender Polemik – gerade NICHT den Völkermord an den Juden durch die Nazi Herrschaft als banales Geschehen darstellen. Sie wollte lediglich betonen: Einer der Hauptakteure der Vernichtung, Adolf Eichmann, sei eigentlich nicht ein unbeschreibliches Monster oder ein undefinierbarer Teufel oder sonst etwas Mysteriös – Bedrohliches! Sondern Eichmann ist ein banaler Durchschnittstyp, ein auf Gehorsam und Befehle empfangen und Befehle geben fixierter Bürokrat.

Dieser Täter (wie andere in der SS-Führung) ist banal, und gerade wegen dieser Alltäglichkeit beschreibbar und verstehbar und auf seinem Weg zum Schreibtischtäter “nachvollziehbar”. Nur wer das Böse „banalisiert“, also in den Alltag des Gewordenseins stellt, kann das Böse auch möglicherweise überwinden oder einschränken. Es müssen die Wege und Stufen beschrieben werden, die einen Menschen langsam zum Schreibtischtäter werden lassen. Das ist Hannah Arendts überzeugendes Argument! Die beispiellosesten Verbrechen der Menschheit werden von den gewöhnlichsten Leuten begangen. Die Philosophin Susan Neiman (Direktorin des Einstein Forums in Potsdam) hält in ihrem Buch „Das Böse denken“ zu recht die Studie Hanna Arendts zur „Banalität des Bösen“ für den wichtigsten philosophischen Beitrag zum Problem des Bösen im 20. Jahrhundert (Neiman, Seite 397, Suhrkamp).
1988 schrieb Ingeborg Bordmann (in: Freibeuter, Heft 36, 1988, S. 86): “Hannah Arendt versucht nicht, Eichmann zu entlarven, also eine verborgene Wahrheit hinter seinen Worten zu finden, sondern sie achtet darauf, wie Eichmann sich verhält, wie er redet, wann er stockt, verstummt oder in plötzliche emphatische Selbstdarstellung verfällt….Er erinnert sich nur an die Situationen, die mit den Wendepunkten seiner Karrriere zusammenfallen”. Eichmann lebt in einer geschlossenen Welt, seine “standardisierten Ausdrucks- und Verhaltensweisen sind nicht korrigierbar durch den Kontakt mit der Realität… Sein Gewissen ist systemkonform”. Hannah Arendts Eichmann Buch ist ein Bekenntnis zur Freiheit des Menschen. Und dieser menschliche Mensch besitzt eigentlich und immer die Fähigkeit, sich zu entscheiden und Verantwortung zu übernehmen. Bei Eichmann ist diese Fähigkeit der Verantwortung aber in einem langen Prozeß der Indoktrination von autoritären Verhaltensvorschriften Schritt für Schritt getötet worden. Das ist das eigentlich Böse an dieser Gestalt, dass diese Form des Absterbens von Verantwortung und Freiheit eigentlich immer wieder (bei allen Menschen) passieren kann. Das banale Böse ist in Hannah Arendts Sicht eigentlich wiederholbar. Denn es wütet, so ihr Bild, als das extreme Böse “wie ein Pilz auf der Oberfläche, der sich rasant verbreiten kann, wenn man den Pilz nicht ausreißt”, so Hannah Arendt in einem Brief an Gershom Scholem(vgl. Fn. 10 bei Ingeborg Normann, S. 94). Und Hannah Arendt geht noch weiter: Nicht die Zuverlässigen, die Treuen, die Stützen und gehorsamen Bürger sind diejenigen, die dem moralischen Zusammenbruch widerstehen. “Viel verläßlicher sind die Zweifler und Skeptiker, … weil sie daran gewöhnt sind, Dinge zu prüfen und sich eine eigene Meinung zu bilden…”(S. 92 in Freibeuter)

Und dieser Banalität des Bösen in Form der “Schreibtischtäter” begegnen wir heute vielfach, in der Kriegsführung, etwa im Einsatz von Drohnen, die ferngesteuert Bomben abwerfen und „eben“ zahllose „Kollateralschäden“ unter der Zivilbevölkerung bewirken. Oder im völlig verantwortungslosen Handeln gewisser Banker, die um ihres egoistischen Profits willen eine ökonomische Katastrophe und damit Schaden für Millionen Menschen in Kauf nehmen: immer sind es brave, ängstliche Männer, die die eigene Karriere für absolut vorrangig halten vor allen ethischen Verantwortlichkeiten…

Ein prominenter Schüler Hannah Arends ist Richard Sennett. In seinem Buch „Die Kultur des neuen Kapitalismus“ geht es ihm darum aufzuweisen, wie die neue Kultur, die von der New Economy der 1990er Jahre ausgeht, zu tief greifenden Veränderungen auf gesellschaftlicher und individueller Ebene führen. Sennett betont: Man muss darauf hinweisen, dass heute in der Ökonomie und Politik weltweit Massen sozusagen nutzloser Menschen „erzeugt“ werden, man denke heute an junge Arbeitslose zu Millionen in Spanien, Griechenland, Portugal usw. Oder an “Überflüssige” in den Slums der Großstädte Aftikas und Asiens…
Das kapitalistische System erzeugt förmlich permanent die überflüssigen Menschen, die zudem auch wissen, dass sie niemand braucht und vom System noch mit einer Minimalunterstützung manchmal noch gerade am Überleben erhalten werden.

