An die Auferstehung „vernünftigerweise glauben“!

Kants Beitrag zur “Unsterblichkeit” … zum Osterfest.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 9.4.2025

1.
Die Auferstehung Jesu von Nazareth ist keineswegs ein Thema, das für religiöse oder kirchlich-fromme Leute reserviert ist. Die Auferstehung Jesu, verbunden mit der Frage: Was bedeutet sie für alle anderen Menschen, ist auch ein Thema der Philosophie. Also des umfassend kritischen Nachdenkens. Auch Immanuel Kant hat sich auf das Thema eingelassen, für ihn waren Themen der Religion keineswegs tabu, sie waren eingebunden in seine praktische Philosophie. Kants Erkenntnisse zur Auferstehung sind, hinischtlich des theologischen Inhalts, eher bescheiden, sie wehren allen Überschwang und fromme Phantasie ab. Aber es bleibt doch beachtlich, dass – sozusagen mit einem elementaren Inhlt – die Auferstehung Jesu und der Menschen „vernünftigerweise“, wie Kant sagt, geglaubt werden kann.

2.
In seinem schon damals viel beachteten Buch „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793, Fußnote 1) setzt sich Kant kritisch mit dem Glauben an Gott auseinander, auch mit dem kirchlichen Glauben, der sich auf die Offenbarung, also auf die Bibel stützt: In diesem Glauben an geschichtliche Ereignisse nimmt der Mensch unmittelbar die Worte der Bibel, so sie wie da stehen, zum Maßstab der persönlichen Spiritualität.

3.
Das Leben Jesu endet für Kant in der „öffentlichen Geschichte“ (also in historischer Sicht) mit Jesu Tod. Sehr richtig betont er: Nur die “Augen seiner Vertrauten“ (so Kant, B 191) hätten ihn als Auferstanden und in den Himmel Auffahrenden erlebt und gedeutet. Daran klammern sich bis heute viele fromme Leute und mißverstehen die Auferstehung als ein historisches Ereignis.
Das wortwörtliche Verstehen der Bibeltexte lehnt Kant mit guten Gründen ab, schließlich sind Elemente der historisch – kritischen Bibelwissenschaft schon damals bekannt. Kant lehnt die Jesus – Gestalt aber nicht prinzipiell ab, sie versteht er als ein „Urbild der allein Gott wohlgefälligen Menschheit“ (B 192). Im vierten Kapitel der “Religionsschrift” nennt Kant ausführlich “zur Beglaubigung dieser seiner (Jesu) Würde, als göttlicher Sendung”, ausführlich einige zentrale Lehren Jesu. Kant lobt sie, weil sie “die alles entscheidende reine moralische Herzensgesinnung” fördern und nicht eine erstarrte, auf Statuten gründende religiöse Haltung. (Siehe dazu Seiten B 239 – B 243).

4.
Innerhalb seines Buch, im „Dritten Stück“ mit dem Titel „Sieg des guten Prinzips über das böse“, stellt Kant seine vernünftige Deutung der Auferstehung Jesu vor. Sie kann für alle Menschen nachvollziehbar sein. Auf Seite B 191 nimmt Kant dazu in einer längeren Fußnote ausführlich Stellung! Man muss beachten, dass diese kritische, vernünftige „Religionsschrift“ Kants in Zeiten königlicher Zensur Friedrich Wilhelm des Zweiten veröffentlicht wurde, in einer Zeit mit allen Attacken von orthodox-glaubender, konservativ – theologischer Seite. Darum argumentiert Kant hier eher bedächtig und vorsichtig.

5.
Zunächst steht für Kant fest: Wenn der kirchlich – fromme Glaube an Auferstehung und Himmelfahrt „buchstäblich genommen“ wird, ist er „der sinnlichen Vorstellungsart der Menschen zwar sehr angemessen.“ ABER „sinnliche Vorstellungen“ allein sind bloß zufällige Impressionen einzelner, sie können im Bereich der allgemeinen Vernunft nicht gültig sein. Darum sagt Kant: Diese sinnliche Vorstellung von der Auferstehung ist der „Vernunft sehr lästig“ (B 192), das heißt: Sie stört, sie hat in einem vernünftigen Denken keine Geltung.

6.
Wegen der Zensur schreibt Kant offenbar bewusst in eher schwierig nachvollziehbaren Formulierungen, aber seine Position ist deutlich: Ein „Klumpen Materie“, also der menschliche Körper, kann gar nicht in eine Ewigkeit auferstehen. Für die Vernunft ist es unvorstellbar, den Körper„in Ewigkeit mit uns zu schleppen“ (B 193). Diese im ganzen mühsam formulierte Zurückweisung der kirchlich üblichen „Auferstehung des Leibes“ ist also eine Art Vorsichtsmaßnahme angesichts der Zensurbestimmungen in Preußen bei dem sehr konservativ-frommen König Friedrich Wilhelm II. Kant vermag deswegen nicht klipp und klar seine Erkenntnis sagen: Eine leibliche Auferstehung ist für die Vernunft nicht denkbar. So bleibt es dabei: Diese fromme Vorstellung ist der Vernunft nur „sehr lästig“.

7.
Etwas deutlicher geht es dann weiter: „Die Hypothese des Spiritualismus vernünftiger Weltwesen ist der Vernunft günstiger.“ (B 192). „Spiritualismus“ ist der Gegenbegriff zu Materialismus und meint die Eigenständigkeit des Geistigen gegenüber dem Materiellen.
Konkret bedeutet diese Hypothese: „Der Körper bleibt tot in der Erde und doch kann dieselbe Person lebend dasein.“ Das heißt: „Der Mensch kann dem Geiste nach (in seiner nicht – sinnlichen, materiellen Qualität zum Sitz der Seligen, also in den `Himmel, gelangen.“ Bei dieser Idee der Auferstehung des Geistes wird der „Auferstandene“ nicht „in irgendeinen Ort im unendlichen Raume (und den wir auch Himmel nennen) versetzt.“
Damit sagt Kant: Es gibt nur eine – letztlich nicht klar beschreibbare Auferstehung des Geistes, der Seele, eine leiblichen Auferstehung würde ja bedeuten, dass die Körper irgendwie im unendlichen Raume, im Himmel, herumschwirren. Es ist der Geist der vernünftigen Weltwesen, der Menschen, der „zum Sitz der Seligen“ (also zu Gott) gelangt.

8.
Schon zu Beginn dieser längeren Fußnote schreibt Kant: Auferstehung und Himmelfahrt bedeuten als Vernunftideen „den Anfang eines anderen Lebens und den Eingang in den Sitz der Seligkeit, das ist in die Gemeinschaft mit allen Guten“. Kant meint damit den Eintritt des Geistes in die göttliche Wirklichkeit, den Himmel, in dem sich die Geister „der guten Menschen“ treffen, der Menschen, die für gut befunden wurden nach einem Urteil Gottes.

9.
Kant spricht über die Auferstehung auch in seinen großen zentralen Werken im Zusammenhang von “Unsterblichkeit“ und Gott..
Die Einbindung des Themas in Kants praktische Philosophie ist dabei zentral! Und dabei führt er in anspruchsvolle Überlegungen.

10.
Zumal in den Reflexionen Kants zum „höchsten Gut“ wird die Hoffnung auf die Glückseligkeit thematisiert: Diese kann der Mensch erhoffen, wenn er sein Leben gemäss der vernünftigen Sittlichkeit gestaltet hat.
Wer gemäß dem „Kategorischen Imperativ“ lebt, gestaltet sein Leben über den materiellen Eigennutz hinaus, er verzichtet auf viele Vorteile, nimmt aber durch den praktischen Respekt für das „moralische Gesetz in ihm“ (Kategorischer Imperativ) schon teil an der „besseren Welt der vollkommenen Gerechtigkeit“, also „dem höchsten Gut,“ betont Kant.

11.
Alle Menschen sollten so glücklich werden, wie sie es aufgrund ihres sittlichen Lebens verdienen. Diese zentrale Forderung verbindet Kant mit zwei „Postulaten“, wie er sagt, mit dem Postulat der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz Gottes.
Diese anspruchsvollen Überlegungen haben zur grundlegenden Voraussetzung: Wenn der Mensch in seiner Vernunft einem moralischen Sollen begegnet, dann hat diese Erkenntnis des Sollens nur Sinn, wenn der Mensch diesem Anruf des Sollens auch praktisch entsprechen kann. Und daraus ergeben sich weitreichende Konsequenzen.

12.
In aller Kürze: „Zwar können wir, wie Kant in seiner `Kritik der reinen Vernunft` gezeigt hat, nicht wissen, ob es einen Gott gibt und ob unsere Seele unsterblich ist. Aber wir müssen dies vernünftigerweise glauben, weil wir nur so verstehen können, wie wir unserer Pflicht nachkommen können, das höchste Gut (die vollkommene gerechte Welt) zu verwirklichen“, schreibt der Kant – Spezialist Marcus Willaschek in seiner Studie „Kant“ S. 140 (Fußnote 2). „Nun bin ich verpflichtet, das höchste Gut zu verwirklichen. Doch das ist nur möglich, wenn meine Seele unsterblich ist und Gott existiert. Denn: Nur eine unsterbliche Selle kann sich in einem unendlichen Prozess tatsächlich der vollkommenen Tugend annähern. Und nur Gott als „Allmacht und Allgüte“ kann dafür sorgen, dass der moralische Handelnde endgültig glücklich wird.“ Aus der Reflexion auf die menschlichen moralischen Pflichten ergibt sich also, dass wir „vernünftigerweise glauben“ können, dass es Unsterblichkeit der Seele und die Existenz Gottes gibt. „Zumindest dann, wenn es um die Voraussetzungen moralischer Pflichterfüllung geht und keine eindeutigen Indizien dagegen sprechen, ist es durchaus rational, etwa an Gott und die Unsterblichkeit auch ohne ausreichende Belege zu glauben.“ (Willaschek, S.141)

13.
Kant zeigt auf seine Art und unter seinen Voraussetzungen, dass es vernünftig ist, an die Auferstehung zu glauben. Und diese Erkenntnis kann nicht nur die philosophischen Debatten über ein ewiges Leben der Seele bereichern. Diese Erkenntnis kann auch eine persönliche Spiritualität inspirieren und wegen der vernünftigen Bescheidenheit von Kants Aussagen vor allzu großem frommen Enthusiasmus bewahren wie auch vor verzweifeltem Nihilismus angesichts des Todes.

14.

Für Sokrates ist der eigene Tod, das eigene vorzeitige Sterben, nicht das größte Übel. Darin kommt bei ihm zum Ausdruck “die Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele, die bei Kant als Idee und Postulat der praktischen Vernunft wiederkehrt.” (Fußnote 3).  Zur Überzeugung von der Unsterblichkeit seiner Seele ist Sokrates durch die Reflexion auf den in ihm lebendigen LOGOS geführt worden.

Fußnote 1:
Wie üblich wird nach der 2. Auflage zitiert, vor den Seitenzahlen steht deswegen immer immer ein B.

Fußnote 2:
Marcus Willaschek, „Kant. Die Revolution des Denkens“. C.H.Beck Verlag, München, 2023.

