75 Jahre Grundgesetz: Für eine Demokratie, einen Rechtsstaat, der sich verteidigt

Radikale Gruppen wollen in Deutschland anstelle der Demokratie das Kalifat, den Gottesstaat.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 6. 5. 2024.

1.
Vor 75 Jahren, am 24. Mai 1949, trat das „Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“ in Kraft. Der 23. Mai wird als „Verfassungstag“ gefeiert und auch „bedacht“: Vom 24. bis 26. Mai 2024 wird es rund um das Bundeskanzleramt und den Deutschen Bundestag ein großes Demokratiefest geben.

2.
„75 Jahre Grundgesetz“ : Das Ereignis ist bei aller Anerkennung der insgesamt „stabilen“ Demokratie, auch nach dem (übereilten?) Beitritt der DDR zur BRD-Verfassung, jetzt von der Erkenntnis bestimmt: Wir leben zunehmend in einer „gefährdeten Demokratie“. Darin sind sich die meisten Demokraten in Deutschland einig.

3.
Es geht jetzt entschlossen darum, in politischer Tat, für die Bewahrung der Demokratie und die demokratische Weiter – Entwicklung Deutschlands einzutreten. Eine Herausforderung, die alle wenigen, noch verbliebenen demokratischen Staaten, in irgendeiner Weise gestalten müssen. Neue Formen des Dialogs, der Überzeugung, der Debatte, der Teilhabe der Bürger am politischen Geschehen sind wichtig. Alles schon hundertmal gesagt. Auch über den Ausschluss (das Verbot) bestimmter gewalttätiger Gruppen aus dem Ganzen des demokratischen Zusammenhangs muss debattiert und dann wirksam entschieden werden.

4.
Die AFD nennt sich „Alternative für Deutschland“. Diese Partei ist aber nichts anderes als eine Alternative zu Deutschland, d.h. zur Demokratie in Deutschland. Ein autoritärer Staat ist das Ziel dieser rechtsradikalen Partei mit Führern, die man nun offiziell Faschisten nennen darf. Um so verlogener, wenn die AFD jetzt – angesichts der Grundgesetz Feierlichkeiten – groß tönend die Demokratie in Deutschland lobt: Die AFD ist also dankbar, dass sie in unserer Demokratie wachsen und gedeihen kann … bis sie dann eines Tages die Demokratie abschafft. Wer das sieht und auch noch „einfach so“ hinnimmt, begeht einen kontinuierlichen Suizid der Demokratie. Die Rechtsextremen sind in Deutschland und in den anderen europäischen Demokratien und Rechtsstaaten die größte Gefahr für eine humane Zukunft.

5.
Die Debatte über Formen des Widerstands gegen die AFD und andere rechtsextreme Parteien und Gruppen wird also – hoffentlich – im Mittelpunkt des Gedenkens „75 Jahre Grundgesetz“ stehen.

6.
Den „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“ interessiert die Frage: Wie geht die Demokratie in Deutschland mit religiösen Gruppen und religiös sich nennenden Organisationen um, die die demokratische Verfassung ignorieren und Demokratie abschaffen wollen, etwa zugunsten eines Gottesstaates, eines Kalifates. Ob diese Gruppen hinsichtlich der Form ihrer angedachten Herrschaft selbst rechtsextrem zu nennen sind, ist eine Frage, die hier nicht diskutiert wird. Hier geht es um fundamentalistische religiöse Gruppen, in denen so genannte Kleriker herrschen sollen: Sie wollen die angeblich von Gott selbst übermittelten menschenrechtsfeindlichen Grundsätze durchsetzen. Jegliche Trennung von Religion und Staat ist in einem politischen Kalifat ausgeschlossen.
Das Thema steht im Mittelpunkten Debatten, weil etwa eine – zwar – nicht repräsentative Studie zeigt: Fast die Hälfte einer in Niedersachen befragten Gruppe muslimische Schüler meinte, ein islamischer Gottesstaat sei die beste Staatsform. Noch problematischer: Während einer Demonstration in Hamburg am 28. April 2024 sind einige hundert Menschen ganz offen für die Einführung des Kalifates in Deutschland eingetreten: „Kalifat ist die Lösung“, hieß es auf einem der Plakate. Oder: „Kalifat ist die Lösung“. (Nur eine von vielen Quellen: https://www1.wdr.de/nachrichten/dieanderefrage-scharia106.html)

7.
Man kann diese aktuellen Forderungen nach einem Gottesstaat in Deutschland im Jahr 2024 nicht in Verbindung bringen mit dem bekannten Spruch aus dem Neuen Testament: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apostelgeschichte, 5,29). Dieses Bekenntnis der Apostel richtet sich gegen die Umgangsformen der hohen Vertreter des Judentums: Die kleine Gemeinde der Jesus – Gläubigen wollte mit dieser Forderung auf ihrem eigenen Verständnis der göttlichen Wirklichkeit bestehen, gegen andere Deutungen der religiösen Mehrheit der Juden. Dieser Spruch des Neuen Testaments bezieht sich also auf einen inter-religiösen Streit, er hat gar nichts mit der radikalen Profilierung bestimmter Religionsgemeinschaften in einer modernen Demokratie zu tun.
Wenn man schon diesen Spruch aus der Apostelgeschichte des Neuen Testaments verallgemeinern will, kann er nur lauten: „Christen sollen im Konflikt mit autoritären, diktatorischen (!) Staaten ihrem Gewissen folgen und nicht den ungerechten Gesetzen dieser Staaten.“ In einer Demokratie, einem Rechtsstaat, hat dieser genannte Bibelspruch keine politische Bedeutung. Dass etwa die Päpste als „Stellvertreter Christi auf Erden“ (katholische Kalifen ?) auch maßlos politische Herrschaft beanspruchten, ist historisch evident. Dass es Katholiken heute noch gibt, die von der Durchsetzung katholischer und für göttlich gehaltener moralischer Forderungen träumen, ist genauso zweifelsfrei. Aber diese Kreise sind – bis jetzt – nicht bestimmend im Katholizismus innerhalb demokratischer Staaten.

8.
Mit unserem Hinweis auf Forderungen, das politische Kalifat in Deutschland zu errichten, wird selbstverständlich überhaupt nicht und ganz und gar nicht unterstellt, „der“ Islam in seiner Vielfalt halte das Kalifat in Deutschland für wichtiger als das Grundgesetz. Es gilt aber wachsam zu sein: „Die wachsame, weil bedrohte Demokratie“ ist das Motto der Gegenwart:
Und dann gilt es, endlich umfassend wahrzunehmen: Auch innerhalb der Religionen machen sich rechtsradikale, fundamentalistische und gewalttätige Tendenzen stark. Das gilt etwa für evangelikale Christengemeinden in den USA, man denke an den Sturm auf das Kapitol in Washington am 6.1.2021: Fundamentalistische Christen waren an der Gewaltaktion maßgeblich beteiligt. Man denke auch an die gewalttätigen Aktionen evangelikal – charismatischer Unterstützer für Präsident Bolsonaro in Brasilien usw. Von der religiös motivierten Gewalt in Diktaturen soll hier gar nicht die Rede sein: Religion ist für diese Herrscher sozusagen die himmlische, absolut geltende Entschuldigung für alle ihre Untaten gegen die Menschenrechte. In solchen Fällen denkt der Demokrat oft: Gäbe es doch bloß diese (fundamentalistischen Interpretation der) Religionen nicht, wie „nackt“ und blamiert und geistig hilflos würden dann die totalitären Herrscher dastehen.

9.
Zu unserem aktuellen „Scharia“ – Kalifat – Problem in Deutschland: Den Autoren des Grundgesetzes stand dieses Thema 1949 überhaupt nicht vor Augen. Dennoch muss das Problem mit den Mitteln des Grundgesetzes von 1949 gelöst werden.

10.
Es galt und es gilt: Artikel 4, Absatz 1 des Grundgesetzes: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich“. In Absatz 2 heißt es: „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ Das heißt: Religiöse Menschen, nicht-religiöse Menschen, Atheisten … haben gleichberechtigt Anteil an dieser Freiheit des Glaubens.
Der Artikel 140 des Grundgesetzes folgt weithin den Artikel der Reichsverfassung von Weimar (WRV, 1919), darin wird das Kirche – Staat – Verhältnis in Deutschland definiert. Es „besteht keine Staatskirche“ (Art. 137). Das Grundgesetz sieht eine milde zu nennende Form der Trennung von Kirche und Staat vor, aber das speziell ist nicht unser Thema. Wichtig in unserem Zusammenhang: Artikel 137, § 3: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig“, und zwar, wie es ausdrücklich heißt, „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.“

11.
Das Grundgesetz ist also bestimmt von einer weltanschaulichen, religiösen Neutralität des Staates. Kein Vertreter irgendeiner Religion darf sich ermächtigt fühlen, politisch zu herrschen. „Staat ohne Gott“ ist also der richtige, für eine Demokratie einzig angemessene Titel, des Buches des Rechtsphilosophen Horst Dreier zur Verhältnisbestimmung von Religion und demokratischem Staat: Die Demokratie braucht keinen Gott irgendeiner Religion. (Zum Buch von Horst Dreier, siehe Fußnote 1).

