Die vernünftige Religion fördern – den dogmatischen Kirchenglauben überwinden.

Zur Aktualität eines Vorschlags des Philosophen Immanuel Kant.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

(Die Zitate zum Kant-Buch beziehen sich auf die 2. Auflage von „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ , also mit dem Symbol B vor den Seitenzahlen…)

Diese zentrale These Kants wird hier erläutert:
Kant entwickelt in seinem Werk „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793) eine Religion der Vernunft, sie soll den „dogmatischen Kirchenglauben“ und „das herrschende Pfaffentum“, wie er sagt, überwinden. Die Vernunftreligion soll zur Religion der Menschheit werden, denn sie ist in der Vernunft allen Menschen zugänglich. So wird also im Denken selbst eine allgemeine Vernunftreligion konstituiert. Sie hat das Ziel, in der Praxis die Menschen und ihre Welt besser, humaner zu machen. Schon jetzt können religiöse Menschen die Freiheit der Vernunftreligion erleben und sich in einer „unsichtbaren Kirche“ vereint wissen. So können kirchenkritische Menschen eine elementare, einfache Spiritualität der Gott-Verbundenheit bewahren. Diese Spiritualität sieht den wahren Gottesdienst nicht in frommen Liturgien und Andachten, sondern ausschließlich in einer humanen Lebenspraxis. Kant weiß genau, dass diese seine Position den Weisungen Jesu von Nazareth entspricht, man denke an Jesu Gleichnisse („Barmherziger Samariter“) oder an Jesu Rede vom Weltgericht, Matthäus 25,31-46), in der Jesus einzig die guten Taten des Menschen als „letztlich“ entscheidend bewertet…
Kant geht soweit, die Vernunftreligion als den „allein selig machenden Religionsglauben“ (B278) zu bezeichnen.

Warum ist der Hinweis auf Kants Buch heute wichtig?
Kant entwickelt in seinem Denken eine auch der heutigen Problematik (d.h. im Sommer 2022) angemessene Form eines einfachen vernünftigen Glaubens. Das geschieht über die nach wie vor aktuelle Kritik des „Pfaffentums“ (B 277): Für Kant eine zentrale Herausforderung! Er schreibt: “Das Pfaffentum ist also eine Verfassung einer Kirche, sofern in ihrer ein Fetischdienst regiert, welcher allemal da anzutreffen ist, wo nicht Prinzipien der Sittlichkeit, sondern Statuten und Gebete, Glaubensregeln und Observanzen die Grundlage und das Wesentliche dieser Kirche ausmachen“ (B 277). Wie auch immer die Verfassung bzw. die Organisation dieser Kirche sein mag, „sie ist und bleibt doch unter allen Formen immer despotisch. In dieser Kirche herrscht ein Klerus, der der Vernunft entbehren zu können glaubt, weil der Klerus sich als einzig autorisierter Bewahrer und Ausleger des Willens des unsichtbaren Gesetzgebers (Gott)“ versteht. (B 277). Dieser Klerus kann „nicht überzeugen, sondern nur über die Laien befehlen“ (B 278). Die aktuelle Kritik an der römisch-katholischen Kirche findet sich darin wieder.

Nach wie vor lehrt die katholische Theologie, dass der menschlichen Vernunft “eine Wirklichkeit, eine göttliche Offenbarung, gegenübersteht, der zu entsprechen die menschliche Freiheit erst zu sich selbst bringt”. So der Theologe und Bischof von Regensburg Rudolf Voderholzer in der katholischen Wochenzeitung “Die Tagespost” am 22.9.2022, Seite 9. Die Aussage Voderholzers ignoriert: Auch die Texte, die als göttliche Offenbarung ausgeben werden, sind menschliche, historisch bedingte Texte, die also selbstverständlich der Deutung der allgemeinen Vernunft unterstellt sind. Nur der innere, herrschende Kreis der Offenbarungs-Anhänger (Klerus) behauptet, diese Offenbarungs-Texte der Bibel seien göttlich, also von absolut herausragender Qualität. Erst der Gehorsam diesen Texten gegenüber und dem deutenden Klerus könne den Menschen zu sich selbst bringen, d.h. als “heils-entscheidend” sind. Gibt es wirklich so viel Herrschaftsanspruch einer bestimmten Gruppe, Klerus? Damit sind wir bei der aktuellen  Problematik, auf die Kant, in dem Punkt wie so oft aktuell und gegenwärtig, sich bezogen hat.

Die aktuelle Situation:

Von Epochenwende und Zeitenwende ist jetzt ständig die Rede – nicht nur anläßlich des Krieges Russlands gegen die Ukraine. Tiefgreifende Veränderungen sind längst auch in allen Religionen zu beobachten. (Dazu weitere Hinweise in Fußnote 1.)
Dieser Beitrag bezieht sich nur auf Entwicklungen im Christentum.
Was die Kirchen in Europa und Amerika betrifft: Viele tausend Kirchenmitglieder kündigen ihre Mitgliedschaft auf. In der römisch-katholischen Kirche wird mit aller Traditionsbesessenheit durch den herrschenden Klerus, nicht nur im Vatikan, das alte Gerüst der patriarchalen Kirchenverfassung verteidigt… (Dazu weitere Hinweise in Fußnote 2.)