Fußnote 3:

Heinrich Niehues – Pröbsting, “Die antike Philosophie”, Fischer Taschenbuch Verlag, 2004, Zitat auf Seite 183. Auch S. 203.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Abelard oder die (Ohn-) Macht der Vernunft … im Mittelalter

Über die aktuelle Bedeutung des Philosophen und Theologen Petrus Abelard
Ein Hinweis von Christian Modehn

Ein Vorwort: Warum an Abelard erinnern? Weil er als Theologe schon im Mittelalter allen Wert darauf legte: Die Vernunft des Menschen ist entscheidend im Studium der Dogmen und Kirchenlehren:  „Der Mensch kann nur glauben, was er zuvor verstanden hat. Und es ist lächerlich andere zu lehren, was sie nicht verstehen können“ (Zitat von Abelard, siehe Fußnote 1.)

1.
Für das „Mittelalter“ haben Etiketten und Klischees („dunkel“, „unterentwickelt“, „abergläubisch“…) keine vorrangige Geltung. Die Jahrhunderte zwischen Altertum und Renaissance, „Mittelalter“ genannt, sind von lebendiger Vielfalt, das „Licht“ (die Vernunft) setzt sich langsam durch, gegen die Finsternisse des (Aber)-Glaubens…
Das gilt besonders für die Philosophien. Der Plural Philosophien muss betont werden: Thomas von Aquino war keineswegs der einzige maßgebliche oder einflußreiche Denker, das behaupten manchmalTheologen, zumal katholische. Streit, Debatte, und damit Ketzereien waren selbstverständlich.

2.
Wir wollen an Petrus Abelard erinnern, den Philosophen und Theologen, der traditionelle Lehren nicht gehorsam wiederholte, der den Zweifel pflegte und Kritik lobte; und vor allem: Der eine neue Interpretation des Christentums vorlegte: Ein Beispiel: Die Vorstellung von einem himmlischen Vater – Gott, der seinen Sohn (Christus) dem Kreuzestod zur „Erlösung der Menschheit“ überlässt, lehnte Abelard ab.

3.
Mit dem französischen Philosophen Petrus Abelard (geboren im Jahr 1079 in Le Pallet, in der Nähe von Nantes, gestorben am 21. April 1142 bei Chalon-sur-Saone) machte die „Weltgeschichte einen Ruck!“ Er war “einer erfolgreichsten Neuerer in der Geschichte der Philosophie“ und auch der Theologie: Diese Bewertung ist für einen der großen Kenner mittelalterlicher Philosophien, Prof. Kurt Flasch, nicht zu hoch gegriffen. So schreibt er in seinem Buch „Kampfplätze der Philosophie“ (Frankfurt M., 2008, S. 139 bzw. 131): „Durch Zweifeln kam Abälard zum Forschen, durch Forschen zur Wahrheit“, (S. 129), „er dachte die Wahrheit als etwas, das noch zu finden ist“ (ebd.). Probleme mit der Kirche, die auch damals glaubte“, „die Wahrheit zu besitzen“, waren für ihn damit „vorgrammiert.”

4.
Literarisch Interessierte kennen Abelard von den Korrespondenzen mit Héloise, seiner Gebliebten. Heute haben Forscher ihre Zweifel, dass Abelard Autor dieser Liebesbriefe ist. Es empfiehlt sich, schreibt Kurt Flasch, vorerst „Abelards philosophisches Werk ohne Zuhilfenahme des Briefwechsels mit Héloise zu interpretieren“. So schreibt Flasch in seiner umfangreicher Studie „Das philosophische Denken im Mittelalter“ (Reclam, 4. Auflage, 2020, S. 241). Über die tragische Liebesbeziehung Abelard – Héloise gibt es bekanntlich viele literarische, durch Phantasie angereicherte Zeugnisse, auch von Rousseau.
Tatsache ist, ohne hier eine umfangreiche Biographie zu präsentieren: Der Onkel der Héloise, der angesehene Priester Fulbert, duldete die Liebesbeziehung nicht: Héloise zog sich dann in ein Kloster zurück. Nach allerhand Querelen ließ Fulbert den Abelard überfallen und entmannen: Und der Ärmste zog sich dann als Mönch ins Kloster St. Denis zurück, das er bald aber wieder verließ: Er hatte ein sehr bewegtes, unruhiges Leben zwischen der Universität Paris und Klöstern als den Zufluchtsorten vor seinen vielen theologisch – konservativen Gegnern, wenn nicht Feinden. Dennoch ist die Fülle seiner Werke voller neuer Ideen erstaunlich. Da spricht ein Denker, der mit der philosophischen Vernunft auch die theologischen Lehren untersucht, interpretiert und neu formuliert. Die Übergänge zwischen Philosophien und Theologien waren im Mittelalter eher selbstverständlich.
Das – lateinisch verfasste – umfangreiche Werk des Philosophen und Theologe Abelard ist erhalten.
Er war ein radikaler Erneuerer…, deswegen wurde er von einflußreichen konservativen Autoritäten kritisiert und verleumdet, wie Bernhard von Clairvaux oder Wilhelm von Thierry. In einem „Konzil“ von Sens (in Burgund) wurde ihm im Jahr 1140 noch der Prozess gemacht, er galt dann als Häretiker, meinte der Papst. Abelard wollte in Rom widersprechen, starb aber auf der Reise dort hin.

5.
Dabei waren viele Lehren Abaelards, die im Konzil von Sens (1140) verurteilt wurden,  in heutiger kritischer theologischer Sicht durchaus treffend und inspirierend.

– „Der Heilige Geist ist die Seele der Welt.“ Das heißt: Dies ist eine  „Definition“ des “heiligen Geistes” in der Welt  durchaus modern und hilfreich.

– „Der freie Wille aus eigener Kraft reicht aus, um etwas Gutes zu bewirken.“ Das heißt: Die Aussage bezieht sich auf die „Schöpfung“ des Menschen durch Gott. Und Gott hat dem Menschen einen freien Willen gegeben und die Vernunft, deswegen kann der Mensch sich frei entschieden, Gutes zu tun und gut zu sein.

– „Christus hatte nicht den Geist der Gottesfurcht.“ Das heißt: Christus war als „Menschensohn“ auch Gott gegenüber frei und erkannte: Gott ist Liebe, er ist kein Tyrann, der willkürlich immer noch ins Weltgeschehen eingreift …

„Die Macht der Priester, zu binden und zu lösen, wurde nur den Aposteln gegeben und nicht ihren Nachfolgern.“ Das heißt: Der Klerus, Papst, Bischöfe usw. maßen sich an, so Abelard, von Gott dazu bestimmt zu sein, über das Wohl und Wehe und Heil der Menschen zu entscheiden.

– „Äußere Handlungen machen den Menschen weder besser noch schlechter“. Das heißt: Abelard legt allen Nachdruck darauf: Der ethische Wert einer Handlung eines Menschen wird nicht im äußeren Tun sichtbar. Der ethische Wert des Menschen ist die innere, seelische Qualität, das Reflexionsvermögen, der gute Wille. (Quelle: https://www.pierre-abelard.com/)

6.
Ein modern Philosoph und modern zu nennender  Theologe war Abelard aber sicher noch nicht, selbst wenn er den Wert der Erkenntnis des einzelnen Menschen auch in der Ethik anerkannte. „Abelard löste den Schein auf, als sei ethisches Handeln nur Konformität mit objektiven Regeln… Er hob hervor, dass die innere Zustimmung allemal in unserer Macht steht“, schreibt Kurt Flasch in „Das Philosophische Denken im Mittelalter“ , S. 251.

7.
In seiner Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie lehrte er, für mittelalterliche Verhältnisse eher unüblich, dass Gott einzig Liebe sei: „Der Gott Abelards sah sein eigenes Interesse darin, von dem Menschen frei geliebt und von ihnen als seinen Freunden, nicht seinen Knechten, verstanden zu werden“ (S. 252). Aber, hier wie in anderen theologischen Themen, hat sich Abelard nicht durchgesetzt, betont Kurt Flasch. „Weder Thomas von Aquino noch Luther folgten ihm…Sie kontaminierten seine Ideen mit den Vorstellungen, die er hatte überwinden wollen.“ ((S 253).

8.
Trotz dieser Probleme und der eher geringen Rezeption seiner Vorschläge: Abälard hat im Mittelalter als ein verfolgter Außenseiter, hoch gebildet und unter Studenten sehr geschätzt, „eine neue Variante des christlichen Denkens geschaffen“, sagt Kurt Flasch. Abelard setzte sich für den Dialog mit Juden und Arabern ein. „Es war Abelards Überzeugung, dass die göttliche Weisheit, die zweite Person der Trinität, auch die nichtchristlichen Denker inspiriert habe. Auf dieser Grundlage begann Abelard die Tradition friedvoller (irenischer) Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie …so gelang es bald, ein neues Konzept für das Verhältnis zu Islam und Judentum zu entwickeln“, schreibt Flasch (S. 253) , ein Konzept, das man als „natürliche“, mit dem Menschen als Menschen schon mitgegebene Religion bezeichnen könnte.
Und Kurt Flasch kann zurecht nicht darauf verzichten zu betonen, wie sehr Luther in seiner Theologie (auch des Antisemitismus) „weit unter dem Niveau Abaelards, Bulls und Nikolaus von Kues stand. Luther verlöre sofort, wenn man ihn mit mittelalterlichen Autoren auch nur mittleren Ranges vergliche (S. 681 in Reclam Buch)

9.
Über die Wirkungsgeschichte dieses ungewöhnlichen mittelalterlichen Denkers wäre zu sprechen: Manche Verbindungen zum Denken Hegels könnten sich andeuten: Für Hegel war seine eigene Philosophie mit der Theologie eng verflochten: Seine Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie habe als Philosophie die gleichen Inhalte wie die Theologie, betonte er, nur: Seine Philosophie sage eben den Glauben in Begriffen aus, sie hebe dadurch den anschaulichen Glauben ins begriffliche Denken auf…In seiner „Geschichte der Philosophie“ geht Hegel nur kurz auf Abelard ein. Mittelalterliche Philosophien waren nicht der Schwerpunkt Hegels.

10.
Papst Benedikt XVI. erwähnte in seiner „Generalaudienz“ vom 4. November 2009 Abelard im Zusammenhang bzw. im Vergleich mit dem viel konservativeren Mönch Bernhard von Clairvaux. Über Abelard sagte Benedikt XVI.: „Er bestand darauf, die Absicht des Subjekts als einzige Quelle für die Beschreibung der Freundlichkeit oder Bosheit moralischer Handlungen zu betrachten und so die objektive moralische Bedeutung und den Wert von Handlungen zu vernachlässigen: gefährlichen Subjektivismus. Dies – wie wir wissen – ist ein sehr aktueller Aspekt für unsere Zeit, in der Kultur oft von einem wachsenden Trend zum ethischen Relativismus geprägt zu sein scheint: Nur das Selbst entscheidet, was im Moment gut für mich wäre.“ (Quelle: https://www.vatican.va/content/benedict-xvi/de/audiences/2009/documents/hf_ben-xvi_aud_20091104.html)

11.
Es tut gut, an so genannten „eckigen Gedenktagen“ innezuhalten und sich auch bislang eher unbekannten Philosophen und Theologen zuzuwenden. Dabei wird deutlich, wie sehr unsere „übliche Bildung“ allzu sehr fixiert ist auf groß gemachte Größen, also auf Sieger und deren „runde Gedenktage“, diese groß gemachten, dogmatisch oder politisch korrekten Größen sind solche, die sich durchgesetzt haben, weil die Herrschaft, auch die Kirchenherrschaft, mit diesen bequem für die eigenen Ziele der Herrschaft umgehen konnte. Mit Abelards Erfolg hätte die Macht des Klerus auf Dauer keinen Bestand gehabt, die freie, auch theologische Forschung und Wissenschaft hätte sich früher durchgesetzt, die dumme, von Zweifeln völlig unberührte Machtgier der Päpste, etwa eines Bonifaz VIII., hätte keine Chancen gehabt. Mit einer gewissen geschichtsphilosophischen Melancholie endet also dieser „eckige Gedenktag“ an Petrus Abelard.