12.
Das heißt aber nicht, das dieser demokratische Staat selbst eine gottlose Ideologie entwickeln und vertreten darf: Der demokratische Staat hat deswegen keinen eigenen Gott, weil er – prinzipiell – alle Götter aller Religionen und Konfessionen gleichberechtigt sich entfalten lässt. Weil die Demokratie zu ihrer eigenen Legitimierung keine (Staats -) Religion braucht, kann sie umfassende Religionsfreiheit gewähren. Die Demokratie pflegt und anerkennt die religiöse Pluralität. Und die Demokratie in der deutschen Verfassung steht zu allen Religionen in der gleichen Distanz. Um das „Seelenheil“ des Bürgers, seine innere, persönliche religiöse Ideologie kümmert sich die Demokratie nicht. Die Gestaltung des Seelenheils eines Bürgers geht den demokratischen Staat nichts an. Jeder und jede suche selbst auf seine Weise sein „Seelenheil“ in irgendeiner der Religionen oder auch atheistischen Weltanschauungen.

13.
Diese Bestimmungen des Grundgesetzes entwerfen förmlich eine ideale Situation des Miteinanders von Staat und Religionen in Deutschland. Die Gefährdung der Demokratie in Deutschland durch radikale, extreme und tendenziell gewalttätige religiöse Gruppen war selbst für den renommierten Staatsrechtler Horst Dreier kein Thema, als er sein Buch „Staat ohne Gott“ im Jahr 2018 veröffentlichte.
Dreier schreibt auf Seite 63 die heute brisant wirkende Einschätzung: : „Religionsfreiheit stellt eine radikal individuelle Rechtsposition dar, die ohne jede Verpflichtung auf den Staat gewährleistet wird und auch bei inhaltlicher Fundamental – Opposition ihm (dem Staat) gegenüber ohne Abstriche garantiert wird.“ Religionsfreiheit soll also auch „bei inhaltlicher Fundamental – Opposition ihm (dem Staat) gegenüber ohne Abstriche garantiert“ sein?
Hintergrund für diese Aussage ist zunächst die richtige und gültige Erkenntnis: Der Staat darf die innere religiöse Gesinnung seiner Bürger nicht prüfen, geschweige denn bewerten und kontrollieren. „Rechtsgehorsam muss genügen“, also die formale Befolgung der Gesetze, auch wenn der Handelnde gar nicht die Grundsätze der Verfassung und der ihr folgenden Gesetze schätzt.. . und etwa nur aus Angst vor Strafe die Gesetze respektiert…

14.
Natürlich entspricht es dem Geist der Demokratie und des Rechtsstaates: Zuerst mit allen Gegnern und auch Feinden der Demokratie und des Rechtsstaates zu sprechen. Doch wie „unendlich“ darf dabei die Geduld der Demokraten mit den Verweigerern der vernünftigen Argumente sein? Wie soll die Demokratie mit religiösen Gruppen umgehen, die Rechtsstaat und Demokratie abschaffen wollen? Muss also dieser prinzipiell religiös neutrale Staat dann doch die zur Gewalkt aufrufende Lehre einer bestimmten Religion zurückweisen (etwa das politische Kalifat und die politische Herrschaft der Scharia) und diese Gruppe zum Schutz der Demokratie öffentlich anklagen und dann verbieten? Es zeigt sich hier ein gewisses Dilemma der Demokratie: Sie soll dann also ins innere Leben einer Religion eingreifen, hinsichtlich der irrigen Vorstellungen vom Gottesstaat usw., obwohl solche Eingriffe, also mit dem Ziel inhaltlich begründeter Verbote, von der eigentlich religiös neutralen Demokratie nicht möglich sein dürften. Es ist für die Demokratie in Deutschland untersagt: „die parteiergreifende Einmischung in die Überzeugung, die Handlungen und in die Darstellung Einzelner oder religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften“ (Dreier, Seite 98).

15.
In der Not der gefährdeten Demokratie muss sich der Rechtsstaat vor den im „Innern“ agierenden Zerstörern der Demokratie wehren. Gegen Aggressoren von außen wehrt sich die Demokratie bekanntlich selbstverständlich.
Es ist offensichtlich, dass die AutorInnen des Grundgesetzes (1949) nicht sahen und noch nicht sehen konnten, wollten, dass es Religionen, Konfessionen etc. geben kann, die die Demokratie abschaffen wollen. Dabei hätten sich die AutorInnen doch an die Ideologie der evangelischen Nazis und Hitler Freunde, der „Deutschen Christen“ (gegründet 1931), erinnern können. Diese nicht gerade minoritären Kreise wollten im Dienste Hitlers religiös die Weimarer Republik zerstören. Komisch, diese Vergesslichkeit damals 1949…

16.
Jetzt geht es darum: Der demokratische Staat, nun in einem Notfall der Bedrohung durch gewalttätige antidemokratische religiöse Gruppen, kann seine grundlegende Religionsfreiheit nur am Leben erhalten, wenn er selbst eine Ausnahme macht hinsichtlich der sonst umfassend geltenden Anerkennung der Religionsfreiheit. Konkret also: Die religiöse Vereinigung derer verbieten, die ein politisches Kalifat in Deutschland errichten wollen. Wenn eine Rechtsordnung von religiösen Fanatikern angestrebt wird oder bereits realisiert wurde, “die die Menschenwürde untergräbt, kann es unsere Pflicht sein, diese (angestrebte oder bereits reale) Ordnung in Frage zu stellen. Die Menschenwürde bezeichnet exakt die Grenze der Souverenität des Staates”(Omri Boehm, “Die Zeit”, 10. 8.2023, S. 45)

17.
Im Grundgesetz gibt es den Artikel 9, der sich – im allgemeinen – auf Vereine und Gesellschaften bezieht. Darunter könnte man ja auch religiös (sich nennende) Vereine zählen. Sie könnten vom Absatz 2 dieses Artikels 9 mit gemeint sein, dort heißt es in Absatz 2: „Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten.“

18.
Der demokratische Rechtsstaat ist bei der Verteidigung gegen rechtsextreme und religiös fundamentalistische Gruppen selbst an die geistige, aber wirkliche Verpflichtung gebunden, den Prinzipien der Gerechtigkeit und der universellen Menschlichkeit zu entsprechen. Dieser Gedanke geht von der Erkenntnis aus: Was alle Menschen erst zu Menschen macht, ist die Verpflichtung, universellen ethischen Gesetzen zu folgen. Und denen können Menschen in der Tat auch entsprechen, weil sie in ihrer Vernunft selbst den Aufruf zu diesem moralischen – ethischen Handeln erleben. Diese sich also in jedes Menschen Geist zeigende Idee einer universellen Menschlichkeit „leuchtet“ im Geist auf als eine solche, die „nicht von Menschen gemacht ist“ (Omri Boehm, Radikaler Universalismus, S. 17): Die Idee der universell für alle Menschen geltenden Menschlichkeit weist jegliche sich abkapselnde identitäre Ideologie einer Gruppe, wie die der „Kalifen – Freunde“, entschieden ab: Diese Identitäten Ideologien sind letztlich tödlich für den Bestand einer humane Menschheit. (Zum Buch von Omri Boehm, siehe Fußnote 2)

19.
Diese sich in jedes Menschen Vernunft zeigende Idee der universellen Menschlichkeit kann also prinzipiell nicht von Menschen abgeschafft und ausgelöscht werden. Denn sie gehört zur immer schon gegebenen inneren Verfassung des menschlichen Geistes.

20.
Diese Erkenntnis, dass die sich verteidigende Demokratie selbst einem universellen geistigen Gesetz der für alle geltenden Menschlichkeit untersteht, mag für einige „Ungeübte“ zunächst nur mit Geduld nachzuvollziehen sein. Aber ohne diese anspruchsvolle Erkenntnis sind Demokratie und Rechtsstaat nicht zu verstehen. Es gilt, wie Omri Boehm sagt, „die Verpflichtung auf die universelle moralische Wahrheit“ (S. 78) zu erkennen und zu realisieren: Und diese wollen Vorkämpfer des Kalifates wie die Rechtsextremen zugunsten ihrer totalen Herrschaft zerstören… Die identitären Ideologien (des Kalifates und der Rechtsextremen), die man mit Immanuel Kant „Maximen“ nennen kann, haben in der Konfrontation mit dem ethischen Kriterium „Kategorischer Imperativ“ keinen Bestand. Diese Ideologien, „Maximen“, werden durch die Erkenntnis des „Kategorischen Imperativs“ zurückgewiesen: „Handle so, dass die Maxime deines Handelns allgemeines Gesetz für alle sein können“ (Kant). Welcher Kalifats Fanatiker, welcher Rechtsextreme, möchte schon selbst erleben, dass sein eigenes Dasein in einem totalen, identitären Staat bedroht, gegängelt und ausgelöscht werden kann.

21.
Ohne universell geltende Grundsätze der Menschlichkeit können selbst die fanatischen Kalifats – Ideologen und die Rechtsextremen (Faschisten) wie auch Linksextremen (Stalinisten) gar nicht überleben. Um ihres eigenen Überlebens willen sollen sie sich von ihrer verbrecherischen Ideologie befreien oder sich von Demokraten befreien lassen.

Fußnote 1. Horst Dreier, „Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne“, C.H.Beck Verlag, München, 2018.

Fußnote 2: Omri Boehm, „Radikaler Universalismus“. Propyläen Verlag, Berlin, 2022.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Anton Bruckner – 200. Geburtstag: Eine ungewöhnliche Einladung nach Oberösterreich.

Ein Buch macht mit dem “Dickschädel” Anton Bruckner vertraut.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 26.4.2024.

1.
Der runde, der 200. Geburtstag des Komponisten Anton Bruckner am 4. September steht – vom Tag (26.4.2023) der Publikation dieses Hinweises aus gesehen – noch nicht unmittelbar bevor: Aber wir sollten uns viel Zeit gönnen, um das vielfältige Opus Anton Bruckners zu entdecken oder durch nochmaliges Hören wieder schätzen zu lernen, etwa seine 8. Sinfonie oder das „Te Deum“ oder das “Requiem“, sogar seine Kammermusik könnte man wahrnehmen, ganz abgesehen von den Orgelwerken.

