Aphorismen von Jürgen Große: “Von schwankender Gestalt”.

Ein Interview: Anläßlich des neuen Buches von Dr. Jürgen Große, Berlin.

Veröffentlicht am 17.6.2024

Herr Große, Sie haben als Historiker und Philosoph schon etliche Bücher auch zum Thema “Religion und Philosophie” vorgelegt. Nun ist Ihre neue Sammlung von Aphorismen mit dem Titel „Von schwankender Gestalt“ erschienen, mit den drei Kapiteln Kunst, Religion und Philosophie.
Um auf den Titel zu kommen: Ist für Sie der Aphorismus ein schwankendes, suchendes, umstrittenes, vielleicht auch gefährdetes Aussagen von Erkenntnissen, vielleicht sogar von Wahrheiten?



Ob umstritten, müssen die einschlägigen Literaturräte entscheiden, ob gefährdet, hängt selten vom Inhalt ab. Was unter dem Titel „Aphorismen“, heutzutage veröffentlicht wird, ist ja oftmals recht bieder, eine Kundgabe von gefestigten Überzeugungen, die nun auch bitte die restliche Welt teilen möge! Wobei viele Autoren sich in ihrer Unschuld tatsächlich für gefährdet glauben durch die unerhörten geistigen Kühnheiten, mit denen sie sich ans Licht wagen …
Doch selbst in der Karikatur wird eine Norm sichtbar, wie der Aphorismus, die Sentenz, die Maxime, um einmal ältere Ausdrücke zu benutzen, sein sollte. Mit der sogenannten Kleinen Form, also auch dem Aphorismus, geht man ein Risiko ein. Es besteht da ein literarischer Zwang zum Apodiktischen, Verkürzten, oft Einseitigen. Wenn man zudem noch in anderen Genres schreibt, riskiert man mit Aphorismen seinen guten Ruf. Dennoch, man muß es wagen, sich nackt in seinen Meinungen, Gefühlen, Vorurteilen zu zeigen, auch in der ganzen Ideologiehaltigkeit der eigenen Existenz. Sonst ist es bloße eitle Feierabendschreiberei und Ich-Dekoration.

Wer schreibt Aphorismen?

Es gibt heute Unmengen von „Aphorismen“-Büchern. Aber die lesbaren Aphorismen werden meistens nicht unter diesem Titel veröffentlicht, sondern finden sich in Nachlässen, Notizen, Nebenarbeiten von Schriftstellern. Aphorismen sind interessant, wenn der Autor gerade nicht das Schatzkästlein seiner gut abhangenen Lebenserfahrung und Weltsicht literarisch überhöht, um sie dem Leser schön formuliert aufzubinden. Sondern im Gegenteil, wenn der Schreiber seine eigenen Defizite literarisch auslebt, in einer gewissen Exhibition und Übertreibung. Steht ihm hierbei ein gewisses philosophisches Vokabular zu Gebote, dann kann das hilfreich sein – wenn es sich nicht als Bildungswissen, als Überzeugungswut in den Vordergrund drängt.
Gerade Philosophen oder einschlägig Studierte sind da gefährdet. Literarisch aufgepeppte Philosopheme interessieren keinen! Doch ächzen professionelle Philosophen, die sich in der Kleinen Form versuchen, oftmals unter ihrem akademischen Bildungsbuckel. Egal, ob solche Menschen ihre sonstige geistige Existenz literarisch auflockern oder feierlich gestalten wollen, es wirkt angestrengt, künstlich, weil das Verhältnis zur Sprache instrumentell bleibt.

Als Aphorismenschreiber hat man sicherlich eine Nähe zur Philosophie, doch im literarischen Idealfall dreht man das Verfahren der professionellen Philosophie um. Man sublimiert und objektiviert seine Subjektivität nicht, sondern man macht sie – gern mit dem Begriffsrepertoire philosophischer Objektivität – scharfumrissen sichtbar. Was dann umgekehrt auch die philosophischen Denkformen und -resultate in einem anderen Licht zeigt, in ihrer versteckten persönlichen Bedingtheit etwa.
Amüsant – und für Autor und Leser erträglich – wird das alles erst bei einer gewissen Natürlichkeit literarischer Sprache und philosophischer Bildung, das heißt eben nicht als Sonntagsschreiberei, sondern schon im Vollzug der Normalexistenz. Dennoch, die Unsicherheit des Autors über den Wert solcher Elaborate wird immer bleiben, somit auch das, was Sie vielleicht mit „Schwanken“ meinen.

Wer oder was bringt diese Gestalten (Aphorismen) denn zum Schwanken? Äußere, gesellschaftliche Kräfte oder der denkende Autor selbst? 