12.
Und heute? In Abelards Geburtsort Le Pallet bei Nantes wurde 1978 ein „Kulturverein Abélard“ gegründet, der auf seiner website zahlreiche Essays und Hinweise zu dem bedeutenden, aber in Frankreich sehr viel mehr als in Deutschland bekannten Philosophen und Theologen bietet. Allein der unterschiedloiche Umfang der wikipedia Beiträge zu Abelard auf Französisch und auf Deutsch ist erstaunlich. In Frankreich sind Straßen und Schulen nach Abelard benannt. Der “Kulturverein” in Le Pallet empfiehlt u.a. auf seiner website auch einen  Spaziergang durch Paris auf den Spuren Abelards…

Fußnote 1:
Zit. In „Histoire de la France religieuse“, Tome 1, dirigé par Jacques le Goff. Edition du Seuil, Paris, 1988, s. 342-343. Den Beitrag verfasst André Vauchez.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Eine Geschichte von Verlusten: Auch das ist die Moderne!

Hinweise zu Kipppunkten, zur Kollapsologie, zur „Rache der Populisten“ und so weiter
Eine Buchempfehlung von Christian Modehn am 17.2.2025

1.
Wir haben so vieles und so viele verloren: Belastende und schöne Beziehungen, vielfältige Naturerfahrungen, wir haben verloren die Hochschätzung der Demokratie oder das Wissen, in einer religiös fundierten sinnvollen Welt leben zu können.
2.
Wir können jetzt das Ausmaß unserer erlebten und erkannten Verluste kaum überschauen. Und dennoch folgen so viele wie üblich der neoliberalen Ideologie vom permanenten Wachstum und damit des Fortschritts im allgemeinen. Die Wahrheit hingegen ist: Eigentlich sind Menschen der Moderne immer auch Verlierer. Vieles geht verloren im turbulenten Geschehen des Aufbruchs und des immer-Mehr.
Verlust sollte also das Grundwort sein, um unsere Selbst – und Welterfahrung heute zu bezeichnen. Fortschritt ohne Verlust sehen und zu verstehen, ist also naiv, ist „fortschritts-gläubig“.
3.
Das ist das Thema des international geachteten Soziologen Prof. Andreas Reckwitz (Humboldt – Universität Berlin) in seiner neuesten Studie „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“ (Suhrkamp Verlag). Reckwitz hat die Begabung, mit einem zentralen Stichwort unsere Aufmerksamkeit hinzulenken zum differenzierten Verstehen der Moderne, die eigentlich nun als eine zerbrechende Moderne treffender „Spät-Moderne“ (etwa S. 289) genannt werden sollte.
4.
Das neueste Buch von Andreas Reckwitz könnte als eine Art ausführliches, aber gut lesbares und sehr empfehlenswertes  Lehrbuch verstanden werden, das viele Aspekte von Verlusten soziologisch analysiert und einordnet. Etwa das „Unsichtbarmachen“ des Verlustes im Umgang mit dem Tod als Verlust von lieben Menschen. Inspirierend die Hinweise zu üblichen Formen, Verluste zu bearbeiten: Etwa in der Nostalgie, dem Konservatismus, der Religionen…
5.
Das Buch ist die Arbeit eines Soziologen, der zugleich auch mit historischen und philosophischen Entwicklungen vertraut ist: Aber auch die genaue Kenntnis aktueller politischen Fragen wird deutlich, etwa, wenn vom Populismus als der „Rache an den Gewinnern“ (den ökonomischen, den politischen…) die Rede ist. Diese Erkenntnis ist zentral, und sie sollte im Zusammenhang des Aufstiegs etwa der rechtsextremen AFD oder der FPÖ beachtet werden, Reckwitz schreibt: „Den Populismus kann man ohne seine `rächende` Stoßrichtung nicht verstehen. Den anderen, den vermeintlichen Gewinnerinnen und Gewinnern der (Spät)- Modernisierung und zugleich den direkt oder indirekt vorgeblich Verantwortlichen für die eigene Misere sollen (von Populisten) ihrerseits Verluste zugefügt werden (vom Autor kursiv)… Das kann sich gegen Klimaschützerinnen oder erfolgreiche Homosexuelle richten, …. gegen Flüchtlingsaktivisten oder gegen Frauen in Führungspositionen.“

Die Populistenführer reden sich und ihren Anhängern ein: Sie seien zu kurz gekommen, hätten selbst zu viele Verluste erlebt, ihr Motto also, betont Andres Reckwitz: „Nun sollen die anderen verlieren.“ (Seite 394). Und solch eine Maxime ist ein Aufruf zum Kampf.
6.
Hier können nicht die vielen, in die Tiefe fahrenden Überlegungen von Andreas Reckwitz zur Dialektik von Fortschritt und Verlust in der (spät-)modernen Lebenswelt gewürdigt werden. Nur diese Hinweise:
7.
Wir sollten die gesellschaftliche Entwicklung gerade in zugespitzt empfundenen Situationen genau analysieren: Es geht um die Wahrnehmung von KIPP-PUNKTEN, also um die Wahrnehmung: Es gibt keine eindeutige lineare gesellschaftliche Entwicklung. Das schlichte Muster „kleine Ursache-große Wirkung“ sollte also vermehrt beachtet werden. „Im Falle des Kipppunktes braucht es am Ende nur ein winziges Ereignis, um das gesamte System aus dem Gleichgewicht zu bringen. Dieses Ereignis ist allerdings nicht zufällig, sondern lässt sich in ein langfristiges, sich steigerndes Prozessgeschehen einordnen… „(S. 310).
Ein Beispiel aus unserer Sicht: Am 29. Januar 2025 hat der CDU/CSU Kanzlerkandidat Friedrich Merz seinen „Gesetzesentwurf“ für eine „Zustrombegrenzung “von Flüchtlingen bewusst und direkt geplant mit den Stimmen der AFD gewonnen. Die demokratische Presse sprach von einem Dammbruch, man könnte auch sagen: Es war ein Kipppunkt. Man wird abwarten, wie und wann sich Kollaborationen von CDU/CSU mit der AFD wiederholen. Kollaboration ist ja einmal schon geschehen, am 29.1.2025 und wohl auch am 31.1.2025 wieder im Deutschen Bundestag.
Interessant ist in dem Zusammenhang der für viele LeserInnen neue Begriff der Kollapsologie, also der soziologisch – politischen Lehre vom Kollaps von Staaten und Gesellschaften, wenn nicht der ganzen Welt. Ein entsprechendes „Handbuch der Kollapsologie“ ist 2022 erschienen, S. 309, Fn. 30. , ausführlicher S. 417 f.
8.
Auch die Religionen sind bekanntlich Formen der Bewältigung von Verlusten: In einem viel zu kurzen Kapitel „Religion: Der Trost der Transzendenz“ (S. 273ff.) weist Andreas Reckwitz darauf hin. Der Titel sagt alles: Angesichts der Sterblichkeit bieten Religionen, etwa das Christentum, einen Trost, der über die Welt hinausführt in die himmlische Welt. „Letztlich basiert das Christentum auf einer anthropologischen Verlustgeschichte“, meint Reckwitz, er denkt dabei an die Vertreibung der Menschen aus dem Paradies wegen des Sündenfalls, so der biblische Mythos. Aber es ist schon falsch, wenn Reckwitz meint: Das Christentum und damit die Kirchen würden „ökonomische Verluste, Machtverluste und Verluste von Erwartungen auf eine im innenweltlichen Sinne positive Zukunft“ (s. 277) als „letztlich Zweitrangiges oder inkomplett Irrelevantes“ (s. 277) ansehen. Darin zeigt sich, das der Autor in diesem knappen Kapitel eher alte theologische Literatur verarbeitet und etwa die Befreiungstheologie ignoriert, die gerade den Verlust der Armen an politischer Mitbestimmung und Gleichberechtigung aufgreift und betont: Erlösung beginnt schon hier „auf Erden“, etwa im real – materiellen Erleben der Gültigkeit der Menschenrechte und der Sicherung des menschenwürdigen Lebens.
Andere aktuelle Verlusterfahrungen etwa von Katholiken hätten thematisiert werden können: Man denke an Erzbischof Marcel Lefèbvre, der nach dem 2. Vatikanischen Konzil seinen eigenen traditionalistischen Weg ging mit der Gründung der Pius – Bruderschaft: Lefèbvre klagte darüber, dass dieses Konzil die lateinische Messe in der uralten Form abgeschafft hatte: In seiner konservativen Ideologie, die nur das Alte liebte, sagte Lefèbvre: „Man hat uns die heilige Messe genommen.“ Eine Verlust – Erfahrung… Andererseits gibt es sicher auch Verlust -Erfahrungen unter progressiven Katholiken: Sie treten aus der Kirche zu tausenden aus, auch, weil sie der Kirchenleitung jegliche Glaubwürdigkeit absprechen müssen, das aber bedeutet: Ihren einst vermittelten Glauben an die hohe geistliche und menschliche Qualität des Klerus verloren haben. Und auch: jede Hoffnung auf eine tiefgreifende Reformation der Katholischen Kirche.
9.
Wenn in der Spätmoderne überhaupt noch dem Fortschritt ein positiver Inhalt zugewiesen wird, dann in der Lebensgestaltung des einzelnen. Reckwitz spricht von „Subjektivierung des Fortschritts“ (S. 322ff.). Diese entspricht der „neoliberalen Kultur der Selbstverantwortung des Individuums für seinen subjektiven Lebenserfolg“ hin zu umfassender „Selbstoptimierung.“ Kurz gesagt: Mag auch die Welt am Rande des Untergangs taumeln, ich baue an meiner eigenen Innerlichkeit für mich weiter, ich entwickle und pflege meine nur mir gehörende Subjektivität und will persönlich wachsen, auch wenn in der Wirtschaft nichts mehr wächst und die Demokratie von Rechtsextremen lädiert wird. Das ist diesem Subjekt ziemlich egal… Hauptsache: Ich habe ein „gelungenes Leben“ (s. 326). Gesellschaftlicher Fortschritt geht verloren, aber ich rette meine schöne, wohl entwickelte Seele: Geht diese Spaltung von Gesellschaft und Ich auf die Dauer? Eines Tages werden die neuen Herren der Anti – Demokratie den schönen Seelen doch den Schrecken einjagen, wenn es zu spät ist…
10.
Andreas Reckwitz sieht die demokratischen Gesellschaften und Staaten in einer tiefen Krise und Gefahr. Er persönlich ist überzeugt, dass ein Untergang wohl nicht bevorsteht, andererseits ist auch das Erlebnis von Fortschritt und von permanentem Wachstum ausgeschlossen. Welche Möglichkeit der Hoffnung bleibt da?
Reckwitz setzt auf die „Reparatur der Moderne“, diese ist die Ausbesserung der vorgegebenen modernen Institutionen und Lebensformen. Das Programm könnte man einen progressiven Konservatismus nennen – zugunsten der Rettung der guten und hoffentlich bleibenden Errungenschaften der Moderne, der Menschenrechte und der Demokratie. „Es geht darum, den Fortschritt als Erbe zu bewahren,“ so Andreas Reckwitz (S. 420).

