Theologe Wilhelm Gräb gestorben

Am 25.1.2023 notiert: Eine traurige Nachricht, ein großer Verlust für eine moderne “liberale Theologie”: Prof. Wilhelm Gräb, Prof. em. für praktische Theologie an der Humboldt-Universität Berlin,  ist am 23. Januar 2023 in Berlin nach langer Krankheit gestorben. Der Religionsphilosophische Salon Berlin verdankt ihm viele wichtige Anregungen und dankt nochmals auf diese Weise für insgesamt 65 Beiträge und Interviews, die Wilhelm Gräb in mehr als zehn Jahren für diese website gab. LINK.

Ich darf sagen, wir haben einen Freund verloren, der als ein Theologe der heutigen Moderne ungewöhnliche, aber richtige Perspektiven zeigte in seiner großen Aufgeschlossenheit und Freundlichkeit. Für ihn war die religiöse Glaubensform eines jeden Menschen wichtiger als die fixierenden, dogmatischen Lehren der Kirche. Diese theologische Freiheit, alle dogmatische Engstirnigkeit, allen Fundamentalismus auch in der evangelischen Kirche zu überwinden, “beiseite zu tun”, wie Wilhelm gern sagte, ist in ihrem radikalen Mut schon ziemlich einmalig. Ob diese Vorschläge und Ansätze zu einer Reformation der Kirchen noch ernstgenommen werden, gerade in dieser “Kirchenkrise” ist eine offene Frage… Über seine Verdienste in der Forschung zu Schleiermacher wird später zu berichten sein.

Fest steht: Wilhelm Gräb war ein Theologe, der über die allmählich verschwindende Macht der Kirchen hinausdachte, damit auch über die so genannte Säkularisierung, und der in der SINN-Frage, die jeden Menschen bewegt, die entscheidende Dimension geistvollen Lebens entdeckte und reflektierte. Letztlich kam es ihm auf die Pflege der SINN-Frage an, was für eine richtige Radikalität.

Die Vorlesung Wilhelm Gräbs beim offiziellen Abschied (Emeritierung) von der Humboldt – Universität hat der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie Salon als erster publiziert. LINK.

Interessant in dem Zusammenhang das Interview, das uns Wilhelm Gräb 2012 zum Thema TOD und Sterben gab: LINK 

Zur theologischen Besinnung empfehle ich auch unser Interview mit Wilhelm Gräb “Der Gott der Liebe”. LINK:

Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin, führte insgesamt 65 Interviews mit Prof. Wilhelm Gräb, die auf der website des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en-salon.de   nachzulesen sind. LINK.

Siehe auch den Hinweis der Theologischen Fakultät der HU, in englischer Sprache, die schön in einigen Worten auch die menschlichen Qualitäten Wilhelm Gräbs deutlich machen. LINK.

Copyright: Christian Modehn.

Der Gott des Glaubens – Drei Fragen an den Theologen Prof. Wilhelm Gräb

Die Fragen stellte Christian Modehn

1.
Wenn es eine „typische Haltung“ der Menschen Gott gegenüber gibt, dann sprechen sicher die meisten vom Glauben: Gott, den viele den Unendlichen und Ewigen nennen, ist also (nur) im Glauben „erreichbar“. Aber was Glauben als Tat der Menschen bedeutet, muss ja noch geklärt werden: Wer auf die biblische Weisheit schaut, entdeckt: Glauben wird dort vor allem als Vertrauen gelebt. Ist diese „Definition“ auch heute ein guter Einstieg, um sich auf den „Gott des Glaubens“ zu besinnen?

Ja, so sehe ich das auch: Glauben bedeutet Vertrauen. Und sofern in diesem Vertrauen die Beziehung zu Gott sich aufbaut, bedeutet glauben zu können, aus Grundvertrauen zu leben. Der Begriff des Grundvertrauens gefällt mir zur Beschreibung der Beziehung zu Gott deshalb besonders gut, weil er das Woher des Vertrauens benennt, ohne es zu seinem Gegenstand zu machen. Der Begriff des Grundvertrauens stammt ja ursprünglich aus der Psychologie und wurde von Erik Erikson eingeführt, um die lebensgeschichtlich tragende Bedeutung der Mutter-Kind-Beziehung zu beschreiben.

Was mit dem Begriff des Grundvertrauens ausgedrückt werden soll, ist dann aber eine auch religiös bedeutsame Erfahrung. An der innigen Mutter-Kind-Beziehung zeigt sich, gewissermaßen exemplarisch, dass all den Gegensätzen, in denen wir uns vorfinden und an denen wir uns ein Leben lang abarbeiten müssen, eine abgrundtiefe Verbundenheit, ja eine unvordenkliche Einheit aller Gegensätze vorausliegt. Aus ihr heraus nur gewinnen wir von früh auf die Zuversicht, dass wir uns die Welt erschließen und sie unseren Absichten entsprechend gestalten können.

Das Merkwürdige ist nun jedoch gerade, dass wir den Grund des Vertrauens auf unsere Fähigkeiten im Umgang mit uns selbst und mit der Welt nicht objektiv vor uns bringen können. Wir können diesen gründenden Grund nicht zum Gegenstand unseres Wissens machen. Sobald wir das versuchen, setzen wir uns ins Gegenüber zu ihm und verfehlen so gerade das uns und alle Welt Tragende und Gründende.