Für Hannah Arendt stellten diese überflüssigen Menschen sozusagen die Basis dar, aus der die Mörderbande der Nazis ihre „Mitstreiter“ holten. Eine so genannte demokratische Gesellschaft und ein Staat, die ständig immer mehr „Nutzlose“ erzeugen, gefährden ihre eigene Zukunft.
Auch das ergibt sich aus einer Auseinandersetzung mit Hannah Arendts Werk. In ihrem Buch „Elemente und Ursprung totaler Herrschaft“ (1951) zeigt sie ausdrücklich, wie „der irrsinnigen Massenfabrikation von Leichen die historisch und politisch verständliche Präparation lebender Leichname vorangeht“. (S. 686, Serie Piper).
Damit meint sie: Die lebenden Leichname wurden „produziert“ vom Gesellschaftssystem, es sind die „Millionen Heimatlosen, Staatenlosen, Rechtlosen , wirtschaftlich Überflüssigen und sozial Unerwünschten“ (ebd.). Das totalitäre System des radikal Bösen konnte sich also nur entwickeln, weil so viele „überflüssige“ Menschen „produziert“ wurden. Denn auch die Henker und Täter fühlten sich als Nihilisten, sie lebten in dem Gefühl, dass ihr Leben sinnlos und überflüssig ist. Hannah Arendt warnt: Totalitäre Systeme können wieder „auftreten, wenn wieder hingenommen wird, dass es viele „überflüssige Menschen“ eben geben darf…
Die einzige „Therapie“ zur Rettung der wahren Demokratie ist für Hannah Arendt das aktive Leben, also das bewusste kritische und selbstkritische Handeln mit und für die Stadt, die Polis und die Gesellschaft. Wer das aktive Leben meidet, das Engagement gegen die Produzenten der „lebenden Leichen“, verfehlt sein eigenes Leben. So radikal ist die Botschaft Hannah Arends heute.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

2.
Ist Hannah Arendt gebunden an Heideggers eher braunen Denkweg?

Ein Hinweis auf ein verstörendes und inspirierende Buch des Philosophen Emmanuel Faye, Rouen

Am 12.5.2020 geschrieben:
Es ist interessant zu beobachten, dass manche Bücher, die sich auch sehr kritisch mit dem politischen Denken Hannah Arends befassen, in Deutschland kaum wahrgenommen werden. Das gilt etwa für das in Frankreich viel beachtete, sehr umfangreiche Buch von Emmanuel Faye, “Arendt et Heidegger”. Es hat in Frankreich seit seinem Erscheinen 2016 viele Debatten gefunden. Vor allem auch einige, zum Teil polemische Ablehnungen von Philosophen und Autoren, die sich “ihre” in jeder Hinsicht vorbildliche Hanna Arendt nicht nehmen lassen wollten.
Faye will nur darauf hinweisen: Dass Hannah Arendt stark an bestimmte Denkmuster von Martin Heidegger gebunden bleibt. Und dass sich deswegen konsequenterweise fragwürdige, problematische Äußerungen finden in ihren Büchern “Über die Revolution” oder “Vita activa”. In beiden Büchern legt Emmanuel Faye Aussagen, Tendenzen, frei, die mit einem demokratischen Denken und mit einer vorbehaltlosen Anerkennung und Verteidigung der Demokratie nicht so viel zu tun haben.
In einer Stellungnahme zu einer Rezension seines Buches in der Zeitschrift “La Vie des Idées” (Paris) macht Faye auf verschiedene Erkenntnisse aufmerksam: Heidegger ist für Hannah Arendt immer eine Art “Paradigma” des Denkens. Dabei betont Faye: “Ich kritisiere nicht die Person Arendt”. Aber von ihr wurde Heidegger zu einem Meisterdenker erklärt, “aufgrund ihrer Lobeshymnen auf ihn”. Wichtiger sind noch die Hinweise Fayes zu Arendts Buch “Vita activa”, in dem sie in gewisser Weise ihre Sehnsucht äußert nach einer “aristokratischen Politik”, verbunden mit einer Kritik an “egalitären Gesellschaften”. Eine Vorliebe für den Begriff des Aristokratischen bei Hannah Arendt steht im Mittelpunkt der Kritik Fayes.

Ich war einer der ersten in Deutschland, der auf diese Veröffentlichung des Buches von Emmanuel Faye 2016 reagiert hat. Als Hinweis verstanden! Hier noch einmal dieser Text, kurz nach Erscheinen von Fayes Buch. Und ich betone noch einmal: Dieser erste Hinweis sollte ein erster Anstoß zur Debatte auch in Deutschland sein. Diese kritische Debatte hat meines Wissens in Deutschland kaum stattgefunden. Als erste Information könnte vielen die auf Deutsch im Internet zugängliche Studie Fayes dienen:„Nationalismus und Totalitarismus bei Hannah Arendt und Aurel Kolnai“, in „Theologie-Geschichte. Beiheft 5/2012, Seite 61ff., Universitätsverlag Saarbrücken.
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In Frankreich spricht man in diesen Tagen von einem „livre choc“ und einem „séisme intellectuel“, also einem „intellektuellen Erdbeben“: Ausgelöst hat dieses der französische Philosoph Prof. Emmanuel Faye: Er ist weltweit bekannt geworden durch seine Studien über die Verstrickungen Martin Heideggers in die Nazi-Ideologie. Dieses erste, von ihm in gewisser Weise unterstützte Erdbeben, wird in vollem Umfang nun auch bestätigt durch die Publikation der „Schwarzen Hefte“ Heideggers.
Jetzt aber steht ein zweites “Faye-Erdbeben”, womöglich noch größerer Art, bevor: Falls sich nicht ein noch Kompetenterer durch die 560 Seiten umfassende Studie Fayes so durcharbeitet, dass man zum Schluss herauskommt: Der Heidegger-Kritiker Faye hat geirrt. Es geht in der neuen „minutiös“ genannten Studie Fayes um eine globale und radikale Dekonstruktion, im Sinne von Entzauberung, wenn nicht Zerstörung, der international doch eigentlich hoch geschätzten, und kann man wohl sagen viel gelesenen und “beliebten” Philosophin und Politik-Denkerin Hannah Arendt. Sie wird jetzt in der französischen Presse (Le Monde, 7. Octobre 2016, S. 7) als „maitresse“ Heideggers tituliert. Selbst nach 1945 sei sie ihm gewogen geblieben, und zwar auch in ihrer Philosophie! Und das ist das Ergebnis der Studie von Faye. “Le Monde”-Autor Nicolas Weill nennt das umfassende Faye Buch (erschienen im Herbst 2016 bei Albin Michel, Paris) eine „unerbitterliche Anklagerede“ gegen Hannah Arendt. Die Rezensenten betonen, Faye haben alle greifbaren Ausgaben und Ausführungen Arendts gelesen, und er sei zu dem Schluss gekommen: Sie habe in zahlreichen Werken, in Andeutungen, Ausführungen und Thesen letztlich die Nazi-geprägte Philosophie Heideggers nach 1945 unterstützt. Wenn sie etwa von den umstrittenen Judenräten in den KZs spreche, dann wolle sie damit die Juden mitverantwortlich machen für ihr eigenes „Schicksal“, eine These, die Heideggers sympathisch gefunden haben soll. Eine andere These Fayes, über die “Le Monde” berichtet: Wenn Arendt Adolf Eichmann als Beispiel für die “Banalität des Bösen” wählt, dann sei ihr positives Gegenbild der „penseur par excellence Heidegger“, also Heidegger als der herausragende Denker. Eine These, mehr nicht, denke ich. Nicolas Weill schließt seinen Bericht über dieses insgesamt verstörende und beunruhigende Buch: “Es fehlen vielleicht die Nuancen, damit dieses Bild (von Hannah Arendt) vollständig sei“. Eine kurze Besprechung im „Philosophie Magazine“, Paris, (Oktober 2016) berichtet: Faye halte das Denken Hannah Arendts für „fascisante“, also faschistoid. Eine ungeheuerliche Behauptung, die jeder, der Hannah Arendts Werke liest, wohl zurückweisen wird. Ist Hannah Arendt nicht immer dem Denken des Aufklärers Kants verpflichtet gewesen? Wie aber passen etwas Kants “Kategorischer Imperativ” mit Heideggers (willkürlich wirkenden) “Seins-Geschicken” zusammen? Wie mit einem Heidegger, der sich weigerte, überhaupt eine Ethik zu denken und zu schreiben, weil eben alles “geschicklich” sei…Und überhaupt: Hannah Arendts Erkenntnis zur absoluten Notwendigkeit des Sich-selbst-Reflektierens ist ein Kontrast zu Heidegger, der offenbar ein weites Stück seines langen Lebens in der Nähe zum antisemitischem Denken sich eben NICHT selbst kritisch reflektierte!