Andreas Reckwitz, „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“. Suhrkamp, 2024, 463 Seiten, 32€.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

“Politiker und Bürger dürfen nie am Grundgesetz rütteln“ (Karl Jaspers).

Ein Hinweis auf die politischen Aktualität des Philosophen Karl Jaspers
(Geboren am 23.Februar 1883; gestorben  am 26.2.1969)

Von Christian Modehn.

Ein Vorwort. Ich muss gestehen: Mich hat das – zufällige – Zusammentreffen der Bundestagswahl am 23. Februar 2025 und des Geburtstages von Karl Jaspers am gleichen Tag motiviert, an einige grundlegende politische Einsichten Jaspers` zu erinnern. Das heutige Gerede bestimmter Politiker von Korrekturen und Veränderungen am Grundgesetz – wegen des “Zustrom” von Flücjhtlingen – sowie die unsägliche Stärke der rechtsradikalen Partei AFD können durch Erinnerungen an philosophische Erkenntnisse nicht unmittelbar beendet werden. Aber Demokraten können sich in der Erinnerung an elementare philosophische Einsichten bestärkt sehen, die Demokratie gegen die Feinde der Demokratie und gegen die bürgerlich – konservativen Kollaborateure mit der AFD zu verteidigen. Weiter diskutuert werden sollte die Kritik von Jaspers an der “Parteienoligarchie”. (siehe dir Nr. 5 dieses Hinweises).

1.

Der Philosoph Karl Jaspers hat sich nie nur auf „typisch-philosophische, metaphysische“ Fragen begrenzt. Die Analyse politischer Verhältnisse vor allem der Bundesrepublik war ein Schwerpunkt seiner Publikationen. (Siehe Fußnote 1, S. 879)
Jaspers war auch ein politischer Schriftsteller, ein viel beachteter und vielfach auch von “(sehr)-rechts” heftig kritisierter politisch kompetenter Publizist! Er hat sich vernünftig wie leidenschaftlich mit dem Grundgesetz des Bundesrepublik auseinandergesetzt, etwa anläßlich der Debatten um die Notstandsgesetze. Jaspers zeigt, dass das Grundgesetz „unter dem Druck der Erinnerung des NS-Unheils entstanden ist“ (Fußnote 2, dort S. 412, Jaspers äußerte sich zur Bundesrepublik vor allem im Umfeld der Debatten über die „Notstandsgesetze“.
Als „Grundantrieb“ sieht Jaspers bei den Verfassern des Grundgesetzes das Bemühen, „eine Wiederholung (des NS-Regimes) unmöglich zu machen.“ Aber: „Dahinter stehe auch „ein Misstrauen gegen das Volk (heute).“ Mit anderen Worten: Die Autoren des Grundgesetzes wollten vor allem durch staatliche Institutionen ein neues Unheil des Faschismus/Nationalsozialismus verhindern, meint Jaspers, und nicht in gleicher Weise auch durch kritische Bildung und Neuorientierung der Bürger zur Überwindung der Nazi – Ideologie gelangen.

2.

Trotz dieser Vorbehalte schreibt Jaspers: „Es ist heute unser Glück, dass wir das Grundgesetz besitzen. Denn hier sind die unantastbaren Grundrechte klar formuliert…. Hier liegt der Fels, auf dem allein der freie Staat der Bundesrepublik steht, solange der Fels hält… Das Grundgesetz muss eingeprägt werden in die Herzen der Staatsbürger. Die Politiker dürfen es nie vergessen. Das Rütteln an den Grundrechten lässt uns in die Anarchie der Niedrigkeiten fallen, aus der Gewalt und Diktatur der Ausweg sind“ (S. 413).

3.

ABER :
„Das Grundgesetz ist im Volk fast nicht bekannt. Es fehlt das Bewusstsein, die Verletzung des Grundgesetzes sei das größte politische Verbrechen , weil es unser staatspolitisches Dasein in Frage stellt.“ (S 413).

4.

Jaspers kritisiert sehr viele Politiker der ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik: Sie sprechen zwar „von der Verworfenheit des NS-Regimes“, aber „die Politiker aller Parteien sind vorwiegend daran interessiert, das unklare Bedürfnis des Volkes, politisch für die Vergangenheit NICHT haften zu wollen, nur `vornehm` … im Bundestag zu artikulieren… Der Funke radikaler Neubesinnung – angesichts des NS – Regimes – zündet nicht,“ schreibt der Politologe Kurt Sontheimer in seiner Jaspers – Studie „Menetekel über die Bundesrepublik“ (Siehe Fußnote 3).
Warum dieser Hinweis auf die bekannte Verquickung sehr vieler BRD Politiker mit dem NAZI-Ungeist und den Nazi – Organisationen? Sontheimer gibt als Interpret von Jaspers die Antwort: „Das Ganze der Demokratie ist (wegen der Bindungen so vieler an die Nazis) nicht in Ordnung, eben weil die neue demokratische Gesinnung, die alle Teile der Demokratie tragen und durchwirken müsse, nicht da sei. Demokratie gebe es bei uns in der BRD nur als eine äußerliche Demokratie der Institutionen, nicht auf der Grundlage einer demokratischen Gesinnung der Bürger“ (a.a.O. S 431). Sontheimer nennt (im Jahr 1975) die Analyse des Philosophen Jaspers „etwas erschreckend Bestimmtes“. Jeder und jede kann überprüfen, ob diese Analyse heute noch gültig ist und wenn ja, in welcher Form. Sontheimer jedenfalls meint: Jaspers habe die unverkennbar autoritär-restaurativen Tendenzen in der Bundesrepublik in den Gründerjahren der Republik klar erkannt, siehe dazu a.a.O., S. 435….Man bedenke, dass damals (1966 – 1969) das ehem. NSDAP Mitglied Kurt Georg Kiesinger (CDU) Kanzler der Bundesrepublik Deutschland war.

5.

Aus einem Beitrag der Wochenzeitung FREITAG (26.4.2021) anläßlich einer Erinnerung an die Publikation „Wohin treibt die Bundesrepublik“ (1966) von Karl Jaspers:
“Zum Thema Gerechtigkeit schrieb Jaspers: „Gerechtigkeit gibt es sowenig wie je, außer in dem Grad der Nachgiebigkeit gegenüber Interessen, die von genügend starken Gruppen vertreten werden. Jeder Bundesrepublikaner, der das alles sieht, will, daß es besser werde.“
Jaspers äußert Kritik am Lobbyismus im Umfeld des Parlaments, wenn Wirtschaftsinteressen gegen das Allgemeinwohl durchgesetzt werden. Jaspers fordert, dass sich alle Akteure der Demokratie darauf zu konzentrieren hätten, Freiheit, Recht und Gerechtigkeit als Maßstab ihrer Handlungen zu nehmen. Dass die Regierungen diese Werte immer wieder ignorierten, bezeichnet er als „Treibenlassen“. Darum auch der Titel des viel gelesenen und diskutierten Buches von Jaspers „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ (1966).
Demokratische Werte, die Politiker nicht ernsthaft vertreten, verkommen zu leeren Worthülsen. Jaspers sah schon damals, dass es Menschen, Firmen oder Politiker gab, die in der Struktur der demokratischen Ordnung und der in ihr angelegten Freiheit den Missbrauch zugunsten von Eigen-, Partei- und Wirtschaftsinteressen trieben.
Jaspers kritisierte damals die Herrschaft der  „Parteienoligarchie“..

Was “Parteienoligarchie” heute aktuell in der Bundesrepiblik bedeuten kann, nennt Silke Borgstedt (Geschäfstführerin des SINUS-Instituts für Markt -und Sozialforschung) am 10.2.2025: ” Der ewige Streit der Koalitionspartner ist der Mehrheit der Deutschen sehr auf die Nerven gegangen. Im Moment empfinden viele die  Politik als einen Marktplatz der Egoismen.” (Tagesspiegel, 10.2.2025, S. 12). Also als eine Form der Parteien-Oligarchie?

Und diese Erkenntnisse auszusprechen in der noch weithin spießigen und miefigen BRD damals, brachten Japsers unerhörte Kritik und Verleumdung ein, ergänzt Christian Modehn. Dabei war der Philosoph Karl Jaspers politisch (um nicht zu sagen politologisch) umfassend gebildet, siehe die Rowohlt Monographie über Karl Jaspers von Hans Saner (1999) S. 63.

6.

Die Überlegungen von Karl Jaspers erinnern: Der alte Un – Geist der Nazis hat sich auf allerhand verschiedenen Wegen von rechtsradikalen und konservativen bzw. sich liberal nennenden Parteien bis heute in weiten, auch jüngeren Kreisen der Bevölkerung erhalten. Und das wurde bis vor wenigen Jahren von den meisten Politikern der demokratischen Parteien ignoriert. Sie sind also mit-schuld an der neuen Macht der (neuen) Rechtsradikalen auch in der AFD.

Fußnote 1:
„Der Philosoph ist nicht Prophet… Aber er vertritt das Menschsein in einer oft auch fehlgreifenden Weise. Er will erinnern, überliefern, beschwören, appellieren… Er ist nicht im Besitz der Wahrheit, aber er lebt im Ernst des Suchens in der Zeit“. „Philosophische Autobiographie“. In: Karl Jaspers, „Mitverantwortlich. Eine philosophisch-politisches Lesebuch“, Piper Verlag. Dort S. 87.

Fußnote 2:

“Aspekte der Bundesrepublik Deutschland“ in: Karl Jaspers, „Mitverantwortlich. Eine philosophisch-politisches Lesebuch“, Piper Verlag.

Fußnote 3:
„Menetekel über die Bundesrepublik“ von Kurt Sontheimer. IN: Karl Jaspers in der Diskussion, hg. von Hans Taner. Piper Verlag München 1973, das Zitat auf S. 431.

Aktuell: Ein Hinweis zur Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie von Karl Jaspers: LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

“Die Hoffnung stirbt zuletzt”. Widerstand gegen die Verzweiflung!

Kant lehrt uns, die Hoffnung zu bewahren.
Ein Hinweis von Christian Modehn am Ende der Kant – Jahres 2024 … in der Hoffnung, dass Kant weiter intensiv diskutiert wird.

Die Erkenntnisse des Philosophen Immanuel Kant wollen unbedingt verhindern, dass die Hoffnung wirklich “zuletzt stirbt”. Denn das wäre das Ende. Wir sollen gemeinsam alles dafür tun, dass wir die Berechtigung, das Recht, haben die Hoffnung zu leben und die Hoffnung niemals aufzugeben.

Diese Hoffnung ist alles andere als ein naiver Optimismus. Sie ist alles andere als eine politische nationalistische Ideologie, die den Menschen in den USA einen “amerikanischen Traum” empfiehlt und einredet. Siehe dazu die Nr.10 und 11 in diesem Hinweis.

1.
„Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Wie ein Slogan hat sich dieser Satz in unseren dunklen Zeiten verbreitet und durchgesetzt.
Die Frage ist: Was ist eigentlich zuvor schon alles gestorben, an Weisheiten, Einsichten, Überzeugungen, wenn man einen solchen Satz sagt? In der christlichen Tradition spricht der Apostel Paulus von „den menschlich entscheidenden Dreien“, also von „Glaube, Hoffnung und Liebe.“ Um bei unserem Thema zu bleiben: Dann sind offenbar Glaube und Liebe schon gestorben. Dann bleibt nur noch die Hoffnung als das Letzte vor einem definitiv gedachten Ende, dem Nichts … oder dem Himmel?

2.
Immanuel Kant kann bei dem Thema weiterhelfen: Hoffnung und aktives Hoffen ist ein zentrales Thema seiner Philosophie. Auch Hoffen und Hoffnung führt ihn selbstverständlich über den Bereich des wissenschaftlich exakt Erkennbaren hinaus. Und so wird auch hier sichtbar: Kant hat zwar als Anhänger des Physikers Newton seine Karriere begonnen, aber er musste als Philosoph über die Physik hinaus denken … in eine vernünftig begründete Metaphysik: Kant als den „Zermalmer der Metaphysik“ zu bezeichnen, ist also falsch. Kant war ein Metaphysiker und Religionsphilosoph (und Kirchenkritiker LINK (2024)  LINK)
Nur als ein Metaphysiker konnte er auch die heute so dringende Frage beantworten: „Was darf ich hoffen?“ Sie steht im Zusammenhang mit der Frage Kants: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Und: Was darf ich hoffen?“

3.
Für Kant kann es Hoffnung nur geben, weil wir Menschen hoffen DÜRFEN, wie er ausdrücklich sagt. Das Hoffen – „Dürfen“ ist eine Art rechtlich begründeter Erlaubnis zu hoffen. Ich habe also also aufgrund meine Menschsein die Berechtigung zu hoffen. „Also hoffen wir doch“, möchte man etwas aufdringlich fordern. Oder:„Habe den Mut, deine in dir vielleicht noch versteckte Hoffnung zu leben“…

4.

“Hoffnung ist für Kant die entscheidende moralische Einstellung der Vernunft. Die richtige moralische Einstellung gegenüber der Zukunft ist (für ihn) Hoffnung.” Schreibt die Soziologin Eva Illouz in “Explosive Moderne”, Suhrkamp 2024, S. 43. Moralisch bedeutet für Kant: “Der Würde des Menschen entsprechend”.

5.
Hoffen zu dürfen ergibt sich für Kant in der Auseinandersetzung mit der Frage nach dem SINN meines und der anderen Menschen Leben. Dieser alles gründende Sinn des Lebens eröffnet sich, zeigt sich, für den einzelnen inmitten des Tuns des Gerechten: Im Eintreten für Gerechtigkeit und gerechte Gesetze darf der Mensch das alles Entscheidende hoffen: dass sich die vorhandene Welt mit ihren Staaten langsam aber sicher der Utopie des Reiches Gottes annähert. Und zum Reich Gottes gehört für Kant auch der Frieden in der ganzen Welt. Seine bis heute vielbeachtete Schrift „Zum ewigen Frieden“ konnte Kant 1795 veröffentlichen.

6.
Dass Welt – Frieden nur in „republikanischen Staaten“ möglich wird, ist eine der wichtigen Voraussetzungen Kants. Es sind die freien Staatsbürger, die entscheiden, ob ein Krieg sein soll oder nicht. Es liegt also in der Entscheidung der Menschen, dass sie die Hoffnung auf einen Weltfrieden aktiv politisch fordern und gestalten! Kant betont, dass nur moralisch gesinnte Politiker dieses große Hoffnungsprojekt realisieren können, nicht etwa solche, die sich ihre Moral unabhängig vom Kategorischen Imperativ egoistisch erfinden.

7.
Eine menschliche Organisation, die uns lehren kann, Hoffnung haben zu dürfen und praktisch Hoffnung zu gestalten, ist für Kant grundsätzlich die (protestantische) Kirche. Wenn Kant in dem Zusammenhang von Kirche spricht, meint er damit die Vereinigung aller rechtschaffenden Menschen, die den Frieden auf dieser Welt schrittweise befördern. Politisches Handeln ist in der Kirche notwendig, sofern es dem Weltfrieden dient.

8.
Der dogmatische Glauben der Kirche wird bei Kant also aufgehoben zugunsten einer Gemeinschaft derer, die den Frieden der Welt als Ausdruck ihres Glaubens an das Reich Gottes verstehen. Und dieses Handeln ist nur möglich in der Kraft der Hoffnung. Die Theologen sollen also den Glaubenden sagen: „Ihr habt alle Berechtigung zu hoffen“. Und diese Hoffnung dürfen sich die Menschen (in der Kirche) nicht zerstören lassen, durch zynische Einwände, etwa: „dass doch alles nichts nützt“ usw. „Diesem Zynismus dürfen wir niemals erliegen“, betont Kant. Zynismus kann tödlich sein. „Es ist für Kant ein Gebot der moralischen Selbstachtung, an den politischen Zielen von Rechtsstaat, liberaler Demokratie, Gerechtigkeit, internationaler Kooperation und globalem Frieden festzuhalten. Denn ohne Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Frieden ist ein menschenwürdiges Leben nicht möglich. Wir können (und dürfen CM) diesen Anspruch nicht aufgeben, sonst geben wir unsere Menschlichkeit auf“ (Marcus Willaschek, „Kant“, München, 2024, S 42f.).

9.
Dieser politische Aspekt der Hoffnung im Denken Kants ist oft eher übersehen worden. Viele LeserInnen konzentrierten sich auf Kants eher individualistische Überzeugung: Dass der rechtschaffene Mensch in dieser Welt mit so vielen Übeltätern zwar scheitert und darüber zu verzweifeln droht. Aber, so meint Kant, aufgrund der von ihm als Postulat konzipierten Unsterblichkeit der Seele, habe der gescheiterte, aber rechtschaffene Mensch die begründete Hoffnung: einen Zustand des (göttlichen) „Höchsten Gutes“ zu erleben. Den „der gegenwärtige Zustand der Welt, in dem viele Menschen unverschuldet leiden, ist nach Kant eine moralische Zumutung“ , also etwas zu Überwindendes. (Marcus Willaschek, Kant, a.a.o. S.138).

10.

Die Soziologin Eva Illouz analysiert in ihrem neuen sehr empfehlenswerten Buch “Explosive Moderne” (Berlin, Suhrkamp, 2024) auch die falsche, weil unmenschliche “Hoffnungs” – Propaganda etwa in den kapitalistischen USA: Dort wird Hoffnung als reflektierte vernünftige Lebensorientierung zugunsten eines aktiven Handelns im Sinne der Menschenrechte völlig umgedeutet in den “amerikanischen Traum”: Und der verspricht den Armen und dem Mittelstand eine glänzende materielle Zukunft, einen Aufstieg nach oben mit einem Leben in unbegrenztem Reichtum. “In Gesellschaften, die so von Ungleichheit bestimmt sind wie die USA, ermöglicht diese Hoffnung es, Klassenkonflikte zu verwischen und die vielfältigen Weisen, in denen die Gesellschaft ihre Versprechen bricht, unkenntlich zu machen” (Eva Ellouz, a.a.o. S. 67). Wer dem amerikanischen Traum folgt, lebt also als Mensch, der von dem ewigen Erfolgsstreben nicht lassen kann und dann doch in dieser falschen Hoffnung scheitert. Der amerikanische Traum verändert die Hoffnung in die Erwartung künftigen materiellen Wohlstands, in die Hoffnung auf ein Leben , “das nie Zufriedenheit erlangen kann und in vergeblichem Warten versandet. ” (a.a.O. S. 71).

11.

Von dieser politischen Ideologie der Hoffnung als einem reduzierten, nur ökonomisch – kapitalistischen Traum kann  philosophische Reflexion befreien, die Überlegungen Kants oder auch die Erkenntnisse Václav Havels , des entscheidenden Denkers der “Samtenen Revolution” in der Tschechoslowakei. Im Jahr 1985, noch unter kommunistischer Herrschaft, reflektierte Havel über die wahre Hoffnung in dem Buch “Kreuzverhör”: “Hoffnung ist ein Zustand des Geistes…Hoffnung ist eine Dimension unserer Seele…Hoffnung ist keine Prognostik. Sie ist eine Orientierung des Herzens, die die unmittelbar gelebte Wwlt übersteigt und irgendwo in der Ferne verankert, hinter ihrn Grenzen…Hoffnung ist nicht Optimismus… Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat – ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht” (zit. in Illlouz S. 55). Die Nähe der Erkenntnisse Havels zu denen Immanuel Kants müssten hier weiter ausgearbeitet werden, sie sind offensichtlich:  “Hoffnung ist die Gewissheit, dass etwas Sinn hat…”

12.
Wer das neueste Buch des Historikers und Autors Rutger Bregman (Niederlande) liest mit dem Titel „Moralische Ambition“, Rowohlt – Verlag, 2024, hat den Eindruck: Da werden Kants Erkenntnisse aktualisiert, da wird das Hoffen – DÜRFEN als Erlaubnis und Aufforderung, zu hoffen und politisch tätig zu werden, für heute kreativ aufgegriffen und weiter geführt. “Wer wird leben im Gedächtnis der Menschen?” Ein zentraler Satz Rutger Bregmans: „Nicht die reichsten, sondern die hilfreichsten Menschen werden von der Geschichte erinnert“.

13.
Nebenbei:
Über die Bedeutung des in der Hoffnung erschlossenen höchsten Gutes wird diskutiert: Die einen Kant – Kenner betonen: Im Sinne Kants werde dann Gott im „Jenseits“ die moralische Qualität eines jeden Menschen prüfen und die Bösen bestrafen und die Guten belohnen. Im Laufe der Zeit, betont der Kant – Forscher Marcus Willaschek, habe sich „Kants Verständnis des höchsten Gutes immer weiter von einer `religiösen` zu einer `säkularen` Konzeption verschoben“ (S. 142). Gott werde nicht mehr als himmlischer Richter gesehen, sondern als ein Schöpfer, „der die Natur so geschaffen hat, dass wir Menschen in ihr das höchste Gut aus eigener Kraft realisieren können“ (ebd.).

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Herbert Schnädelbach – ein “frommer Atheist”?

HERBERT SCHNÄDELBACH: Ein freier Denker.

Von Christian Modehn.

Das Interview wurde in der Zeitschrift PUBLIK – Forum Oktober 2009 publiziert.