Insofern bringt für mich die Rede vom Grundvertrauen, wenn wir damit die Beziehung zu Gott oder dem Göttlichen meinen, am besten zum Ausdruck, warum diese Beziehung keine solche des Wissens ist. Das als Vertrauen verstandene Glauben ist eine menschliche Tätigkeit. Ich bevorzuge deshalb das Verb und spreche am liebsten vom Glauben als einem existentiellen Vollzug. Das finde ich dann auch noch besser als von einer Haltung zu sprechen. Eine Haltung nehme ich ein, im Tun des Glaubens hingegen kann ich immer nur versuchen, mich zu halten. Und es ist eben so, dass es Situationen gibt, in denen es mir leichtfällt, Grundvertrauen zu haben und mich in meinem Tun und Lassen von ihm tragen zu lassen. Dann wieder fällt solches Vertrauen mir unheimlich schwer oder will mir gar nicht gelingen. So ist es, deshalb gefallen mir die Bibelstellen am besten, in denen Menschen in ihrer Not ausrufen: “Ich glaube, hilf meinem Unglauben”. (Markus 9, 24).

2.
Was wir vom Glauben sagen, ist ja schon aufgrund der sprachlichen Form auch ein Ausdruck von Wissen: Wir wissen eben, dass Gott gegenüber nicht Mathematik und Physik weiterhelfen, wohl aber Philosophien, die Literatur und die Künste aussagekräftig sind. Wie gehen Sie also mit diesem Paradox um: Wir wissen, dass Glauben die richtige Haltung des begrenzten Menschen Gott gegenüber ist? Also: Ohne philosophisches Wissen kann es also gar keinen authentischen Glauben an Gott geben? An den Glauben zu glauben macht ja keinen Sinn.

Wenn wir den Glauben als Gottvertrauen verstehen, hat dies den Vorzug, dass wir der Gefahr entgehen, von einem Glauben an Gott zu sprechen. Denn damit würde die Subjekt-Objekt-Differenz doch wieder in die Gottesbeziehung eintreten und das Glauben könnte als eine verkappte Form des Wissens erscheinen. Gott ist nicht der Gegenstand des Glaubens, sondern der Grund des Vertrauens, das wir in uns selbst, in die anderen und die Welt setzen. Dann nur, wenn wir ihn nicht vergegenständlichen, bleibt der Gott des Glaubens davor bewahrt, zu einem Ding unter Dingen zu werden. Die Vergegenständlichung im Wissen von ihm würde Gott zu einer endlichen Größe machen. Mit dem Wort Gott meinen wir jedoch gerade, wie Sie auch sagen, den einen, den einigenden Grund der Wirklichkeit im Ganzen, das Unendliche, das Universum.

Von Gott können wir nicht wissen. Wenn wir von ihm wissen könnten, wäre er ein Gegenstand unserer Erfahrung und damit nicht mehr das, was wir mit dem Wort Gott meinen. Er wäre nicht der dem Wissen transzendente Grund dafür, dass wir überhaupt Erfahrungen machen können, wir uns selbst zugänglich und die Welt uns erschlossen ist.

Wenn ich das so sage, hängt das natürlich mit meinem Nachdenken über Gott und unsere Rede von ihm zusammen. Ich würde aber nicht behaupten wollen, dass das Glauben als menschliche Tätigkeit dem philosophischen oder theologischen Nachdenken entspringt. Das Glauben, das ein Gottvertrauen ist, kommt auf in den Erfahrungen des Lebens. Es wird in den Erfahrungen des Lebens ebenso auf harte Proben gestellt oder kann in ihnen verloren gehen. Diese Erfahrungen sind keine Gotteserfahrungen, aber sie können so gedeutet werden. Die Bibel bietet eine unendliche Fülle solcher Deutungen.

Es ist zudem so, dass ein Grundmisstrauen diesen Glauben, der ein Gottvertrauen ist, permanent gefährdet und bedrängt. Denn die bedrückenden und belastenden Erfahrungen, gerade auch des Sinnwidrigen und Sinnlosen, verschwinden nicht. Die bösen Erfahrungen und die bösen Taten, die uns an Gott und der Welt irremachen, an einer guten Zukunft für die Menschheit auf unserem Planeten zweifeln lassen, sie geschehen. Aber wer auf Gott sein Vertrauen setzt, der riskiert immer wieder ein trotziges Dennoch, der widersteht dem Überschlag des Zweifels in die Verzweiflung, der bleibt dabei, auf einen guten Ausgang zu hoffen – selbst dann noch, wenn keine Tatsachen dafürsprechen, dass solche Hoffnung sich erfüllen wird.

Insofern ist auch ersichtlich, warum diejenigen, die glauben können und ein Gottvertrauen aufbringen, alle Erfahrungen, auch die negativen, die schrecklichen und desaströsen Erfahrungen auf Gott und sein Handeln beziehen. Das sehen wir ja gerade auch in den biblischen Texten, in den Psalmen vor allem. Dort bringen Menschen ebenso ihre Erfahrungen der Not wie des Glücks vor Gott. In allem, was ihnen widerfährt, ist Gott ihnen gegenwärtig und das nicht allein mit seiner Liebe, sondern auch mit seinem Zorn, seiner Enttäuschung, seiner Wut. Mit Bitten, Klagen und Danken wenden sich die Psalmbeter deshalb an Gott. Und indem sie ihm gegenüber zum Ausdruck bringen, was sie bedrückt und belastet, erfreut und glücklich macht, gelingt es ihnen, was ihnen widerfährt, nicht nur zu erleiden, sondern auf standhafte Weise sich zu ihren Erfahrungen, auch den schrecklichen, zu verhalten und sie in ihr Leben zu integrieren.

Glauben hilft uns, das Unverfügbare anzuerkennen, das Schicksalshafte, und dennoch den Lebensmut nicht zu verlieren, handlungsfähig zu bleiben, das Beste aus der Situation zu machen, an der Hoffnung festzuhalten.