2.
Eigentlich haben Musikwissenschaftler über Anton Brucker und sein Werk alles gesagt, kann man berechtigterweise denken angesichts der riesigen Fülle der Bruckner Studien. (So auch Florian Sedmark, in dem hier vorgestellten Buch, S. 107). Aber ein Aspekt hat noch gefehlt: Ein Buch, das nicht nur informierend, sondern durchaus unterhaltsam in Bruckners Heimatland Oberösterreich führt. Eine Art neuer, interessanter Melange ist entstanden, bestehend aus Reiseführer zu den etwa 40 Bruckner – Orten in Oberösterreich, und immer auch Hinweisen zu des Komponisten Leben dort, also das Leben und Feiern dort und Komponieren und Essen und Trinken und Geselligsein. So ist also ein Buch entstanden, das als Begleiter für „leibliche Reisen“ „vor Ort“ sehr dienlich ist, das aber auch als geistiger Begleiter, etwa bei der Lektüre auf dem Sofa zu Hause, in die Dörfer und Städtchen und Klöster führt, in denen der reiselustige Bruckner sich oft aufhielt.

3.
Der Autor Florian Sedmark wird diesem Anspruch gerecht: Er hat die Begabung, die LeserInnen zu den Bruckner Orten in Oberösterreich mitzunehmen (und dort auch viel lokale Geschichte bis hin zu Gaststätten und Kirchen zu beschreiben). Dabei erliegt er bei allem Respekt nicht der Versuchung, sozusagen Bruckner heilig zu sprechen. Er weiß von des Komponisten „widersprüchlicher Persönlichkeit“, von seiner Starrköpfigkeit vor allem: Eine Erkenntnis, die auch zum Titel des Buches führte: „Dickschädels Reisen“. Bruckner sah sich selbst so…Er war im Aufbruch der Moderne und der zunehmenden Säkularisierung traditionsverbunden, er pflegte eine fast kindlich erscheinende katholische Frömmigkeit mit regelmäßigen Gebetszeiten, eine Ausnahme im Europa des 19. Jahrhunderts, nicht nur unter Komponisten. Gleichzeitig liebte er sehr gute Portionen deftiger „heimatlicher Speisen“und natürlich schätzte er manchmal allzu heftig auch das Bier. All die „Ambivalenzen“ Bruckners will der Autor nicht auflösen (S. 13). Brucker war so vieles, Schulmeister, Musiklehrer, Ländlergeiger, Dozent, Professor, leidenschaftlicher Schwimmer, Organist in berühmten Kirchen, glänzender Schöpfer von Improvisationen auf der Orgel.
Das Buch zeigt die komplexe Wirklichkeit des Menschen Anton Bruckner. Er war ein hochbegabter Musiker, stammte aus eher “bescheidenen Verhältnissen“, er schätzte immer diese Menschen, die auf ihre Art in den Dörfern etwa musikalische Traditionen pflegten, auch in „Gesangsvereinen“. Er war durchaus gebunden an Autoritäten, ängstlich vor Kritikern seines Werkes, aber: Bruckner hat sich durchgesetzt und große Musik uns gegeben.

4.
Das Buch ist außergewöhnlich und originell, weil es auch über QR Codes viele Möglichkeiten bietet, Bruckners Musik an den jeweiligen Orten „nachzuhören“. Etwa auch den 1. Satz der 8. Sinfonie (Seite 117).

5.
Dass Bruckner seine Karriere auch in Wien erlebte, in den Jahren 1868 -1896), wird von Florian Sedmark erwähnt , aber nicht weiter vertieft. In den für Bruckner schwierigen Jahren in Wien zog es ihn immer zu längeren Aufenthalten (Urlaub, Erholung, aber auch Therapie) in seine Heimat, nach Oberösterreich.

6.
Für alle, die sich spätestens im Sommer nach Oberösterreich aufmachen, nach Linz, St. Florian, Kremsmünster usw… oder auf dem Sofa ihre Reisen gestalten: Hier eine alphabetisch gegliederte Liste der „Bruckner-Orte“, die das Buch präsentiert, das allerdings der Lebensgeschichte folgt: Ansfelden der Geburtsort), Attersee, Bad Goisern, Bad Ischl, Bad Kreuzen, Eferding, Enns, Gmunden, Grein, Hörsching, Kirchdorf an der Krems, Klaus an der Phyrnbahn, Kremsmünster, Kronstorf, Leonding, Linz, Luftenberg an der Donau, Micheldorf, Neufelden im Mühlkreis, Ottensheim, Perg, Ried im Innkreis, Schlierbach, Schwanenstadt, Sierning, St. Florian, St. Marienkirchen an der Polsenz, Steyr, Steyregg, Ternberg, Vöcklabruck, Wels, Wilhering, Windhaag bei Freistadt, Wolfern.

7.
Neu dürfte für einige LeserInnen auch der Aufenthalt Bruckners in Berlin im Jahr 1894 sein: Zwei Jahre vor seinem Tod erlebte Bruckner dort die Aufführung der Siebten Sinfonie und des Te Deum. In Berlin logierte er im Luxushotel ADLON. (S. 174).

„Dickschädels Reisen. Durch Oberösterreich mit Anton Bruckner“. Von Florian Sedmark. Mit einem Essay von Norbert Trawöger. 256 Seiten, Hardcover mit Lesebändchen. Anton Pustet Verlag Salzburg, 2024, 25 €.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Ist Kant jetzt wieder tot? Oder lebt er weiter nach den Geburtstags – Feierlichkeiten?

Ein Hinweis von Christian Modehn am 23. April 2024

1.
Die Geburtstagspartys zu Ehren Immanuel Kants, in allen Medien veranstaltet, sogar mit ehrenden Worten von „prominenten“ Politikern, sind zu Ende: Kants großer Tag war der 22. April 2024, da feierte er mit vielen Menschen in aller Welt seinen 300. Geburtstag. Schon Monate vorher lief der Geburtstagstrubel auf Hochtouren: So wollen es nun die Gesetze des Kulturbetriebes und des Journalismus: Große Gedenktage großer Namen bringen eben auch großes Geld … Sollten aber vor allem Erkenntnisse fördern.

2.
Die Gemeinde der „Kulturschaffenden“ hat sich bereits voller Publikationslust den nächsten runden Gedenktagen zugewandt: Bis zu seinem 100. Tagestag, am 3. Juni 2024, wird Franz Kafka noch weiter gefeiert, bedacht, geehrt, „gewürdigt“, hoffentlich auch gelesen und der Vernichtung vieler seiner Familienmitglieder durch Deutsche, Nazis, gedacht… Dann folgt der große Caspar David Friedrich, sein 250. Geburtstag am 5. September treibt schon jetzt viele Tausend Menschen zum Staunen und Entzücken in die Sonderausstellungen. LINK.  Wer denkt bei so vielen Größen noch daran, dass der Schriftsteller und Satiriker Karl Kraus am 28. April 2024 seinen 150. Geburtstag feiert? LINK. Wer hat sich musikalisch und religiös bereits auf den Komponisten Anton Bruckner eingestellt, der am 4.9. seinen 200. Geburtstag begeht? Wird höchste Zeit, z.B. seine 8. Symphonie wieder zu hören … oder sein Heimatland Oberösterreich zu besuchen (zu Bruckner, siehe Fußnote 1)

3.
Man hat den Eindruck: Die Präsentation von Kultur bewegt sich heute hart an der Grenze der „Gedenktageritis“, der Fixierung auf runde Geburts – und Todestage. Dabei könnte man doch prinzipiell jeden Menschen und dessen einmalige Individualität auch an „eckigen“ Gedenktagen bedenken…

4.
Zurück zu Kant: Ist er ab heute, 23. April 2024, schon wieder tot für die meisten Menschen? Philosophen werden sein Werk zwar weiter studieren und die schon jetzt unübersehbare Fülle der Kant – Studien ausbauen. Aber muss man wirklich erst 10 Jahre abwarten, um zu wissen: Welche breite Wirkung hatten denn nun die vielen Bücher, Reden, Beiträge, Sendungen anläßlich von Kants 300. Geburtstag? War alles eine kulturelle Zwangshandlung oder bleibt „etwas hängen“ im Bewusstsein der Menschen?

5.
Um nicht gleich in ein kulturkritisches Jammer zu verfallen: Besser ist die Antwort auf die Frage, die eigentlich als Leitmotiv alles öffentlich Kant-Gedenken und Kant – Besprechen hätte bestimmen sollen: Was soll denn jeder Menschen von Kants universell geltenden Erkenntnissen wissen:

– Jeder Mensch soll wissen, was der „Kategorische Imperativ“ deutlich erklärt. Er könnte eine Art ethisches „Allheilmittel“ sein. Und er bietet große Sicherheit bei der Frage: Wie gestalte ich mein menschliches Leben mit anderen? Es geht um die Förderung der Würde des Menschen! Dann entsteht aber die Frage: Welche Lebensphilosophie, welche Ideologie, welche Maxime ist für mich wichtig, hat sie auch Bestand vor der universell für alle Menschen geltenden Vernunft? So, wie doch die meisten Menschen gewisse mathematische Kenntnisse haben (etwa die schlichte Erkenntnis: „Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel“), so sollte eben auch jeder den Kategorischen Imperativ kennen.