Die Diskussion über dieses Buch Fayes hat in Deutschland meines Wissens noch nicht begonnen. Diese verstörende Studie wird hoffentlich nicht davon ablenken, nun auch noch die nazi-freundlichen Briefe Martin Heideggers an seinen Bruder Fritz gründlich zu lesen und allmählich ein Heidegger-Bild zu entwerfen, das sich der Frage stellt: Was brauchen wir von Heideggers Denken heute wirklich noch? Wie durchsetzt ist seine Philosophie von der Nazi-Ideologie und dem Antisemitismus? Dass dies überhaupt der Fall ist, wird immer deutlicher. Nun aber auch Hannah Arendt in das offenbar braune Denken Heideggers einzubeziehen und nun auch ihre aufklärerische Philosophie für faschistoid zu halten, das ist, einem ersten Eindruck der Rezensenten in Frankreich nach, wirklich schwierig, wenn nicht perfide. Der total antisemitisch “verdorbene” Heidegger soll wohl dadurch als solcher weiter etabliert werden, dass er mit seinem Denken selbst seine „maitresse“ Hannah, beeinflusste, die Jüdin, die vor dem Holocaust flüchten musste! Ein “Erdbeben”, wie Le Monde” schreibt, ist dieses Buch? Oder bloß – wieder einmal – eine französische “Intellektuellen Erregung”?

„Arendt et Heidegger. Extermination Nazi und Déstruction de la pensée“. Autor: Emmanuel Faye. Verlag: Albin Michel, Paris, 560 Seiten. 29 €.

Copyright: Christian Modehn

3.
Hannah Arendt über Pluralität und Erfahrung des anderen: Sie haben ihre Wurzeln im Selbstgespräch des einzelnen.

Ein Hinweis auf ein neues Buch von Hannah Arendt.

Hannah Arendt hat als Flüchtling in den USA nur noch politische Philosophie bzw. politische Theorie betreiben wollen, das hat sie etwa auch in dem berühmten Fernseh-Interview mit Günter Gaus betont. 1954 hat Hanna Arendt an der Notre-Dame University Vorträge zu dem Thema gehalten, auch über Sokrates und Platon hat sie gesprochen. Damit zeigte sie, dass die klassischen Themen der klassischen Philosophie für sie doch auch selbstverständlich wichtig blieben; sie wollte diese nur ausdrücklich im Zusammenhang des politischen Zusammenlebens erörtern.

Jetzt ist im Verlag „Matthes und Seitz“ (Berlin) zum ersten Mal eine deutsche Übersetzung ihres Vortrags mit dem Titel „Sokrates. Apologie der Pluralität“ erschienen. Dieser eher knappe Text ist originell und bedeutsam für weitere Diskussionen, weil er die Erfahrung der Andersheit der vielen anderen Menschen (Pluralität) gerade IN der Erfahrung des Selbst begründet: Von Selbstbewusstsein, diesem klassischen philosophischen Begriff, spricht Arendt in dem Text – soweit ich sehe – nicht. Aber sie verweist auf die elementare Denkerfahrung, die sich abstrakt etwa so beschreiben lässt: Ich denke mich und erlebe mich dabei als den von mir Gedachten, wobei das von mir gedachte Ich in gewisser Weise von mir als dem Denkenden verschieden ist. Es ist also eine gewisse Spaltung, “Pluralität”, im Ich oder im Selbstbewusstsein sichtbar und erfahrbar. Also eine Art zweifache Gegebenheit des einen Ich, so dass Hannah Arendt tatsächlich meint: Das Ich ist in seinem Selbstbewusstsein pluralistisch: “In sich selbst trägt der Mensch die Signatur dieser Pluralität in sich” (Seite 60 in dem genannten Buch). Also ist die Vielfalt verwurzelt im Ich selbst, und nur aufgrund dieser pluralistischen Erfahrung kann der einzelne auch den anderen als den anderen erkennen. Dies ist die zentrale These in dem Buch. (Es bietet darüber hinaus und im Gang der Argumentation wichtige Hinweise zu einer Philosophie der Freundschaft oder zur Differenz Sokrates-Platon, darauf kann hier nicht näher eingegangen werden).