3.
Wir wissen also, dass wir an Gott sozusagen glauben „müssen“, wenn wir mit ihm, den Ewigen, verbunden sein wollen. Wer aber den Ewigen ablehnt, sich als „Atheist“ versteht, befindet der sich dann auch in einer Glaubenshaltung in seiner Suche nach dem Nicht – Endlichen? Atheismus wäre dann nicht „wissenschaftlich“, nicht „evident“, sondern ebenfalls eine Form des Glaubens? Könnte dies nicht eine enorme und neue Perspektive sein für die eine Menschheit, die eben unterschiedlich glaubt angesichts des Gründenden, des Nicht – Endlichen?

Wenn wir nicht wissen können, ob es Gott gibt, dann können wir selbstverständlich auch nicht wissen, dass es Gott nicht gibt. Ein Theismus, der auf Gott als gegenständliche Wirklichkeit setzt, ist insofern genauso wenig überzeugend wie ein Atheismus, der diese Wirklichkeit bestreitet. Ein wissenschaftlich begründeter Atheismus ist genauso zum Scheitern verurteilt wie es die Gottesbeweise sind.

Das bedeutet nun aber nicht, dass die, die sich Atheisten nennen, nicht eine ernst zu nehmende Kritik an dem verfolgen, was wir hier Glauben bzw. Gottvertrauen nennen. Nur wäre eine solche Position dann eher eine nihilistische als eine atheistische zu nennen. Ich denke dabei an den kritischen Einwand, dass die alles gründende Wirklichkeit, die wir mit dem Wort Gott meinen, auch ins Leere auslaufen könnte und wir trotz unseres Gottvertrauens letztlich in ein Nichts hineingestellt sind. Es könnte sein, dass das Vertrauen, das wir auf den transzendenten Grund der Wirklichkeit setzen, trügerisch ist. Es könnte sein, dass wir uns lediglich etwas vormachen und einer Illusion nachhängen, wenn wir meinen, im transzendenten Grund der Wirklichkeit uns bergen und in Hoffen und Bangen von ihm tragen lassen zu können. Vielleicht warten wir vergeblich darauf, dass schließlich das Rettende sich zeigt.

Die nihilistische Position ist die stärkste Anfechtung des Glaubens. Aber sie gehört ihm gewissermaßen als das andere seiner selbst zu. Nicht in der Form eines dem Glauben überlegenen Wissens, sondern als Einspruch gegen sich selbst. Mit diesem Einspruch, dass auch der alles gründende Grund, den wir uns und aller Wirklichkeit voraussetzen, doch nur unserem sehnsuchtsvollen Setzen entspringt, sieht sich das Glauben immer wieder konfrontiert. Es ist ein Einspruch, den unser Glauben, sofern es weiß, dass es kein Wissen ist, sich selbst immer wieder macht.

Nur solange das Glauben sich das Nicht-Wissen eingesteht, das Glauben insofern ein angefochtenes Glauben ist, bleibt es ein Glauben, das zu uns Menschen als endlichen und begrenzten Wissen passt. Nur dann auch ist es ein Glauben, das uns Menschen guttut. Denn ein solch angefochtenes Glauben bleibt davor bewahrt, absolute Wahrheitsansprüche geltend zu machen. Es verliebt sich geradezu in die Vielfalt des Glaubens. Es treten Verhältnisse ein, in denen niemandem mehr sein eigenes Glauben abgesprochen wird und niemandem mehr ein ihm fremdes Glauben aufgezwungen wird. Es kommt zu einem Glauben aus je eigener, freier Einsicht in seine dem Leben dienliche Wahrheit.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin

“Was die Seele eines Menschen gesunden lässt.” Weiterdenken. Von Prof. Wilhelm Gräb

Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb im Februar 2018.

Die Fragen stellte Christian Modehn, Berlin.

Theologisches Denken ist sicher immer auch ortsbezogen. Immer mehr Menschen leben in Berlin, die Stadt wächst. Und mit dem Wachstum haben viele Bewohner auch ihre Probleme, man beachte die Knappheit und den hohen Preis von Wohnraum. Es gibt hier Auseinandersetzungen mit rassistischen Dimensionen. Zudem zeigen wissenschaftliche Untersuchungen, dass sehr viele Menschen das Leben in Berlin auch seelisch als sehr belastend empfinden. Da stellt sich für Theologen und Pfarrer die Frage: Welche neuen Formen der Begleitung und Hilfe für Menschen in Berlin sind wichtig? Ich möchte das alte klassische Wort der Seelsorge aufgreifen und Sie fragen: Wie sollte Seelsorge heute durch Christen, durch Pfarrerinnen und Pfarrer angemessen gestaltet werden?

Die Herausforderungen, vor denen die christliche Seelsorge im heutigen Berlin steht, sind enorm. Auf der einen Seite nehmen die Probleme, die den Menschen auf der Seele liegen, immer weiter zu. Zumindest empfinden viele ihre Lage als schwierig, angesichts all dessen, was Sie gerade angesprochen haben. Und vieles mehr wäre noch zu nennen, was für eine zunehmende Zahl von Menschen den Eindruck verstärkt, sie seien abgehängt und würden schlicht übersehen. Auf der anderen Seite haben die Kirchen kaum noch eine tragfähige soziale Basis. Eine immer weiter dahinschwindende Minderheit der Berliner Bevölkerung gehört einer der beiden großen Kirchen an (Stand 2017: 16% Evangelisch; 9% Katholisch). Von einem relevanten Beitrag der kirchlichen Seelsorge zur Grundversorgung in therapeutischer Lebenshilfe kann da eigentlich kaum noch die Rede sein.