Jeder Mensch sollte mit Kant wissen: Angesichts des zunehmenden Fundamentalismus in der Politik und in den Religionen und Kirchen, ist eine noch zu schaffende universale vernünftige Menschheitsreligion der Humanität entscheidender als die Bindung an eine konkrete historisch gewachsene Religion und Konfession. Diese Menschheitsreligion braucht keine Institution, braucht keinen Klerus: Die einzelnen Menschen sollen erfahren und wissen: Es gibt eine göttlich genannte schöpferische Urkraft, im Geist der Menschen ist sie verstehbar. Und diese einfache Vernunftreligion hat wenige Grundsätze, allgemein vernünftig einsehbar: Diese Menschheitsreligion gebietet die Toleranz, den Respekt, empfiehlt die Liebe. Kant spricht in dem Zusammenhang von der unsichtbaren Kirche.

Auch wenn es um Frieden und Krieg geht, ist eine große Leitlinie für Kant zentral: Jeder Krieg ist zuerst und vor allem ein Unrecht, weil er die Menschenrechte verletzt, d.h. Weil er die Würde eines jeden Menschen verletzt. Und gegen diese schlimmste aller Degradierungen, den Verlust der Würde des Menschen, können aufgeklärte Bürger und deren Politiker nach Kant – schon im 18. Jahrhundert gedacht – Entscheidendes tun: Sie können z.B. Verträge untereinander schaffen, die den Krieg verhindern, sie können einen Völkerbund organisieren, sie sollen ein „Weltbürgerrecht“ schaffen, das die Rechte eines jeden gegenüber jedem anderen Staat garantiert. Diese Vorstellung mag „idealistisch“ erscheinen: Aber nur unter der globalen Perspektive einer anderen, also einer gerechten, friedfertigen Welt, von den Menschenrechten geregelt, lässt sich die Hoffnung bewahren, die Hoffnung, dass es sinnvoll ist, auf dieser Erde als Mensch mit anderen leben zu können.

6.
Mit diesen sehr knappen Hinweisen wird kein Spezialwissen zu Kant verbreitet, sondern mit Kant werden die Grundlagen des Menschseins freigelegt.
Kant hat natürlich nicht auf alle Fragen richtige Antworten. Aber er hat einige bleibende, richtige Antworten auf die ewige Frage: Wie kann ich als Mensch – jeder Kultur – menschlich leben? Einige zentrale Erkenntnisse des Philosophen Immanuel Kant zu kennen, sie im Gedächtnis zu behalten, sie praktisch im Leben als Orientierung zu gebrauchen: Das sollte nun wirklich ein Resultat all der vielen Feierlichkeiten, Publikationen, Reden usw. zu Kants 300. Geburtstag sein. Es ist doch wohl nicht so, dass wir von dem Gefühl bestimmt sein sollten: Na ja, gibt es halt zu unserer Abwechslung immer wieder runde Gedenktage, und die “haken wir ab“, und dann geht ungebrochen der alte Trott weiter. Mit neuen runden Gedenktagen. Das wäre dann wirklich der Kulturbetrieb…

Fußnote 1: “Durch Oberösterreich mit Anton Bruckner: Dickschädels Reisen” von Florian Sedmak, Verlag Anton Pustet, 2024, 256 Seiten.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Gegen die Klerus-Herrschaft und den kirchlichen Aberglauben: Kants vernünftige Religion.

Die Erinnerung an Kant – anläßlich seines 300. Geburtstages – muss eine Provokation bleiben.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 14. 4. 2024.

Dieser Beitrag plädiert im Sinne Kants für einfache, dogmatisch reduzierte, die ethische Praxis betonende christliche Kirchen. Das Projekt erfordert einen radikalen Umbau und Abbau der Dogmatik, einen Verzicht auf Hierarchien, es geht darum, dass Menschen ihre individuelle Verbindung mit Transzendenz, dem Göttlichen, wieder einfach leben können.

1.
Es gibt einige Erkenntnisse des Philosophen Immanuel Kant, die bleibend das „Wesen“ des Menschen aussagen, Erkenntnisse, die das Dasein auch heute nicht nur inspirieren, sondern leiten sollten. Kant ist ein Philosoph, der zwar, wie alle anderen Philosophen auch, geschichtlich geprägt ist, der aber universell geltende Wahrheiten formulierte.

2.
Kants Erkenntnisse wurden anläßlich seines 300. Geburtstages am 22.4.2024 tausendfach, oft verkürzt, popularisiert, unters „Volk gebracht“. Aber ist diese journalistische Pflichtübung vorbei, ist dann auch die Erinnerung vorbei? Das darf im Falle Kants nicht sein.

3.
Wir behaupten: Man muss damit rechnen, dass es philosophische Erkenntnisse gibt, die jeder und jede verstanden haben sollte, sie förmlich im Geist stets präsent haben müsste -zur Orientierung im privaten, gesellschaftlichen und religiösen Leben. Diese Erkenntnisse gehören zur geistigen Verfassung der Menschen.

4.
Dabei gibt es keinen Zweifel: Kant hat in seiner Zeit (im 18. Jahrhundert, in Königsberg) auch falsche Einschätzungen publiziert, auch darüber wurde anläßlich seines 300. Geburtstages gesprochen. Und manchmal wurde dem Vorurteil Raum gegeben: Wenn Kant doch vieles aus heutiger, aus ethischer Sicht Problematisches, sogar Falsches sagte: Dann brauchen wir uns um ihn eigentlich nicht weiter zu kümmern. Genannt wurden als Verfehlungen Kants ein gewisser kollonialistischer Ungeist, eine Abwertung de Judentums, eine Respektlosigkeit gegenüber außereuropäischen Völkern, das absolute Verbot – auch im Notfall – zu lügen…

5.
Aber die besten kritischen Kenner der Philosophie Kants (wie Marcus Willaschek) betonen: In dieser Hinsicht bleibt Kant unterhalb seines eigenen, von ihm sonst überzeugend dargestellten ethischen und intellektuellen Niveaus. Das heißt: Es gibt „trotz dieser begrenzten Verirrungen“ bleibende wahre Erkenntnisse Kants. Zum Beispiel: Kants „Kategorischer Imperativ“.

5.
Über die Formulierungen des Kategorischen Imperativs wurde auch auf dieser Website mehrfach gesprochen.
Der Kategorische Imperativ im Sinne Kants ist ein bleibender Maßstab in der praktischen Lebensgestaltung: Darf ich diese meine freie Tat begehen, ist sie gut oder ist sie schlecht? Zur Antwort muss ich meine Entscheidung mit der Frage konfrontieren: Kann meine Entscheidung ein universelles Gesetz für alle anderen Menschen werden?
Nur ein Beispiel: Ich will unbedingt mit einem Diktator und Kriegstreiber befreundet bleiben: Kann diese meine Entscheidung allgemeines Gesetz für alle werden? Können also alle Menschen mit Diktatoren und Kriegstreibern befreundet sein, selbst wenn sie ihren Diktator-Freund auf seine abzulehnende Haltung deutlich hingewiesen haben? Die Antwort ist eindeutig: Wenn alle Menschen mit verbissenen Kriegstreibern und Diktatoren befreundet sind, dann ist die leitende Idee der Menschenrechte, der Demokratie und Friedensordnung definitiv zerstört. Das darf nicht sein, also darf auch meine genannte Freundschaft nicht sein.

6.
Für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin sind naturgemäß Fragen zu „Religion und Philosophie“ bzw. „Kirchen und Philosophien“ von besonderem Interesse. Darum sind für uns auch religionsphilosophische und kirchenkritische Erkenntnisse Kants von großer Bedeutung, das gilt für alle spirituell Interessierten.
Wir beziehen uns auf das zu Kants Zeiten viel beachtete Buch Kants „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (von1793). Die Zitate beziehen sich auf die Ausgabe des Felix Meiner Verlages, Hamburg, 2003.

7.
Für Kant ist evident: Auch die allgemeine Vernunft muss Religion und kirchliches Leben bestimmen. Was denn auch sonst? Etwa ein jeweils subjektiver Wunderglaube oder irgendwelche Einsichten von fundamentalistischen Scharlatanen oder dogmatische Behauptungen von Päpsten – etwa zum Frauenpriestertum?

8.
Dabei muss man beachten: Die Vernunft, die Religionen und Kirchen kritisiert, ist für Kant göttlichen Ursprungs. Der menschliche Geist ist für ihn Gabe der göttlichen Schöpfung. Es gibt also eine „in aller Menschen Herz eingeschriebene Religion“ (S. 213). Und diese kann der Mensch mit seiner eigenen Vernunft hervorbringen. Kant zeigt darüber hinaus, dass zentrale Weisungen und Grundsätze des Neuen Testaments, bezogen auf den „Lehrer“ (S. 213) Jesus Christus, allen Menschen „durch ihre eigene Vernunft faßlich und überzeugend vorgelegt“ werden können (S. 218).

9.
Um nur einige zentrale Erkenntnisse Kants in dem Zusammenhang – für weitere Studien und Lektüren – zu erwähnen:
Nicht die Erfüllung von religiösen, kirchlichen Vorschriften lehrt Jesus Christus, sondern die Pflege der „moralischen Herzensgesinnung“ (S. 214). Nicht gottesdienstliche Handlungen können den Menschen von den Verfehlungen an seinem Mitmenschen befreien, sondern nur die praktische Wiedergutmachung des Unrechts. Nicht das „süße Gefühl der Rache“ darf vorherrschen, sondern die Duldsamkeit…Dies sind die Weisungen des Lehrers Jesu von Nazareth. Es ist die Ethik und die Erfüllung der ethischen Pflichten, die den wahren Dienst an Gott, den Gottesdienst, bestimmen. Das ist das reliöse Zentrum im Denken und Leben Kants.