Die „Entkirchlichung“

Religionssoziologen zeigen: In Europa distanzieren sich die Gebildeten, die Künstler, die Wissenschaftler, die Kritischen, die Frauen im allgemeinen, die Homosexuellen, die jungen skeptischen Menschen, die Armen, die zum Prekariat Verurteilten von den Kirchen. Es findet eine grundstürzende, sehr breite Entkirchlichung statt.
Wichtig ist dabei: Diese hat ihre Ursache nicht nur in der Kritik der klerikalen Institutionen, sondern vor allem in der Abweisung der dogmatischen und moralischen Lehren der meisten etablierten großen Kirchen. Das offizielle Glaubensbekenntnis versteht fast niemand mehr, der Sinn des klassischen Bittgebetes erschließt sich nicht mehr; der Inhalt der vielen alten, aber immer noch gesungenen Kirchenlieder führt in ferne, mysteriöse (Traum) Welten …und so weiter.
Die Krise der Kirchen ist also eine Krise der Kirchenlehren.
Und genau an dieser Stelle wird der Vorschlag des Philosophen Immanuel Kant interessant und wichtig!
So neu ist Kants Vorschlag ja nicht, man bedenke, dass Voltaire energisch eine vernünftige Religion anstelle des klerikalen Kirchenglaubens forderte, (Fußnote 3), dass schon im Umfeld der Reformationen des 16. Jahrhunderts anti-trinitarische Positionen vertreten wurden (etwa von den Sozzinianer), dass bis heute eine protestantische Kirche lebt, die die Bindung an traditionelle Dogmen mit gutem Grund auf ein Minimum reduziert hat (Remonstranten, Fußnote 4).

Kants Vorschlag heute wahrzunehmen, ist also die Entdeckung einer Alternative zu herrschenden Kirchenwelten.

1. Religion bedeutet: Ein moralisch guten Lebenswandel wissen und gestalten.

Immanuel Kant hat in seiner Publikation „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ eine bis heute bewegende Antwort gegeben auf die damals wie heute belastende Krise des Kirchenglaubens: Sein philosophisch begründeter Vorschlag ist radikal: „Alles, was außer dem guten Lebenswandel der Mensch noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn“ (B 260 in der Ausgabe des Meiner Verlages, Hamburg, 2003). Und weiter: „Nur eine moralische (also dem Kategorischen Imperativ folgende) Herzensgesinnung kann Gott wohlgefällig machen“ (B 239). Und immer wieder diese These: „Die standhafte Beflissenheit zu einem moralisch guten Lebenswandel ist alles, was Gott von Menschen fordert (B 145). Und auch: „Diese Religion kann allen Menschen durch ihre eigene Vernunft fasslich und überzeugend vorgelegt werden“ (B 245). „Sie ist „in aller Menschen Herz geschrieben“ (B 239).

2. Die menschliche Vernunft entdeckt die allgemeine Religion

Kant hat das Buch, eine Aufsatzsammlung mit dem Titel „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ im Jahr 1793 veröffentlicht. Der Titel zeigt von vornherein: Hier wird Religion aus der allgemeinen menschlichen Vernunft entwickelt. Das Vorhaben ist ein geradezu revolutionärer Einschnitt innerhalb der Religionsgeschichte bzw. der Christentumsgeschichte, wobei es Beziehungen dieser Vernunftreligion zum Kirchenglauben gibt, dies wird später erläutert.
Man könnte den Titel von Kants Buch übersetzen: „Die Religion, die die Vernunft von sich aus mit ihren eigenen Möglichkeiten entwickelt“.

Dieses Buch macht einmal mehr deutlich: Kant ist alles andere als ein Feind der Religionen und der Gottesfrage, wie oft in populären Missverständnissen behauptet wird. Kant hat sich die mühevolle Freiheit genommen, in einem autoritär regierten Preußen unter Friedrich Wilhelm II., einem vielen spirituellen Absonderlichkeiten zuneigenden Herrscher, dieses besondere Buch zu veröffentlichen: Es weist mit Argumenten über die alte Welt der Kirchen als Institutionen hinaus. Die Aktualität haben schon viele Zeitgenossen Kants wahrgenommen. „Eine neue Auflage schon nach einem Jahr und zahlreiche Raubdrucke belegen das Interesse, das bis zum Tod Kants 1804 anhalten wird“, schreibt die Herausgeberin der genannten Ausgabe, die Philosophin Bettina Stangneth (Seite XI.)
Das Buch ist „ein ungemein vielschichtiges Werk und das auch gemessen an der ohnehin großen Komplexität Kantischer Schriften Überhaupt“, so Bettina Stangneth, (S. LIX.)

Der Kant-Text ist für heutige LeserInnen von der sprachlichen Konstruktion her oft nicht leicht zugänglich. Aber die Mühe der Lektüre wird belohnt durch neue Einsichten und Perspektiven, welche Auswege es gibt angesichts des aktuellen Niedergangs der Kirchen, der Klerusherrschaft und der Bindungen an viele Dogmen und Gesetze…
Hier wird nur ein kurz gefasster systematischer Durchblick durch das Buch geboten, dabei wird das „Dritte Stück“ (B 127 ff). und das „Vierte Stück“ (B 225 ff.) besonders beachtet.