Diesen zentralen abstrakten Gedanken formuliert Arendt mit den Begriffen des im einzelnen immer schon gegebenen Selbstgesprächs: „Indem ich mit mir selbst spreche, lebe ich auch mit mir zusammen…. Die Menschen tragen die Signatur der Pluralität in sich“ (S.26 in dem genannten Buch). Das hat ethische Konsequenzen: Ich muss also mit mir (als dem gedachten Ich) ins Reine kommen; ich darf mit mir (als dem gedachten Ich) nicht im Widerspruch stehen. Ziel ist eigentlich: Ich muss mit mir übereinstimmen. Das ist der oberste Lebenssinn für Sokrates. Und Hannah Arendt zeigt in dem Buch, wie Sokrates dieses Mit-sich-Eins-Sein selber lebte und lehrte. Dieses Mit-sich-Eins-Sein ist ein Werden, ein Prozess, eine bleibende Aufgabe.

Wer als Ich diese dauernde Aufgabe erkennt, wird auch mit den anderen Menschen in seiner Umgebung geduldig umgehen, weil diese sich ja auch wahrscheinlich bemühen, mit sich selbst überein zu stimmen. Voraussetzung für eine humane Gestaltung der Pluralität bleibt für Arendt: „Die Einsamkeit mit sich selbst, der Dialog des Zwei-in-Einem ist integraler Bestandteil des Zusammenseins und Zusammenlebens mit anderen“ (S. 81). Nur im Mit mit sich selbst allein sein kann diese Entdeckung der inneren, eigenen Pluralität denkend wahrgenommen werden.

Bedrängend, wenn nicht zerstörerisch ist die Erfahrung, wenn die Nicht-Übereinstimmung des Ich mit sich selbst erlebt und dann aber ignoriert bzw. überspielt wird. Dann wird die Daseinslüge zum Gesetz des Ich.

Jedenfalls ist die innere Pluralität im Selbstbewusstsein des einzelnen für Arendt so elementar, dass sie das große philosophische Wort thaumzein, sich verwundern, darauf bezieht: Im Thaumazein, Erstauntsein und Sich-Wundern, wird ja die Urerfahrung beschrieben, mit der Sokrates und Platon – zunächst über die Sprachlosigkeit im Thaumazein – ins weitere Philosophieren fanden.

Das Ur-Erstaunliche ist also das Selbstbewusstsein, das mit sich selbst übereinstimmen soll, das also die Differenz der Andersheit in seinem Selbst sozusagen positiv gestalten kann.

Diese Begründung der Erfahrung der menschlichen Pluralität, also die Erfahrung des anderen, erscheint für viele wahrscheinlich neu und sicher erstaunlich. Man könnte meinen, Hannah Arendt sei insofern doch klassische Philosophin geblieben, als sie für die Erfahrung des anderen als anderen eine Art apriorische Struktur im Ich entdeckt bzw. freilegt. Diese Denkhaltung könnte man wohl transzendentalphilosophisch nennen. Vielleicht ahnte dies Hannah Arendt, und vielleicht verwendet sie deswegen nicht den klassischen Begriff Selbstbewusstsein. Um eine apriorische Struktur handelt es bei Hannah Arendts Hinweis dann doch, wenn sie auf das in sich plurale „Selbstgespräch“, wie sie sagt, hinweist als Voraussetzung, über die andere Person als andere Person wahrzunehmen und zu respektieren.

Gewonnen ist die wichtige auch politisch so relevante Einsicht: Wir Menschen können und sollen Pluralität unter den Menschen anerkennen. Sie ist normal. Ich sage: Sie ist apriorisch und gehört zum “Wesen des Menschen”, könnte man auch klassisch sagen. Pluralität unter den Menschen ist also etwas allgemein Menschliches, noch einmal anders gesagt, Pluralität – in Gleichberechtigung – ist also zu hegen und zu pflegen.

Die weitere Frage bleibt, die Hanna Arendt nicht beantwortet, ob denn die Erfahrung des “anderen” in mir selbst noch einmal eine andere Qualität hat, als jene Erfahrung im Ich-Du bzw. Ich-Wir, wenn ich dem anderen, leibhaftig vor mir stehenden Anderen, begegne. Ich denke, etwa Lévinas hätte dem zugestimmt. Der leibhaftige Andere ist für ihn wohl die Gründung erst meiner Ich-Erfahrung. Das unterscheidet Lévinas von Heideggers “Sein und Zeit”, wo die Freilegung der Strukturen der Existenz auch ohne den herausfordernden “Anderen”, das Du, das Wir, geleistet wird.So werden hier auch die Grenzen dieser Überlegung Hannah Arendts sichtbar, oder ihre Bindung an Heideggers “Sein und Zeit”?

Hannah Arendt lag daran, in einer Zeit kurz nach dem Holocaust und in der Nachkriegsgeschichte entschieden für die unabweisbare Pluralität der Menschen zu plädieren. Und für den Respekt dieser Pluralität einzutreten.

Hannah Arendt, Sokrates. Apologie der Pluralität. Matthes und Seitz Verlag, Berlin. 2016, 109 Seiten. 12 Euro. Übersetzung: Joachim Kalka.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

4.
Von der Macht der Kommunikation: Hannah Arendt. Eine Sonderausgabe des „Philosophie Magazin“.

Wer Hannah Arendt liest, wird ins (selbst)kritische Denken geführt und ins Streiten für und über die Demokratie verbunden. Ist es diese Sehnsucht nach einem radikalen-tätigen, aber stets erhellenden Denken, die so viele LeserInnen heute zu Hannah Arendt führt?

Die neue Sonderausgabe über Hanna Arendt der Zeitschrift PHILOSOPHIE MAGAZIN bietet wichtige neue Erkenntnisse, die zum weiteren Forschen und Lesen einladen. Das Sonderheft wurde von Catherine Newmark redaktionell inspiriert und verantwortet. Und es ist nicht übertrieben: Damit ist ihr ein kleines Meisterwerk gelungen. Dieses Sonderheft wird weite Verbreitung finden, es wird einen sicheren Platz haben unter den schon zahlreichen Einführungen ins Denken und Handeln Hannah Arendts. Es ist diese Verbindung von wichtigen Arendt-Texten mit neuen Interpretation und kritischen Hinweisen, die dieses Heft so wertvoll macht.