Offensichtlich ein Mißverständnis! Ich meinte mit der schwankenden Gestalt im Untertitel erst einmal das, was bei Hegel die Erscheinungsformen des absoluten Geistes sind, also Kunst, Religion, Philosophie. Eine liebe-, aber auch respektvolle Ironie meinerseits; Stabilisierungsversuche erzeugen bei mir jedenfalls immer Respekt! Denn ich bin überzeugt, daß besagtes Schwanken von Kunst, Religion, Philosophie eine Tatsache ist. Es zeigt den gefährdeten, krisennahen Zustand einer als autark gewollten Kunst, Frömmigkeit, Begriffsdichtung. Das Schwanken resultiert schlicht aus deren Emanzipation.
Man setzt diese Gefährdung pauschal, aber nicht unbegründet mit „der“ Moderne gleich, diese Ansprüche einer Kunst um der Kunst willen, eines Denkens um seiner selbst willen, aus sich selbst gegründet. Zum Aphorismus kommt man angesichts dessen vielleicht, weil er eine literarisch und intellektuell angemessene Ausdrucksform der Unruhe, der Unsicherheit ist. Wobei – es sind auch schon Systeme in Aphorismen entworfen worden …

Sind (für Sie) Aphorismen bevorzugte Formen philosophischer Aussagen? Oder „nur“ Anreize, Impulse, Irritationen, Provokationen?

Ich schreibe auch langatmige Sachbücher und Essays! Aber tatsächlich ist für mich der Aphorismus die philosophische Königsform, weil sie zur Reduktion und somit zur Selbstkonfrontation zwingt: Was will ich sagen? Wollte ich das sagen? Was habe ich da eigentlich gesagt? War das wirklich notwendig?
Es ist ein Selbstgespräch, aber im Rahmen akzeptierter sprachlicher Regeln. Eine Verbindung von Strenge und Freiheit. Ich muß da keine Rücksicht auf tatsächliche oder – wie beim Sachbuchschreiben – imaginierte Gesprächssituationen nehmen, wo es ein Gegenüber argumentativ oder rhetorisch zu bezwingen gilt, wo man die ganze Sprachlast des „also“, „somit“, „daher“ mitschleppt. Kurz, das intuitive Element dominiert, nicht das kausale oder narrative. Der Aphorismus reißt Phänomen- oder Problemzusammenhänge überhaupt erst an, fixiert sie in einem sententiösen Kürzel.
Es ist auch geistige Selbsterziehung. Ich erkenne mich in meiner subjektiven Begrenztheit, meinen Vorurteilen und Denkängsten, ich möchte mich davon befreien, doch nicht, indem ich meine Subjektivität scheinobjektiv und sachlich schick mache für die Öffentlichkeit, sondern indem ich sie mit literarischen Mitteln übertreibe, sie zur Größe von religiösen Dogmen und philosophischen Systemen aufblase und erkenne: Das ist zu groß für einen Menschen, um darin zu leben; der Mensch ist ein vielleicht mängelbehaftetes, aber lebendiges Ganzes; dieses wiederum ist nur in Teilen durch Systeme und Dogmen zu erfassen …

Wie würde sich Ihrer Meinung nach eine geeignete Form der Lektüre Ihrer Aphorismen gestalten? Könnte man sagen: meditativ, verweilend, protestierend, die Irritation als Antwort ausdrückend?

Nichts davon muß, alles kann. Wenn mir Menschen schreiben, daß sie hier und da etwas zu lachen fanden, bin ich glücklich und zufrieden.

In Ihren Aphorismen steckt sozusagen Ihre eigene Philosophie, also das, was Sie als Philosoph für „wesentlich“ halten. Welche Elemente würden Sie da nennen?

Eine gute Fangfrage! Sie läuft letztlich auf die Trennbarkeit von philosophischem Gehalt und literarischer Form heraus, mit der ein Aphoristiker aber seinen Bankrott erklärt hätte. Man kann aphoristische Texte nur bedingt nach ihrem Wesensgehalt referieren. Deshalb bin ich auch bei meinen eigenen Büchern zu Nietzsche oder Cioran an gewisse Grenzen gestoßen.
Doch Ihre Frage zu dem, was ich an der Philosophie wesentlich finde, kann ich beantworten. Philosophie muß Selbst- und Welterkenntnis verbinden können, auf eine sprachlich wie logisch überzeugende Weise. Vielleicht auch auf einmalige, einseitige Weise. Deshalb wohl die unausrottbare Vorstellung, es gäbe so etwas wie Primärautoren, eben Klassiker, auf deren originäre Einsichten man zurückgreifen könnte.

In dem Kapitel „Religion“ wird für mich deutlich, dass Sie mit den Formen des religiösen Glaubens ringen, dass Sie aber auch die Konkretheit von Glaubensformen und Glaubensinhalten ablehnen, aber dann doch daran denken: Irgendeine vernünftige und gute Gestalt von religiösem Glauben könnte es doch geben. Verstehe ich Sie da richtig?