3. Gegen den „Fronglauben“ (d.h. gegen einen Kirchenglauben, der sklavisch von den Laien nur Gehorsam verlangt).

Weil Kant die starke kontrollierende Macht der Kirchen, ihren Einfluss auf die Seelen der Menschen, kennt, kann er nur von einem „allmählichen Übergang“ vom Kirchenglauben zur allgemeinen Vernunftreligion sprechen (B 181).
Die umfassende „Errichtung dieser Vernunftreligion“ sieht Kant sogar noch in „unendlicher Weite von uns entfernt“ (ebd.) Das ist aber für Kant überhaupt kein Hindernis, diese Alternative dieser neuen „Weltreligion“, wie er sagt , im Denken zu fördern. Denn es steht allen Menschen jetzt sofort frei, die Vernunftreligion in sich selbst zu entdecken. Es sind in den Worten Kants vor allem die „natürlich-ehrlichen Menschen“, „welche die Religion nicht (wie die frommen Heuchler) zur Ersetzung, sondern zur Beförderung der Tugendgesinnung, die in einem guten Lebenswandel tätig erscheint, in sich aufnehmen“( B 313).
Diese „natürlich- ehrlichen Menschen“ bilden in ihrem moralischen Leben die unsichtbare Kirche, wie Kant sagt, auf das Thema wird noch einmal zurückzukommen sein.
Leider deutet Kant in seiner Kritik an faktischen Glaubensformen eine Art religiöser Ideologie nur an: Er spricht vom „Eigennutz, als dem Gott dieser Welt“ (B 243) … der Egoismus ist also der herrschende Götze dieser Welt.

Die Vernunftreligion soll die Menschen zu einem moralischen Leben inspirieren, ohne Moral (im Sinne des „Kategorischen Imperativs“) wird kein Frieden auf Dauer möglich sein. Erst wenn alle Menschen moralisch gut leben, also in ihrer Gott wohlgefälligen allgemeinen Vernunft-Religion leben, entsteht auch der „ethische Staat“, als ein Ziel der Weltgeschichte.

4. Der Inhalt des allgemeinen Vernunftglaubens.

Für Kant steht fest: Wer Gott als solcher ist, sozusagen in seinem eigenen, „inneren“ Leben, kann sich der Menschen im Denken nicht erschließen. Die Philosophen können nur sagen, „was Gott für uns als moralisches Wesen sei“, (B 211), also: wie der Mensch in der Beziehung zu Gott eher fragmentarisch Gott wahrnehmen kann. Aller Hochmut der klerikalen Dogmatiker ist damit gebrochen.

Diese drei Lehren gehören für Kant zu seinem allgemeinen Vernunftglauben, es sind Sätze, die sich in der Reflexion des Menschen auf sich selbst als endlichem geistigen Wesen zeigen:

„Erstens: Der allgemeine wahre (vernünftige) Religionsglaube ist der Glaube an Gott als den allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erde. Das heißt auch: Gott als moralisch heiligen Gesetzgeber wahrnehmen.
Zweitens der Glaube an Gott als den Erhalter des menschlichen Geschlechts, als gütigen Regierer und als moralischen Versorger der Menschheit.
Und drittens der Glaube an ihn als den gerechten Richter“ (B 211), ein Gedanke, der wichtig ist im Zusammenhang der Unsterblichkeit der Seele der Menschen.

Man könnte diese drei Grundsätze auch übersetzen, etwa in dem einen Satz:
Der Mensch sieht sich in seiner Vernunft von einer transzendenten, göttlich zu nennenden Wirklichkeit getragen; sie ruft zum humanen Handeln in dieser Welt auf, sie lässt dabei den Lebenssinn aufscheinen und die Grenze des endlichen Daseins im Denken überschreiten.

5. Was bleibt von den Traditionen des Kirchenglaubens?

Für Kant ist der Hinweis auf den allen Menschen immer zugänglichen Vernunftglaubens auch ein Akt der Befreiung. Er sieht den Kirchenglauben sehr kritisch, wenn er auch weiß, dass viele Menschen noch gar nicht in der Lage sind, sich aus den volkstümlichen kirchlichen Traditionen und Regeln und Weisungen zu befreien. Für die Verhinderung einer tiefgreifenden Reformation sieht Kant das„Pfaffentum“ (B 311) verantwortlich, am wichtigsten bleibt es, das Pfaffentum zu überwinden Pfaffentum ist die angepasste, „usurpierte“ Herrschaft der Geistlichkeit über die Gemüter, weil die Pfaffen meinen, „dass sie im ausschließlichen Besitz der Gnadenmittel“ sind (ebd.)

Kant lehnt also entschieden die „angemaßte alleinige Rechtgläubigkeit der Häupter einer Kirche“ (B 156) ab, weil sie behaupten, von Gott unmittelbar Befehle der Herrschaft empfangen zu haben (B 140). Der Klerus machte sich seine Wahrheiten selbst, sie führen ihn dazu, so genannte Ungläubige und Irrgläubige zu verfolgen (ebd.).
Aber die Vernunft zeigt: Die angeblich göttlichen Gesetze der Kirche sind nichts als Menschenwerk (B 150), sie beziehen sich etwa auf biblische Erzählungen angeblich historischer Geschichten. Diese Bindung an eine äußere Geschichtenerzählungen (angebliche „Fakten“) deutet Kant, modern gesprochen, als Entfremdung des religiösen Bewusstseins.. Der Kirchenglauben führt also , so Kant wörtlich, zu „Blödsinn des Aberglaubens und Wahnsinn der Schwärmerei“ ( B 143.)