Nehmen wir die religiöse Situation in Berlin in den Blick, so sind allerdings auch die vielen christlichen, aber auch muslimischen und anderen Religionsgemeinschaften verbundenen Migrantengemeinden zu erwähnen, die für viele Menschen eine enorm wichtige seelsorgerliche Aufgabe wahrnehmen. Ich denke, wir müssen es uns überhaupt abgewöhnen, was die Präsenz des Christentums und der Religionen in Berlin anbelangt, nur an die Mitglieder der Ev. Landeskirche und des katholischen Bistums zu denken. Die religiöse Landschaft ist viel bunter als gemeinhin bekannt. Erst recht erscheint sie in ihrer ganzen Vielfalt, wenn wir auch noch denjenigen, die keiner organisierten Religionsgemeinschaft angehören, nicht pauschal die Religionslosigkeit bescheinigen.

Wenn nun aber die Frage die ist, wie in einer solchen urbanen Situation christliche Seelsorge angemessen geschehen kann, dann wird dies eine Seelsorge sein müssen, die sich wirklich um die Seele sorgt, die jedes einzelnen Menschen. Es sollte ihr darum gehen, das zu tun, was die Seele eines Menschen gesunden lässt. Das bedeutet, für andere da zu sein, sie zu stärken, damit sie ihr Leben besser bewältigen, mit den oft schwierigen inneren und äußeren Umständen besser zurecht zu kommen. Weder sollten religiöse Zugehörigkeiten oder Nicht-Zugehörigkeiten eine Rolle spielen, noch gar der Zweck verfolgt werden, eine Glaubensbotschaft auszurichten oder Menschen für die eigenen Glaubensgemeinschaft gewinnen zu wollen.

Eine Seelsorge, die sich wirklich um die Seele sorgt, hilft Menschen, dass sie zu sich und zueinander finden. Sie lässt sie erfahren, dass sie anerkannt, wertgeschätzt, geliebt sind. Sie sorgt für eine Atmosphäre des gegenseitigen Respekts, auch noch in Situationen kultureller oder religiöser Fremdheit.

Wenn man sagt, eine „Kernaufgabe“ der Kirche ist die Begleitung von Menschen, Seelsorge genannt. Dann ergibt sich die Frage: Was muss besser werden, dass Pfarrerinnen und Pfarrer wirklich als kompetente gebildete Seelsorger wahrgenommen werden. Sollte etwa die psychologische Ausbildung innerhalb der Theologiestudien also eine viel größere Rolle spielen?

Ich bin gar nicht so sehr dafür, sofort in andere Disziplinen auszuweichen. Die Theologie kann, wenn sie sinnvoll betrieben wird, enorm hilfreich sein für eine gute Seelsorge. Dann versetzt sie nämlich in eine kritische Distanz zum eigenen Glauben, zu den eigenen Einstellungen zum und Vorstellungen vom Leben. Dann macht sie fähig, sich in den Referenzrahmen anderer Menschen hineinzuversetzen.

Die Theologie ist ja eine hermeneutische Wissenschaft. Auch wenn sie die Kunst des Verstehen überwiegend auf Texte, und dabei auf vielfach sehr fremde und schwer verständliche Texte anwendet, so sind dies doch Fähigkeiten, die auch im Umgang mit Menschen und den „Texten“, die ihr Leben sind, sich als sehr brauchbar erweisen.

Ich plädiere also für eine Theologie, die Daseinshermeneutik und Religionshermeneutik betreibt. Sie schafft die besten Voraussetzungen dafür, Menschen in ihren Lebenslagen verstehen und ihnen zu einem hilfreichen Begleiter in den sie herausfordernden Lebensfragen werden zu können.

3.Neue Formen der Seelsorge brauchen vielleicht auch neue Orte der Seelsorge: Ins Gemeindehaus finden wenige, es ist diese berühmte „Schwellenangst“, die suchende und fragende Menschen hindert, in „Gemeindebüros“ zu gehen. Sollte sich das Modell der offenen Gesprächssalons, etwa in Galerien oder Kneipen, in Berlin nicht viel stärker durchsetzen: Also die Kirche verlässt ihre übliche „Binnenräume“ und ist zum Gespräch mit allen Menschen bereit.

Zur Kirche, zu den Pfarrern und Pfarrerinnen, kommt schon lange kaum noch jemand, wenn etwas auf der Seele lastet. Das Amt allein trägt die Seelsorge nicht mehr. Es ist die Person des Pfarrers, der Pfarrerin, die, ausgestattet mit seelsorglicher Gesprächskompetenz, dort den seelsorglichen Kontakt zu Menschen finden, wo dieser sich zwanglos ergibt. Das eben geschieht bei Gelegenheit, bei zufälligen Begegnungen, im Supermarkt und in der S-Bahn. Wichtig ist die persönliche Beziehung, ein Vertrauensverhältnis. Dass die Kirche aus sich herausgehen muss, will sie den Kontakt zu den Menschen finden, ist klar. Angesichts der Vielfalt der Lebenswelten, kulturellen Milieus und sozialen Zugehörigkeiten, ist das heute eine ganz besondere Herausforderung. Die Pfarrer und Pfarrerinnen können ihr selbstverständlich nur partiell begegnen. Seelsorge geschieht aber glücklicherweise immer dann, wenn Menschen bereit sind, aufeinander zu hören, sich in den anderen einzufühlen, die andere in dem zu verstehen, was sie bedrückt und womit sie alleine nicht fertig wird. Die Seelsorge ist tief eingelassen in unsere zwischenmenschlichen Beziehungsverhältnisse. Das zu wissen, kann den professionell in der Seelsorge Tätigen die Angst vor Überforderung nehmen. Es kann sie ebenso dazu ermutigen, sich für das seelsorgerliche Gespräch offen zu halten, wo immer es sich in den alltäglichen Zusammenhängen und Begegnungen ergibt.