Hannah Arendt war eine Meisterin der Freundschaft und der liebenden Beziehungen, dazu schreibt Michel Legros einen schönen Beitrag unter dem schon Wesentliches sagenden Titel „Zwischen zwei Menschen entsteht eine Welt“.

Als sie in den USA, zuerst viele Jahre als Staatenlose in rechtlicher Schutzlosigkeit lebend, dann doch Karriere machte, gab es viele, die ihr Denken und ihre Schriften als „Journalismus abgetan haben“, wie ihr einstiger Schüler, der Dirigent und Autor Leon Botstein im Interview mit Catherine Newmark berichtet. Wie das Exil und die von den Nazis erzwungene Flucht aus Deutschland Arendts Denken beeinflusste, zeigt die Philosophin Stefania Maffeis (FU). „Der philosophische Standpunkt des Exils ist jener der Lücke und des Bruchs. Er steht nicht auf dem sicheren Boden der unhinterfragten Wahrheiten der Vergangenheit und kann auch seine zukünftigen Ziele nicht vorhersehen“ (S.55).

Es sind die Interviews, die Catherine Newmark leitet, die in dem Heft in meiner Sicht besonders herausragen. Die Gründerin des Hannah Arendt Zentrums an der Uni Oldenburg, Antonia Grunenberg ist auch vertreten. Sie stellt sich auch der eher spekulativen Frage, wie denn etwa Hannah Arendt auf den IS reagiert hätte: „Sie hätte mehr darüber nachgedacht, wie sich die westlichen Gesellschaften verteidigen gegen diese Gefahr, ob sie einknicken oder ihre plurale Öffentlichkeit leben und öffentlich verteidigen“, so Antonia Grunenberg (S. 74). Erneut und sehr zurecht wird in dem Heft auf die eigenständige Leistung Arendts hingewiesen, dass sie eben als eine der wenigen „PhilosophInnen“ über die Geburt nachgedacht hat: Mit jedem neuen Menschsein wird jeweils ein Anfang gesetzt, und deswegen „können Menschen die Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen“ (Arendt).

Besonders umstritten ist auch heute die viel zitierte Einschätzung Arendts, der Nazi-Verbrecher Adolf Eichmann sei eine typischer Vertreter für die Sichtbarkeit der „Banalität des Bösen“. Da finde ich die Hinweise der Philosophin Susan Neimann sehr erhellend: Hannah Arendt habe viele historische Details über Eichmann im Jahr 1961 eben gar nicht kennen können, als sie in Jerusalem den Eichmann-Prozess beobachtete. Noch wichtiger aber erscheint mir der Hinweis von Susan Neiman:. „Das Böse ist (für Hannah Arendt) nicht dämonisch und allumfassend, sondern nur die Summe von menschlichen Handlungen, oft gedankenlosen“ (S. 107). Neiman meint, Arendt habe in dieser „Relativität des Bösen“ eine Art philosophische Theodizee gesehen (S. 107). Praktisch heißt das: Mit besserem Denken und besserem Handeln können wir Menschen gegen das Böse vorgehen. „Die These von der Banalität des Bösen mag zwar historisch für Eichmann nicht zutreffend gewesen sein, aber für Millionen von anderen Menschen stimmt sie schon, Menschen , deren Absichten nicht dämonisch böse waren. Sondern irgendwo zwischen relativ niedrig und deutlich gut rangieren, aber ohne die es keinen Holocaust gegeben hätte“ (ebd.).

Eine andere, schärfere, Vernunft-skeptische Position vertritt die Philosophin Bettina Stangneth, die kürzlich das Buch „Böses Denken“ (bei Rowohlt) veröffentlichte. Sie sagt: „Das Denken ist ein Werkzeug. Und mit Werkzeugen kann man bekanntlich alles Mögliche anstellen – so wie man mit einem Hammer einen Nagel einschlagen oder aber die Schwiegermutter erschlagen kann, deshalb versuche ich, mehr über das böse Denken zu lernen“. Aber darüber wäre viel zu diskutieren, ob Denken überhaupt ein Werkzeug ist und ob nicht auch derjenige, der Böses denkt und Böse tut, sich meistens, wenn nicht gehirngeschädigt, doch wohl frei für diese Tat entschieden hat.
Und der Böse erlebt dieses Böses-Tun dann doch als seine Form seines privaten egoistischen Ego-Glücks und des nur für ihn subjektiven „Guten“. Womit gesagt sein soll, dass auch der Böse letztlich an eine Priorität des Guten (formal) gebunden ist. Das Gute ist also in der Wahrnehmung selbst noch des Bösen vorhanden und als Gutes in der Hinsicht nicht “totzuschlagen”. Das könnte heißen: Menschen als Wesen des Geistes, der Vernunft, sind an die Idee des Guten irgendwie “gebunden”. Aber diese interessanten “spekulativen” Fragen führen über das Heft hinaus.

Politisch sehr aktuell und sehr inspirierend ist das moderierte Gespräch Gesine Schwans mit Volker Gerhardt, die sich beide in den meisten Fragen zum Thema “Öffentlicher Streit in der Demokratie” einig sind. Sie sind sich auch einig, wenn es um die These von Hannah Arendt geht „Macht gründet auf Kommunikation“. Da wird sehr zurecht von beiden Philosophen daran erinnert, dass die Kanzlerin Merkel – etwa auch in der Flüchtlingspolitik – „gerade nicht kommunikativ war“, so Gesine Schwan (S. 142). …“und unsere Kanzlerin ist ganz besonders avers gegen öffentliche Kommunikation und gegen die Kommunikation von Alternativen“ (ebd). Volker Gerhardt sagt: „Die Politiker (Deutschlands, Europas) konnten schon seit langem wissen, was auf Europa zukommt, aber sie haben die Bürger nicht auf den bevorstehenden Ansturm eingestimmt… Aus der Sicht Hannah Arendts haben die Offenheit und die immer auch visionäre Kraft des Arguments gefehlt“ (S, 142).

