Ein Hinweis von Christian Modehn am 14.4.2022.
1.Wir brauchen heute Orte, wo wir schreien können, brüllen, fluchen, oft auch ohne Worte. Nur diese laute Klage! Kein eleganter Klage-Gesang, sondern nur brüllendes Stammeln, weil wir Krieg, Mord, Massenmord, Völkermord, nicht mehr runterschlucken und verdrängen können.
2. Der Krieg Putins gegen die Menschen im demokratischen Staat Ukraine sprengt unsere Geduld. Wir können das Abschlachten nicht mehr ertragen und nicht die horrenden Fehler der demokratischen Politiker gegenüber Putin seit spätestens 2014. Wir möchten unsere Wut darüber auch rausbrüllen.
Das kann uns dann wieder zur Sprache zurückführen, zum Disput, zur politischen Aktion.
Aber jetzt wollen viele ihre maßlose Wut, die hilflos ist, erst mal rausbrüllen, als Zeichen eines verzweifelten Neins zu diesem Verbrecher, der sich Politiker nennt und viele Jahre hofiert wurde, auch von deutschen Politikern…Auf Demonstrationen darf eher nicht geschrieen werden.
3. Haben wir fürs Schreien noch entsprechend große Räume und Orte? Nein. Obwohl diese Gebäude herumstehen, diese leeren Kirchen, die nur ein paar Stunden pro Woche von ein paar Leuten genutzt werden, sonst aber verschlossen sind als Beweis dafür, dass Kirche eigentlich verschlossen ist für die Menschen von heute und sich nichts Neues einfallen lässt, um in Kriegszeiten den Menschen auch hier beizustehen.
4.Gewiss: Wir brauchen Gesprächsräume angesichts des Krieges, Begegnungsräume mit Flüchtlingen, Räume, die Solidarität organisieren.
Aber wir müssen auch an unser seelisches Leiden denken. Für eine Therapie wären Räume nötig, wo wir schreien dürfen.
5. Eine Erinnerung:
“Räume des Schreiens” habe ich in San Francisco Mitte der neunzehnhundertachtziger Jahre erlebt. Sie waren in Kliniken und in Hospizen eingerichtet. Hier konnten Menschen laut schreien und heulen und klagen in ihrer seelischen Qual, in den Stunden, wo sie gerade Freunde verloren hatten. Sie waren als Schwule an AIDS gestorben. Da konnten nur die hartherzigen Moralapostel fundamentalistischen evangekikalen christlichen Glaubens stumm bleiben oder die Schwulen als Schweine titulietren.
Diese Schrei-Räume waren „ehrlich“, das heißt: Sie hatten nichts von der vornehmen Verschwiegenheit der Abschiedsräume in Krematorien und auf Friedhöfen. In den Schrei-Räumen von San Francisco durfte wirklich gebrüllt werden. Schreien ist eine Sprache, die der Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit. Und auch die Sprache des Gebets, man lese bitte mal wieder die allgemein zugängliche Poesie der Psalmen.
Diese Räume des Schreiens hatten gepolsterte Wände, so dass die Außenwelt nicht gestört wurde. Sie hätte ruhig gestört werden sollen, aber die USA sind nun mal darauf bedacht, eine gewisse Sterilität zu pflegen.
Die Schreienden blieben meist unter sich, wenn nicht einige mitfühlende Freunde das Schwererträgliche mit ertragen und mit hören wollten.
6. Heute aber müssen wir schreien, angesichts des Krieges in der Ukraine, eines Krieges, der die ganze bisherige Welt-„Ordnung“ durcheinander schmeißt. Alles wird umgekrempelt, auch aller gute und vertraute Sinn geht weltweit verloren, wird bewusst vernichtet, bloß weil ein Verbrecher in Moskau sich diesen Krieg ausgedacht hat. Und dabei unterstützt wird von dem Chef der russisch-orthodoxen Kirche, dem Patriarschen Kyrill I., auch er, wie Putin, führendes KGB Mitglied und wie sein Ideal ebenfalls Multimillionär.
7. Ich habe schon vor zwei Jahren auf dieser website für Räume plädiert, wo wir schreien können als spirituell – philosophische Initiative, damals dachte ich daran wegen des Abschlachtens der Menschen in Syrien, ich dachte an die auf dem Mittelmeer krepierenden Afrikaner, an die Menschen in den Lagern in Libyen, in Nordkorea …
8. Schreien ist auch eine Therapie-Form bei Leiden im engeren, persönlichen Erleben. Auch hier ist Schreien eine Tat der Befreiung von Unerträglichem.