Dieses deutliche Urteil heißt aber nicht, dass in dem allgemeinen Vernunftglauben nicht auch bestimmte Traditionen des Kirchenglaubens in neuer Interpretation (!) erhalten bleiben können. Das ist wichtig, weil sonst die Vernunftreligion als völlig abstrakte Erfahrung erscheinen mag. So wird etwa der „Kirchgang“, also die Teilnahme an Gottesdiensten in den Kirchen (B 308), neu gedeutet: Der Kirchgang ist für Kant kein „Gnadenmittel“, so, als könne sich der Mensch etwa durch häufigen Besuch der Messe die Gnade Gottes erwerben. Der Kirchgang dient hingegen lediglich der Erbauung des einzelnen, aber auch der „Darstellung einer Gemeinschaft der Gläubigen“.
Das Thema geistliche Erbauung führt wieder zur Frage, welchen Sinn hat noch das Beten? Kant betont: Mit seinen Gebeten macht der Mensch Gott keine Freunde; der Mensch soll bloß nicht glauben, Gott durchs Beten sympathisch zu stimmen. Beten ist menschlich gesehen nur der ausdrückliche Wunsch, „Gott in allem Tun und Lassen wohlgefällig zu sein“ (B 302), d.h.: Es geht also um den Erwerb einer menschlichen Gesinnung, sie will mit Gott verbunden leben, und das heißt: Den Weisungen der Vernunft, in der Gott spricht, zu entsprechen.
Jesus Christus wird als Lehrer des Evangeliums verstanden, das in sich auch moralische Weisungen enthält, die in einer allgemeinen Vernunftreligion wichtig sind. Für den Weisheitslehrer Jesus von Nazareth waren nicht Gesetze, Statuten („statutarische Religion“) wichtig, sondern allein die moralische Gesinnung der Frommen. Dafür bietet Kant viele Beispiele (B 240)

6.
Aus dem Kirchenglauben entsteht – langsam – die vernünftige Religion.

Es ist keineswegs so, dass Kant den Kirchenglauben und die Vernunftreligion als völlig getrennte Welten sieht. Der Kirchenglaube geht, die Geschichte betrachtend, der Vernunftreligion voraus. Aber schon im Kirchenglauben leben Fragmente der Vernunft: Sie wird gestaltet, weil jeder Mensch, auch der kirchlich Glaubende, eben doch immer auch ein Vernunftwesen ist, in unterschiedlichen Stufen der Reflexion freilich.
Es kann sich also langsam die Vernunftreligion im Auszug und Abschied vom Kirchenglauben bilden.

7. Worauf kommt es Kant an? Die „wahre unsichtbare Kirche“.

Dieses Projekt einer aus allen historischen Kirchen entstehenden Vernunft – Religion nennt Kant das Entstehen einer unsichtbaren Kirche (B 142), sie ist die „Vereinigung aller rechtschaffenen Menschen unter der moralischen Weltregierung“. Diese unsichtbare Kirche kennt keine leitenden Kirchenbeamten , sondern ein jedes Mitglied dieser unsichtbaren Kirche „empfängt unmittelbar von dem höchsten Gesetzgeber (Gott) seine Befehle (B 227). Alle wohldenkenden Menschen werden dann Diener dieser Vernunftreligion bzw. der unsichtbaren Kirche, „doch ohne dabei Beamte zu sein“, fügt Kant hinzu.
Die Idee einer unsichtbaren Kirche ist alles andere abwegig, wenn man bedenkt, wie viele Menschen, aus moralischer Gesinnung, wie Kant sagen würde, heute aus der Verpflichtung der Menschlichkeit, sich für die Menschenrechte einsetzen. Die Liste der authentisch – humanitären Organisationen, Gesellschaften und Gemeinschaften und NGOs ist lang: Warum sollte man nicht meinen, diese solidarischen Menschen aus vielen unterschiedlichen Kulturen, Sprache und Herkunftsreligionen bilden eine Art menschliche Gemeinschaft über alle Grenzen hinweg, verpflichtet den grundlegenden Weisungen der Humanität? Bilden sie also eine „unsichtbare Kirche“?
Leider haben die sichtbaren Kirchen es bisher versäumt, mit den Mitgliedern dieser unsichtbaren Kirche in ein theologisch explizites Verhältnis der Begegnung etc. zu kommen.

8. Kants Vorläufer! Vor-Denker!

Wenn Kant die Vernunftreligion als die Religion der einen Menschheit versteht, hat er durchaus Vorläufer. Man könnte an Voltaire denken, aber auch viel weiter bei Mystikern fündig werden, etwa bei Meister Eckart und seiner Lehre vom göttlichen Funken in der Seele der Menschen oder man denke an den großen modernen Mystiker Thomas Merton, er schreibt:“Was dem Christentum zugrunde liegt ist nicht einfach eine Anzahl von Glaubenssätzen von Gott…. Ganz im Gegenteil: Die Christen versäumen es nur allzu oft zu erkennen, dass der unendliche Gott in ihnen wohnt, so dass Er in ihnen ist und sie in Ihm sind“. (in Thomas Merton, „Sich für die Welt entscheiden“, Arbor Verlag, 2009, S 59).