Daß ich konkrete Glaubensinhalte ablehne, wäre zu viel gesagt. Überhaupt kann man ja Glaubensinhalte nicht kritisieren oder ablehnen wie Protokollsätze! Aber als Intellektueller, als Schriftsteller, erfasse ich sie natürlich von einem Standpunkt aus, der seinerseits kein religiöser, zumindest kein religiös-dogmatischer ist. Das ist jedoch keine Metaposition oder geistige Konsumhaltung. Das Religiöse wird bei mir nicht vernutzt, auch nicht aufgeputzt! Intellektuelle und Schriftsteller, die den Glauben zu sozialen Distinktionszwecken benötigen, als Einstecktüchlein an die bürgerliche Ausgehuniform geheftet – die finde ich einfach peinlich. [Herr Mosebach, Sie sind gemeint!]
Und weiter: „Vernünftig“ und „gut“ wären schon sehr starke Ausdrücke für meine Klärungsversuche an dem, was „Glaube“ bedeutet. Keine Frage, Glaube kann Lebensform und Institution werden, auch spezielle Bewußtseinsform, in all diesen Fällen ist er dann deutlich von anderen Erfahrungsregionen abgehoben. Ich stelle mich da bewußt etwas ahnungs- oder vorurteilslos und suche die Gläubigkeit erst einmal auf einer alltäglichen, vielleicht banalen Ebene auf. Im banalen wie im anspruchsvollen Sinne kann nun aber niemand von sich selbst mit Sicherheit sagen, ob das sein „Glaube“ ist, was er denkt und fühlt!* Das ergibt sich erst aus Kontrasten mit anderen Erfahrungs- und Denkformen, natürlich auch mit anderen Glaubensinhalten, sprich, das geschieht im sozialen Raum. Und dann zeigt sich zum Beispiel: Gläubig wird jemand genannt, der von den – für andere Menschen – wirklichen Dingen behauptet, daß sie nicht wirklich sind oder wertvoll sind, und der von den – wiederum für andere Menschen – unwirklichen Dingen behauptet, daß sie wirklich sind oder wertvoll sind. So gelten dann schließlich ganze Menschengruppen als gläubig, andersgläubig oder ungläubig. In solchen Adjektiven drückt sich unvermeidlich das Glaubensverhältnis derer aus, die sie anderen anhängen.
*Speziell beim christlichen Glauben habe ich den Eindruck, daß sich sein Bekenner nie ganz sicher sein darf, ob er glaubt, ja auch nur, ob er richtig glaubt; die Sicherheit wäre dann wohl schon zu nahe beim Hochmut.

Die drei Kapitel des Buches, also Kunst – Religion – Philosophie, spielen also auf Hegels Überzeugung vom absoluten Geist an, der sich in drei Stufen zur Philosophie hin als höchster Form des Geistes entwickelt. Ist für Sie auch die Philosophie auch das Höchste der vernünftigen Leistungen des Menschen?

Ihrer Tendenz und ihrem Anspruch nach liefe das auf ein Ja hinaus. Aber das würde als Antwort wohl weder Sie noch mich befriedigen. Mir selbst käme eine Hierarchie entlang der (philosophischen) Vernünftigkeit arrogant und auch ein wenig borniert vor. Ich will damit nicht auf eine doppelte Wahrheit oder ähnliches hinaus, sondern sehe das Problem so ähnlich wie beim Glauben überhaupt: Seinem Ideal nach bringt jeder – dogmatisch befestigte – Glaube seine eigenen Maßstäbe mit, was als „seines“ zu gelten habe. Deshalb könnte es sein, daß auch die Philosophie sich nur im philosophischen Selbstgespräch befände, wenn sie die Vernunftquote von Kunst oder Religion zu ermitteln versuchen würde.

Menschen machen sich ihre Götter, das ist sicher ein zentraler Gedanke für Sie. Wie wäre es mit dem Gedanken: Gott als „schöpferische Kraft“ hat selbst in die Menschen diese seine göttliche Kraft (Geist, Vernunft) gelegt, dass sich die Menschen Götter machen? Die Götter und die Glaubensformen wären also Gottes „Produkt“! Dies wäre eine Überwindung der altbekannten Projektionslehre von Feuerbach.

Ein Entwicklungszirkel also, ein evolutionärer Pantheismus? Eventuell mit einer Perspektive auf die Konvergenz der Weltreligionen? Ich finde das spekulativ interessant und oft kühn und geistreich ausgeführt. Mein leichtes Unbehagen an solchen Spekulationen ist nicht prinzipiell inhaltlich-dogmatisch, sondern denkökonomisch begründet. Wenn man nämlich den Begriff Gott so weit von positiver Offenbarung hinweg ausdehnt (was bei einschlägig hermeneutischer Kunstfertigkeit ja theologisch machbar ist), dann leidet man vielleicht bald an einem Zuviel an Freiheit, weniger nett gesagt: an Beliebigkeit. Mich fesseln eher Denker und Autoren, die sich in engerem Rahmen abmühen. Die haben meine höchste Aufmerksamkeit, auch mein Mitgefühl. Mir fällt dazu das etwas grausame Nietzschewort von der ungeheuren Dummheit ein, daß man Jahrtausende nur gedacht habe, um etwas zu beweisen – und daß diese Dummheit erst den Geist groß gemacht habe.
Und zu Ihrer Eingangsformel: Da fällt mir ein anderer Titan des 19. Jahrhunderts ein, Karl Marx. Gewiß, Menschen machen sich ihre Götter wie ihre Geschichte selbst, aber eben auch unter vorgefundenen, nicht restlos frei wählbaren Bedingungen!