Mit den Menschen das Leben zu teilen, selbst dort zu sein, wo es geschieht, im Glück wie in der Not, schafft die besten Voraussetzungen für eine gute Seelsorge, auch im scheinbar so unkirchlichen, urbanen Berlin.

copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

„Ich selbst bin auch der andere“. Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

„Ich selbst bin auch der andere“

Ein Interview mit dem protestantischen Theologen Prof. Wilhelm Gräb, Berlin

Die Fragen stellte Christian Modehn

„Andere“ Menschen – als „die Fremden“ vor allem – werden heute in vielen Staaten und Gesellschaften als Bedrohung erlebt. Dies kann man durchaus als die tiefste geistige Krise der Gegenwart betrachten: Man möchte „die anderen“ ausgrenzen und vertreiben. Populismus, „mein Land zuerst“ und Rassismus sind der politische Ausdruck dieser Haltung. Sie hat gewiss auch ökonomische Ursachen. Wie aber lässt sich argumentativ zeigen, dass die Zurückweisung der anderen und Fremden unser eigenes Leben selbst beschädigt?

Im Sommer 2015 waren wir positiv überrascht, angesichts der verbreiteten „Willkommenskultur“ in Deutschland. Wir beide haben damals auch einige Gespräche geführt und in der Reihe „Weiterdenken“ publiziert. Dabei ging es uns vor allem um 2 Dinge. Zum einen, dass die große Bereitschaft zur Aufnahme der Flüchtlinge und Asylsuchenden ein Gebot der Menschlichkeit ist. Wir haben uns dessen versichert, dass in einer Weltlage, in der so viele Menschen vor Krieg, Hunger und Perspektivlosigkeit über die Balkanrute bzw. das Mittelmeer ins wohlhabende und politisch gefestigte Europa fliehen, es die Menschenrechte verlangen, Aufenthalts- und nach positivem Ausgang des Asylverfahrens auch Bleiberecht zu gewähren.

Inzwischen haben sich die positive Stimmung und die große Aufnahmebereitschaft vom Sommer 2015 verflüchtigt oder fast gar in ihr Gegenteil verkehrt. Die „Willkommenskultur“ wurde durch eine Politik der Abschottung ersetzt. Der zunächst vorherrschenden Aufnahmebereitschaft treten die Angst vor den Fremden, den ethnisch, kulturell und religiös anderen entgegen. Statt den Migranten mit offenen Händen und Herzen zu begegnen, greifen in vielen Ländern des „Westens“ Kulturrassismus, Xenophobie, Islamophobie und Homophobie um sich. Es scheint eine Wende auch im Innern sich zu vollziehen, ein erneuter Wertewandel, der von den liberalen Freiheitswerten einer offenen Gesellschaft wegführt.

Wie soll man sich das erklären? Plötzlich diese verbreitete Akzeptanz einer Rhetorik der Abgrenzung und Ausgrenzung, der Verunglimpfung von Minderheiten, der Missachtung anderer Ethnien, Religionen und Kulturen! Wie kommt es, dass dies alles auf einmal wieder so viel Zustimmung findet, in allen Schichten der Bevölkerung?

Soziologische Studien haben herausgefunden, dass es nicht stimmt, was zunächst vielfach behauptet wurde, dass die sozial Benachteiligten und Abgehängten den – beschönigend „Populisten“ genannten – Rechtsradikalen auf den Leim gehen. Fremdenhass und rassistische Vorurteile stoßen bis in die bürgerliche Mitte hinein auf Resonanz. Ich erlebe es im eigenen Bekanntenkreis. Der Kulturrassismus ist gewissermaßen hoffähig geworden. Selbst einige ansonsten durchaus seriöse Politiker, Journalisten und Intellektuelle suchen nicht nur Erklärungen für dieses Phänomen, sondern liebäugeln mit dessen Rechtfertigung.

Dabei müsste eigentlich allen klar sein, dass die Ausgrenzung der Fremden und erst Recht die pauschale Zurückweisung von Asylsuchenden einer eklatanten Verleugnung des aufgeklärten Menschenrechtsdenkens gleichkommt. Viele glaubten, auch ich, dass das Wissen um die ungeheuren Verbrechen, zu denen der antisemitische Rassismus geführt hat, ähnlichen Entwicklungen für immer Einhalt zu gebieten in der Lage sei. Schließlich ist die UN-Charta von 1948 mit ihrer Erklärung der Menschenrechte unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Gräuel auf den Weg gebracht worden.

Doch offensichtlich ist das schon wieder zu lange her oder es ist die Rede von der „Einzigartigkeit“ dieses Verbrechens zu oft und unbedacht wiederholt worden, so dass eine gewisse Blindheit gegenüber ähnlichen Entwicklungen, die längst wieder weltweit in Gang sind, eintreten konnte. Dabei haben hierzulande die liberalen Freiheitswerte für die meisten, nicht nur für Minderheiten, enorme Steigerungen an Lebensqualität bewirkt. Aber vielleicht sind auch diese Werte, wie die freie Selbstentfaltung in politischer, ökonomischer, religiöser und sexueller Hinsicht, wie die Gleichheit aller vor dem Gesetz, inzwischen schlicht zu selbstverständlich geworden.

Die Kämpfe, die deren Durchsetzung verlangt haben, werden vergessen und die Schätzung des Gewinns, der darin liegt, dass Menschen nicht mehr wegen ihrer politischen, religiösen oder sexuellen Orientierung diskriminiert werden dürfen, geht verloren. Die Anstrengungen vor allem, deren es nach wie vor bedürfte, um diese Freiheits- und Gleichberechtigungsrechte zu bewahren und fortschreitend durchzusetzen, geraten aus dem Blick.