10.
Kant nennt sehr modern, man möchte sagen schon kapitalismuskritisch, den „Eigennutz, den Gott dieser Welt“ (S. 217), dem so viele Menschen dienen. Davon muss der Mensch sich befreien, um sein wahres Menschsein zu entdecken.

11.
Kant weiß als Philosoph, dass es eine göttliche Wirklichkeit gibt. Er betont aber: Gott kann nicht wissenschaftlich bewiesen werden, wenn man denn wissenschaftlich im Sinne der Naturwissenschaften versteht. Insofern gibt es für Kant auch keine „Gottes – Beweise“. Aber die göttliche Wirklichkeit muss gedacht werden als Idee, diese göttliche Idee ist denknotwendig, will man die Existenz des Menschen umfassend verstehen. Weil der Mensch Anteil hat am Ewigen, am göttlichen Geist, kann er auch hoffen, über den Tod hinaus auch auf nicht zu definierende Weise irgendwie „fortzubestehen“.

12.
Die wahre alleinige und universale Welt – Religion enthält „solche praktischen Prinzipien, deren unbedingter Notwendigkeit wir uns bewusst werden können“, diese Prinzipien sind „durch reine Vernunft, nicht empirisch, offenbart“ (S. 226). Es sind die Prinzipien, dass Liebe vernünftiger ist als Hass, Brüderlichkeit wichtiger als Beharren auf nationaler Identität.

13.
Es gibt Statuten, Verfügungen, Wahrheiten der Kirche: Diese sind aber übetrhaupt „nicht wesentlich zum Dienste Gottes“ (226). Wer hingegen diese Statuten, Dogmen, der Kirche zur „Bedingung des göttlichen Wohlgefallens macht“, folgt einem „Religionswahn“. Dessen “Befolgung ein Aberglaube ist, d.h. eine nur vermeintliche Verehrung Gottes“. (226-227).

14.
Es ist bloßer „Religionswahn und Aberglaube“ zu glauben, als Mensch für ein gottgefälliges Leben noch etwas anderes und mehr zu tun zu müssen, als den guten Lebenswandel zu praktizieren. (230). In der frommen Aufopferung, der Askese, „im Eremitenleben, Mönchsdasein“, bringe der Mensch gerade die einzig bei Gott zählende erforderliche moralische Gesinnung nicht auf. Es gibt also für Kant NUR „die Religion des guten Lebenswandels als das einzige religiöse Ziel der Menschen“ (236). Solange die Kirchen mit ihren eigenen Lehren noch bestehen, muss die Vernunftreligion allmählich diesen Kirchenglauben durchdringen und überwinden. (ebd.)

15.
Die universelle Vernunftreligion ist vergleichbar mit einer „unsichtbaren Kirche, die alle Wohldenkenden in sich befasst, sie ist die wahre allgemeine Kirche“ (238). Aber… angesichts der Macht der Kirchen und des Klerus ist diese alle Menschen umfassende Kirche noch eine Idee, eine Forderung.
Nebenbei: Der große katholische Theologe Karl Rahner hat diese Idee Kants von der unsichtbaren Kirche auf seine Art aufgegriffen, als er von den „anonymen Christen“ sprach, also von der theologischen Einsicht, dass eigentlich die universale göttliche Wirklichkeit im Sinne der Christen eben auch universal alle Menschen erreicht…

16.
Wenn in den Kirchen Gesetze, Gebote, Dogmen, veräußerlichte religiöse Praxis (Prozessionen…) vorherrschen, dann sind in dieser Kirche die, wie Kant sagt, die „Pfaffen“ an der Macht. In diesen Pfaffen – Kirchen gelten nicht die Prinzipen der Sittlichkeit (242). Nebenbei: Man denke aktuell an den massiven sexuellen Missbrauch durch Kleriker und Pastoren…Eine solche Pfaffen – Kirche ist für Kant, so wörtlich, „despotisch“ (243), weil nur der Klerus das Glaubensleben bestimmt und „befiehlt“ (243). Dieser Klerus bestimmt dann als Herrscher über die Laien, also auch über die Politiker, den Staate (ebd.).Das ist ein unvernünftiger Zustand! Das ewige Kirche – Staat – Problem klingt hier an.

17.
Religiöse Praxis in den Kirchen, die als gebotene fromme Übungen verstanden wird, deutet Kant als „Frondienst” (250).
Beten darf kein Wünschen Gott gegenüber sein, Beten soll verstanden werden als Wunsch, Gott in der ethischen Praxis wohlgefällig zu sein (S. 264). Auch die Teilnahme an Gottesdiensten, Messen, ist nur ein Wahn, wenn denn die Teilnahme an den Gottesdiensten als Mittel verstanden wird, dadurch Gnade bei Gott finden zu wollen (S. 269).

18.
Das Buch „Die Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft“ endet eher skeptisch, pessimistisch. „Es wird geklagt, dass Religion noch immer so wenig zur Besserung der Menschen beiträgt“ (273), dieser Klage schließt sich Kant an und nennt auch den entscheidenden den Grund: Religion und Kirche werden immer noch nicht als Institution zur Förderung des einzig entscheidenden moralisch guten Lebenswandels verstanden…

Kant als Lehrer der Weisheit: LINK

Hat Kant die Metaphysik vernichtet? LINK

Ein Hinweis auf das neue, wichtige Kant – Buch von Marcus Willaschek:  LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Omri Boehm (Philosoph und Kritiker der Politik Israels) erhält den Leipziger Buchpreis 2024

Von Christian Modehn am 8.3.2024

Am 21.3.2024 eingefügt: Die Rede von Omri Boehm in Leipzig mit dem Titel “Freundschaft in finsteren Zeiten”. LINK

Über das in Leipzig wichtige geehrte Buch von Omri Boehm: “Radikaler Universalismus”:  LINK

Die Laudatio auf Omri Boehm und sein Buch “Radikaler Universalismus” hielt in Leipzig die Soziologin Eva Illouz (Frankreich/Israel). LINK

………………………………………..

Unser Hinweis vom 8.3.2024:

1.
Man darf am 20. März 2024 gespannt sein, wenn in Leipzig der israelisch – deutsche Philosoph OMRI BOEHM den Leipziger Buchpreis erhalten wird. Die Laudatio wird die Soziologin Eva Illouz halten. Omri Boehm wurde 1970 in Haifa (Israel) geborren, er besitzt die israelische und die deutsche Staastbürgerschaft, er arbeitet vor allem in New York an der “New School for Social Research” als Philosophieprofessor.

Und wir können nur hoffen, dass den richtigen Aussagen Omri Boehms zur gegenwärtigen Politik in Israel (siehe unten) die Attacken erspart bleiben, die der jüdische Filmemacher Yuval Abraham nach seinen Aussagen, auch auf der “Bären Gala”der Berliner Filmfestspiele, erleben musste. Yval Abraham (Regie: “No Other land”) hatte die rechtsextrem beherrschte Politik Israels treffend als “Apartheids-Politik” bezeichnet. Und er hatte deswegen Morddrohungen erhalten, weil bestimmte “übereifrige Deutsche”  seinen Argumenten unterstellten,  sie seien antisemitisch… LINK zu Yval Abraham.

2.
Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung wird seit 1994 verliehen, LINK,  er gehört in Deutschland zu den bedeutendsten Literaturauszeichnungen. Veranstalter des Preises sind der Freistaat Sachsen, die Stadt Leipzig, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels und die Leipziger Messe.
Omri Boehm erhält den Preis zu Beginn der Leipziger Buchmesse am 20. März 2024 im Leipziger Gewandhaus.

3.
Omri Boehm zeigt u.a. in seinem wichtigen Buch „Radikaler Universalismus“ einen Ausweg aus den ständigen Kriegen Israel – Palästina: Es ist die Idee/Utopie eines gemeinsamen Staates von Juden und Arabern. Die viel besprochene Zweistaatenlösung lehnt Omri Boehm ab.

4.
Aktuell wichtig erscheint uns die Deutlichkeit, mit der Boehm in seinem Buch „Radikaler Universalismus“ (Propyläen – Verlag) den Staat Israel und seinen Zionismus, vor allem die jetzige Regierung Israels kritisiert. Schon 2020 verfasste er eine „Streitschrift“ „Israel. Eine Utopie“. Nach dem Terroranschlag der Hamas am 7.10.2023 wiederholte Boehm seine Grundüberzeugung: “Wir haben es mit einer unerträglichen Situation zu tun, wo das Unmögliche notwendig ist. (…) Wir müssen Vorschläge für eine politische Lösung in der Zukunft finden. Die einzige Alternative zum entgrenzten Krieg ist der Kompromiss einer Föderation.“
Omri Boehm spricht auf Seite 150 des Buches „Radikaler Universalismus“, von der „Apartheidsstruktur, die Israels jahrzehntelange Siedlungspolitik im Westjordanland bestimmt.“

5.
Das Wort Apartheidsstruktur öffentlich zur Qualifizierung von Israels Westjordan – Politik zu gebrauchen, ist hierzulande doch „ein bißchen“ mutig. Man denke an die Aufgeregtheit, die anläßlich der Berliner Film – Festspiele die Debatten bestimmten, als auch das Wort „Apartheidspolitik Israels“ fiel…

6.
Ebenso erstaunlich, dass Boehm den Staat Israel und die westlichen Demokratien dadurch gekennzeichnet sieht, „dass sie für immer auf der gewaltsamen Unterdrückung anderer gegründet“ sind.(S. 152). Noch deutlicher auf Seite 153: Israel könne beides sein, ein Staat der Holocaust – Überlebenden und ein kolonialistischer Apartheidsstaat. Israel kann dieses beides nicht nur sein, sondern, so fügt Boehm wörtlich hinzu: „Ist es auch“ (S. 153).