Insofern möchte man hoffen, dass dieses Heft über Hannah Arendt auch von Politikern gelesen und besprochen wird. Gibt es das eigentlich, dass PolitikerInnen über ihre gemeinsame philosophische Lektüre öffentlich sprechen? Oder sind sie nur im hektischen Geschäft des politischen Agierens und Tuns befasst?

Zum Heft selbst eine kleine kritische Anmerkung: Ich hätte mir einen eigenen Beitrag gewünscht zu der Tatsache, dass Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus von 1964 ausdrücklich darauf besteht, sie sei keine Philosophin mehr sei, sondern eine Theoretikerin der Politik (S. 17). Diese ausdrückliche Abwehr seit ihrer Zeit in den USA, eben nicht mehr als Philosophin zu gelten, hat sicher ihre Gründe: Erkenntnis der Abgehobenheit „der“ (klassischen) Philosophie? Arendt schrieb ja noch bei Heidegger eine Doktorarbeit über die „Liebe bei Augustin“. Ein hübsches Thema?! Spielt etwa auch das Erleben der Spätphilosophie Heideggers (nach 1945) eine Rolle, dieses angeblich so unpolitische Stammeln von Seins – Erfahrungen, so dass Hannah Arendt nicht mehr als Philosophin, zu diesem „Club“ gehördend, gelten wollte?

Die Sonderausgabe des “Philosophie Magazin” über Hannah Arendt hat den Titel “Die Freiheit des Denkens”. Es ist im Juni 2016 erschienen, hat 146 Seiten, zahlreiche Fotos und Graphiken,Literaturhinweise usw. Es kostet nur 9,90 Euro.

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Vom Glauben religiöser Menschen und vom Glauben nicht-religiöser Menschen: Denken in Zeiten der Krise. 4. Teil.

Hinweise des Philosophen Jim Holt zu Richard Dawkins
Von Christian Modehn
1.
Über die oberflächlichen Argumente von Richard Dawkins gegen den Glauben an Gott ist schon vieles und vieles Richtige gesagt worden. Sein Buch „Der Gotteswahn“ (2006) hat trotzdem sehr viele Käufer, wahrscheinlich auch etliche LeserInnen weltweit gefunden. Die sagten stolz und befriedigt: „Seht Ihr, es gibt keinen Gott, sagt doch Meister Dawkins“.
Nebenbei: Man könnte wohl nachweisen, wie etliche polemische Publikationen von Michael Schmidt-Salomon (Giordano-Bruno-Stiftung) unter dem Eindruck des polemischen Bestsellers von Dawkins erst so richtig verbreitet wurden. Der ehemalige Vorsitzende des Humanistischen Verbandes HVD, Horst Groschopp, nannte solche Atheisten deswegen „Krawall-Atheisten“…
2.
Die Debatte um dieses oft sehr polemisch geschriebene Buch des Evolutionsbiologen Dawkins „Der Gotteswahn“ wird jetzt noch einmal weitergeführt durch eine kleine, aber erhellende Studie des auch in Deutschland bekannten US-amerikanischen Philosophen und Autors Jim Holt. In seinem neuen Buch „Als Einstein und Gödel spazieren gingen“ (Rowohlt, 2020) hat Holt ein Kapitel zu Dawkins Atheismus-Werbung publiziert, mit dem Titel „Dawkins und Deus“. Die 19 Seiten dieser Studie könnten eigentlich jene sehr ins Grübeln bringen, die noch immer Dawkins-Fans sind. Abgesehen von den Hinweisen Holts zur oft lächerlichen Polemik Dawkins stört ihn, „wenn Dawkins die Aufrichtigkeit ernsthafter Denker in Frage stellt“ (S.410). Der militante Atheist Dawkins versetzt, so Holt, „einen besonderen (intellektuellen) Tiefschlag“ (S. 410) etwa dem Philosophen Richard Swinburne. Dawkins schreibe in einer, so Holt wörtlich, „erklärten Feindseligkeit“ (410) gegen die Religion(en).
3.
Die Frage ist also: In wieweit kann man das sich philosophisch nennende Buch eines Biologen ernst nehmen, wenn dieser als Wissenschaftler feindselig zu argumentieren versucht?
Holt bring nur einige zentrale Argumente gegen Dawkins Verteidigung der Wissenschaftlichkeit des Atheismus vor.