Stattdessen fordern viele jetzt wieder die Stärkung angeblich ererbter ethnischer, religiöser und kultureller Zugehörigkeitsgefühle, gilt ihnen die Nation wieder etwas, missbrauchen sie sogar das Christentum als kultureuropäischen Identitätsmarker. Damit befördern sie zugleich die Abgrenzung gegenüber den anderen, denen, die aufgrund ihrer kulturellen Herkunft, ihrer Religion, ihrer ethnischen Einweisung nicht dazugehören und nicht dazugehören sollen – es sei denn, sie „integrieren“ sich, sie passen sich an, sich lassen sich „uns“ gleich machen. Das Fremde jedenfalls, das andere gegenüber dem eigenen, es soll verschwinden, und wenn es sich schon nicht wieder vertreiben lässt, möglichst unsichtbar werden. Man hält es nicht aus mit ihm. Dann passiert auch noch ein Terroranschlag und es wird die Angst „vor allen diesen Flüchtlingen“ immer größer. Was aber verbirgt sich hinter dieser Angst? Vom Nationalismus sprach ich schon. Sicher spielt auch ein elementarer Egoismus eine Rolle, verbunden mit der Furcht, den eigenen Wohlstand zu verlieren und die Unfähigkeit, die Freude im Miteinander Teilen zu erleben. Diese Fragen der Ethik sind ein eigenes, dringendes Thema.

Wir möchten an die philosophische Erkenntnis erinnern, die Hannah Arendt formuliert hat: „Ich selbst bin auch der andere!“ Das heißt: Ich erlebe mich in der Reflexion selbst als den anderen, den Befremdlichen, der sich gegenüber seinem Jetzt-Zustand noch anders, besser, entwickeln sollte. Wo aber gibt es noch Raum für diesen inneren Dialog?

Vielleicht ist für diesen inneren Dialog und damit die Verständigung über die eigenen Gefühle deshalb so wenig Raum, weil uns die Freiheitsgewinne zu selbstverständlich geworden sind. Die universalistischen Werte, wie Freiheit, Gleichheit, Menschwürde, wir betrachten sie gewissermaßen als unseren fraglosen Besitz. Sie sind für uns weithin nicht mehr das, was es durch uns selbst zu erkämpfen und zu verteidigen gilt, zudem für die meisten Menschen auf dieser Erde noch längst nicht eingelöst ist. Vergessen scheint, dass es die Werte sind, die für alle Menschen gelten, unabhängig von Ethnie, Rasse, Religion, Sexualität und Gender. Übersehen wird, dass sie uns verpflichten, andauernd, den Anderen und Fremden gegenüber, den Migranten, Flüchtlingen und Asylsuchenden.

Sich selbst an der Stelle der anderen zu erkennen, den anderen als Teil von sich selbst zu sehen, diese Fähigkeit scheint uns in der Tat weithin verloren gegangen zu sein. Die Erinnerung an die verheerenden Folgen des rassistischen Antisemitismus ist verblasst, ebenso die an Flucht und Vertreibung, wie sie nach 1945 Millionen Deutscher zu Fremden im eigenen Land gemacht haben.

Bei meinem letzten Besuch in Südafrika, im Februar 2017, bin ich auf eine große, vom ANC und der von ihm getragenen Regierung beförderte, von Rundfunk und Fernsehen, dem Internet und den sozialen Medien betriebene Öffentlichkeitskampagne aufmerksam geworden. Unter Berufung auf die sog. UN-Durban-Declaration von 2002 hat die südafrikanische Regierung einen mehr als 60-seitigen „National Action Plan“ (2016-2022) aufgelegt, der dazu aufruft, Rassismus, die Xenophobie und die Diskriminierung von Minderheiten, energisch zu bekämpfen. (http://www.gov.za/sites/www.gov.za/files/NAP-Draft-2015-12-14.pdf)

Detailliert wird dargelegt, was in den Jahren bis 2022 in den Schulen, Universitäten und Kirchen, den NGOs und durch alle aktiven Kräfte der Zivilgesellschaft unternommen werden sollte, um dem in der Gesellschaft nach wie vor herrschenden Rassismus, dann aber auch dem zuletzt besonders gewalttätig gegenüber Migranten aus dem ärmeren Norden Afrikas ausbrechenden Fremdenhass entgegenzutreten.

Festgestellt wird, dass Rassismus, Xenophobie und die Diskriminierung von Minderheiten ein Problem aller Gesellschaften sei. Es sei jedoch, so heißt es weiter, nun eine ganz besondere Verpflichtung der jungen südafrikanischen Demokratie, für die Verteidigung der universalen Menschenrechte, die Anerkennung der unverletzlichen Würde und die rechtliche Gleichheit aller Menschen, unabhängig von rassischen, ethnischen, religiösen Zugehörigkeiten und sexuellen Orientierungen zu kämpfen.

Ungeheuer lebendig ist in Südafrika immer noch das Wissen um die kaum wieder gut zu machenden Schäden, die der Rassismus und die Angst vor dem kulturell und ethnisch anderen und Fremden in der Gesellschaft angerichtet haben, gipfelnd schließlich in der Politik der Apartheit. Fortdauernd sind die verheerende ökonomische Ungerechtigkeit und die ungleiche Verteilung der Bildungs- und Aufstiegschancen im Land. Dass eine von rassistischen Vorurteilen und der Angst vor dem anderen und Fremden gesteuerte Gesellschaft sich am Ende selbst zerstört, ist in Südafrika so sehr im öffentlichen Bewusstsein präsent, dass eine von der Regierung gestartete Initiative zur Bekämpfung des nach wie vor existierenden Rassismus und der zunehmenden Angst vor den Fremden, auf breite Zustimmung bei vielen Akteuren in den Kirchen und der Zivilgesellschaft stößt.