Jürgen Große, Von schwankender Gestalt, Kunst, Religion und Philosophie nach ihrer Befreiung. Taschenbuch, edition fatal, Potsdam 2024, 15 Euro.

Ebenso zum Thema von Jürgen Große: „Der Glaube der anderen. Ein Weltbilderbuch“ (2021),

“Der sterbende Gott” (2020).

Die Fragen stellte Christian Modehn.

Copyright: Dr. Jürgen Große, Berlin

Halb-loyale Demokraten gefährden die Demokratie…

…weil sie mit Rechtsextremen kooperieren.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 11.6.2024

1.
Was passiert, wenn Ursula von der Leyen mit Giorgia Meloni von den sehr rechtslastigen Partei „Fratelli d Italia“ kooperiert?
Was passiert, wenn eigentlich demokratische konservative Parteien in Deutschland mit der z.T. rechtsradikalen AFD oder in Österreich mit der rechtsextremen FPÖ kooperieren?
Was passiert, wenn sich die konservative Partei „Les Républicains“ in Frankreich mit der rechtslastig – rechtsextremen Partei „Rassemblement National“ (RN) von Marine Le Pen verbündet bei den bevorstehenden Wahlen zur Nationalversammlung am 30.6.2024?

2.
Ein Blick in die jüngere Geschichte Frankreichs kann bei der Frage weiterführen und neue Perspektiven eröffnen. Dass sich Geschichte nicht wiederholt und unmittelbar Schlüsse auf die Gegenwart von der Geschichte nicht gezogen werden dürfen, steht fest. Dennoch bietet die historische Erfahrung Impulse zum Nachdenken („Lernen aus der Geschichte“), zumal wenn Strukturen freigelegt werden, die damals wie heute gültig sind.

3.
Die beiden international geschätzten us-amerikanischen Historiker und Politologen Prof. Steven Levitzky und Prof. Daniel Ziblatt verdeutlichen die aktuelle Gefährdung der Demokratie in den USA durch weite Teile der Partei der Republikaner gerade mit dem Hinweis auf historische Erfahrungen. Das macht das Buch auch so wertvoll.
Sie erinnern ausführlich an den – in Deutschland kaum bekannten – Tag des Angriffs auf die französische Demokratie am 6. Februar 1934 in Paris.
Auf den Seiten 45 – 52 beschreiben sie in ihrer neuen Studie „Die Tyrannei der Minderheit. Warum die amerikanische Demokratie am Abgrund steht und was wir daraus lernen können“ (DVA Verlag München 2024) die Gewaltattacken auf die Demokratie in Frankreich, sozusagen als Lehrstück und Mahnung: Was passiert, wenn konservative Parteien mit Rechtsradikalen und Anti-Demokraten kooperieren.

4.
Der entscheidende Punkt ist: Ohne die ideologische Kooperation der 1936 führenden konservativen Partei „Fédération Républicaine“ mit den vielfältigen antidemokratischen Gruppen, Milizen und Ligen wäre der Sturm auf die Nationalversammlung („Palais Bourbon“) nicht möglich gewesen. Mehr als 10.000 rechtsextreme junge Männer machten aus der Nationalversammlung für etliche Stunden eine belagerte Festung. “Der Aufruhr hatte mehrere Tote gefordert, hunderte Menschen waren verletzt worden“ (S. 47). Vor allem: Der demokratische Ministerpräsident Edouard Daladier trat nach der Attacke zurück, „und Gaston Doumergue, ein für die rechtsradikalen Ligen akzeptabler rechter Politiker, über nahm sein Amt… Die Mitte – Links – Regierung war dem Druck der Straße (also der Rechtsextremen) gewichen. Die extreme Rechte war mobilisiert und fühlte sich ermutigt“ (ebd.).

5.
Unter den vielen Details dieses Angriffs auf die französische Demokratie am 6. Februar 1934 ist ein Aspekt aktuell besonders wichtig, und darauf weisen die beiden Autoren hin: Es geht um die Haltung der eigentlich demokratischen konservativen Partei „Fédération Républicaine“. Diese Partei war Anfang der 1930er-Jahre nach rechts gedriftet und von einem Hass auf die linken Parteien bestimmt (S. 48). Deswegen unterstützte diese Partei verbal, ideologisch, die rechtsextreme Meute in ihrer Attacke auf das Parlament und die dortigen Abgeordneten.
Es gab dann Untersuchungen zu den Attacken des 6. Februars, aber wegen der an einer Wahrheitsfindung gar nicht interessierten Konservative Partei „wurde für die Ereignisse niemand verantwortlich gemacht, die französische Demokratie blieb stark geschwächt. Sechs Jahre später war sie tot“ (S. 51): Da herrschte der Nazi – freundliche Marschall Pétain.