9. Ich empfehle, in den Städten, möglichst in Parkanlagen, „Häuser des Schreiens“ einzurichten. Vielleicht kleine Rundbauten, kahl die Wände, eher dunkel der Raum. Ohne Schmuck. Eher ein Raum „ohne alles“, ein Raum des Nichts. Und da können die Menschen, die das Unerträgliche der Politik, den Hass in der Welt, nicht länger runterschlucken können, nicht länger ersaufen können, wenigstens laut schreien. Das kann ohne Worte geschehen, vielleicht schreit man nur „Hilfe“ oder „Es ist genug“ oder „Ihr verdammten Mörder“ oder nur das flehentliche Gebet „Hört auf“. Der Raum sollte so groß sein, dass mehrere Menschen, selbstverständlich in unterschiedlichen Sprachen, dort schreien können.
10. Vielleicht treffen sich diese schreienden verzweifelten Rebellen danach, seelisch ein wenig erleichtert, in einem separaten Raum innerhalb des „Hauses des Schreiens“ wieder und verabreden sich zum Gespräch. Vielleicht auch zu einer Aktion zugunsten der besonders Leidenden. Zugunsten der Menschenrechte.
11. Natürlich wäre es, wie gesagt, viel einfacher, die vielen leerstehenden Kirchen als Orte des Schreibens einzurichten. Orte für Urnen-Bestattungen, Kolumbarien, sind manche Kirche, sogar in Deutschland, schon geworden. Warum nicht auch diese leer stehenden Kirche in etwas Lebendiges verwandeln, in Orte des Schreiens.
12. Vielleicht sollte ein Bild, als große Kopie, in einem sonst bildlosen Schrei – Raum hängen: Ein Gemälde, das der britische Maler Francis Bacon geschaffen hat und das in verschiedenen Formen Papst Innozenz den Zehnten (gestorben 1655) zeigt, nach einem Vorbild von Velasquez gemalt. Dieser Papst sitzt wie gefesselt auf einem Stuhl und brüllt. So wie, Papst Franziskus in seinen so prophetischen Weihnachtsansprachen vor den Kardinälen der Kurie auch am liebsten brüllen würde. … Natürlich war Innozenz der X. wie so viele Kirchenfürsten und Vatikan-Prälaten damals völlig haltlos. Also jähzornig brüllend. Aber dieses großartige Gemälde eines brüllenden Papstes geht tiefer: Weil selbst der so genannte Stellvertreter Christi und die Kirchen insgesamt absolut hilflos sind, bestenfalls noch schreien und brüllen können: Die Kleriker als Kleriker können den Mörderbanden weltweit keinen Einhalt gebieten. Der Glaube ist in der traditionellen Form absolut schwach. Ein Nichts? Wahrscheinlich: Den Päpsten und den Kirchen gelingt es nicht, mit Ethos und Glauben die Mörderbanden zu besiegen. Und dann reden sie von Erlösung. Da können die einzelnen nur noch schreien … und danach, seelisch erleichtert, auf die eigene Art Gutes tun. Vielleicht werden nur in kleinen Schritten Revolutionen vorbereitet.
13. Die Gemeinde der Schreienden ist ökumenisch und nicht-konfessionell. Sie ist über die etbalierten verschlossenen Kirchen hinausgewachsen, die bekanntlich wirklich oft “zum Schreien” sind … nicht nur wegen der Verbrechen sexuellen Missbrauchs durch Kleriker.
Copyright: CHRISTIAN MODEHN, Religionsphilosophischer Salon Berlin.
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Clara F. Janning schreibt uns:
Der Text „Räume wo wir schreien können“ ist mir aus dem Herzen gesprochen! Und dann wäre da ja, zur gedanklich-therapeutischen Unterfütterung, auch noch Arthur Janov mit seiner “Urschrei”-Therapie zu lesen – wobei ich meine, dass ein solches Zu-seinem-Schmerz-Gehen der professionellen, zumindest aber emotional intelligenten bzw. kompetenten Begleitung bedarf.
Goethes Tasso begnügt sich übrigens mit Wort und Träne, dank der von “einem Gott” gegebenen Gabe, “zu s a g e n, was [er] leide[t.
Das sei mit Dank für Ihre inspirierenden Gedanken (das utopische Denkmodell) hier zur Sache noch zitiert, mit besten Grüßen an den und in den Philosophischen Salon von Clara F. Janning
Ja, du erinnerst mich zur rechten Zeit! –
Hilft denn kein Beispiel der Geschichte mehr?
Stellt sich kein edler Mann mir vor die Augen,
Der mehr gelitten als ich jemals litt,
Damit ich mich mit ihm vergleichend fasse?
Nein, alles ist dahin! – Nur eines bleibt:
Die Träne hat uns die Natur verliehen,
Den Schrei des Schmerzens, wenn der Mensch [im Original: Mann] zuletzt
Es nicht mehr trägt – Und mir noch über alles –
Sie ließ im Schmerz mir Melodie und Rede,
Die tiefste Fülle meiner Not zu klagen:
Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.