Wichtig ist, dass Holt den klassischen „ontologischen Gottesbeweis“ nach wie vor für bedenkenswert hält. „Dawkins ist offenbar nicht klar, das Argument (des ontologischen Gottesbeweises), auch wenn es mittelalterlichen Ursprungs ist, verfeinerte moderne Versionen hat, die keineswegs leicht zu widerlegen sind“ (411). Wobei allen klar ist, dass ein so genannter „Gottes-Beweis“ alles andere als ein mathematischer „Beweis“ ist, treffender wird von Aufweis gesprochen…Kein geringerer als der Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell hat den ontologischen Gottesbeweis zumindest ernst genommen…Selbst die berechtigte Frage nach einer „letztgültigen Erklärung für das Entstehen des lebensfreundlichen Kosmos“ will Holt als treffend und berechtigt respektieren … im Unterschied zu Dawkins. Holt meint: Wenn man diese letztgültige Erklärung sucht, „dann ist es doch zumindest vernünftig, sich an die Gotteshypothese zu halten, oder?“ (412). Wer eine letzte Erklärung für unsere zufällige und vergängliche Welt sucht, so Holt, kann etwas, das „notwenig wie auch unvergänglich“ ist, „getrost Gott nennen“( 413).
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Jim Holt will keinen unschlagbaren Beweis für die „Existenz“ Gottes vorführen. Daran denkt er gar nicht. Er will nur einem Biologen (Dawkins) philosophisch zeigen, dass dieser sich gar nicht korrekt „Intuitionen“ (wie Dawkins selbst sagt) anvertraut: Dass er oft nur „Vermutungen“ äußert (416) und letztlich einem „darwinistischen Nihilismus“ (415) anhängt. Das sagt Jim Holt, der wahrlich kein Kirchenvertreter, kein klerikaler Apologet ist, sondern ein analytischer Philosoph, der die Mathematik zudem über alles schätzt. Im Grunde legt er Dawkins Buch „frustriert“ (416) beiseite. Holt weiß: Für oder gegen die „Existenz“ Gottes gibt es keine definitiven, alles ein für allemal entscheidenden Argumente. Wie sollte es bei dieser umfassenden und wahrlich letzten Frage auch anders sein.
4.
Kluge, reflektierte Menschen werden also wohl noch lange Ja zu Gott sagen, wie eben auch andere kluge Menschen eben auch Nein zu Gott sagen. Und beide haben ein Wissen von der eigenen Haltung, die dann eine Glaubenshaltung genannt werden muss: Definitives über Gott oder „Nicht Gott“ wissen also beide nicht. Es sollte deswegen konsequenterweise auch keine mit dem Anspruch der letzten gültigen Wissenschaft auftretende atheistische Missionierung, keine atheistische Werbung à la Dawkins geben. So wie die Zeiten der theistischer Propaganda hoffentlich auch vorbei sind.
Unter diesen Bedingungen bleibt jeder tolerant und offen bei seiner stets als für ihn selbst relativ zu verstehenden religiösen Überzeugung. Denn auch der Atheismus ist als eine nicht beweisbare Überzeugung vom Nichtvorhandensein Gottes eben auch nichts anderes als eine Form, eine Gestalt des Glaubens.
Was hat das für Konsequenzen? So vereinen sich dann die Menschen als Gleichberechtigte, als „Brüder und Schwestern“ möchte man fast pathetisch sagen. Weil religiös Glaubende und atheistisch Glaubende eben zu der universalen menschlichen Gemeinschaft der Glaubenden gehören. Beide, religiös Glaubende wie nicht-religiös Glaubende stehen glaubend vor dem Geheimnis des Lebens. Welche Chance wäre dies, wenn sich diese Erkenntnis, dieses Wissen vom je eigenen Glauben, herumspräche. Und Humanismus dann gerade diese universale Haltung und Spiritualität wäre, sozusagen das “geistuge Dach” der Menschheit, unter dem sich religiös Glaubende wie nicht religiös Glaubende Menschen treffen.
5.
Dass es Glaubensformen unter religiös Glaubenden wie unter nichtreligiös Glaubenden gibt, die für den einzelnen wie für die Gesellschaft gefährlich sind, ist heute völlig klar. Diese der umfassenden Menschlichkeit widersprechenden Glaubensformen und Glaubensinhalte (etwa Fundamentalismen unter religiösen wie nicht-religiös Glaubenden) müssen kritisiert und ins Private zurückgesetzt werden. Maßstab dieser Kritik kann nicht ein Kriterium sein, das einer dieser Glaubensformen, ob religiös oder nicht religös, entnommen ist. Die Kritik an Fundamentalismen kann nur aus der allgemeinen Vernunft kommen, d.h. auch aus den Menschenrechten, den Werten der demokratischen Rechtsstaaten. Niemals aber können diese Kriterien aus dem Glauben einer Kirche stammen, sei es nun eine religiöse Kirche/Institution oder eine nicht-religiöse „Kirche“, also ein Verein, Verband, eine „Gesellschaft“, eine “Stiftung”…