7.
Mit dieser Kritik will Omri Boehm überhaupt nicht einen Antisemitismus fördern. Und auch ein deutscher Journalist, der Böhms Aussagen und Urteile dokumentiert, ist kein Antisemit, sondern wie Boehm ein Kritiker der von rechtsextremem Denken bestimmten gegenwärtigen Politik Israels! Diese Politik ist ein heftiger und für Humanisten und Philosophen unerträglicher Widerspruch gegen die vernünftige Politik, die den „radikalen UNIVERSALISMUS“, „Jenseits von Identität“ lebt. Zum Buch „Radikaler Universalismus“ der Hinweis des “Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin” ,veröffentlicht am 30.9.2022: LINK.

8.
Omri Boehm will nur für Klarheit sorgen über die gegenwärtigen Zustände in Israel und Palästina; er denkt und argumentiert zugunsten eines besseren, eines gerechten Israel für Juden wie auch selbstverständlich für Araber.

9.
Unser herzlicher Glückwunsch zum Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung für Omri Boehm.

10.

Zur “weiten Herkunft” (und damit der universalen “Verbreitung” dieser Erkenntnis, also des universell gültigen Prinzips der selben Menschenwürde für alle Menschen. Nur ein Beispiel: Marc Aurel (121 – 180 n.Chr.) sagt in seinen “Selbstbetrachtungen”: „Ich habe klar erkannt, dass der Mensch, der gegen mich fehlt, in Wirklichkeit mir verwandt ist, nicht weil wir von demselben Blut oder derselben Abkunft wären, sondern wir haben gleichen Anteil an der Vernunft, der göttlichen Bestimmung.“ (Seite 22 in Reclam, „Marc Aurel, Selbstbetrachtungen 2001). Und auch: „Jedes vernünftige Wesen ist mit mir verwandt“, (ebd. S. 34, 3. Buch)
………..

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Immanuel Kant provoziert. Ein Dialog: Omri Boehm und Daniel Kehlmann.

Ein Hinweis auf das Buch: „Der bestirnte Himmel über mir. Ein Gespräch über Kant“.

Von Christian Modehn am 26.2.2024.

1.
Omri Boehm, der Philosophieprofessor in New York und Daniel Kehlmann, der Bestseller – Autor (philosophisch gebildet), sprechen über Kant auf 300 Seiten. Und beide zeigen einander, natürlich auch den LeserInnen, wie sehr sie doch bestens mit Kants Denken vertraut sind und gemeinsam um viele Nuancen ringen im Verstehen seines Werkes auf hohem Niveau. Dabei dominieren (auch quantitativ) durchaus die Beiträge und Argumente Boehms.
Unter diesen anspruchsvollen Voraussetzungen entsteht ein Buch, das zwar „originell” ist, wie der Verlag schreibt, das aber nicht unbedingt „eine sehr zugängliche Annäherung an das Werk des großen Philosophen Kant“ bietet, wie der Verlag – werbend – betont.

2.
Kants Werk selbst ist – abgesehen für Fachphilosophen an den Universitäten – nun wirklich keine „leicht lesbare geistvolle Kost“. Aber das neue Buch mit dem Kant – Zitat als Titel „Der bestirnte Himmel über mir“ erleichtert doch etwas das Verstehen einiger (!) Aspekte der Philosophie Kants, vorausgesetzt: Man nimmt die Anstrengung des Mitdenkens auf sich und plant ausreichend Denk – Zeit beim Lesen ein! Dann gelangt man in weiteres eigenes kritisches Denken, Philosophieren genannt. Dies ist zweifelsfrei die Praxis der Philosophie.

3.
Warum aber Kant gerade jetzt? Nur weil wieder ein „runder Geburtstag“ ansteht? Nein, um diesen feuilletonistischen Rummel geht es wirklich nicht: Denn Kants Philosophie bietet grundlegende Einsichten in die Lebenspraxis der Menschen. Kants Philosophie zu bedenken, ist also kein beliebiges nettes kulturelles Hobby einiger Gebildeter. Sondern: Die alles humane Leben gründenden Strukturen des menschlichen Geistes werden durch Kant freigelegt und als gültig beschrieben. Diese im Geist der Menschen angelegten Strukturen können Orientierung bieten im Verstehen der eigenen ethischen Lebenspraxis, im Verstehen der Erkenntnis der Welt, des Ich, der Religion. Der große Philosoph Pierre Hadot nannte Kants Werk zurecht eine Lehre der Weisheit. Etwas besser weise werden, darum geht es doch, auch mit Kant. LINK.

4.
Das Buch trägt als Titel ein verkürztes Zitat Kants „Der bestirnte Himmel Himmel über mir“ (weiter sagt Kant: „Und das moralische Gesetz in mir erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht“). Das Buch der beiden Autoren geht auf Gespräche zurück, die am 30. und 31.Mai 2023 in Berlin stattfanden: Omri Boehm, der als Kant-Forscher natürlich wohl Deutsch versteht und spricht, redete aber erstaunlicherweise auf Englisch, so dass seine Beiträge ins Deutsche von Michael Adrian übersetzt werden mussten.
Das Buch hat 8 „Teile“, wie es heißt, also Kapitel, die aber ohne inhaltlich bezogene Titel auskommen. So herrscht dann auch der Eindruck vor, dass manche Themen aus früheren „Teilen“ später noch einmal aufgegriffen werden.
Bei dieser Argumentationsstruktur liegt es für eine Rezension nahe, nicht einen „Teil“ nach dem anderen vorzustellen. Vielmehr will ich – auch von eigenen philosophischen Interessen geleitet – einige zentrale Erkenntnisse der beiden Gesprächspartner vorstellen. Dass dabei nicht „alles“ inhaltlich „Wesentliche“ möglicherweise gesagt werden kann, ist klar. Es gibt aber einzelne Aussagen, sozusagen „Leitsätze“ der Gesprächspartner, die Erstaunen hervorrufen und Neugier wecken, wobei die LeserInnen eingeladen sind, sich in den jeweiligen Kontext dieser Sätze zu vertiefen.

5.
Daniel Kehlmann sagt zu Beginn Wesentliches über den Menschen Immanuel Kant: „Er war kein höflicher Wächter der Sittlichkeit, kein Produzent gewunden trockener Sätze, sondern ein Denker, vor dessen regelrecht anarchistischer Kompromisslosigkeit kein Stein auf dem anderen blieb.“ (Seite 12). Kehlmann bezieht sich dabei auf das Buch „Radikaler Universalismus“ von Omri Boehm, auch eine Kant -Interpretation, der Autor wird wegen des Buches während der Leipziger Buchmesse 2024 geehrt.  LINK
Interessant auch der weitere Hinweis: Kant sei ein „wacher, heiterer, lustiger Mensch“ gewesen. Das berichtet glaubhaft Kants Schüler Johann Gottfried Herder.
Omri Boehm legt von Anfang an allen Wert darauf, Kants kritisches Denken tatsächlich als eine „Revolution“ zu bewerten. Seine großen Werke verfasste Kant bekanntlich im Umfeld und während der Französischen Revolution, von der Kant förmlich hin – und hergerissen war. „Kant war mit seiner (philosophischen) Revolution in gewisser Weise fast völlig allein, in einer inneren Gedankenwelt“, betont Boehm (Seite 24). Und dies ist – kurz gefasst – jene Revolution, die Kant selbstverständlich „nur“ in seinem Denken leistete: Aber nur wenn das Denken sich wandelt, „revolutioniert“, können politische und ökonomische Wandlungen und Revolutionen geschehen…
Es gibt für Kant die Evidenzen: Der Mensch ist kein Tier. Der Mensch sollte sich vernünftigerweise einen Gott innerhalb des menschlichen Geistes suchen. Der Mensch darf auch nicht bei einem so genannten Übermenschen (Nietzsche) Zuflucht suchen. Sondern: Es geht Kant – geradezu grundlegend einfach – um den geistvoll handelnden und denkenden Menschen (vgl. S. 41).

6.
Religionsphilosophisch Interessierte werden schon auf den ersten Seiten des Buches zum „Erhabenen“ geführt. Boehm weist darauf hin, „dass die Erfahrung des kantischen Erhabenen uns für die Unendlichkeit öffne“ (S. 33). Und weiter: „Kant glaubte, dass wir jene wahre Unendlichkeit denken können“ (S. 37). Die wahre Unendlichkeit wird durch die Freiheit erfahren, die wiederum die Grundlage unserer Verpflichtung auf den Kategorischen Imperativ bildet.Das ist schon der „ganze Kant“.

7.
Vom Erhabenen bietet sich der Übergang zur schwierigen Frage nach Gott: Gegen alle tiefsitzenden Vorurteile sagt Omri Boehm: „Kant hat Gott selbstverständlich nicht hingerichtet, er hat vielmehr (nur) die Beweise für die Existenz Gottes sowie die Autorität Gottes komplett widerlegt.“ (S. 43).
Aber eine vernünftige Nähe und Verbindung zu Gott geschieht nicht durch autoritative Belehrung der Kirchen, sondern durch die Erkenntnis der inneren geistigen Verfassung jedes Menschen. Boehm sagt: „Wir glauben an Gott, weil wir in uns die absolute Forderung der Ethik vorfinden“ (S. 44). Und weiter: „Wir sind nicht an moralische Gesetze gebunden, weil Gott diese uns geboten hat, sondern wir glauben an Gott, weil uns das moralische Gesetz den Glauben gebietet“B (DS. 313). Das ist Kant: Das Erleben und Denken der inneren Wirklichkeit des Geistes führt zu Gott! Ein Gedanke, den der große katholische Theologe des 20. Jahrhunderts Karl Rahner in seiner transzendentalen Theologie realisierte. LINK.
Aber: Wenn man Gott dann als „Schöpfer“ auch dieser geistigen Strukturen im Menschen denkt, dann ist es doch letztlich (wieder) der schöpferische Gott, der da in uns wirkt…Dieser Gedanke wird leider in dem Buch von Boehm/Kehlmann nicht angesprochen…

8.
Die Ethik gebietet im Kategorischen Imperativ absolut, sie steht förmlich noch über dem, was die Menschen Gott nennen. Wenn man Gott – populär – mit der Qualität der Freiheit und des freien Handelns beschreibt, dann ist Gott als freies Wesen selbst auch noch den Gesetzen der Freiheit unterlegen. Dies sind Kants Überzeugungen, die er aufgrund seiner eigenen Definition von Erkenntnis eben nicht Erkenntnis und nicht Wissen nennen kann. Es sind für ihn Überzeugungen, immerhin.