9. Die Aktualität

Kants Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ ist eine Aufforderung, über das festgefahrene System der Kirchen hinauszudenken, und eben auch alternativ im Sinne der Vernunftreligion zu handeln. Kants Schrift, heute eher nur bloßes Studienobjekt einiger PhilosophInnen oder „Kantianer“, ist eine Einladung, weiterzudenken:Welche Spiritualität können spirituell interessierte leben in den Krisen der Kirchen.
Die Vorschläge Kants sind natürlich weiterzuentwickeln: Wie können etwa Gesprächskreise, kleine Haus/Salon-„Gemeinden“ entstehen von Menschen, die sich der einfachen Vernunftreligion verpflichtet wissen? Wie können vielfältige religiöse Texte, auch Bibeltexte, vernünftig interpretiert, einbezogen werden in diese einfache Vernunftreligion? Dass die FreundInnen dieser „einfachen Vernunftreligion“ auch politisch sich einbringen (sollen), steht ebenso fest, ihre besondere Solidarität gilt den vom Neoliberalismus und Kapitalismus ausgegrenzten und leidenden Menschen in der Nähe genauso wie in der Ferne. Sie wissen sich verpflichtet, es nicht zuzulassen, dass die Menschen in der Klimakatastrophe in den Abgrund stürzen und Gottes Schöpfung dem Nichts ausliefern…

10. Was fehlt?
Dieser Hinweis bietet keine umfassende Auseinandersetzung mit Kants Buch „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. Es fehlt hier die Auseinandersetzung mit Kants Darstellung des Judentums (etwa B 190). Kant stellt zum Beispiel die problematische These auf, das Christentum habe das Judentum „verlassen“, also überwunden. Die Herausgeberin des Buches, Bettina Stangneth, hat sich in anderen Publikationen ausführlich mit der Frage befasst, ob Kant als ein Antisemit zu betrachten sei, ob er sogar für Auschwitz verantwortlich sein könnte, wie manche abwegig behaupten. In einer Rezension zu der Studie „Antisemitismus bei Kant…“, Würzburg 2001 heißt es: „Die Autorin (Bettina Stangneth) legt jedoch überzeugend dar, dass diese Annahme irrig ist, da Kants antisemitische Äußerungen weniger in seinem aufklärerischen Vernunftverständnis als in tiefsitzenden, sozialisatorisch erworbenen Vorurteilen begründet sind. Seine antisemitischen und antijudaistischen Motive seien nicht so sehr im Zentrum seines Aufklärungsdenkens zu verorten, sondern beruhten größtenteils auf Gedankenlosigkeit“ (Quelle: https://literaturkritik.de/id/4505).

11. Das große Projekt
Es ist dringend, über Alternativen zum herrschenden, aber langsam in die Minderheiten-Position abrutschenden Kirchenglauben intensiv nachzudenken. Die schönsten Kirchengebäude, Kathedralen, werden sehr oft von sehr vielen nur noch als Museen wahrgenommen. Was Gebet, human – vernünftig sein könnte, wissen die wenigsten. Der Klerus klammert sich an seine Privilegien, aber er stirbt aus, mindestens in Europa und so weiter.
Wenn man den Mut hätte, einmal Bilanz zu ziehen, was die Kirchen im Laufe ihrer Geschichte alles angerichtet haben, an Gutem und Schlechtem, wird man – ernüchtert angesichts der dunklen, teils grauenhaften Kirchengeschichte- mit allem Nachdruck sich der Frage stellen müssen: „Wie lässt sich die allgemeine Vernunftreligion“ beleben, als neue religiöse Form der Verbundenheit mit Gott und dem Weisheitslehrer Jesus von Nazareth.
Aber: Bei der noch faktischen Macht der sterbenden und immer unglaubwürdiger werdenden Kirchen werden diese hier genannten Fragen sicher noch ein paar Jahre von den kirchlich immer gebundenen Theologen ignoriert, indem man wider besseren Wissens nach wie vor behauptet: Kant sei doch ein Feind des Christentums gewesen. Ich bin vom Gegenteil überzeugt: Kants Vernunftreligion „rettet“ förmlich das Christentum für heute und morgen.

Fußnote 1:
Buddhisten sind längst nicht, wie viele mein(t)en, a priori friedlich und freundlich, siehe das häßliche Gesicht des Buddhismus in Myanmar. In den verschiedenen Traditionen des Islam ist ein schwacher Widerstand gegen das herrschende fundamentalistische, also menschenrechtsfeindliche Tendenzen nicht zu übersehen. Im Judentum korrigieren liberale und reformerische Organisationen das Bild einer allmächtigen jüdischen Orthodoxie in Israel.

