Ein Hinweis von Christian Modehn
In der Rubrik „Vergessene Texte – heutige Texte“ stellt der Religionsphilosophische Salon philosophische und theologische Bücher und Essays vor, die heute leider fast nicht mehr viel Beachtung finden. Sie verdienen aber große Aufmerksamkeit und weitere Diskussion. Zum Beispiel der Essay des polnischen Philosophen Leszek Kolakowski (geb. in Radom, PL, 1927, gest. in Oxford GB, 2009). Der Essay heißt: „Der philosophische Sinn der Reformation“, veröffentlicht in dem Buch „Geist und Ungeist christlicher Tradition“ (Kohlhammer Verlag 1971). Dieses Buch ist leider nur noch antiquarisch zu haben, eigentlich schade, dass solche wichtigen Texte so schnell „verschwinden“.
Im Reformationsgedenken, das weithin ein Luther-Gedenken 2017 werden wird, fehlen meines Erachtens Auseinandersetzungen mit dem heiklen Thema „Luther (bzw. auch Calvin) und die Philosophie“. Die evangelischen Organisatoren dieses Reformations-Festivals (mit dem Kirchentag im Mai 2017 in Berlin und Wittenberg) haben meines Wissens dazu keine aktuellen ausführlichen selbstkritischen Studien veröffentlicht. Werden Philosophen bei diesem Reformations-Festival ausgesperrt? Oder werden sie ihre eigenen Vorschläge zum Thema Glauben und Wissen vortragen können? Wenn man Philosophieren und damit Philosophie als die elementare geistige Haltungen des Menschen betrachtet, sind sie im Zusammenhang von Reformation und Glauben genauso wichtig wie „Glaube und Kunst“ oder „Glaube und Musik“…
Die traditionelle extreme Abwehr des philosophischen Denkens als eines möglichen Weges des Menschen zu Gott ist innerhalb der klassischen protestantischen Orthodoxie allseits bekannt. Diese Zurückweisung des lebendigen Philosophierens als eigenständiger „Leistung“ der Menschen hat ihre Gründe zweifellos in der Gnaden-Lehre der Reformatoren. Da wird dann gern darauf verwiesen: Die „Natur“ des Menschen ist so verdorben und so schlecht, dass diese Verdorbenheit eben auch den Verstand betrifft. So ist eigentlich kein hilfreicher, konstruktiver philosophischer Gedanke zur Gottesfrage möglich. Aber: So total verdorben wollten dann die Reformatoren die menschliche Vernunft doch nicht gelten lassen. Sie gestehen immerhin ein: Mit gewissen Restbeständen der Vernunft können selbst die Heiden „ein bisschen was“ von Gott ahnen. Auf diesen letzten “guten Schimmer” von Vernunft etwa bei Calvin hat der Philosoph Leszek Kolakowski hingewiesen, in seinem oben genannten Essay „Der philosophische Sinn der Reformation“. Auf Seite 123 schreibt Kolakowski: „Gott hat den Menschen (im Sinne Calvins) ein wenig natürliche Kenntnis von sich verliehen. So viel nämlich, dass sich niemand vor Gottes Gericht durch Unwissenheit rechtfertigen kann. Das `natürliche Licht` ist demnach in göttlichen Dingen bloß Werkzeug, um den Sündern ein Alibi zu entziehen und Ausflüchte unmöglich zu machen…“ Für den Glauben selbst ist das so genannte natürliche Licht der Vernunft völlig wertlos. Gott als bleibendes Geheimnis, der dogmatische Kern des Glaubens, wird niemals vernünftig thematisiert. Kolakowski vermutet hinter dieser Haltung der Reformatoren: dass der Mensch sich selbst als Vernunftwesen verachten soll. „Für Luther heißt Gott zu lieben sich selbst zu lassen“ (im Sinne von loslassen, aufgeben) (S. 122).
Die Aufgabe des Selbst, des natürlichen Selbst wie das begnadeten, als Verzicht auf die mit dem Selbst angeblich automatisch mit-gegebene Selbstherrlichkeit, zu der Luther auch das philosophische Denken zählt, ist also zentral.
Zunächst soll – über Kolakowski hinaus – an die aktuelle theologische Erkenntnis erinnert werden: „Die Natur“ „des“ Menschen “vor” aller Gnade, also zeitlich gesehen vor aller Anwesenheit des göttlichen Geistes IM Menschen, ist eine abstrakte und unsinnige Konstruktion. „Die Natur“ des Menschen vor (zeitlich verstanden) aller Gnade gibt es eigentlich nicht: De facto ist die Menschheit als ganze immer schon von der Anwesenheit des göttlichen Geistes bestimmt. Dies ist etwa die zentrale Erkenntnis des Theologen Karl Rahner. Er bezieht sich dabei auf ein biblisches Verstehen Gottes, der unmöglich die einen, bloß „natürlichen“ Menschen verdammen, die anderen, die zufälligerweise die Gnade haben, retten kann. Rahner denkt dabei, um das Neue Testament zu zitieren, an den Spruch aus dem ersten Timoteus Brief (2,4): „Gott will das aller Menschen“. Diese Erkenntnis hat, so scheint es, bis heute in der reformatorischen Theologie zu keiner Veränderung des Denkens geführt, in dem Sinne: dass die Gnade IMMER SCHON anwesend ist für alle Menschen. Diese ewigen und so sinnlos erscheinenden Diskussionen über die Prädestination kommen aus der Abweisung dieser Erkenntnis. Rahner hat in dieser Frage recht, weil er Gott NICHT als willkürlich Gnade austeilenden Tyrannen denkt. Ob über diese überholte Prädestinationslehre (also die Erlösung nur einiger Erwählter) im Reformationsjubiläum 2017 nochmals zustimmend und „letztlich“ verstehend gesprochen wird? Gott bewahre uns davor! Es gibt viel Dringenderes!!