Wir veröffentlichen das Interview mit Herbert Schnädelbach am 12.11.2024 noch einmal, wenige Tage nach dem Tod des Philosophen. Das Interview fand viel Interesse (allein mehr als 1.200 Seitenaufrufe). Keine Frage: Die philosophischen Stellungnahmen Schnädelbach sind auch heute noch von großer Aktualität.

Herr Schnädelbach, Sie haben als Philosoph den Begriff »frommer Atheist« geprägt. In welcher Weise trifft er für Sie selbst zu?

Herbert Schnädelbach: Ich habe damit zunächst einen Typus von Atheismus beschreiben wollen. Sehr verbreitet ist ja die Vorstellung, dass Atheisten vor allem Menschen sind, die militant den Gottesglauben bekämpfen, sich also als Anti-Theisten gebärden. Aber: Die meisten Atheisten sind vielmehr Menschen, die einfach ohne Gott leben wollen. Diese nachdenklichen Atheisten sagen: Ich will gar nicht lauthals vertreten, dass es Gott nicht gibt, sondern ich glaube einfach nicht an seine Existenz. Und der fromme Atheist ist dann derjenige, der nicht anders kann als die Glaubensinhalte, die er nicht vertritt, doch ernst zu nehmen. In diesem Sinne bin ich ein frommer Atheist. Ich bin einer, der sich darüber aufregt, dass die religiösen Inhalte heute verschleudert werden durch Kommerzialisierung oder durch Instrumentalisierung seitens der Politik. So nach dem Motto: Wir brauchen wieder Werte, wir brauchen sozialen Kitt, und deswegen benötigen wir auch die Religion.

Leiden Sie als frommer Atheist darunter, dass Sie religiöse Glaubensinhalte für sich selbst nicht realisieren können, etwa im Gebet, in Riten?

Schnädelbach: Ich würde das nicht mit »Leiden« beschreiben. Was mich betrifft, so ist mein Atheismus zum großen Teil das Ergebnis einer Befreiung. Ich habe eher das Gefühl, vom Glaubenmüssen erlöst zu sein. Aber natürlich ist da auch ein Bedauern: Menschen mit einem festen Glauben haben es offenbar im Leben leichter. Sie können viel mehr Nöte »wegschieben«, alle Sorgen auf Gott werfen, wie es in der religiösen Sprache heißt. Ich bin mehr auf mich selbst gestellt. Es gibt schon Augenblicke, wo ich es schade finde, dass ich nicht religiös leben kann. Auf der anderen Seite will ich als frommer Atheist diesen Glauben auch nicht. Ich weiß, dass ich nicht glauben kann. Der authentische religiöse Glaube rechnet ja mit Gott, verlässt sich auf ihn. Für mich gilt: Ich kann das nicht. Oder besser: Ich kann das nicht mehr. Es ist eine falsche Vorstellung, dass man sich zum Glauben einfach entschließen kann.

Waren Sie denn in Ihrer Kindheit oder Jugend gläubig?

Schnädelbach: Der Glaube war in meiner Familie ganz selbstverständlich. Die Eltern waren mit einer pietistischen Freikirche verbunden. Da gehörte der Glaube »an den Vater im Himmel« zum Alltag. Wir haben als Kinder schlimme Situationen erlebt bei der Flucht aus Schlesien und dann auch beim Angriff der Alliierten auf Dresden. Zu dem Zeitpunkt wusste ich genau: Wir werden sterben, aber ich hatte keine Angst, denn da war ja diese Stabilität des Kinderglaubens. Bei meinen Eltern war übrigens der Glaube nicht mit äußerem oder innerem Druck verbunden. Der kam dann für mich später im Umfeld der Gemeinde; und mit diesem Druck kamen die Zweifel. Es waren Unstimmigkeiten und Widersprüche in der Lehre, die man so hörte, die mich nachdenklich gemacht haben. Ich fing deshalb an, mich um Theologie zu kümmern. Aber letztlich war das Zweifeln die Triebkraft, mich immer mehr mit Philosophie zu beschäftigen. So ist mein Weg zur Philosophie ein Ausgang aus der kindlichen Geborgenheit im christlichen Glauben gewesen.

Welche Glaubenslehren fanden Sie damals besonders fragwürdig oder belastend?

Schnädelbach: Es waren merkwürdige Ängste, mit denen ich konfrontiert war. Wir hatten zum Beispiel in Leipzig eine Gemeindeschwester, die sagte: »Wir müssen so leben, als wenn Jesus jeden Augenblick wiederkäme.« Und dann haben wir uns Gedanken gemacht: In welches Kino dürfen wir jetzt gehen? Wenn Jesus wiederkommt, will er uns sicher in diesem oder jenem Film nicht antreffen. Wir haben uns ernsthaft den Kopf zerbrochen, ob wir die »Sünde wider den Heiligen Geist« schon begangen hätten. Und dann diese dauernde Pflege von Schuldgefühlen, die gerade im Pietismus sehr ausgeprägt war! So nach dem Motto: »Du musst dich erst bekehren, bevor du glücklich sein darfst.« Diese Lehre hat bei mir nicht funktioniert, Bekehrungserlebnisse habe ich nicht gehabt. Dann kamen Fragen zur Autorität der Bibel und Ähnliches; trotzdem habe ich damals sehr viel von der Bibel gelernt. Aber es stellte sich mir die Frage: Was ist wahr an der Religion?

Könnten Sie nicht auch sagen: Ich habe diesen Pietismus erlebt, aber vielleicht sollte ich eine andere, eine vernünftigere Form von Christentum suchen?

Schnädelbach: Das weiß ich nicht, man kann aus seiner Biografie ja nicht aussteigen. Aber als ich dann später meine Kritik am Christentum formulierte, handelte es sich jedenfalls nicht um eine Verarbeitung meiner religiösen Sozialisation. Meine Religionskritik, die mir so wichtig ist, kann nicht ins Biografische abgeschoben werden!

Sie denken an Ihren viel diskutierten Beitrag »Der Fluch des Christentums«, der den Untertitel trägt: »Die sieben Geburtsfehler einer alt gewordenen Weltreligion«?

Schnädelbach: Ja, da habe ich eine kulturelle Bilanz des Christentums zu ziehen versucht, und dies vor allem auf der Grundlage meiner Beschäftigung mit der Philosophie und Kulturgeschichte der Neuzeit. Ich zeige, welche »Geburtsfehler« oder folgenreichen Hypotheken mit der Ablösung des frühen Christentums vom Judentum verbunden waren. So ist meine Streitschrift »Der Fluch des Christentums« entstanden.

Zwei »Geburtsfehler«, die Sie nennen, sind die Erbsündenlehre und der dominierende Einfluss des Platonismus auf das Christentum. Sind diese Geburtsfehler für Sie immer noch ein Fluch?

Schnädelbach: Die Erbsündenlehre hat die Menschen jahrhundertelang tyrannisiert. Da wurden Halbtot- und Totgeborene noch schnell getauft, da gab es diese Vorhölle für die ungetauften Kinder. Niemand kann einem erklären, warum Neugeborene schon Sünder sein sollen. Diese kirchliche Lehre vom Menschen muss man infrage stellen. Dass alle Menschen als Sünder geboren werden, als Schuldige, ist für mich eine verhängnisvolle Weichenstellung des frühen Christentums. Das ist negative Anthropologie, keine Anthropologie des aufrechten Ganges. Die Menschen werden hier von vornherein klein gemacht. Es heißt: Sie seien zum Guten gar nicht fähig, sie bräuchten dafür die Gnade, und die Gnade kommt durch die Taufe, also durch die Kirche. Und der christliche Platonismus mit der Überordnung der Seele über den Leib, mit der Verachtung der Frauen wirkt bis heute. Dazu gehört der Kult um Maria als Jungfrau. Abgesehen von der dahinterstehenden Zurückweisung gelebter Sexualität: Maria wird nicht nur als Helferin im Himmel verehrt, sondern häufig genug selbst angerufen, ja angebetet: Bleibt da der Monotheismus eigentlich noch gewahrt? Der jetzige Papst ist ferner in der Nachfolge Augustins ein Vertreter des christlichen Platonismus; man denke nur, wie er die Vernunft mit dem fleischgewordenen, göttlichen Logos des Johannesevangeliums identifiziert: So wird Christus zum Inbegriff der Vernunft, die alle bestimmen soll.

Von diesen Vorstellungen haben Sie sich als Philosoph verabschiedet. Was haben Sie jetzt für Ihr Leben gewonnen?

Schnädelbach: Der Verlust des Glaubens ist nicht größer als das, was ich dazugewonnen habe. Ich stelle mir nicht mehr die Frage: Gehöre ich zu den Erlösten, oder gerate ich in die ewige Verdammnis? Wenn man das mal losgeworden ist und sich sagt: »Es gibt ein Leben vor dem Tod« – wenn also die Angst vor der Hölle verschwindet –, dann kann ich auch auf den Himmel verzichten. Das gilt sicher auch für viele junge Leute. Sie wollen intellektuell auf eigenen Füßen stehen, während ein sehr enges Christentum ja aus lauter Denkverboten besteht.

Sie können es sich als Philosoph nicht vorstellen, die Transzendenz, das Göttliche, das Umgreifende durch die Reflexion zu erreichen?

Schnädelbach: Es gibt keine Argumente, durch die man jemanden fromm machen kann. Wir haben zwar eine neue Konjunktur von sogenannten Gottesbeweisen, aber die funktionieren nicht. Wir sind endliche Wesen, wir haben eine kurze Lebenszeit, wir haben das meiste vergessen, was die Menschheit schon mal gewusst hat. Wir leben in Verhältnissen, wo wir angewiesen sind auf andere, wir verfügen nicht über unser Lebensschicksal. Natürlich denken wir über diese begrenzten Gegebenheiten hinaus. Gedanklich überschreiten wir die Grenzen des Endlichen, aber dieses Überschreiten können wir nicht wieder positiv denken, so, als kämen wir dann in der Transzendenz an. Immanuel Kant ist da für mich ein moderner Denker. Er hat klar gesehen: Im Bereich dessen, was unserer Vernunft zugänglich ist, können wir uns nicht auf Gott beziehen. Das ist Ausdruck unserer Endlichkeit.

Es gibt aber doch die Erfahrung des Erhabenen und Unendlichen, zum Beispiel in der Kunst.

Schnädelbach: Ich bin überzeugt: Man muss sehr deutlich unterscheiden zwischen religiösen Erfahrungen und ästhetischen Erfahrungen. Heute glauben zwar viele Menschen, religiöse Erlebnisse im ästhetischen Bereich zu haben. Leute, die sich gar nicht als Christen verstehen, gehen jedes Jahr in die Matthäuspassion und weinen immer an derselben Stelle. Aber da wird das Religiöse bloß in ästhetisierter Form konsumiert, und das hat nichts mit authentischer religiöser Erfahrung zu tun. Die hat man vielmehr dann, wenn man zum Beispiel erlebt, dass etwas wider Erwarten gut ausgegangen ist. Dann möchte man sich bei jemanden bedanken. Oder auch dann, wenn einem eine ganz schlimme Ungerechtigkeit passiert oder man eine schwere Krankheit bekommt: Da möchte man sich bei jemanden beklagen. Aber bei wem? Religiöse Menschen können sich dann an Gott wenden. Ich kann das nicht.