Jim Holt, Als Einstein und Gödel spazieren gingen. Ausflüge an den Rand des Denkens. Rowohlt Verlag, 2020, 495 Seiten, 26 EURO.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Sicherheit oder Freiheit. Was ist wichtiger? Denken in Zeiten der Krise. 3. Teil.

Eine Herausforderung in diesen Zeiten.
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Die Debatte ist da oder sollte da sein: Sicherheit contra Freiheit. Was ist wichtiger?
Viele meinen jetzt: „Natürlich ist Sicherheit wichtiger. Sogar möglichst viel Sicherheit wollen wir“. Es geht schließlich um die Eindämmung und Überwindung einer Pandemie. Es geht ums Überleben.
In welcher Hinsicht ist es also berechtigt zu sagen: Freiheit, persönliche Freiheit, ist gegenüber der Sicherheit doch nicht so wichtig? Wer das sagt: Ist er sich der Konsequenzen dieser Aussage bewusst?
2.
Wie lange werden diese Einschränkungen gelten? Wer legt die Dauer der Einschränkungen fest? Wie wirksam werden Forderungen sein, zu einem festen Zeitpunkt dann die Einschränkungen wieder aufzuheben zugunsten der allseits geltenden Bürgerrechte in einem Rechtsstaat?
3.
Viele Demokratien stehen angesichts dieses Problems noch recht gut da. Das ist eine Hoffnung. Aber auch in Demokratien kann die demokratische Stimmung umkippen und von Rechtsextremen zur breiten „Bewegung“ manipuliert werden.
Autoritäre Regime nützen schon jetzt ihre Chance: Sie begrenzen mit den Einschränkungen durch das Corona- Virus das freie Zusammenleben auf Dauer noch weiter ein. Oder die Pressefreiheit wird noch weiter durch Zensur behindert. Das wurde schon dokumentiert. Man lese die Studien von „Reporter ohne Grenzen“. Klicken Sie hier. Wie schnell wird sich China zu einem totalitären Regime entwickeln? Haben die Herrscher in Ungarn oder Polen förmlich auf diese Situation gewartet, um nun die Bürgerrechte noch weiter einzuschränken und auf eine Diktatur mitten in Europa hin zu steuern? Werden sich die Leute in den USA an ihren tatsächlich ignoranten Machthaber Mister Trump gewöhnen? Und sogar noch dessen absolut dummen Sprüchen glauben?
4.
Philosophisch und damit einer allgemeinen und begründeten Erkenntnis zugänglich, jenseits von bloßen Meinungen, gilt:
In der Debatte „Was ist wichtiger: Sicherheit oder Freiheit?“ müssen die zentralen Begriffe sozusagen präziser gefasst werden:
Sicherheit meint tatsächlich immer ein Sicherheitssystem, also immer gemachte Gesetze und Bestimmungen. Diese sind selbstverständlich nach einer Reflexion und in einem Willensentschluss bestimmter Menschen in die Wirklichkeit „überführt“ worden. Sicherheit hat eine geistige Basis, und diese Basis ist Reflexion, Vernunft und Wille. Diese Erkenntnis ist elementar, wird aber oft übersehen.
5.
Der gleiche Ansatz gilt auch für den Begriff Freiheit. Freiheit ist das Leben des Geistes: Der Mensch kann sich frei auf sein eigenes Denken beziehen und dabei elementar sein Selbstbewusstsein entdecken als die Basis seiner Reflexionen und Entscheidungen. Aber abgesehen von dieser Basis des inneren geistigen Freiseins als der Form des geistigen Bei-Mir-Selbstsein: Auch diese geistige Freiheit muss sich Institutionen der Freiheit schaffen, in denen diese menschliche Freiheit lebbar und sichtbar wird, dies ist der Rechtsstaat und die sind die Menschenrechte.
6.
So verändert sich unsere Ausgangsfrage zur Erkenntnis: Es geht eigentlich „nur“ um die Institutionen der Sicherheit und um die Institutionen der Freiheit. Beide sind Schöpfungen des menschlichen Geistes und dessen Kraft zur kritischen Reflexion. Beide sind in gewisser Hinsicht „Welten“, in denen man sich bewegt.
7.
Darum kann die Frage nur heißen: Ist die Institution der Sicherheit wichtiger als die Institution der Freiheit? Konkret: Ist die Institution der aktuellen Sicherheitsbestimmungen als Freiheitsbegrenzungen wichtiger als die Institution des Rechtsstaates und der Menschenrechte?
8.
Die Antwort ist klar: Die Institution des Rechtsstaates und der Menschenrechte sind wichtiger, fundamentaler, einzigartig. Die von der Sache her kleinere, weil prinzipiell zeitlich begrenzte Welt der Sonder-Sicherheits-Maßnahmen steht unterhalb der „Welt“ der Demokratie und der Menschenrechte
9.
Die Sicherheitsbestimmungen („Sicherheitsinstitutionen“) haben also nur vorübergehend und sehr genau demokratisch kontrolliert ihr Recht. Demokratisch kontrolliert heißt ja bereits: Es ist die Vernunft, die den Rechtsstaat ja erzeugt hat, diese Vernunft legt nun auch das Ausmaß der durchaus vernünftigen Sicherheitsbestimmungen fest.
10.
Wichtig ist nur zu erkennen: Sicherheit und Freiheit, verstanden als lebendige, wirkliche Institutionen, hängen ab von der Vernunft und leben nur dank der kritischen Kraft der Vernunft. Sie hat das letzte Wort.
11.
Wer nur innerhalb der Sicherheitswelt denkt, sich darin förmlich einschließt, der denkt und lebt begrenzt. Und das ist sogar gefährlich. Denn der Sicherheitsverteidiger/Fanatiker sieht das Ganze nicht. Wer im Horizont der Freiheit denkt und dieses ist ein Denken der Demokratie und der Menschenrechte, der denkt und lebt prinzipiell nicht nur größer, weiter, humaner, sondern auch universaler ist.
12.
Und dieses Denken der Freiheit als Denken der Demokratie und Menschenrechte muss heute aktiver werden: Es gilt nicht nur, an die bleibenden Korrekturen der Weltwirtschaft zugunsten des Klimaschutzes zu erinnern; es gilt zu warnen, dass vor lauter Resignation und „Aufbauwille“ nach überstandener Krise wieder die alten falschen Regeln der Umweltpolitik fortgesetzt werden.
13.
Genauso wichtig ist es innerhalb eines demokratischen Denkens und Handelns zu wissen: Die vielen Millionen Leidenden, also jetzt die Corona – Leidenden und Corona Toten in den armen Ländern dieser Welt (die von ultrareichen Diktatoren, umgeben von der entsprechenden so genannten Millionärs – Elite regiert werden) brauchen auch die Unterstützung der reichen Länder, reich immer noch im Vergleich zur Masse der armen Bevölkerung im Süden. Wer denkt im reichen Europa eigentlich daran? Was sagen wir dazu, wenn etwa das katholische Hilfswerk für Lateinamerika jetzt 100.000 Euro als „Soforthilfe“ für die Corona-Krise (in allen lateinamerikanischen Staaten!) zur Verfügung stellt. Während wir, auch unsere Regierung, mit Milliarden EURO für uns in Deutschland förmlich so um sich wirft. Wie die Lebensbedingungen unter dem Corona Virus in Peru aussehen, zeigt dieser Beitrag.
14.
Es ist nicht also das Denken innerhalb der engen Welt der Sicherheit, das jetzt Europa retten wird: Denn das Denken an die Sicherheit ist (fast) immer das Denken an die eigene Sicherheit, also auch an die nationale Sicherheit. Die Corona-Krise hat zum Aufflammen eines allumfassenden Nationalismus geführt: Aber an die Zukunft Europas, und damit der EU, gilt es zu denken. Und das kann man nur, wenn man aus der engen Welt des Sicherheitsdenkens heraustritt und sich vernünftig argumentierend innerhalb der Demokratie und der Menschenrechte bewegt.
15.
Weil Freiheit im emphatischen Sinne mit Vernunft identisch ist, hat natürlich immer die Freiheit als Vernunft den Vorrang. Denn nur die Vernunft kann die Formen der Sicherheit und der Sicherheits-Bestimmungen reflektieren und festlegen.
16.
Worauf es entscheidend ankommt, ist: Freiheit nicht banal als Freiheit zu verstehen, in der man alles tun und lassen kann. Entscheidend ist zu verstehen: freiheit ist, philosophisch gesehen, ein anderer Name für kriisch reflektierende Vernunft. Und die soll eigentlich das humane Zusammenleben bestimmen, auch die Fragen der Sicherheit.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin