“Vom Menschsein und der Religion”: Ein neues Buch von Wilhelm Gräb

WEITER DENKEN: Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb
Die Fragen stellte Christian Modehn


Ihr neues Buch „Vom Menschen und der Religion“ vermittelt eine zentrale Er-kenntnis von einer geradezu universalen Bedeutung: Jeder Mensch befasst sich auf seine Art mit der Sinnfrage, mit der Frage nach dem Sinn des eigenen Le-bens und „des Ganzen“. Und diese Sinnfrage, so schreiben Sie immer wieder in dem Buch, sollte auch der Mittelpunkt der Theologie, der christlichen Theolo-gie, sein. Das ist eine ungewöhnliche, über alles Kirchliche hinaus in die Weite des Menschlichen führende Aussage. Warum ist gerade diese in meiner Sicht „universale Basis-Theologie“, unter den Bedingungen der „Säkularisierung“ jetzt so entscheidend für Sie
?

Dass wir die Zukunft nicht bestehen und die drängenden ökonomischen und vor allem ökologischen Probleme einer stetig wachsenden Weltbevölkerung ohne weitere Fortschritte in Wissenschaft und Technik nicht werden lösen können, scheint allen klar. Auch die Kunst und die Künste gehören selbstverständlich zu den entscheidenden Möglichkeiten, die wir Menschen haben, um unsere kreati-ven Fähigkeiten in die Gestaltung einer lebensdienlichen und entwicklungsoffe-nen Welt einzubringen. Nur die Religion, die doch seit den Anfängen der Menschheitsgeschichte nicht nur die Basis von Wissenschaft und Kunst war, sondern auch sich mit diesen fortschreitend entfaltet hat, erscheint vielen heute als entbehrlich. Sie wird mit den institutionalisierten Religionen und mit den Glaubens- und Morallehren der Kirchen identifiziert. Es wird die gefährliche politische Macht, die die ihre Repräsentanten durch die Berufung auf göttliche Autorität gewinnen können, angeprangert.
Viel zu wenig gesehen wird jedoch, dass die Zukunftsfragen einer das Überleben der Menschheit sichernden nachhaltigen Entwicklung eine alles entschei-dende religiöse Dimension bei sich haben. Was das Leben jedes einzelnen letzt-lich trägt, der Glaube an den Sinn des Ganzen, das hält auch die Anstrengungen in Wissenschaft und Technik, Politik, Recht und Bildung in Gang. Gerade dort, wo die Probleme immer drängender werden und globale Fehlentwicklungen, in die wir durch kollektives Versagen hineingeraten sind und die das Zutrauen in die Kräfte lebensdienlicher Zukunftsgestaltung rauben, ist das trotzige Dennoch eines religiösen Glaubens, der Inspiration, Kreativität und Gemeinsinn freisetzen sowie einen hoffungsvollen Lebensmut stärken kann, wichtiger denn je.
Doch dass Religion diese Bedeutung für unser Menschsein hat, dass sie es ist, die uns die Möglichkeiten entdecken lässt, mit denen wir über uns hinauswach-sen, weil sie größer sind als wir selbst um sie und uns in ihnen wissen, ist kaum im Blick. Die Religion ist kein öffentliches Thema in den so dringenden Debat-ten darüber, wie wir leben wollen, wie wir leben sollen, noch gar, was recht ei-gentlich ins Zentrum der Religion gehört, wie wir mit der offenkundigen Tatsa-che zurecht kommen können, dass wir des Insgesamt der Bedingungen unseres Daseins nicht mächtig sind, wir das Gelingen unserer noch so guten Absichten letztlich nie in der Hand haben.
Religion wird als Angelegenheit lediglich der hierzulande offensichtlich immer weniger werdenden „Gläubigen“, der Kirchen- und Religionsangehörigen aufge-fasst. Die anderen, die „Säkularen“, Konfessionslosen, Freigeister, Humanisten, Agnostiker geht sie nicht an. Doch in Wahrheit ist es so, dass wir alle in unserer Vorstellungkraft sehr viel ärmer werden, wenn wir das Bewusstsein von den Grenzen, die unserer Erkenntnis und unserm Wissen gesetzt sind, verkümmern lassen und die Möglichkeiten einer transzendenzoffenen, spirituellen Weltsicht und Sinneinstellung verspielen.
Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben, weil ich meine, dass es dringend an der Zeit ist, in der Religion, wir können auch sagen: Religiosität bzw. Spirituali-tät, eine Haltung dem Leben gegenüber zu sehen, aus der immer wieder neu In-spiration, Mut, Trost und Gemeinsinn erwachsen. Es verdankt sich dieses Reli-gionsverständnis den entscheidenden Impulsen protestantischer (Kultur-)-Theologie, wie sie von Friedrich Schleiermacher über Ernst Troeltsch bis zu Paul Tillich gesetzt wurden.
Ich habe der Rekonstruktion der Gegenwartsbedeutung dieser Theologietraditi-on in meinem Buch breiten Raum gegeben, stelle mich selbst in diese Tradition und führe sie fort, um – heute nun in transreligiöser und transkultureller Absicht – zu diesem anderen Reden über die Religion beizutragen. Religiös zu sein, ist eine der besten Möglichkeiten, die wir Menschen haben, um einen verlässlichen Halt in unserem je individuellen Leben zu haben und dann auch den enormen Herausforderungen begegnen zu können, vor die wir uns im Zeitalter der ökolo-gischen Lebensgefahr gestellt sehen.


Nun gibt es die bunte Vielfalt von Religionen. Diese aber sind nicht immer und nicht automatisch konstruktiv im Sinne der Menschlichkeit und des Respekts der universalen Menschenrechte. Welches Kriterium haben Sie, um humane Religi-onen von den de facto ins Inhumane abgleitenden Religionen, „Sekten“, Ideolo-gien, zu unterscheiden?

Die Religion, von der ich spreche, ist, um mit Johann Gottlieb Herder zu reden, „in aller Menschen Herz nur eine“. Sie gehört zu unserem vernunftbegabten Menschsein. Zu ihr können alle finden, die einiger Selbstachtung fähig sind. Dann merken sie, dass die schon von den Theologen der Aufklärung als „Ange-legenheit des Menschen“ entdeckte Religion eine transzendenzoffene Sinnein-stellung ist, die aus dem tröstlichen Gefühl einer Gründung unseres Ichs im Göttlichen erwächst.
Mit dem Glauben an Heilige Schriften, kirchliche Dogmen, gar einem Gehorsam religiösen Führern gegenüber hat diese Religion der Humanität, wie ich sie nen-ne, nichts zu tun. Das heißt aber nicht, dass diese Religion der Humanität nicht auch in den Religionen, wie sie als mehr oder weniger verfasste Institutionen, mit ihren Traditionen, ihren Lehren und Ritualen, Symbolen und Lebensregeln existieren, gefunden und praktiziert werden kann. Genau dies dürfte vielmehr weithin der Fall sein, schon deshalb, weil eine gesellschaftliche Kommunikation über diese Religion der Humanität noch nicht entwickelt ist. Das Anregungspo-tential, das die Heiligen Texte der Religionen, ihre Kunstschätze, ihre Theolo-gien und ethischen Reflexionen in sich bergen, ist außerdem immens. Es wäre töricht, wenn die Religion der Humanität, die ich in meinem Buch auch als eine transversalen Religion der Menschenwürde und Menschrechte beschrieben habe, ihre Inspiration nicht auch aus Quellen der großen geschichtlichen Religionen schöpfen würde.
Dennoch ist das Verhältnis der Religion der Humanität zu den religiösen Insti-tutionen, Traditionen und Gemeinschaften ein durchaus kritisches. Ich argumen-tiere entschieden gegen jede Vorweggeltung eines kirchlichen und religionsinsti-tutionellen Autoritätsanspruchs. Es ist nicht schon deshalb etwas heilig und den gläubigen Gehorsam gebietend, weil ein Klerus sich auf höhere Offenbarung, geheiligte Traditionen und göttliche Einsetzung beruft. Ob eine Religion bzw. Elemente in ihr gut oder schlecht sind, entscheidet sich daran, ob dort unsere menschliche Fähigkeit, aus freier Einsicht „glauben“ zu können gefördert wird, oder auf blinden Glaubensgehorsam verpflichtet werden.
Glauben zu können, will dann als Realisierung einer unserer besten menschli-chen Möglichkeiten verstanden sein. Wer aus freier Einsicht glaubt, tut dies im Wissen um die Unverfügbarkeit der Zukunft wie unseres Daseins überhaupt, ein Wissen, das in Glauben übergeht und das den Kern im Grunde jeder Religion darstellt.


Wichtig ist für sie der „Lebensglaube“, also die Gewissheit, dass mein und unser Leben „im letzten“ einen Sinn hat. Diesen Lebensglauben können, so sagen Sie, auch Kunst, Literatur, Film und Musik vermitteln. Aber warum, wie Sie dann schreiben (S. 318), „befriedigen diese dann doch nicht unsere Sinnbedürfnisse“?
Dieser Lebensglauben, der ein unbedingtes Vertrauen in den Sinn des Ganzen ist, muss immer wieder dem Wissen um die Unbegreiflichkeit dieses Sinns ab-gerungen werden. Sonst wäre es ja kein Glauben, kein grundloses, ins Wagende hinein sich vollziehendes Grundsinnvertrauen. Das eben macht den Unterschied wahren religiösen Glaubens von Ideologien und totalitären religiösen Lehren aus. Doch wer schafft das, so zu glauben?

Letztlich ist dieses sich auf der Grenze bewegende und das menschliche Maß wahrende Glauben, zu dem die Religion der Humanität ermutigt, eine unmögliche menschliche Möglichkeit. Das hat vernünftig Theologie seit jeher dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie vom Glauben als Gottesgeschenk sprach, als Tat Gottes, mit der dieser den Glauben in uns hervorbringt. Viele religiöse Den-ker sprechen zudem vom Glauben als einem Widerfahrnis, zu dem wir uns nicht entschließen können, sondern das an uns geschieht, so freilich, dass es nur dann für uns wirksam wird, wenn wir es annehmen und uns bewusst dazu verhalten.
Was ich an der von Ihnen zitierten Stelle von der Kunst und den Künsten sage, gilt insofern auch von der Religion. Auch sie befriedigt nicht unsere Sinnbe-dürfnisse, jedenfalls nicht so wie das gemeinhin verstanden wird, als hielte sie eine friedigende Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens bereit. So ist es gerade nicht. Dennoch erweckt die traditionelle Religion oft genau diesen Anschein, als habe sie sie verbindliche Antworten auf die großen Fragen nach dem Woher und Wohin unseres Daseins. Anders die Kunst. Ich sehe ihren Vor-zug und das, was sie für die Religion bedeutet, genau darin, wie ich an anderer Stelle sage, dass „sie die Wunde des Sinns offenhält“.
Gerhard Richter sagt es so: „Die Kunst ist die reine Verwirklichung der Religiosität, der Glaubensfähigkeit, Sehnsucht nach ,Gott‘. […] Die Fähigkeit zu glauben ist unsere erheblichste Eigenschaft, und sie wird nur durch die Kunst ange-messen verwirklicht. Wenn wir dagegen unser Glaubensbedürfnis in einer Ideo-logie stillen, richten wir nur Unheil an.“ (Notizen 1988)
Und früher schon notierte Richter, der einer der bedeutendsten Bildermacher unserer Zeit ist: „Die Kunst ist nicht Religionsersatz, sondern Religion (im Sinne des Wortes, ,Rückbindung’, ,Bindung’ an das nicht Erkennbare, Übervernünftige, Über-Seiende). Das heißt nicht, dass die Kunst der Kirche ähnlich wurde und ihre Funktion übernahm (die Erziehung, Bildung, Deutung und Sinngebung). Sondern weil die Kirche als Mittel, Transzendenz erfahrbar zu machen und Religion zu verwirklichen, nicht mehr ausreicht, ist die Kunst, als veränder-tes Mittel, einzige Vollzieherin der Religion, das heißt Religion selbst.“ (Notizen 1964-65)
Kunst ist Religion und Religion ist Kunst, ohne dass wir eine Kunstreligion erfinden müssten. Die für die Erfahrung der Kunst offene Religion ist die Religion, die zu uns unruhigen Menschen passt, weil sie unser Verlangen nach dem Vollkommenen wachhält. Sie befriedigt nicht unsere Sinnbedürfnisse, sondern hält unsere Sehnsucht nach Sinn wach – nach einem Sinn, der endlich verstanden werden kann, so dass wir vielleicht das Gefühl bekommen, doch in diese Welt zu passen, obwohl wir nie ganz in ihr zuhause sind.

Hinweis auf die Neuerscheinung: Wilhelm Gräb, Vom Menschsein und der Religion. Eine praktische Kulturtheologie. 2019.
https://www.mohrsiebeck.com/buch/vom-menschsein-und-der-religion-9783161565649

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin und Prof. Wilhelm Gräb, Berlin

Eine menschliche Religion. Neue Themen für eine neue Berliner Theologie

Fundamental vernünftig
Für eine menschliche Religion
Die neuen Themen einer (neuen) Berliner Theologie
Das 16. Interview mit Prof. Wilhelm Gräb, August 2013.
Die Fragen stellte Christian Modehn

Seit über 200 Jahren gibt es protestantische Theologie in Berlin. Ei-ner der ersten Theologen an der heutigen Humboldt – Universität war Friedrich Schleiermacher. Er widmete sein Buch „Über die Religion“ ausdrücklich den „Gebildeten unter ihren Verächtern“. Brauchen wir in Berlin wieder diesen theologischen Schwung, auch die gebildeten (warum nicht auch die weniger gebildeten) Verächter der Religion anzusprechen und in den Dialog einzuladen?

Der Schwung, den Schleiermachers Reden über die Religion besaßen, kam daher, dass er die Religion als eine Dimension des Menschseins beschrieb. Religion, so seine Reden, hat zunächst einmal nichts zu tun mit dem Glauben an Kirche, Dogmen, Bibel und Bekenntnis. Religion ist „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“. Wir würden heute dazu sagen, Religion ist Sinn und Geschmack für das, was wirklich wichtig ist im Leben. Besinnung auf das, worüber nachzudenken, wofür sich einzusetzen, woran sein Herz zu hängen sich lohnt. Religion ist ge-steigerte Aufmerksamkeit aufs Leben, Sinn für den Sinn des Lebens.
Darauf sollte deshalb auch der interreligiöse Dialog zielen. Nicht auf eine Verständigung über die Lehren der Religionen, sondern um eine Verständigung über die richtige Einstellung zum Leben.

Welche Themen sind Ihrer Meinung heute dringend, wenn sich eine neue, mit Schleiermacherschem Schwung ausgestattete Berliner Theo-logie an die Verächter des Religiösen wendet?

Die neue Berliner Theologie hat keine vorgegebenen Themen mehr. Sie hat sie jedenfalls nicht so wie die alte Dogmatik ihre Themen dem überlieferten Glaubensbekenntnis entnimmt (Schöpfung, Sünde, Ver-söhnung, Erlösung). Das Thema der neuen Berliner Theologie ist die Religion der Menschen. Sie ist genau dadurch eine Fortsetzung der alten Berliner Theologie, der Theologie der Berliner Aufklärung. Schleiermacher stand für die Theologie, die die Religion als eine „Provinz im Gemüthe“ zum Thema macht. Aber auch der Berliner Aufklärungstheologe und Prediger an St. Nikolai hat 1804 ein Buch veröffentlicht mit dem Titel: „Religion, eine Angelegenheit des Men-schen“.
Religion ist das, was den Menschen unbedingt wichtig ist, was ihnen heilig ist, worin sie den Sinn ihres Lebens sehen. Eine Theologie, die in der so verstandenen Religion der Menschen ihr eines und einziges Thema hat, verhandelt nicht mehr die alten Themen des kirchlich ko-difizierten Glaubensbekenntnisses. Sie versucht vielmehr den Men-schen, die die Religion haben (und das sind potentiell alle Menschen) Anleitung beim jeweils eigenen Nachdenken über das Leben zu ge-ben.
Diese neue Theologie ist nicht Auslegung der Bibel und des kirchli-chen Bekenntnisses. Sie ist gesteigerte Reflexion auf das, was wirk-lich trägt im Leben und dieses mit Inhalt füllt. Sind das Güter und Be-sitz, ist das die Macht, ist das der Intellekt? Viele glauben an diese Dinge. Sie hängen daran ihr Herz. Warum? Weil sie sich selbst als den Mittelpunkt von allem sehen und immer mehr haben wollen, an Gü-tern, Macht und Intellekt. Aber glücklich macht diese Lebenshaltung nicht, denn sie ist begleitet von der Angst, dass andere immer noch mehr besitzen, mächtiger und so viel klüger sind.
Wir haben aber auch die Möglichkeit, anders auf uns selbst und die Dinge des Lebens zu sehen, eben von den anderen und ihren Bedürf-nissen her. Wir können uns unendlich überschreiten, aufmerksam dar-auf werden, dass die Schönheit des Lebens um jeden und immer in ih-rer ganzen Fülle bereit liegt – wenn auch in der Tiefe, verborgen und oft auch verschüttet. Die Bereitschaft zur Selbsttranszendierung: ge-nau das ist die religiöse, spirituelle Einstellung zum Leben. Aus ihr heraus können wir für andere da sein, für sie sogar Opfer bringen. Aus ihr heraus können wir unendlich aus uns herausgehen, uns selbst verlassen – und dies in der Gewissheit in unendlicher Distanznahme von uns selbst, uns selbst doch nie verloren zu gehen. Das ist Religion, sich selbst unendlich überschreiten zu können und dies in dem Gefühl zu tun, im Unendlichen geborgen zu sein.

Nun gibt es angesichts des konfessionellen Wandels auch Verächter der klassischen Kirchenordnungen, etwa die vielen, die aus der Kir-che austreten, aber spirituell interessiert bleiben. Was hat eine libera-le Berliner Theologie diesen Menschen vorzuschlagen?

Dass es auf die Einübung und Pflege des Sinns fürs Unendliche an-kommt, und nicht auf die Zugehörigkeit zu einer Kirche. Schon gar nicht darauf, an Bibel und Bekenntnis zu glauben. Das an der Religion Wesentliche ist der andere Blick auf das Leben, derjenige, der die Dinge des Lebens aus der Selbstbezogenheit befreit. Dieser andere Blick macht mich selbst frei dazu, den unendlichen Wert jedes Men-schenleben zu erkennen, mich für andere zu öffnen. Aus mir heraus-zugehen, weil die Angst weg ist, ich könnte zu kurz kommen oder gar in der Hinwendung zum anderen mir selbst verloren gehen.
Gott, das ist das Wort dafür, dass das Ganze der Welt und unseres Le-bens, das wir nie überschauen, das wir letztlich nicht begreifen, Sinn macht. Gott ist der Sinn des Ganzen. An ihn zu glauben, bedeutet, sich des unbedingten Sinns des eigenen Daseins gewiss zu sein – was auch immer geschehen mag. Dieser Glaube vermittelt das Gefühl einer letz-ten, auch noch Erfahrungen des Nicht-Sinns aushaltenden Geborgen-heit.

Es gibt viele unterschiedliche Religionen in Berlin, etwa Buddhismus, Islam, Hinduismus. Welche Themen hat eine neue Berliner liberale Theologie auch mit diesen Menschen zu besprechen.

Wir müssen wegkommen von der üblichen Auffassung eines „Dia-logs“ der Religionen. Es geht weder darum, sich auf die gemeinsamen Schnittmengen zwischen den Religionen zu verständigen, sozusagen den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, noch gar darum die schlichte Behauptung zu verstärken, die verschiedenen Religionen seien doch nur verschiedene Wege zu dem einen Gott. Dieser Gott e-xistiert nicht, wie überhaupt kein Gott als eine höhere, metaphysische Wirklichkeit existiert. Die verschiedenen Religionen sind verschiede-ne menschliche „Verfahren“, sich zum letztlich unverfügbaren und nie gegenständlich gegebenen Ganzen der Wirklichkeit zu verhalten. Die neue liberale Theologie will mit Buddhisten, Hinduisten und Musli-men genauso wie mit Atheisten und Agnostikern darüber sprechen, was ihnen unbedingt wichtig ist in ihrem Leben, was ihnen Hoffnung gibt und sie antreibt, was ihnen Trost gibt, auch noch in Erfahrungen des Desaströsen und Absurden. Die Berliner liberale Theologie führt dieses Gespräch in großer Offenheit. Sie gibt Auskunft über die christ-lichen Antworten (es gibt immer mehrere davon) auf diese Lebensfra-gen. Sie ist begierig, von den Antworten der anderen zu lernen, reicher zu werden in den Möglichkeiten, die Erfahrungen des Lebens zu deu-ten und aus diesen Deutungen heraus dann das Leben auch bewusst zu führen.

Statistiken zeigen: Vor allem junge Menschen (bis 40 Jahre) haben extrem viel Mühe, mit der christlichen Tradition und den Kirchen ü-berhaupt vertraut zu werden. Welchen Vorschlag hat eine neue libera-le Theologie diesen jungen Menschen zu machen?

Der Vorschlag wäre der, zu einem anderen Umgang mit der Tradition zu finden und die Kirchen mit neuen Ideen zu besetzen. Mit der Tradi-tion neu umzugehen, meint, ein ästhetisch spielerisches Verhältnis zu ihr zu gewinnen. Sie enthält keine zeitlosen, absoluten Wahrheiten. Sie gibt auch nicht die Themen des Glaubens vor, auch wenn im kirchlichen Unterricht oder im Religionsunterricht der Schule noch so getan werden sollte. Was die Tradition zu bieten hat, das aber sind viele starke Worte und sinntiefe Symbole. Der 23. Psalm z.B., „Der Herr ist mein Hirte…“ oder das Symbol vom Menschen als dem E-benbild Gottes wie es im Schöpfungsbericht auf den ersten Seiten der Bibel entfaltet wird. Solche starken Worte tragen ihre Wahrheit in sich selbst und sie zu hören oder in schwerer Zeit mitzusprechen, tut der Seele unendlich wohl. Solche Symbole geben zu denken und vertiefen unseren Sinn fürs wahrhaft Menschliche und die Unendlichkeit seines Wertes.
Ja, und die Kirche, ihre Räume sind als Meditationsräume zu nutzen und ausgeschlossen bleibt dabei keineswegs, dass auch in ihnen starke Worte zu hören sind und sinntiefe Symbole zu ausdrucksstarker Auf-führen kommen, in religiösen Reden, in bildnerischer Gestaltung, mit einer zu Herzen gehenden Musik.

Brauchen wir in Berlin – wie schon in Bremen, in der Remberti – Ge-meinde – eine eigene, explizit protestantisch-liberale Gemeinde, wo die genannten Themen auch weiter in breiteren Kreisen besprochen werden und wo Gottesdienste gefeiert werden, die dem Geist liberaler Theologie entsprechen? Welche Vorschläge haben Sie da?

Ja, das wäre natürlich sehr zu wünschen. Aber leider hat sich die neue Berliner liberale Theologie noch nicht so stark durchgesetzt, dass sie als eine Möglichkeit für Berlin auf breiterer Basis erkannt wäre. Die Bremer Remberti-Gemeine hat eine lange Tradition, die bis auf die alte liberale Theologie um die Wende zum 20. Jahrhundert zurück-geht.In Berlin ist diese Tradition abgebrochen. Auch die evangelische Kirche ist hier in eine für sie gefährliche Minderheitensituation hi-neingeraten, gefährlich deshalb, weil dies fundamentalistischen Stre-bungen entgegenkommt. Man schottet sich ab gegen die vermeintlich säkulare, atheistische Mehrheit. Doch hoffen wir, dass immer mehr Menschen, die noch etwas von der Kirche erwarten, merken, dass dies der falsche Weg ist.
Aber auch dann wird es die neue, liberale Theologie nicht leicht ha-ben. Denn sie ist unweigerlich verbunden mit einem Verlust an Inhalt-lichkeit. Sie hat keine vorgegebenen Wahrheiten zu bieten. Sie sagt nicht, was richtig und was falsch ist. Sie will zum Selbst-Denken und Selbst-Glauben verhelfen. Ich meine, es gibt viele Menschen, die nach einer Gemeinde suchen, wo sie ihre Religion der freien Einsicht im Gespräch mit anderen leben können. Es werden sich Wege zur Sammlung dieser Gemeinde finden.

Copyright: Wilhelm Gräb. Und Religionsphilosophischer Salon Berlin.