Fußnote 2:
Kräfte, die grundlegende Reformen, also eine Reformation des Katholizismus dringend verlangen, werden eingeschüchtert und abgewiesen. Das Gemeindeleben ist in vielen katholischen Gemeinden nahe dem Nullpunkt, weil nach katholischer Dogmatik nur ein zölibatärer Priester die Messe in den Gemeinden feiern, aber dieser zölibatäre Klerus stirbt aus, das wissen die obersten Kleriker, inklusive Papst, aber sie lassen sehenden Auges zu, wie die Gemeinden, also Formen des sozialen Miteinanders, aufgrund dieser Klerus-Fixierung sterben.
Die Liebe des Klerus zu volkstümlicher Frömmigkeit ist bis heute ungebrochen, etwa Wallfahrten, Heiligenverehrung, Kulte um heilige Knochen, Reliquien genannt usw. An die Verbrechen vieler Priester, „sexueller Missbrauch“, soll nur erinnert werden. Die römisch-katholische Kirche ist insgesamt ungläubig geworden.
Die evangelischen Kirchen werden immer mehr vom Geist des Evangelikalen geprägt, der die wortwörtliche Deutung der Bibel bevorzugt und die Sexual-Moral des 19. Jahrhunderts für „typisch christlich“ hält. Man denke auch daran, das bis heute weite Kreise der Evangelikalen in den USA zu den heftigsten Verteidigern von Trump bzw. der reaktionären Republikanischen Partei gehören.
Was die Orthodoxen Kirchen angeht, so ist deren Bindung an die nationalen und nationalistischen Ideologien ihrer „Stammländer“ im Osten Europas nicht zu übersehen, der oberste Kleriker Russlands, Patriarch Kyrill I. von Moskau ist als theologischer Kriegstreiber ein Verteidiger der mörderischen Aktionen des sich orthodox nennenden Staatschefs Putin.
Diese Andeutungen zur aktuellen Situation des Christentums müssen genügen, von Afrikas Kirchen wäre zu sprechen, von der dort herrschenden Macht der bunten Fülle evangelikaler Kirchen und der Pfingstgemeinden.

Fußnote 3: zu Voltaire: LINK

Fußnote 4: Remonstranten, Link zum Glaubensbekenntnis.

Immanuel Kant, „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. Felix Meiner Verlag Hamburg, 2003, mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Bettina Stangneth. 368 Seiten., 22,90 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Voltaire zeigt: Der christliche Glaube sollte sich von vielen Dogmen befreien.

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Gibt es einen einfachen, also einen weithin von Dogmen befreiten und von der Vernunft begründeten christlichen Glauben? Der Philosoph Voltaire ist davon überzeugt und er setzt sich in seinen Büchern dafür ein, meist in Auseinandersetzung mit dem dogmatischen Denken des Philosophen Blaise Pascal.
Es lohnt sich, Voltaires Erkenntnissen zu folgen. Gerade heute, wo die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche in Europa aufgrund eigenen Versagens verschwindet und spirituell Fragende von den vielen Lehren, Moralprinzipien und Dogmen zurecht nichts mehr wissen wollen…

2.
Ich beziehe ich mich auf das neue Buch des bekannten Philosophiehistorikers und Philosophen Kurt Flasch: „Christentum und Aufklärung. Voltaire gegen Pascal“ (2020). Es ist in vielfacher Hinsicht anregend und wichtig, es ist sozusagen eine viel ausführlichere Studie als der Essay: „Voltaire gegen Pascal“ aus dem Buch von Flasch „Kampfplätze der Philosophie“ (2008), dort die Seiten 331 – 347.
Um die durchaus aktuellen Gedanken Voltaires vorzustellen, muss an einige grundlegende Erkenntnisse, „Voraussetzungen“, erinnert werden, die Kurt Flasch in seiner neuen umfangreichen Studie vorstellt.

3.
Grundsätzlich gilt für den Philosophiehistoriker Flasch: Voltaire als Atheisten zu verstehen ist falsch (S. 412). Diese populäre, oberflächliche Deutung ist bis heute in kirchlichen Kreisen noch gängig, dieses Vorurteil verhindert eine für die Kirchen gefährliche, aber fruchtbare Auseinandersetzung mit Voltaire. Er war aber auch kein „Deist“, also ein Denker, der an einen fernen, an der Welt desinteressierten „Uhrmacher – Gott“ glaubt .
Voltaire war nicht nur Theist, (also bezogen auf einen transzendenten Gott, der sich um seine geschaffene Welt kümmert), sondern er war Christ, ein Christ allerdings der besonderen, der kritisch reflektierten Art. „Voltaire hat intensive theologiegeschichtliche Studien betrieben“ (S. 364). „Er hat das Wissen von Lorenzo Valla, Erasmus, Servet, Fausto Sozzini, Denis Pétau und Richard Simon zusammengefasst“ (S. 412), also das Wissen der bekannten Humanisten und historisch – kritisch forschenden Theologen und Bibelwissenschaftler im 16. Und 17. Jahrhundert. Diese genannten Wissenschaftler erschütterten das klerikale und machtvoll durchgesetzte System des veralteten üblichen Wissens. Sie wurden also an den Rand der damaligen Wissenskultur gedrängt, wenn sie nicht sogar als „Irrlehrer“ verfolgt wurden.
Aber „dieses Wissen hat Voltaire gegen Pascal zur Geltung gebracht. Er versuchte, den Grundbestand des Theismus zu sichern, indem er ihn von der Metaphysik auf die Moral herüberzog“ (ebd.). Flasch weist darauf hin, dass dieser Ansatz dann von Immanuel Kant eine ausführliche Vertiefung fand, als dieser Religion in der praktischen Vernunft gegründet wusste.
Noch einmal: Voltaire ist ein theistischer Christ der besonderen, der modernen Art. Jedoch: „Die Dogmen der Welterschaffung, der moralischen Weltregierung und der Gottebenbildlichkeit des Menschen hat er nie aufgegeben, ebenso wenig die christliche Ethik in einer nicht-augustinischen Interpretation“ (402). Voltaire hat sozusagen die Zahl der glaubenden Hypothesen reduziert, er hat dadurch die Menschheit entlastet von allerhand mysteriösem Ballast.
Voltaire weiß, in welchem tiefen geistigen Umbruch er lebt, er will ein vernünftiges Christentum bewahren. „Voltaire hielt das Christentum für gesellschaftlich wünschenswert, sogar für unentbehrlich (290). Und das ist etwas ganz anderes als das leidenschaftliche religiöse Engagement Pascals: Flasch schreibt: „Pascal rettete das Christentum indem er allen blutgetränkten mythologischen Tiefsinn, den er bei Moses, Paulus und Augustin finden konnte, zur Aktualisierung des Christentums aufbot. Vom Irrationalsten (=Erbsünde, C.M.) und Unmöglichen lenkte er dunklen Glanz auf den dogmatischen Altbestand“ (291).