9.
Die Gespräche Kehlmanns und Böhms über Kants Auseinandersetzungen mit Descartes, Hume und Spinoza finden wir philosophiehistorisch interessant, sie sind aber in unserer Sicht nicht notwendig, um die Aktualität Kants für heute zu entdecken. Da wäre das Thema „Kant der ewige Friede“ dringender gewesen…
Die Auseinandersetzung „Kant gegen Einstein“ ist für Physiker wahrscheinlich wichtig, in diesem Kapitel ,„Teil“, zeigen die beiden Gesprächspartner nur ihr glänzendes, förmlich ihr universales Wissen…
Im 4. „Teil“ wird noch einmal auf die Gottesfrage zurückgekommen (S.175 ff)…. Und im 5. „Teil“ wird über Kants Lehre von der Schönheit debattiert…

10.
Die Debatten im 8, dem abschließenden Teil sind aktuell wichtig. Das einleitende Wort Kehlmanns weckt im Blick auf die Kapitel zuvor ein gewisses Schmunzeln: „Lass uns etwas weniger abstrakt werden“ (S. 275).
Jetzt erklärt Boehm sozusagen die absolute Bedeutung des Kategorischen Imperativs, er verteidigt ihn entsprechend auch absolut. Auch hinsichtlich des Gehorsams der Bürger gegenüber den Gesetzen des Staates habe der „Kategorische Imperativ“ die höchste Autorität. „Wie schon gesagt, hat der Staat streng genommen überhaupt keine Autorität so wenig wie Gott…“(S. 312)…“Die Quelle der Verpflichtung den (staatlichen) Gesetzen zu folgen ist NIE die Autorität des Staates, die Quelle ist der Kategorische Imperativ, mithin meine eigene Autonomie“ (S. 312).

11.
Mit einer gewissen Bravour verteidigt Boehm Kants Überzeugung, dass absolut und in jedem Fall der Mensch verpflichtet ist, die Wahrheit zu sagen und auf gar keinen Fall zu lügen. Auch dann, wenn ich etwa einen Freund, einen zu unrecht Verfolgten, verstecke, aber die Polizei mich fragt: Haben Sie den versteckt? Boehm sagt selbst, dass er „auf dem Wert von Kants entsprechender Schrift „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“ beharrt (S. 297). Boehm will also auch in dem Zusammenhang keine „verwässerten, wohlwollenden Kant – Interpretationen anbieten“ (S. 298). Lügen ist auch für ihn absolut und immer unmoralisch. „Kant könnte in dieser Situation (der angedrohten polizeilichen Suche nach dem Versteckten) GEWALT akzeptieren, aber keine Lüge“, behauptet Boehm. Er betont, „dass es für ihn ein Drahtseil ist, wenn ich auf dem Wert von Kants Schrift – Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe lügen – BEHARRE.“ (S. 297). Zuvor hatte Boehm schon gesagt (S. 289): „Ich bin nicht entsetzt darüber, dass Kant sagt, man sollte dem Mörder an die Tür die Wahrheit sagen“…

Nebenbei: Sehr viel differenzierter und einleuchtender argumentiert der Kant-Spezialist Professor Marcus Willaschek in seinem Buch „Kant – Die Revolution des Denkens“ auf Seite 106 zum absoluten Lügen – Verbot. Willaschek meint: Der befragte Mensch, der jemanden versteckt, könnte ja diese richtige Maxime haben: „Ich will nicht lügen, es sei denn, die Lüge ist das einzige Mittel, um ein großes Unrecht zu verhindern…“ . Diese Maxime hat vor dem Kategorischen Imperativ auch hinsichtlich ihrer „Verallgemeinbarkeit“ Bestand. zu Marcus Willaschek: LINK

12.
Überraschend, dass Boehm ausführlich auf die Verbindung Kants mit dem Denken Platons hinweist: Er meint: „Die Idee der Menschheit ist eine platonische Idee.“ ( S. 58). „Es gibt bei Kant einen durchgängigen Platonismus.“ (Ebd.) „Eine Offenheit für die Menschheit in jedem Menschen ist platonisch (S. 59).

13.
Boehm und Kehlmann äußern durchaus Kritik an einigen wenigen Erkenntnissen Kants, so würde Kant etwa in seiner Schrift“ Was ist Aufklärung“ Denken und Wissen vermengen. Auch die jetzt in den Vordergrund dringende Erkenntnis: Kant habe durchaus rassistische Positionen und einen Antisemitismus vertreten, wird von den Autoren besprochen: „Warum soll Kant als Privatperson nicht auch großen Unsinn reden?“, fragt Daniel Kehlmann (S. 67).
Oder: „Die kantische Lehre vom radikal Bösen hat noch niemand wirklich verstanden.“ (S.74). Denn „sie ist ziemlich undurchsichtig.“ (S.74.)

14.
Es irritiert, dass oft einzelne Sätze – etwa von Boehm – nicht zu Ende geführt werden und durch ein paar … ins Ungefähre entlassen werden. Wurde da gekürzt? Oder wurde der Gedanke abgebrochen, etwa wenn Boehm vom Gehorsam gegenüber den Gesetzen des Staates spricht: „Wenn man zu dem Schluss kommt, dass Rechtsstaatlichkeit die Freiheit nicht mehr gewährleistet, ist man nicht mehr durch den Kategorischen Imperativ daran gebunden, dem Gesetz zu folgen, ja man kann sogar die Pflicht haben …und dann folgen die drei Punkte, die wohl sagen: Dann soll man ungehorsam sein. (Seite 305).
An anderer Stelle aber die Verdeutlichung. „ Wenn man das Gesetz in die eigenen Hände nimmt, um die Freiheit zu verteidigen, muss das nicht gleich mit Terrrorismus gleichgesetzt werden.“ (S. 307). Boehm geht soweit, diese seine – wohl auch auf die gegenwärtige Politik im Staat Israel bezogene Aussage – mit Kant selbst zu verbinden: „In einem anderen Sinne ist Kant, weißt du was, fast schon ein Anarchist“ (304).

15.
Es irritiert auch, dass Boehm manchmal – jedenfalls in der deutschen Übersetzung seiner im Englischen vorgetragenen Erläuterungen – etwas oberlehrerhaft mit Kehlmann spricht, durch das häufige „schau mal“ oder „Weißt du was?“

16.
Nur zwei der Fragen, die ich gern Omri Boehm gestellt hätte:
– Warum wird in dem Buch nicht über Kants „Friedensschrift“ gesprochen? Ist sie etwa nicht aktuell?
– Und philosophisch gefragt: Die Wahrnehmung der geistigen Strukturen, die das begreifende und erkennende Welt – Verhältnis der Menschen konstituieren, bezieht sich zweifellos auf geistige Strukturen, etwa auf ein Apriori: Diese aber werden dann benannt und begrifflich erfasst: Ist dieses Wahrnehmen des “Nicht sachlich -Objekthaften“ aber eine Erkenntnis, gar ein Wissen, das der (doch sehr engen) Erkenntnis – und Wissens – Definition von Kant standhält?

17.
Gibt es ein Fazit? In wenigen Worten ist dies schwer zu sagen. Nur das so viel:Es geht Kant in seinem „revolutionären Denken“ um nichts anderes als um die Verteidigung der Freiheit des Menschen. Sie ist das Wesentliche, sie bestimmt alle Lebenspraxis, die als Lebenspraxis ethisch sein kann. Der Mensch ist ein freies und vernünftiges Wesen, der Mensch hat Anteil an der geistvollen „allgemeinen, also allen gemeinsamen Menschheit“. Er hat im Kategorischen Imperativ einen formalen Maßstab, um sein Leben ethisch und religiös – vernünftig zu gestalten. Menschen als kluge Tiere zu definieren, entfällt also völlig für Kant. Auch der heutige üblich gewordene philosophische Naturalismus wird von Kant zurückgewiesen.
Insofern ist und bleibt Kant ein Lehrer der umfassend humanen Weisheit, auch wenn einige seiner Thesen und Erkenntnisse, wie gezeigt, heute korrigiert werden und nicht mehr gültig sind. (Rassismus, Antisemitismus…)

Omri Boehm und Daniel Kehlmann, „Der bestirnte Himmel über mir. Ein Gespräch über Kant“. Propyläen Verlag, Berlin, 2024, 352 Seiten, 26 €.