Angesichts dieser Erfahrungen könnten Sie sich doch sagen: Ich kann dem christlichen Glauben als dogmatisch formulierter Lehre nicht folgen, aber ich halte mir die Wirklichkeit eines absoluten Geheimnisses offen.

Schnädelbach: Nur weil wir nicht alles wissen, kann man von Geheimnis sprechen. Aber dieses Geheimnis kann man nicht einfach als das religiös Bedeutungsvolle definieren. Ich sehe dahinter den Versuch, die Begrenztheit unseres Lebens wieder ins Positive zu wenden, und das finde ich nicht vertretbar.

Aber inwiefern äußert sich dann bei Ihnen »das Fromme« in Ihrem Atheismus?

Schnädelbach: Fromm zu sein heißt ja, einer Sache treu zu bleiben und diese auch ernst zu nehmen. Ich frage mich immer wieder: Warum interessierst du dich eigentlich noch für die Religion? Du hast sie doch hinter dir? Und warum regst du dich auf, wenn mit der Religion so viel Missbrauch getrieben wird, wenn sie instrumentalisiert wird? Meine Frömmigkeit ist wohl am ehesten zu beschreiben als ein Widerstreben gegen diesen Missbrauch. Ich bleibe den authentischen Überlieferungen treu.

Meinen Sie damit die Lehren des historischen Jesus? Das »Jesuanische«?

Schnädelbach: Ja, da ist bei mir etwas geblieben, das es mir möglich macht, mir diesen bedeutenden Menschen zur Richtschnur zu nehmen. Aber ich kann auch noch auf andere verweisen. Manchmal habe ich zum Beispiel zu meinen Studenten gesagt: »Das hat Kant formuliert, und weil er es gesagt hat, stimmt es« (lacht) – aber das ist nicht ernst gemeint. Ich beschäftige mich auch viel mit dem alten Bach und finde es unglaublich, dass er ein solches Lebenswerk hinterlassen hat. Oder ich denke an den Dirigenten Georg Solti, der in einem Interview erklärt hat: »Für mich gibt es zwei Gottesbeweise: Das sind Mozart und das Lächeln meiner Kinder.« Aber mit solchen Aussagen sind wir meines Erachtens noch nicht im religiösen Bereich angekommen. Ich sage also: Insoweit ich Jesuaner bin, bleibe ich dabei im Humanen und Kulturellen.

Auch im Politischen?

Schnädelbach: Ob wir das, was wir für authentisch jesuanisch halten, auch politisch verwenden können, weiß ich nicht.
Haben Sie als frommer Atheist auch eine Poesie, die Sie Gebet nennen könnten?

Schnädelbach: Nein. Fromme Poesie, Gebete, habe ich nicht.

Haben fromme Atheisten Interesse an einer Gemeinschaft Gleichgesinnter?

Schnädelbach: Nein. Wenn ich sage: Ich glaube nicht, dass Gott existiert, dann ist die Debatte eigentlich zu Ende. Ich muss nicht noch weiter begründen, dass ich das nicht glaube.

Warum eigentlich nicht?

Schnädelbach: Ich habe ja nichts zu vertreten, und es wäre ein Missverständnis, wenn mein Unglaube als ein anderer dogmatischer Glaube aufgefasst würde. Ich sage nur: Ihr Glaubenden bezieht euch auf etwas, das ich nicht teilen kann. Es ist doch ganz normal in einer Welt so vieler verschiedener Überzeugungen zu sagen: Diese Meinung kann ich nicht teilen.

Wie schätzen Sie die Rolle der Kirchen in Deutschland heute ein?

Schnädelbach: Ich denke angesichts der genannten Probleme im Bereich der Lehre der Kirchen: Das institutionelle Christentum hat sein Ende erreicht, ohne es bemerkt zu haben. Wer versteht noch die Lieder, Predigten, Bibelverse? Das soziale Engagement der Kirchen verdient Respekt. Aber die positiven Energien des Christentums sind übergegangen in einen profanen Humanismus.

Lesetipp: Herbert Schnädelbach: Religion in der modernen Welt. Fischer. 192 Seiten, 12,95 €.

Prof. Herbert Schnädelbach hat sich oft auch mit kirchlichen und theologischen Themen auseinandergesetzt, so auch mit dem Opus von Manfred Lütz “Skandal der Skandale” LINK . Dazu meinte Herbert Schnädelbach LINK
Herbert Schnädelbach wurde 1936 im thüringischen Altenburg geboren. Der Philosoph kommt aus der Schule der Kritischen Theorie, von der er sich aber später abgrenzte. Er veröffentlichte Bücher über Kant, Hegel, Geschichts-, Kultur- und Sprachphilosophie. Sein Kernthema war stets die Frage nach der Vernunft. Immer wieder bezieht er sich auf aktuelle Debatten, zum Beispiel über die Rolle der Religionen oder die Bedeutung der Neurowissenschaften. Er lehrte in Frankfurt am Main, Hamburg und an der Humboldt-Universität in Berlin. Der emeritierte Professor lebt in Hamburg.

Herbert Schnädelbach ist am 9. November 2024 gestorben. Siejhe auch die Würdigung des Philosophen Geert Keil (Berlin): LINK

copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Was ist Aufklärung? Ausstellung im “Deutschen Histor. Museum“ Berlin.

Vernunft ist Licht. Und Licht ist stärker als Dunkelheit in Politik, Wirtschaft und Religionen…

Ein Hinweis von Christian Modehn am 1.11. 2024,

Vorwort:
Die philosophische Aufklärung sollte man übersetzen mit „ Herrschaft der universellen Vernunft“. Und das ist: „Universelle Herrschaft der Menschenrechte“.
Aber: Wir leben noch nicht in einem „aufgeklärten“, vernünftigen Zeitalter! Sondern wir leben in einem Zeitalter der mühsamen, tätigen, stets bedrohten Aufklärung. Menschen streben nur nach umfassend herrschender Vernunft, das betont Immanuel Kant in seinem Aufsatz „Was ist Aufklärung“ (1784) (Fußnote 1).
Wohl wahr: Wenn man sich umsieht und diese Gestalten bewertet, die heute politisch die Menschheit verwirren und beherrschen: Trump, Putin, Xi, Orban, Erdogan und sehr viele andere, dann hat Kant recht. Aber es gilt, die Hoffnung auf die Herrschaft der Aufklärung, d.h. der Vernunft und Menschenrechte, zu bewahren. Das ist die Grundeinstellung von Kant, des Aufklärers.

1.
„Wenn Sie nicht die totale Dunkelheit bevorzugen, die keinen Ausweg läßt und in der Sie wahrscheinlich – orientierungslos – umkommen, dann sollten Sie das Licht hüten und pflegen und lieben. Das Licht aber ist die menschliche Vernunft.“
So könnte man die Erkenntnis der Philosophie der Aufklärung des 18. Jahrhunderts (bis heute gültig) „für alle nachvollziehbar“ formulieren: Aufklärung ist identisch mit der Kraft des Lichtes, lumière, enlightenment…

2.
Ohne Licht kommen (und kamen) sogar die Liebhaber der Finsternis, der Dunkelheit und des Dämmerzustandes nicht aus, die Freunde der verschwindenden Sonne oder des ständigen Nebels, in dem die Willkür der Herrscher es so leicht hat.
Aber auch diese Herrschaften brauch(t)en das Licht als die schwache Kraft ihres egoistisch verformten Verstandes: Sie wollten schließlich doch auch zusammenhängende, logisch erscheinende Sätze zugunsten ihrer totalen Herrschaft publizieren. Ohne (etwas) Licht also gibt es niemals und für keinen geistvolles Leben. Und darum ist alle Abwehr der vorrangigen Geltung des Lichtes der Vernunft falsch.

3.
Eigentlich eine Selbstverständlichkeit: Licht ist größer und wichtiger als Finsternis und Dunkelheit. Wer etwa die Vielfalt der Dunkelheiten differenziert verstehen, also „ausleuchten“ will, kommt nicht ohne Licht aus! Ohne Licht, ohne Aufklärung, ohne Vernunft kein humanes Leben, auch nicht in Staat und Gesellschaft.

4.
Große Worte, gewiss! Aber vielleicht haben sie noch eine Wirkung in dieser dunklen, von Feinden der allgemeinen universell geltenden Vernunft getrübten Gegenwart. Die autokratischen und faschistischen Regierungen werden immer zahlreicher, die demokratischen, liberalen und sozialen Demokratien sind jetzt längst eine Minderheit. Für die universell geltende Vernunft muss heute gestritten, wenn nicht gekämpft werden.

5.
Die Philosophie der Aufklärung sagt heute: Die Menschenrechte für alle sollen auch gelten für alle. Menschenrechte sind eine europäische „Entdeckung“, aber sie werden weltweit hoch geschätzt, selbst in Diktaturen, von den unschuldigen demokratischen Opfern in den Lagern und den Dissidenten in den Gefängnissen: Es ist in den Folterkammern der Schrei nach Gerechtigkeit vernehmbar, und dies ist der Schrei nach den Menschenrechten, also nach der allgemein geltenden Vernunft, nach der Aufklärung!
Demokratie ist zwar eine anspruchsvolle Staatsform, allzu oft korrumpiert von unwürdigen sich demokratisch nennenden Politikern, die mehr den Sprüchen ihrer Lobbyisten folgen als den Grundprinzipien und dem wahren Geist (Spiritualität!) der Demokratie. Trotzdem, wir haben wirklich keine Alternative: Demokratie als eine sich stets verbessernde, d.h. reformierende und kritisierbare Staatsform ist die beste denkbare Regierungsform.

6.
Soweit unsere Einstimmung für einen Besuch der Ausstellung „Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert“ im „Deutsches Historisches Museum“ (DHM) in Berlin (bis zum 6.4.2025).
Im 18. Jahrhundert waren Philosophen, Literaten, Künstler und einige protestantische Theologen in etlichen Ländern Europas, auch in den deutschen Staaten, leidenschaftlich interessiert, das alte System autoritärer Regime und deren Denkzwänge zu überwinden: Die allgemeine menschliche Vernunft sollte gelten, und nicht die begrenzt – egoistischen Ideologien der Herrschenden. Sie bedienten sich oft genug religiöser (Wahn-)Vorstellungen als stützende Ideologie. Wichtig wurden Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland auch die Debatten in der viel beachteten „Berlinischen Monatsschrift“, dort publizierte Immanuel Kant im Dezember 1784 seinen bis heute inspirierenden Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ Kants Beitrag richtete sich an den kleinen Kreis der elementar Gebildeten, der des Lesens Kundigen und der Diskussion fähigen (leider meist nur männlichen) Bürger. Heute ist die Debatte über Aufklärung, Vernunft und Freiheit universell, auch dabei zeigt sich der „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“, wie Hegel sagte.