4.
Voltaire will also, wie Pascal hundert Jahre zuvor, den christlichen Glaubens „retten“, so wörtlich Kurt Flasch, und zwar gegen andringende Freigeister und Atheisten, aber auch vor den maßlosen dogmatischen Ansprüchen der Hierarchen und ihrer Theologen. Pascal hatte dies noch auf seine Art etwa in den Notizen, den „Pensées“ versucht. Aber er hatte keinen Respekt vor der historischen Kritik der Bibeltexte oder der philosophischer Religionskritik. Pascal hatte sich absolut an das theologisch wie historisch – kritisch unbegründbare „Mysterium der Erbsünde“ gebunden, die Erbsünde rückte in den Mittelpunkt seines Denkens. „Er machte sie zur zentralen Idee des Christentums“ (S. 414). Die Verdorbenheit der ganzen Menschheit und die Teilhabe nur weniger Erwählter an der Gnade im Sinne des späten Augustinus war für Pascal entscheidend, er wollte das von ihm gedeutete totale Elend der Menschen durch Bezug auf das ideologische Konstrukt Erbsünde des späten Augustinus verstehen. Darin folgte Pascal auch der Bindung an Augustin, die die Reformatoren Luther, Calvin und später auch der katholische Bischof Jansenius bzw. die Jansenisten über alles pflegten und liebten.

5.
Mit vielen Argumenten und Belegen spricht Kurt Flasch auch in seinem neuen Buch von seiner wissenschaftlichen Abwehr der Erbsünden – Ideologie des Augustinus, die sich verheerend auswirkte in der Kirchengeschichte, nicht nur bis zu Pascal, sondern darüber hinaus. „Voltaire ruft Pascal zu, seine Argumentation (bezogen auf die Allmacht des Konstrukts Erbsünde) schaffe Atheisten“ (S. 415). Denn sie mache den Glauben lächerlich, indem behauptet wird: Später Geborene sollen schuldig sein an der Schuld eines Früheren, nämlich des Herrn Adam. Und diese Schuld solle sich durch alle Zeiten aller Völker im „Geschlechtsverkehr“ übertragen. Und überhaupt: Nur wenige Christen werden von diesem Zornes – Gott gerettet. Die meisten sind die „massa damnata“, die verurteilte Masse derer, die zur Hölle bestimmt sind von Gott persönlich.
Was für ein Grauen wird da behauptet, auch durch Pascal. Er mag ja hübsche Sätzchen zitierfähig über das Wesen des Menschen geschrieben haben seinen „Pensées“, aber etwas zynisch gesagt: Wäre er doch bloß nur Mathematiker geblieben…Ohne ihn hätte das Christentum vielleicht einen erfreulichen Anblick erhalten.
Die offizielle dogmatische Lehre von der Erbsünde ist für Voltaire also ein Konstrukt, ein Willkürakt, den Bischof Augustin gegen besser informierte Theologen (wie Bischof Julian von Eclanum) mit Gewalt durchsetzte.
Auch darauf hat Kurt Flasch seit Jahren nun auch in anderen Studien hingewiesen. Wird seine Forschung beachtet? Ich fürchte nein, wenn man nur z.B. bedenkt, dass dem „berühmten“ Eugen Drewermann nichts anderes einfiel, meine Abweisung der Erbsündenlehre in einem Essay für Publik – Forum als „atheistisch“ zu disqualifizieren. LINK
Es ist also immer die alte Leier, die Kirche glaubt, nur Kraft der Erbsünde bestehen zu können, was in diesem System so falsch ja nicht ist: Denn, so die Dogmatik, von der Erbsünde werden Menschen allein durch die Taufe befreit. Die Taufe aber spendet einzig der Klerus. Also ist der Klerus unverzichtbar, der Erbsünden-Erfindung sei Dank, besonders dir, lieber Augustin.

