Wenn PolitikerInnen „etwas auf den Weg bringen“…

Hinweise zum Verfall der Alltagssprache von Christian Modehn.

1.
Spätestens seit Ludwig Wittgensteins Einsichten hat sich das Philosophieren und damit die Philosophie auch mit Verfall und Missbrauch der Sprache, also auch des Sprechens von Politikern in der Öffentlichkeit, zu befassen. Ein Verfall der Sprache, auch als begriffliche Vernebelung und Verschleierung von Fakten, verstellt unsere Erfahrung von Wirklichkeit. Darauf kritisch zu reagieren, gehört zur philosophischen Lebenshaltung.

2.
Ein aktuelles Beispiel: Hören Sie „Spitzen – Politikern“ ein paar Minuten zu, etwa in Interviews mit Fernsehreportern, und zählen Sie, wie oft von Politikern die Floskel benutzt wird: „Das haben wir auf den Weg gebracht“. Ich habe bei einer „Spitzenpolitikerin“ diese Formel in einem Interview von ca. 3 Minuten etwa 15 mal gehört. Ihr fiel keine andere Sprache ein, um ihre politische Aktivität zu beschreiben.

3.
Mit dieser Floskel soll die dumpfe Ahnung geweckt werden, die Politiker hätten „etwas getan“, „etwas realisiert“, „etwas verändert“, „etwas reformiert“, „ein Versprechen praktisch eingelöst“.

4.
Wer die Floskel und Formel „Etwas auf den Weg bringen“ so oft gedankenlos daher redet, will eigentlich sagen: Ich habe auf einem Weg irgendetwas hingestellt, abgestellt. Es ist ja ein „etwas“, ein Projekt, ein Vorhaben, eine Reform, die der Politiker da auf einen Weg stellt. Es ist kein Mensch, keine Gruppe, keine Organisation lebendiger Wesen, die, zu einem Weg geleitet, nun etwas an einem Ziel bewegen könnten. Sondern es wurde ein etwas auf einem Weg abgestellt. Eine bequeme Lösung, etwas loszuwerden. Und ein Verzicht auf eine Antwort: Wohin führt denn dieser Weg? Was ist die Qualität dieses Weges?

5.
Als Berliner muss ich bei dieser Politiker – Floskel daran denken, dass so viele Mitbürger dieser Metropole ungeniert und schamlos ihren Dreck, ihren Müll, ihre alten Sofas und TV-Geräte oder ihren Computer Schrott, ihre zerfetzten Bücher und stinkenden Hosen eben einfach so „auf den Weg bringen“. Also auf die Straße stellen oder auf Wegen im Park oder im Wald ablegen. Sie entledigen sich ihrer Dinge, bringen also auf ihre Art etwas auf den Weg … und dort bleibt es eine Weile liegen. In Rom, so hört man ständig, bringen viele Bewohner ihren Müll auf den Weg, indem sie ihn neben die schon bestehenden Dreck – und Müllberge legen. Und nur hoffen, dass die Stadtreinigung, falls noch nicht ganz verschwunden, irgendwann mal zupackt…

6.
Wer diese Floskel „Ich bringe etwas auf den Weg“ oder „Wir Politiker, wir Wirtschaftsmanager haben das auf den Weg gebracht“, ernsthaft als Erkenntnis verkaufen will, erzeugt nichts als Nebel. Sprachkritik wird so zur Kritik der Politiker.

7.
Wir bräuchten Politiker, die sagen: Dieses und jenes genau beschriebene Reformprojekt realisieren wir ab jetzt, wir gestalten es Schritt für Schritt, und wir erklären den Bürgern, wie wir in diesen Schritte täglich vorangehen. Und sagen, wie dieses Vorangehen der Reformprojekte dann gelingt oder eben auch nicht gelingt… aufgrund widerwärtiger politischer und ökonomischer Mächte.

8.
Und wir Politiker sind es auch, die wir uns selbst auf den Weg gebracht und auf den Weg gemacht haben, und wir versprechen: Wir wollen uns wirklich bewegen, einer gerechteren Zukunft entgegen gehen.

9.
Und auf diesem Unterwegssein, also Handeln der Politiker, begleiten wir Bürger sie gern hilfreich, weil wir ja nicht passiv auf dem Weg stehen, sondern unterwegs sein wollen.

10.
Über den Verfall der Alltagssprache müsste mehr geforscht werden. Es sind vor allem die Mächtigen, die sich gern hinter Floskeln und leeren Worthülsen verstecken oder in der Verwendung von angeblich allgemein bekannten Begriffen sich anbiedern wollen. Immerhin werden „Unwort des Jahres“ seit langem dokumentiert. Ein Wort ist der Begriff „Kollateralschaden“, er soll verschleiern, dass bei militärischen Attacken gegen einen Feind auch unschuldige Zivilisten getötet werden. „Auch Zivilisten wurden getötet“ klingt verstörender und erregender als zu sagen: „Es gab Kollateralschäden“. Es ist die Verwendung von Substantiven aus dem technischen Bereich, die das Unmenschliche verschleiert. Nur für das Ertrinken so vieler tausend Flüchtlinge im Mittelmeer seit Jahren gibt es noch keinen verschleiernden, verharmlosenden, neutralisierenden Begriff. Vielleicht könnten zynische Politiker in ihrer Frechheit verschleiernd sagen: „Leider sind wieder viele Nichtschwimmer aus Afrika im Mittelmeer gescheitert“.

11.
Ein weites Feld der philosophischen Sprachkritik liegt vor uns: Wer untersucht etwa die sehr häufige Verwendung des Begriffs „Maßnahme“ durch führende Politiker? Wie viele hundert mal habe ich Politiker von Maßnahme schwadronieren hören, als sie von Wärmepumpen und der Versorgung mit Gas und Erdöl nach dem Krieg Russlands gegen die Ukraine sprachen. Und Maßnahmen muss man auch noch „durchführen“.

12.
Ein weiteres Projekt muss angedeutet werden:
Natürlich gibt es auch seit Jahrhunderten einen Verfall der religiösen Sprache: Man zähle nur einmal, wie oft etwa Papst Franziskus bei jeder kleineren oder größeren oder ganz großen Krise sich auf die Formel zurückzieht: „Ich werde für die Betroffenen beten“. Damit will er in einem korrekten theologischen Verständnis sagen: Ich bin überzeugt, ich kann eine himmlische göttliche Macht durch meine Worte bewegen, alles zum Guten zu wenden.
Kann man ja behaupten und vielleicht auch glauben…Man kann diese Haltung aber auch Aberglauben nennen. Ob auch gegen den Aberglauben „nur noch beten hilft“? Oder ist Beten das letzte Schreien der hilflosen Kreatur?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.