Viel beachtet wird unser Beitrag über Kants Vorschlag für eine vernünftige christliche Religion, LINK

Copyright: Christian Modehn, www.Religionshilosophischer-Salon.de

 

 

Kant – In chaotischen Zeiten vernünftiger werden…

Eine Sonderausgabe des „Philosophie Magazin“ zum 300.Geburtstag von Immanuel Kant

Ein Hinweis von Christian Modehn am 13.2.2024

Eines sollte unbedingt von vorn herein klar sein: Wer sich mit Kants philosophischen Einsichten jetzt befasst, widmet sich nicht einem irgendwie beliebigen Thema der Philosophie(geschichte). Wer sich mit Kants philosophischen Einsichten befasst, entdeckt auch noch heute gültige Grundstrukturen geistigen Lebens, entdeckt die Vernunft, den Geist, die Sinnlichkeit, die vernünftige Religion, die Suche nach einer universalen Friedensordnung. Und das alles nicht als akademisches Räsonieren. Sondern als Hilfe im Leben, gerade heute, in einer zunehmend verrückter werdenden Welt.

1.
„Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“: Diese dringende Empfehlung des Philosophen Immanuel Kant, geradewegs an alle Menschen adressiert, gilt natürlich auch, wenn es um Begegnungen mit Kants eigenem Denken geht: Man möchte also sagen: „Habe den Mut, Kant zu lesen und dabei und danach mit ihm zu denken, um die Welt und dich selbst besser und tiefer zu verstehen.“

2.
Denn eigenes Philosophieren ist die Praxis der Philosophie (so wie Malen die Praxis der Kunst ist) bedeutet also gerade nicht ein nettes Hobby einiger Unentwegter. Philosophieren als kritisches Reflektieren gehört sozusagen zum „Wesen“ der Menschen. Man kann als Mensch menschlich (auch glücklich) leben, ohne die Erkenntnisse der Mineralogie oder die Feinheiten der anorganische Chemie verstanden zu haben. Man kann aber nicht richtig menschlich leben, ohne einige zentrale Erkenntnisse des Philosophen Immanuel Kant als sein Eigen zu bezeichnen. Das ist eine steile These von mir, die sich aber dann bestätigt, wenn man zentrale Erkenntnisse in aller Ruhe bedenkt und dann versteht und als Lebensorientierung in der Praxis gestaltet.

3.
Es ist nach diesen wenigen Sätzen doch so: Das Philosophieren und das Denken mit Kant bedarf heute (leider!) förmlich einer eigenen Verteidigung.

4.
Wer also bisher um Kants Denken einen weiten Bogen gemacht hat, vielleicht, weil er/sie den Vorurteilen der schweren Verständlichkeit seiner Bücher folgte, hat nun die Chance, langsam und behutsam Überraschungen des Denkens mit Kant zu erleben: Dazu bietet die Sonderausgabe des „Philosophie Magazin“ eine sehr gute Möglichkeit. Auf 114 Seiten hat die verantwortliche Redakteurin Theres Schouwink unterschiedliche Beiträge zusammengestellt: Zitate von „Prominenten“ zur Bedeutung Kants als Einstieg, biografische Hinweise, die deutlich machen, wie sehr Kant doch an intensiven Freundschaften mit Männern interessiert war, bei Bekanntschaften mit Frauen „wartete Kant zu lange, um ihnen einen Heiratsantrag zu machen“ (S. 17). „Was ist guter Sex, Herr Kant“ fragt die Philosophin Manon Garcia (S. 75 f.). Im Mittelpunkt steht Kants Überzeugung: Jeder Mensch ist Selbstzweck, kein Mensch darf von anderen als bloßes Mittel – auch in den sexuellen Begegnungen – gebraucht bzw. missbraucht werden.
Wichtiger sind im Heft die Hinweise auf die „Quellen der Inspiration“, also auf Philosophen, die Kants Denken erst so richtig in Schwung brachten. „War er Genie, ein Spinner, vielleicht sogar ein Rassist?“ heißt eine provozierende Frage, die im Interview mit der Literaturwissenschaftlerin Gayatri C. Spivac eine Antwort findet.

5.
Wichtiger sind die Interviews mit PhilosophInnen und Philosophen zu zentralen Erkenntnisse Kants: Grundlegend das Gespräch mit Omri Boehm, er erhält am 20.März 2024 auf der Leipziger Buchmesse den „Buchpreis zur europäischen Verständigung“ (wegen seines Buches „Radikaler Universalismus. Jenseits der Identität“).
Im Gespräch mit Theresa Schouwink wird klar: Kant fordert uns auf, die Gesetze der Staaten, auch der sich demokratisch nennenden, kritisch zu prüfen: Massstab dabei ist: Fördern die Gesetze und garantieren sie die Menschenwürde aller (!) Menschen – oder nur einer Elite bzw. einer ökonomisch bzw. religiös machtbesessenen Gruppe. Ist das nicht der Fall, ist Ungehorsam des Bürgers geboten… Omri Boehm, israelisch – deutscher Philosoph, sieht in der Freiheit der Menschen den absoluten Mittelpunkt, den es zu verteidigen gilt. „Freiheit definiert sich nicht in erster Linie über die Fähigkeit zu wissen, sondern über die Fähigkeit, moralischen Vorstellungen zu folgen“ (S.21). Und diese moralischen Vorstellungen sollen niemals im Dienst einer Gruppe, also einer bestimmten „Identität“, stehen, sondern die Menschenwürde aller, auch der bisher Rechtlosen, aufbauen und pflegen. In dem Zusammenhang ist die Kritik Boehms an der Regierung des Staates Israel gegenüber den Palästinensern im Westjordanland sehr inspirierend…(S. 20 f.): „Auch die israelische Selbstverteidigung muss jetzt unter Einhaltung des Völkerrechts (von Boehm kursiv gesetzt) erfolgen“, vernünftige Forderungen, ohne Wirkungen allerdings, bei dieser Regierung Netanjahus!

6.
Das Kant Heft des Philosophie-Magazins erläutert vor allem die drei großen Hauptschriften Kants, in denen es um die Grundlegung von vernünftiger Erkenntnis und Denken geht sowie um die Fragen der Moral: Diese stehen für Kant im Mittelpunkt seines Denkens: Kant will die Lebenspraxis der Menschen erklären und durch die Freiheit, die jeden Menschen als Menschen auszeichnet, in vernünftige Bahnen führen. Dazu gehört auch Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ von 1795. Der Philosoph und Musikwissenschaftler Friedrich Weißbach bietet auf drei Seiten einen Essay, der sehr gut und nachvollziehbar die bis heute aktuellen Vorschläge Kants für einen „ewigen Frieden“ darstellt! Dabei fehlt es nicht an kritischen Hinweisen zum Kant – Text, etwa zu den „Lobpreisungen“ Kants für die „friedensstiftenden Formen des Handels“ (S. 66). Wichtig vor allem Kants Forderungen zur „Hospitalität“, zur gastfreundlichen Aufnahmebereitschaft von Fremden: „Kants Konzept einer Hospitalität kann als Vorläufer des modernen Asylrechts gelesen werden“, schreibt Friedrich Weißbach (S. 67 über diesen Kant Text, den er als „Meilenstein in der Philosophiegeschichte“ bezeichnet (ebd.). Mit den politisch – ökonomischen Bedeutungen von Kants Erkenntnissen befasst sich das Interview mit der in London lehrenden, aus Albanien stammenden Philosophin und Autorin Lea Ypi. LINK.

7.
Über den „Begriff des Bösen“, zentral im Denken Kants, informiert ein Interview mit der Philosophin Susan Neiman (Potsdam). „Das Ringen damit, wie man eine Welt ertragen kann, in der Tugend und Glück auseinanderfallen (also das glücklose Leben des tugendhaften Menschen, C.M.), war ein zentrales Thema für Kant.“ (S. 62). „Ohne einen Versuch, das Böse zu verstehen, werden wir es nie beseitigen oder bekämpfen können“ (S. 63).

8.
Zum Schluß: Unter den 10 größeren Beiträgen über Kant noch eine Empfehlung: Das Interview mit dem Tübinger Philosophen Otfried Höffe scheint mir besonders geeignet zu sein, gerade den „Kant-Angfängern“ Wesentliches im Denken Kants gut nachvollziehbar zu erschließen.

9.
Für uns im „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“ ist es natürlich von besonderem Interesse, dass Otfried Höffe wie andere Interview-Partner auch am Rande auf das Religionsverständnis Kants hinweist. Das sollte man ab sofort sich einprägen: Kant war kein Zerstörer „der“ christlichen Religion, auch wenn er es ausschloss, dass im Rahmen einer Metaphysik die Menschen zur wissenschaftlichen Erkenntnis Gottes („Gottes – Beweise“) kommen können. „Aber Religion hat die Moral der Menschen zu fördern“ (S. 101), meint Kant, und: „Gott wird als Schöpfer der Welt gedacht“ (ebd.). LINK zu einem Hinweis von Christian Modehn zu Kants”Religionsschrift”.

10.
Leider wird Kants wichtige Publikation „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (von 1795) im Kant -Heft des Philosophie -Magazins nur so zwischendurch, eher am Rande, gewürdigt, etwa durch die Literaturwissenschaftlerin Gayatri C. Spivak: „Die Art und Weise wie Kant mit dem Christentum umgeht und Christus als Lehrer beschreibt, ist wunderbar zu lesen…“ (S. 87). Man fragt sich als religionsphilosophisch Interessierter: Ist das „an den Randstellen“ des religionsphilosophischen Themas vielleicht Ausdruck eines Vorurteils, vielleicht einer Laune oder einer ideologischen Fixierung?
Dabei weiß jeder und jede, dass ohne ausführliche kritische Auseinandersetzungen mit den Religionen und auch mit der Frage nach dem Göttlichen etc. die heutigen Probleme der Welt und der Menschen kaum angemessen in den Blick genommen werden können.

Kant. Eine Sonderausgabe des “Philosophie Magazin”. 114 Seiten, 11,90 €.  www.philomag.de

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de