Die größte Südafrikanische Kirche, die der Methodisten, hat in ihrem theologischen Ausbildungsseminar in Pietermaritzburg gerade ein Forschungs- und Fortbildungsinstitut zur Bekämpfung von Rassismus, Xenophobie und sexueller Diskriminierung eingerichtet: Das „Khoza Mhojo Centre For Social Justice And Transformation“ (http://www.smms.ac.za/khoza-mgojo-centre/)

Nach den konfliktreichen kulturellen Debatten in Europa ist klar: Der aufgeklärte Mensch muss überhaupt keine Angst haben vor Gesprächen mit anderen, Fremden und Befremdlichen. Dialog und Geduld gehören dabei wohl zusammen. Grenzen der Gesprächsbereitschaft sollte man nicht zu schnell ziehen. Wann aber können sie, förmlich als letztes Mittel, hilfreich sein?

Angst vor dem Fremden ist völlig fehl am Platz, das ist klar. Denn die Wahrung und Verteidigung der eigenen kulturellen Identität westlicher Gesellschaften, die die universalistischen Werte von Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde in sich aufgenommen haben, ist nur möglich, wenn eben diese Werte nicht verleugnet oder gar missachtet werden. Allerdings bringt die Behauptung dieser vom Menschenrechtsdenken bestimmten kulturellen Identität auch Verpflichtungen mit sich, für alle, die sich in die von ihm bestimmte Praxis der Anerkennung einbezogenen finden. Das Menschrechtsdenken und seine universalistischen Werte verpflichten auch die, die zunächst als die „Fremden“ begegnen. Ihnen gilt das „Willkommen“. Wir brauchen das Gespräch mit ihnen, ohne das keine Begegnung, kein Kennenlernen stattfinden können. Das führt immer auch zu Auseinandersetzungen und Streit. Nicht alles will uns verständlich oder gar akzeptabel erscheinen. Doch es gilt die Anerkennung der anderen gerade in ihrem Anderssein zu lernen.

Dabei darf die Gesprächsbereitschaft, wie ich meine, so schnell kein Ende finden. Doch es gibt Grenzen. Diese sehe ich erst dort, wo diese Gesprächsbereitschaft von den anderen verweigert wird. Denn dann haben wir es mit einer Haltung zu tun, die die Bedingungen untergräbt, unter denen Offenheit für andere und Fremde möglich wird, die Liberalität im Umgang sogar mit dem uns Unverständlichen gewahrt bleiben kann. Die Grenzen der Freiheit liegen dort, wo diese anfängt, ihre Realisationsbedingungen selbst zu zerstören.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb, Berlin und Religionsphilosophischer Salon Berlin.

An Fakten glaubt man nicht!

An Fakten glaubt man nicht!

Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb, Berlin

Die Fragen stellte Christian Modehn

Die neue US – amerikanische Regierung unter Trump will der Öffentlichkeit einhämmern, dass sie allein weiß, was Fakten sind. Wir sollen Tatsachen (etwa: wie viele Leute bei der Amtseinführung Trumps dabei waren) in einer offiziell vorgegebenen Umdeutung als Glaubenshaltung akzeptieren. Glauben an die Machthaber soll Wissen ersetzen. Was kann der einzelne dagegen tun?

Es ist wirklich grotesk, was zurzeit im Weißen Haus in Washington geschieht. Es geht schlicht nicht, Faktenwissen zur Glaubensfrage zu erheben und dann auch noch über den richtigen Glauben durch willkürlichen Machtentscheid zu befinden. Was die Fakten sind, wie also sich etwas tatsächlich verhält oder verhalten hat, können wir wissen. Um solches Wissen können wir uns zumindest bemühen und das tun wir ja auch ständig. Deshalb recherchieren seriöse Journalisten, bevor sie mit einer Meldung an die Öffentlichkeit gehen. Auch die Wissenschaft, also das methodisch kontrollierte Bemühen um das Wissen, verlöre jeden Sinn, wenn das Wissen-Können durch ein Glauben-Müssen ersetzt würde.

Allerdings, worauf uns Trumps unverschämte Attacke auf die Freiheit der Medien und der Wissenschaft aufmerksam machen kann, ist, dass es Wissen und Glauben nicht nur zu unterscheiden gilt, sondern diese auch miteinander zusammenhängen.

Was wir wissen können, müssen wir auch wissen dürfen. Das ist die Basis einer freien und demokratischen Gesellschaft. Wo das Wissen, das möglich ist, nicht zugelassen oder unterdrückt oder schlicht per Machtentscheid zur Unwahrheit erklärt wird, haben wir es mit einer Diktatur zu tun. Das, was wir wissen oder zu wissen meinen, ist allerdings immer fraglich und umstritten. Ob hinsichtlich der Besucherzahl bei der Inaugurationsfeier die Medien oder die Trump-Leute Recht haben, muss geprüft werden. Das ist keine Glaubensfrage, sondern verlangt das Bemühen, herauszufinden, welche der strittigen Behauptung wahr ist. Jedes Wissen ist falsifizierbar, kann widerlegt werden. Von der Widerlegbarkeit des Wissens lebt die Wissenschaft. Die Bestreitung von Wissen will aber nie das Wissen durch einen Glauben, gar einen befohlenen Glauben ersetzen, sondern will ein zutreffenderes Wissen hervorbringen, herausfinden, was wirklich der Fall war oder der Fall ist, was also die Wahrheit ist.

Das Wissen kann und darf nicht durch den Glauben ersetzt werden. Gleichwohl ist das Wissen elementar auf den Glauben angewiesen, eben auf den Glauben an das Wissen-Können bzw. auf den Glauben an die Wahrheit. Wenn wir nicht mehr an die Wahrheit glauben und deshalb nach ihr suchen, ist kein kooperatives Zusammenleben mehr möglich.