6. Halbloyale Demokraten.
Die Wissenschaftler Prof. Steven Levitzky und Prof. Daniel Ziblat erinnern an diese Ereignisse aus aktuellem Interesse: Man habe beim Lesen des Buches immer den Sturm auf das Capitol in Washington DC am 6.1. 2021 vor Augen. Sie wollen ein grundsätzliches politisches wie ethisches Problem zur Sprache bringen: Und das ist: Die “eigentlich“ noch demokratisch gesinnten Konservativen „Les Républicains“ waren nicht imstande, sich von antidemokratischen Kräften des rechtsradikalen Pöbels zu distanzieren. Sie waren nur „halbloyale Demokraten“, also ein bißchen demokratisch und ein bißchen rechtsradikal eben. Sie waren also die Komplizen der rechtsradikalen Angreifer auf die Demokratie.

7.
Diese nach außen demokratisch wirkenden Konservativen „halten sich dem Anschein nach an die demokratischen Spielregeln, aber insgeheim untergraben sie die Demokratie“ (S. 51). Die Autoren werden deutlich: „Aus der Ferne mögen diese halbloyalen Demokraten wie wirklich loyale Demokraten aussehen. Es sind etablierte Politiker, häufig in Schlips und Kragen, die auch nach außen hin nach den Regeln spielen und damit sogar erfolgreich sind. Sie beteiligen sich niemals an offensichtlich antidemokratischen Handlungen. Daher sind ihre Fingerabdrücke nach dem Tod der Demokratie selten auf der Mordwaffe zu finden. Aber: Halbloyale demokratische Politiker spielen eine entscheidende, wenn auch versteckte Rolle beim Zusammenbruch der Demokratie“ (S. 52).

8.
Man wende diese Strukturanalyse auf die in Punkt 1. genannten Probleme und Personen und Parteien an.
Es geht um die dringend erforderliche Wahrnehmung, dass in den Demokratien die Demokraten und ihre Parteien sozusagen umkippen und nur noch „halbloyale Demokraten“ sind. Diese Politikerinnen sind bereit um des eigenen Machterhaltes (und Finanzgewinns) willen mit Rechtsextremen zu kooperieren. Das führt – siehe Frankreich 1940 – zum Ende der Demokratie. Der Kampf gegen Rechtsextremismus ist immer auch ein Kampf gegen halbloyale Demokraten.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

 

 

 

 

Warum ist die Vernunftreligion von Kant die Religion der Menschheit für heute und morgen?

Die 21. unerhörte Frage:
Warum ist die Vernunftreligion von Kant die Religion der Menschheit für heute und morgen?

Ein Hinweis von Christian Modehn am 4.Juni 2024.

Ein weiteres Forschungsprojekt in diesem Zusammenhang: Die Beziehung von Kant und seiner Religionsschrift, seiner “Vernunftreligion” , zu der in Frankreich ab ca.1797 sehr lebendigen humanistisch – christlichen Religion der Theophilanthropen. Sie wollten die römisch katholische Theologie und Kirche durch neue humanistische Lehren und Riten überwinden. Wurden dann aber von Napoléon verboten, er wollte unbedingt das Konkordat mit dem Papst. Zu den Theophilanthropen: LINK:

1.
In unserer Rubrik „Unerhörte Fragen“ ist diese 21. Frage vielleicht wirklich unerhört: Sie ist erstens, wie alle früheren, provozierend und also auch etwas theologisch frech. Aber diese 21. unerhörte Frage ist auch unerhört in dem Sinne: Sie wird wohl kaum gehört, nicht wahrgenommen werden. Unerhört bleiben. Denn kaum jemand unter den religiösen und theologischen Herrschern in den etablierten Religionen des Christentums, Judentums, Islams und des Hinduismus wird sich über diese Frage freuen, sich mit ihr positiv und dann auch zustimmend auseinandersetzen. Dennoch muss diese Frage gestellt werden. Kant zu Ehren einerseits. Vor allem aber aufgrund der Erkenntnis: Wenn Kirchen und Religionen in dieser Zeit noch eine Chance des Überlebens und des Respektes haben: Dann eben als Vernunftreligionen. Nur dann können sie als die eine Religion der Menschheit dem Frieden dienen.

2.
Wie bei allen unerhörten Fragen wird nur kurz der Hintergrund der Frage ausgeleuchtet: Und dabei bemühen wir uns, möglichst nachvollziehbar „für viele“ den wichtigen Gedanken darzustellen.

3.
Kant hat sich immer mit der Frage nach einer vernünftigen Religion auseinandergesetzt, auch in seinen bekannten und berühmten „drei Kritiken“. Besonders ausführlich äußert sich Kant – mutig bei der damaligen Zensur unter König Friedrich Wilhelm II .von Preußen – zu unserem Thema in seinem Buch von 1793 „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“.

4.
Kant „legt” diese Vernunft – Religion mit ihren Inhalten„frei“, weil sie eben in der Vernunft eines jeden Menschen ihren Grund und ihre Bedingungen der Möglichkeit bereits hat. Die Prinzipien, also unumstößliche Vernunfteinsichten im Sinne Kant, werden durch die Reflexion der Vernunft „offenbart“, wie Kant ausdrücklich in der “Religionsschrift“ schreibt. Offenbarung im Sinne Kants ereignet sich auch und vor allem durch die Reflexion eines jeden Menschen auf die Vernunft: Da wird offenbar, dass die Vernunft des Menschen eine „Schöpfung“ des göttlichen Wesens ist, also selbst Anteil hat am Göttlichen, dem Ewigen..