6.
Hier geht es um etwas anderes, genauso Wichtiges:
In seinem genannten neuen Buch befasst sich Flasch mit den hoch gebildeten italienischen Theologen und Reformatoren Sozzini, vor allem mit Fausto Sozzini(1539-1604) und Lelio Sozzini (1525-562). Um diese Reformatoren, die das klassische Trinitätsdogma aus guten Gründen, wissenschaftlich, historisch begründet ablehnten, bildeten sich Gruppen von Gläubigen, die dann Sozzinianer genannt wurden bzw. Polnische Brüder, weil sich die Sozzininis nach Polen flüchten konnten, das damals relativ tolerant war. Dort errichtete diese christliche Gemeinschaft eine viel beachtete Hochschule in Raków. Bekannt ist der polnische Theologe und Philosoph, der Sozzinianer Andreas Wissowatius (Andrzej Wiszowaty) (1608 in Filipów – 1678 in Amsterdam).
Die Sozzinianer bzw. die „Polnischen Brüder“ waren im Studium der christlichen Traditionen schon weiter als Pascal, „sie kannten die Vielfalt der historischen Wirklichkeit aufgrund ihrer Quellenstudien“ (158). Flasch bevorzugt in seinem neuen Buch die Schreibweise „Socinianer“, ich bleibe bei der üblichen.
Es ist wichtig, dass Flasch auf die Wirkungsgeschichte der Sozzinianer auf die Arminianer hinweist. Arminianer ist bekanntlich eine ältere Bezeichnung für die bis heute in den Niederlanden vor allem bestehende humanistische freisinnige christliche Kirche der Remonstranten (vgl. etwa S.352)
Flasch betont eine „Affinitiät“ Voltaires zu den verfolgten Sozzinianern: „Sie sahen Gott … als den Vater aller Menschen, also nicht nur einer Kirche, schon gar nicht mit Jansenius und Pascal als Gott nur der Auserwählten (S 366).

7.
Eine Art Zusammenfassung:
Kurt Flasch zeigt in seinem neuen Buch, wie Voltaire das Christentum und damit die sich „orthodox“ nennenden christlichen Kirchen von vier Dogmen befreite. Sie hätten, so Voltaire, keine Begründung in der Bibel, vor allem im Neuen Testament. Das alles ist keine „theologische Spielerei“! Voltaire betont: Diese Dogmen sind gefährlich, wenn sie gesellschaftlich und politisch gelebt werden.
Diese vier Dogmen sind:
Der Glaube und das Dogma, dass die Bibel wörtlich unmittelbar von Gott selbst stammt, die so genannte Verbalinspiration der Bibel.
Der Glaube und das Dogma, dass Gott eine Trinität ist, bestehend aus drei Personen und dass Jesus von Nazareth ewig-gleich mit Gott-Vater ist.
Der Glaube und das Dogma, das alle Menschen durch die Schuld des einen Manne, Adam, schuldig wurden (Erbsünde) und dass Jesus von Gott (dem liebenden Vater ?) zu einem Sühneopfer am Kreuz zur „Erlösung“ bestimmt wird.
Der Glaube und das Dogma, dass nur einige wenige wegen der Erbsünde von Gott zur Erlösung vorherbestimmt sind.

8.
Kurt Flasch kommentiert lapidar mit Voltaire: „Da ist kein Glaubensartikel dabei, der nicht Bürgerkrieg verursacht hat“ (S. 422). „Die endlosen (dogmatischen) Wortgefechte wurden Kriegsgründe. Nicht das Christentum war abzuwählen, sondern diese vier dogmatischen Unruheherde und die immer noch kampfbereiten Konvulsionäre“ (also Ultrafromme, charismatisch sich begeistert fühlende Christen, die ihren Glauben in Zuckungen und allerhand Geschrei ausdrückten, C.M.) (422).

9.
Kurt Flasch hält sich mit Aktualisierungen seiner Studien zurück. Am Ende seiner großen Studie „Christentum und Aufklärung“ (2020) deutet er seine Skepsis an: Die Kirchen werden sich wohl kaum für den Weg des einfachen und vernünftigen, von Voltaire beschriebenen Glaubens einlassen. Eigentlich bräuchte die moderne Welt ein anderes Christentum als das herschende. Aber das Christentum, also die großen, sich machtvoll gebenden Kirchen, sind alt geworden, starr, können sich nicht aufraffen zu einer dogmatischen Säuberung ihrer ewig mitgeschleppten Lehren. Die allermeisten Kirchen sind erstarrt, haben Angst vor Neuerungen auch dogmatischer Art, weil dies de Eingeständis eines Irrtums gleich käme. Aber dogmatische Irrtümer gibt es in der Ideologie der römischen Kirche nicht, alles einmal definierte Glaubensgut der Dogmen bleibt, auf Teufel komm raus möchte man sagen.

10.
Was bleibt? Daran denken, dass es noch kleine undogmatische christliche Kirchen gibt. Oder: Den eigenen spirituellen Weg allein oder in kleinen Gruppen gehen. Oder: Voltaire lesen oder eben auch die großartigen Studien von Kurt Flasch. Für ihn wie für uns ist Augustin alles andere als ein Heiliger, in seinen letzten 30 -40 Lebensjahren hat er die Kirchen bleibend vergiftet … mit seinem Erbsünden – Wahn. Manche Erkenntnisse aus seinen literarisch so schönen „Confessiones“ bleiben natürlich bedenkenswert.

Kurt Flasch, „Christentum und Aufklärung. Voltaire gegen Pascal“, Verlag Vittorio Klostermann, 2020, 436 Seiten, 49 Euro.

Von Voltaire empfehle ich als Einstieg das „Philosophische Wörterbuch“, das bei Reclam jetzt neu erschienen ist.

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