Was kann der einzelne, was können wir tun, angesichts der empörenden Arroganz der Macht, die die neue US-amerikanische Administration demonstriert und mit der sie die Gefahr eines Endes der Freiheit der Medien, der Wissenschaft und damit der Demokratie heraufbeschwört?

Mir fällt nichts Besseres ein als zu sagen, es gilt ebenso treu wie trotzig am wahren Glauben, der ein Glaube an die Wahrheit ist, festzuhalten. Ermutigen kann uns dabei ein Wort Jesu aus dem Johannesevangelium: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen!“ (Joh 8, 32)

In den USA spielen fundamentalistische christliche Organisationen leider eine über-große Rolle auch in der öffentlichen Propaganda. Ist Trumps Eintreten für den autoritär vorgegebenen Glauben, entgegen der Faktenlage, auch ein Produkt dieser Kultur verirrter Frömmigkeit?

Der wahre Glaube, der ein Glaube an die Wahrheit ist, begrenzt nicht das Wissen, schon gar nicht ersetzt er das Wissen. Der wahre Glaube stachelt zum Wissen an. Wer an die Wahrheit glaubt und dann sogar auch noch weiß, dass wir an die Wahrheit glauben müssen, der will immer mehr wissen, will herausfinden, was wirklich der Fall ist. Der wahre Glaube führt in den Streit um die Wahrheit. Dieser Streit aber muss mit besseren Argumenten und mit dem Verweis auf die Evidenz von Fakten ausgetragen werden.

Insofern ist der Vorgang, den der neue US-amerikanische Präsident darstellt, in der Tat auch ein Resultat der heillosen Verwirrung im Verhältnis von Wissen und Glauben, den die religiösen Fundamentalisten aller Couleur seit längerem schon anstiften. Die religiösen Fundamentalisten behaupten ja z.B. zu wissen, dass Gott die Welt in 6 Tagen geschaffen hat. Sie versuchen dafür geologische Beweise vorzubringen. Sie kennen keinen Glauben, der wirklich Glaube ist, Vertrauen in die Durchsetzung der Wahrheit, um die wir Menschen uns immer nur strebend bemühen können. Die religiösen Fundamentalisten behaupten, zu wissen, wo es recht eigentlich um das Glauben geht und sie glauben, wo sie sich um ein besseres Wissen bemühen sollten.

Der heillosen religiösen Verirrung, der die Fundamentalisten erliegen und in deren Bannkreis auch Trump und seine Leute stehen, ist leider nur mit religiös-theologischer Aufklärung zu begegnen.

Glauben und Wissen sind zwei unterschiedliche menschliche Haltungen der Wirklichkeit gegenüber. In welcher Beziehung zur Wirklichkeit hat Glauben, wohl immer verbunden mit fragendem Zweifeln, überhaupt Sinn und ist vernünftig vertretbar?

Je mehr wir wissen, wissen können und wissen wollen, desto dringender brauchen wir den Glauben, den wahren Glauben, der ein Glaube an die Wahrheit ist. Der Glaube an die Wahrheit treibt uns dazu an, immer mehr wissen zu wollen. Er führt uns in den Streit um die Wahrheit, eben weil mit ihm das Wissen verbunden ist, dass unser Wissen immer strittig bleibt. Ohne die Auseinandersetzung zwischen miteinander streitenden Wahrheitsansprüchen gibt es kein Wissen. Wissen ist auf Dialog und Dialektik angewiesen. Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr!

So gesehen macht dann das Glauben gerade dem, der wissen will und sich am Streit um die Wahrheit beteiligt, enorm viel Sinn. Unser Bemühen um das Wissen, herauszufinden, was wirklich ist, ergibt überhaupt erst in Verbindung mit dem Glauben an die Wahrheit einen Sinn. Würden wir nicht an die Wahrheit glauben, wären wir im Grunde alle in der Lüge gefangen. Dann träte aber auch genau der Zustand ein, in dem ein kooperatives menschliches Zusammenleben gar nicht mehr möglich ist.

Also, wer an der Möglichkeit des Wissen-könnens und damit an der Unterscheidung von wahr und falsch festhält, und das sind im Grunde alle, denen es um eine demokratische Verständigung über die unser Gemeinwesen betreffenden Angelegenheiten geht, der muss zugleich ganz stark glauben, muss an die Wahrheit glauben. Ja, die Wahrheit ist das, woran wir glauben müssen, weil wir sie selbst nicht wissen können. Die Wahrheit bleibt uns entzogen, letztlich unbegreiflich, ist aber gerade so das Ziel all unseres Streben nach Wissen. Diesen Glauben gibt es nicht ohne den Zweifel, eben weil er wahrer Glaube und kein Wissen ist, zu einem solchen auch niemals werden kann.

Statt vom Glauben an die Wahrheit können wir dann aber auch vom Glauben an Gott sprechen. „Gott“ ist das Wort für den unbegreiflichen Sinn des Ganzen. Wer wahrhaft an Gott glaubt – und nicht an einen zum Zwecke eigenen Machtstrebens aufgestellten und die eigene Größe demonstrierenden Götzen –, der strebt nach der Wahrheit, setzt sich argumentativ mit den Wahrheitsbehauptungen anderer auseinander, bleibt im Gespräch.

Wer nicht an Fakten, sondern an Gott als die Wahrheit glaubt, strebt nach der Wahrheit, indem er sie herausfinden will. Er behauptet nie, die Wahrheit zu besitzen und in der eigenen Tasche zu haben.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb, Berlin, und Religionsphilosophischer Salon Berlin