5.
Und was wird dann deutlich: Der Mensch ist durch die Vernunft auf Gott bezogen. Der Mensch ist frei in seinem Handeln und Denken. Und der Mensch kann aufgrund der göttlichen Vernunft im Menschen hoffen, dass seine Seele in irgendeiner Weise ewig sein wird. Gott – Freiheit – Unsterblichkeit der Seele können also als die drei „unerschütterlichen Ideen“ der Vernunftreligion gelten. Diese Einsichten kann jeder Mensch mitvollziehen, gleich welcher Religion auch immer. Diese Menschen bilden dann im Denken Kants eine Art, „unsichtbare Kirche“. Diese kommt ohne große Organisation aus, ohne Hierarchie, ohne Klerus, ohne „Pfaffen“ sagt Kant ausdrücklich. Kant empfiehlt einzig diese „Religion des guten Lebenswandels“, also der Mitmenschlichkeit, des Respekts… „Die Gebote des sittlichen Lebens sind göttliche Gebote“.

6.
Diese Vernunftreligion mit ihren drei zentralen Einsichten wehrt ab allen Aberglauben, allen Wahn des üblichen religiösen Überschwangs, wie Wallfahrten, Wunderglauben, Heiligenverehrung, Bindung an heilige Bücher, die für Gottes Wort gehalten werden, tatsächlich aber nur subjektiver Ausdruck religiöser Erfahrungen von Menschen vor vielen hundert Jahren sind.

7.
Und wie sieht das praktische religiöse Leben der Vernunftreligion aus?
Der wahre Gottesdienst ist für den einzelnen Vernunftgläubigen und seine Freunde das ethische Leben, das die Kriterien respektiert, die der Kategorische Imperativ vorlegt zur Entscheidung: Ist meine Maxime, meine Lebensphilosophie, mein Handeln, mit dem Kategorischen Imperativ konfrontiert, gut oder nicht. Diese „einfache“ Religion/Kirche ist auch äußerlich von großer Schlichtheit: Sie kann sich an schönen Kirchengebäuden erfreuen, an Kathedralen und alter religiöser Musik, aber diese sind für den „Vernunftgläubigen“ nicht wesentlich.

8.
Kant sieht durchaus, dass die genannten Prinzipen der Vernunftreligion auch in den faktischen Kirchen z.B. (etwas) gelehrt wurden. Aber sie sind dort umgeben von einer Fülle von Sonderlehren und wahnhaften, d.h.den einzelnen auch seelisch krank machenden Praktiken (wie Ablasshandel, Teufelsglaube, Glaube an eine Erbsünde, Bindung an willkürlichen Hierarchen, die etwa den Ausschluss von Frauen vom Priesteramt wider besseren theologischen Wissens durchsetzen, Insistieren auf konfessionellen Identitäten, auf das politische Durchsetzen religiöser Werte, wie das Kalifat usw.

9.
Kant sieht auch: Für die Vernunftreligion werden sich noch nicht viele Menschen entscheiden können. Zu stark sind die durch Erziehung etc. vermittelten emotionalen Bindungen an die faktischen Kirchen und Religionen. Viele lieben die autoritäre Bindung an männliche Herrscher, und katholische Frauen gehen im wahrsten Sinne des Wortes eben nicht auf die Barrikaden, um für ihre Rechte zu kämpfen. Gehorsam ist für religiöse Menschen wichtiger als Autonomie.

10.
Es wird die Zeit kommen, und sie ist wohl schon da, dass weiterhin hunderttausende Gläubige aus den dogmatisch verfassten Kirchen austreten (oder sich vom dogmatischen Islam oder Judentum oder dem Hinduismus abwenden) und sich fragen: Sind wir nun als „Ausgetretene“ gleich auch Atheisten? Oder wollen wir einer „einfachen“ Religion folgen, die die göttliche Schöpferkraft in Vernunft und Seele gelegt hat und die jeder Mensch im Denken entdecken kann?

11.
Mit anderen Worten: Wollen wir frei sein, autonom sein, auch in der Religion und Spiritualität? Darauf hat Kant eine Antwort gegeben. Und dies ist eine kreative und eine mutige Leistung in der konservativen, dogmatisch aggressiven Kirchenwelt Ende des 18. Jahrhunderts.
Die Utopie einer humanen Weltreligion ist also für Kant und seit Kant nicht aus dem Denken zu vertreiben, trotz aller Dominanz des Fundamentalismus in allen Religionen.