7.
Die Ausstellung im Deutschen Historischen Museum (DHM) führt, wie gesagt, zu den Ursprüngen der Aufklärung, ins 18. Jahrhundert. Ausstellungen zur Geschichte des Denkens und der Philosophie sind bekanntlich eher anspruchsvolle, nicht schnell konsumierbare Veranstaltungen, die zum Betrachten vom Büchern, Erstdrucken, Bildern, Gemälden, Videos, Gegenständen einladen. Philosophische Ausstellungen fordern zum nachdenklichen Lesen auf, zum Verweilen, zum Gespräch im kleinen Kreis. Schade, dass das DHM keine kleinen Salon – Räume als Orte des Gesprächs innerhalb der Ausstellung anbietet…
Aber die Ausstellung kann nur eine Art Einführung und Hinführung sein, sozusagen eine Aufforderung, das Thema weiter zu bedenken und zu studieren.
Darum ist in unserer Sicht der Begleitband zur Ausstellung sehr hilfreich: Raphael Gross und Liliane Weissberg haben das Buch unter dem Titel der Ausstellung herausgegeben, erschienen ist es im Hirmer Verlag, es hat 336 Seiten, enthält viele Abbildungen, es kostet im Museum 30 Euro. Alle Essays wurden eigens für dieses Buch verfasst!

Paul Franks (Prof. für Philosophie und jüdische Studien an der Yale University) erklärt die Haskala, also die Gestalt der “jüdischen Aufklärung”. Für sie setzte sich Philosoph Moses Mendelssohn ein (S. 133ff.): “Mendelssohn trug zur Wiederbelebung einer selbstbewussten deutschen rationalistsichen Tradition bei…” (S. 136).

Moses Mendelssohn

8.
Wir können hier nicht auf die 28 Essays des Buches im einzelnen eingehen. Das Buch ist systematisch gegliedert von „Ein Klärung des Begriffs“ über die „Ordnung der Welt“ und die „Geschlechterrollen“ und die „Gleichheit der Menschen“ bis hin zu „Publikationsmedien und öffentliche Räume“…
Unter der Frage „Was bleibt?“ ist einer der wichtigsten Texte des Buches publiziert, der Beitrag des us-amerikanischen Philosophen Peter E.Gordon mit dem Titel „Das Erbe der Aufklärung“ (Seite 291-299). Und weil Jürgen Habermas nicht fehlen darf bei dem Thema: Er hat seinem kurzen Beitrag den Titel „Was ist Aufklärung“ (S. 300 – 302) gegeben in der abschließenden Rubrik „Was bleibt“.

9.
Einige wichtige Hinweise zu den Essays, als Einladung, selber zu lesen und weiter zu denken:
Die Verbindung von Licht (Sonne) und Geist bzw. Vernunft und Freiheit wird schon von Platon in seinem „Höhlengleichnis“ beschrieben, betont der Philosoph Volker Gerhardt (S. 281).

Das philosophische Eintreten und Kämpfen für die Aufklärung gibt es schon vor dem 18.Jahrhundert und es ist keineswegs auf Europa begrenzt.

Aber im 18. Jahrhundert konnten nur die gebildeten Bürger Freunde und Täter der Aufklärung werden. Entsprechende Bücher hatten damals keine größere Auflage als 2000 bis 3000 Exemplare.

10.
„Die“ Aufklärung wurde und wird pauschal schlecht geredet, vor allem auch von konservativen und reaktionären Literaten. Sie geben etwa der philosophischen Aufklärung die Schuld am Niedergang alter Werte, sie behaupten, „die“ philosophische Aufklärung habe nur zu einer technokratischen Verengung des Verstandesbegriffs geführt, letztlich für eine seelische Verarmung gesorgt. Dabei ist es zurückzuweisen, dass so oft pauschal von „die Aufklärung“ die Rede ist. „Die Aufklärung“ als tätiges Subjekt kann es gar nicht geben, es sind immer Menschen, Subjekte, die mehr oder weniger für die Aufklärung – oder nicht – eintreten. Erst wer Namen nennt von Protagonisten der Aufklärung in Politik, Ökonomie, Religion, Kirchen, Kultur usw. kann ernstgenommen werden in seiner Aufklärungskritik.

11.
Theodor W.Adorno und Max Horkheimer gehören wegen ihrer Publikation „Dialektik der Aufklärung“ zentral in die Debatten über die Bedeutung der philosophischen Aufklärung . Das Buch, „Dialektik der Aufklärung“, wurde von den beiden Autoren 1939 – 1944 im amerikanischen Exil erarbeitet, 1947 in New York publiziert und dann in Europa erstmal 1947 in Amsterdam. Kaum ein anderes Buch hat so heftige Debatten inszeniert, das Thema füllt ganze Bibliotheken. Jürgen Habermas etwa bemerkte kritisch in seinem Buch „Philosophischer Diskurs der Moderne“ , die beiden Autoren hätten sich zu Zeiten des Faschismus übertrieben und hemmungslos ihrer Skepsis hinsichtlich der Vernunft – Geltung überlassen, vor allem: Sie seien ihrer eigenen Skepsis nicht skeptisch begegnet. (Fußnote 2).
Für mich ist, wie schon gesagt, der Beitrag des us-amerikanischen Philosophen und Philosophiehistorikers Peter E. Gordon in dem Band zur Ausstellung im DHM ganz wichtig: Er hat sehr ausführlich auch früher schon das Werk von Adorno/Horkheimer untersucht: „Trotz ihres Pessimismus haben Adorno und Horkheimer stets geglaubt, dass Vernunft und Emanzipation intrinsich (wesentlich) miteinander verbunden sind. In diesem Punkt wurden sie von vielen mißverstanden. Die beiden haben nicht verkündet, dass sich die Aufklärung selbst widerlegt habe, sondern betont, dass die Menschheit nur dann wahrhaft frei sein kann, wenn sie den höchsten Idealen der Aufklärung treu bleibt“ (S. 295). Durch die Benennung des falschen Lebens und der missratenen Aufklärung wollen Adorno und Horkheimer nur die Idee eines wahren und richtigen Lebens festhalten. In einer Besprechung von Gordons Buch „Prekäres Glück“ in der NZZ heißt es treffend: „Mit der durch das Denken gewonnenen Erkenntnis über den desaströsen Zustand der Welt ist die Möglichkeit gegeben, diesen Zustand zum Besseren hin zu verändern.“ (NZZ, 27.3.2024).
Die schon übliche Kritik, wenn nicht Verurteilung „der“ Aufklärung wiederholt hingegen meines Erachtens der Philosoph Gunnar Hindrichs (Basel) in dem Buch des DHM, der Titel seines Beitrags „Der lange Marsch zur Mündigkeit“ (S. 57 ff.). Er deutet, wie schon so oft gehört, die Französische Revolution (1789 ff) als Ausdruck der irregeleiteten Aufklärung: „Die Negativität der Aufklärung hatte es mit der Unfähigkeit zu tun , den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit in einer Revolution durchzuführen, die menschlich bleibt.“ (S. 65). Sehr pauschal und etwas kryptisch auch das Urteil Gunnar Hinrichs am Schluß seines Essays: „Wenn wir nun die Frage stellen: Was ist Aufklärung? dann zeigt sich: Aufklärung ist ein Weg, der sich selbst zu zerstören droht und nur in der Verarbeitung seiner Selbstzerstörung weitergegangen werden kann. Wer das tut, macht sich wesentlich (?, Heidegger läßt grüßen, CM) auf den Weg – auf den langen Marsch der Aufklärung.“(S. 67).

12.
Lesenswerter ist der Beitrag der us – amerikanischen Politologin Anne Norton über „Das Bekenntnis zur Gleichheit der Menschen“ (S. 187 ff). „Im Zeitalter der Aufklärung begann die Idee der Gleichheit der Menschen die auf Wohlstand und Status beruhenden Hierarchien in Europa hinwegzufegen. Die Revolutionen  beflügeln noch immer unser Denken, unser Handeln und unsere Hoffnungen“ (S. 187). Die Reichen und Mächtigen begegneten der Forderung der Armen nach Gleichheit „durch die Unterscheidung zwischen politischer und ökonomischer Gleichheit. Diese unaufrichtige Unterscheidung beschäftigt uns bis heute“. (S. 188). Das heißt : Die Armen dürfen in der Gunst der Herrschenden zwar politisch an Wahlen teilnehmen, aber ihre berechtigten Forderungen nach Einschränkung des unsittlichen Reichtums der Milliardäre wird ignoriert: Eigentum auch maßlos ist im Kapitalismus das Heiligste des Heiligen. „Die Revolutionen und Verfassungen, die die Aufklärung vorangetrieben hatten, veränderten zwar die Welt, aber es gelang ihnen nicht, die sich wandlende Macht der Hierarchien zu überwinden.“ (S. 190) …“Das Zeitalter der Aufklärung war auch das Zeitalter der Imperien… Die Kolonisierung bleibt die immerwährende Schande.“ (S. 192).
Aber Anne Norton zieht daraus die Konsequenz: „Wie alle großen Errungenschaften der Aufklärung ist auch die Gleichheit der Menschen nicht irgendwann abgeschlossen. Die Vernunft hat kein Ende. Freiheit wird nicht durch eine einzige Revolution gewonnen, sondern durch kontinuierliches Streben nach revolutionären Zielen“ (S. 194).

13.
Auf die Kritik der Aufklärungsphilosophen an den Religionen und Kirchen wird in dem Buch zur Ausstellung im DHM mehrfach hingewiesen, etwas ausführlicher in einem Beitrag von Margaret Jacob über „Die Religion im Europa der Aufklärung“ (S. 125-132). Für uns wichtig der Hinweis zur religiösen Toleranz in den Niederlanden schon im 17.Jahrhundert: Dort fanden ihres Glaubens wegen Verfolgte eine Zuflucht, nicht nur Juden, auch christliche Minderheiten, wie die Sozinianer, die sich gegen das Trinitätsdogma wehrten und verfolgt wurde. „Innerhalb des niederländischen Protestantismus gab es viele Gruppen, die für religiöse Toleranz eintraten“, schreibt Margaret Jacob (S. 127.) Leider vergißt sie die bis heute in der Hinsicht wichtigen protestantischen Remonstranten (auch früher “Arminianer” genannt) zu würdigen… immerhin erwähnt sie etwas ausführlicher die „Etablierung der Freimaurerlogen“…

14.
Über den Katholizismus und die Aufklärung hat der katholische Kirchenhistoriker Prof. Hubert Wolf eine Aufsatzsammlung veröffentlicht: „Verdammtes Licht“ ist der Titel. (C.H. Beck Verlag, 2019.

15.
Über Kants nach wie vor inspirierenden Vorschlag, eine christlich Vernunftreligion zu gestalten, siehe: LINK.

Über den christlichen Glauben des Aufklärers Voltaire: LINK 

Über einen aufgeklärten katholischen Priester: Abbé Meslier:LINK 

16.
Das Deutsche Historische Museum: www.dhm.de/aufklaerung
www.aufklaerungnow.de   Offen Montag bis Sonntag von 10.00 bis 18.00 Uhr.

Fußnote 1:
Immanuel Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, in: der., „Zum ewigen Frieden und andere Schriften“, Fischer Taschenbuch Verlag, 2008, dort das Zitat S. 31.

Fußnote 2:
Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981, S. 156.

 

“Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert”. Das wichtige Buch zur Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin (DHM) hg. von Raphael Gross und Liliane Weissberg, 130 Abbildungen in Farbe!, HIRMER VERLAG,  München, 336 Seiten, 30 € in der Ausstellung. Auswärts, also Ladenpreis: 39, 90 €.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de