Kolakowski erinnert in seinem Beitrag deutlich an diese theologisch überholte Haltung der Reformatoren, die da heißt: „Vernunft und Argumente können in keiner Hinsicht das Christentum stärken… Alle Vorstellungen der Philosophie von göttlichen und menschlichen Dingen macht die Heilige Schrift zunichte (123).
Diese globalen Erkenntnisse sind bekannt. Interessant sind die zwei Konsequenzen, die Kolakowski entwickelt, sie können hier nur in Kürze dargestellt werden, deswegen lohnt sich die ausführliche Diskussion des Textes!
Wenn der einzelne Mensch, selbst der Getaufte, sündhaft auf sich selbst beharrt, also auf seinem „Einzeldasein“ (126) besteht, diese Situation aber überwinden will, dann kann auch dies eine Konsequenz sein: Es ist besser, sich als einzelner förmlich aufzugeben und in der Einheit des Göttlichen zu zerfließen. Diese Haltung nennt Kolakowski die mystische Haltung. Auch sie ergibt sich also aus der Position Luthers! Wenn in der Fixiertheit auf die Gnade, die alles bewirkt, weiter gedacht wird, meint der Philosoph, kann diese Tendenz zum Pantheismus führen, also jener Haltung, in der nur Gott alles wirkt und alles bewirkt. Totale Gnade, könnte man sagen. Alles ist Gott. Kolakowski verweist auf Sebastian Franck, „den ersten Pantheisten, den die Reformation ins Leben rief“ (127), auf Jacob Böhme, Valentin Weigel und Angelus Silesius. Kolakowski sieht – in einer spekulativen These – dass Luther sozusagen unbewusst, also alles andere als gewollt in seiner Theologie ein „Zwischenglied“ bildet zwischen spätmittelalterlicher Mystik und „pantheistischer Mystik späterer Jahrhunderte“ (127).
Dem Titel seines Essays entsprechend gibt Kolakowski noch den Hinweis, dass die praktische Philosophie Kants von Luther mit geprägt ist. „Die Überzeugung, dass die eigentliche moralische Bewertung sich einzig auf den Willen selbst bezieht, ist lutherischer Herkunft“. So wirkt Luther also auch hier ungewollt als Gegner der Philosophie tatsächlich in der Philosophie weiter…
Aber Luther hat durch seine Natur – und Gnadenlehre auch eine „existentielle Richtung“ der Philosophie mit – bewegt und mit -bewirkt, wie Kolakowski schreibt (129). „Christ ist im Sinne Luthers, wer im Glauben lebt. Der Glaube ist nicht Überzeugung, sondern totale geistige Wiedergeburt, völlige Erneuerung, Vernichtung des alten Menschen und der Akt des Eintretens in eine neue Wirklichkeit, ein Akt, den keinerlei natürlicher Mittler (Kirche usw.) anstelle des einzelnen Menschen erfüllen kann“(130). Mit anderen Worten: Der Glaubende ist als erlöster Einzelner ganz auf seinen eigenen Gott gestellt. In Kierkegaard sieht Kolakowski den Propheten dieses extrem existentiellen Christentums. Für Kierkegaard erlebt der Gläubige die völlige Subjektivität, sie ist nur noch auf die göttliche Subjektivität bezogen, kennt nichts anderes. Der einzelne Glaubende braucht die objektiven Bindungen nicht, letztlich nicht die Kirche, nicht die objektiven Sprachregelungen die vorgegebenen Gesetze. Kolakowski sieht auch darin eine Wirkungsgeschichte Luthers, ungewollt natürlich, aber Luther inspiriert förmlich die Existenzphilosophie. Kierkegaard ist ein Zwischenglied zwischen Luther und der modernen Existenzphilosophen. Das ist für Kolakowski „keine künstlich konstruierte Koinzidenz, sondern eine reale energetische Verbindung“ (137). Luther hat, so meint er, durch seine ablehnende Haltung zur Philosophie diese Philosophie doch angeregt, sogar „den Keim der neuzeitlichen Philosophischen Kultur“.
Luther, der große Feind der angeblich verdorbenen Philosophie, hat das philosophische Denken dann indirekt doch inspiriert: Ein schönes Paradox, ein Zeichen, dass sich Philosophieren nicht klein kriegen lässt, auch nicht von theologischen Vorurteilen.
WEITERE TEXTE:
“Wir haben von Luther fast nichts gelernt” ist der Titel eines Hinweises zur Luther-Rezeption im heutigen Katholizismus, klicken Sie hier.
Luther in der Sicht heutiger PhilosophInnen, klicken Sie bitte hier.
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