12.
Eine allen Menschen im Denken selbst sich offenbarende Vernunftreligion ist der entscheidende Beitrag für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt. In dem Sinne: Der Abschied von dogmatischen und fundamentalistischen Religionen wäre eine entscheidende Aufgabe der heutigen Menschen. Man muss wohl diese etwas pathetisch klingenden Worte gebrauchen, um die Bedeutung von Kants Vernunftreligion überhaupt zu erklären.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

 

Mit Hanna Arendt denken (lernen)

Über ein neues Buch von Lyndsey Stonebridge
Ein Hinweis von Christian Modehn am 17.5.2024

1.
Ohne eine Verbindung zum Denken Hannah Arendts gibt es offenbar heute keine kulturkritische oder Politik – kritische Veröffentlichung oder Debatte. Ihre Texte aus dem Nachlass werden nun auf Deutsch publiziert, und die LeserInnen sind erstaunt über die Kraft des kritischen Denkens, das in der Forderung gipfelt: Jeder Mensch sollte nicht nur zum eigenen Nachdenken, sondern auch zum reflektierten Urteilen finden. Gregor Dotzauer spricht im „Tagesspiegel“ (am 25.4.2024, Seite 24) zurecht von einer „kleinen Hannah- Arendt-Industrie“. Und diese vielfältige Begeisterung, für Hannah Arendts Erkenntnisse wird sehr bald noch stärker werden: Denn es steht ein kulturell, journalistisch und damit kommerziell ergiebiger runder Gedenktag bevor: Hannah Arends 50. Todestag am 4.Dezember 2025!

2.
Bis dahin werden alle ihre Werke in der „kritischen Gesamtausgabe“ sicher noch nicht vorliegen, über eine website(  LINK ) kann man sich über den Stand der definitiv wissenschaftlich Arendt – Publikationen (mit Ausnahme der Briefe) informieren. So bleiben wir noch auf eine Fülle von Arendt-Büchern und Arendt-Broschüren angewiesen, abgesehen von der genau so großen Menge von Einführungen in das Denken Hannah Arendts.

3.
Über diesen „Arendt – Boom“, wäre eigens nachzudenken: Bei den LeserInnern gibt es vielleicht die Begeisterung für eine Philosophin, die zugleich viel kämpferischer der politischen Theorie verpflichtet ist. Als Jüdin musste sie gerade auch von jüdischer Seite viel Polemik hinnehmen. Aber Anfeindungen für ihre meist präzise, manchmal polemische Position nahm sie in Kauf. Einige ihrer Erkenntnisse haben sich fast wie Slogans durchgesetzt, etwa die These von der „Banalität des Bösen“, formuliert im Erleben des Nazi- Verbrechers Adolf Eichmann anläßlich seines Prozesses in Jerusalem. Oder auch die bleibende Erkenntnis: „Wir haben ein (Menschen-)Recht, Rechte zu haben“, gesprochen nicht nur im Blick auf die vielen staatenlosen und deswegen rechtlosen Flüchtlinge.

4.
Nun hat Lyndsey Stonebridge im C.H. Beck – Verlag eine Einführung zu Hannah Arendt vorgelegt: „Wir sind frei, die Welt zu verändern“ ist der offenbar Mut machende Titel für diese jetzigen Zeiten der Kriege und der Zunahme rechtsradikaler, faschistischer Parteien. Der Untertitel: „Hannah Arendts Lektionen in Liebe und Ungehorsam“. Lieben und gleichzeitig (dem Staat, „der“ Politik, einigen jüdischen Organisationen) ungehorsam sein, ist eine spannungsreiche Beziehung, die sich die Autorin vorgenommen hat. Lyndsey Stonebridge forscht vor allem zur politischen Theorie, sie ist Professorin für Humanities und Menschenrechte an der Universität Birmingham. Mehrfach schon wurden ihre Bücher mit Preisen ausgezeichnet.

5.
Ihr neues Buch (2024 veröffentlicht) versucht in jedem der 10 Kapitel philosophische Themen mit der Biographie, der Werk – Interpretation und der Aktualisierung Hannah Arendts für „uns“, zumal in den USA, zu verbinden. Manchmal entsteht in den Kapiteln eine gewisse Sprunghaftigkeit und oft eine zu knappe Würdigung der dort angesprochenen brisantesten Themen im Denken Arendts.
In Kapitel 2 etwa mit dem Titel „Wie man denkt“ schreibt die Autorin über die Zeit der jungen Hannah Arendt in Königsberg, die Autorin springt dann zu den Mord – Attacken kürzlich in Hanau, um dann zu Martin Heidegger in Marburg zu kommen…Ziel ist immer, die LeserInnen auf die aktuelle Relevanz des Denkens Hanna Arendts aufmerksam zu machen. Ein weiteres Beispiel: Im 10. zentralen Kapitel mit dem Titel „Was ist Freiheit“ geht es auch um das letzte, unvollendete Buch Arendts „Leben des Geistes“, dabei gibt es Hinweise zu ihrer Beziehung mit Heidegger, um Aufenthalte in der Schweiz, um ihre Kant – Lektüren, um den Zustand der us-amerikanischen Politik in den Jahren ab 1970, mit einem Sprung dann zu Trump und – nebenbei auch der Hinweis: Der junge Senator Joe Biden hätte im Jahr 1975 Hannah Arendt um ein Exemplar ihres Vortrages in Boston gebeten.

6.
Das Buch kann aufgrund der lebendigen Darstellung eine Hilfe für diejenigen sein, die sich bisher noch nicht über Hannah Arendt informiert haben. In der Schwebe lässt die Autorin: Ist Hannah Arendt eine Philosophin (im klassischen Sinne), ist sie eine „brillante Theoretikerin“ (S. 306) oder ist sie vor allem eine Spezialistin der politischen Theorie? Arendt selbst bevorzugte den etwas komplizierten Titel „Theoretikerin der Politik“. Als Philosophin im klassischen (deutschen) Sinne verstand sie sich wohl nicht, auch wenn sie immer anerkannte: Durch ihren Liebhaber und Lehrer Martin Heidegger das Denken, also das philosophische, gelernt zu haben.

7.
Manche Aussagen der Autorin Lyndsey Stonebridge finde ich problematisch, etwa wenn sie eher flapsig schreibt: “Nachdem er (Heidegger) das Sein über Bord geworfen hatte…“ (Seite 71). Heidegger hatte nie das Sein „über Bord geworfen“, also auf die Erörterung der Seins-Frage verzichtet. Wenn die Autorin „Sein“ allerdings als welthafte Realität meint, hat sie vielleicht recht, aber dieses dinghafte Sein meinte Heidegger gar nicht.

8.
Viel zu knapp wird meines Erachtens Arendts kritisch reflektierte Stellung zum Zionismus dargestellt. In einem Artikel über „Zionism“, 1945 in New York veröffentlicht, kritisiert sie deutlich das Beharren einiger Zionisten auf einer Staatsgründung in Palästina: „Dies ist die kritiklose Übernahme des Nationalismus in seiner deutschen Version“, so in der deutschen Ausgabe des Textes auf Seite 159 (in H.A., Die verborgene Tradition, Suhrkamp, 2016). Auch Micha Brumlik weist in seinem Beitrag in „H.A. und das 20. Jahrhundert“ auf dieses Zitat hin, S. 22). Und Susie Linfield will in ihrer Publikation in der „Yale University Press (2020) differenzieren: Und auch könne man nicht plausibel argumentieren, dass Arendts Ansichten zum Zionismus immer einer übergeordneten Logik entsprachen. (Im Original: Nor can one plausibly argue that there was always an overriding logic to her views on Zionism.“)
9.
Die Autorin Lyndsey Stonebridge hat gewiss viel Sympathien für Hannah Arendt. Das heißt nicht, dass sie doch einige kritische Hinweise gibt, etwa den Umgang Arendts mit der Geschichte des Kolonialismus (etwa S. 150). Auch die Verschwiegenheit Arendts über das private,„intime“ körperliche Leben wird erwähnt: „So bleibt in ihren überlieferten Schriften auch ihr Körper stets gewissenhaft den Blicken entzogen“. Und warum Hannah Arendt trotz aller Kritik nach 1945 an ihrem einstigen Liebhaber Martin Heidegger doch weiterhin stärkeres Interesse hat, wird in dem Buch nicht recht deutlich. In Hannah Arendt Buch „Menschen in finsteren Zeiten“ ist ihr Radio – Vortrag anläßlich des 80. Geburtstages Heideggers (1969) veröffentlicht. Er habe sie das Denken gelehrt, heißt es auch dort. Heideggers Verstrickung in den Nationalsozialismus wird von Arendt eher kurz und allgemein erwähnt. Befremdlich ist, dass sie sogar Heideggers „Spätphilosophie“ noch als anregend und wohl auch verständlich – nachvollziehbar empfinde.
Wichtig ist, dass die Autorin die geistige, sehr freundschaftliche Verbundenheit mit Karl Jaspers betont. Bei ihm verfasste Arendt ihre philosophische Promotion über die Liebe im Denken des Heiligen Augustinus. Hannah Arendt hatte sich als achtzehnjährige, damals aus Königsberg kommend, in Marburg bekanntlich neben Philosophie auch für Evangelische Theologie und Griechisch eingeschrieben. Warum eigentlich auch für evangelische Theologie, wäre eine Frage. Dass Arendt durchaus Sympathien für einzelne Katholiken hatte, ist seit ihrem Beitrag über Papst Johannes XXIII. „Angelo Giuseppe Roncalli. Der christliche Papst“ bekannt (veröffentlicht in „Menschen in finsteren Zeiten“) LINK.

10.
Hanna Arendt ist auch heute zweifellos eine Lehrerin des kritischen Denkens und selbstbewussten Urteilens, also eine Lehrerin geistvollen, humanen Lebens. Aber dass sie umfassend eine „Meisterin“ für heute sei, wäre eine Überforderung. Ob man mit Arendts Werken den geradezu universellen Rechtsruck in Europa, bis hin zum Rechtsradikalismus und Faschismus, verstehen kann, ist die Frage. Genauso gilt dies für die Radikalisierung vieler Muslims zu Fundamentalisten oder auch vieler Christen zu Evangelikalen. Feminismus war auch für sie kein großes Thema. Und zur aktuellen Klima-Katastrophe hat sie speziell eher wenig zu sagen.

11.
Die Menschen heute aber halten sich sehr gern an eine – dem ersten Eindruck nach – „leicht lesebare“, mutige Philosophin bzw. Theoretikerin der Politik. Sie lieben ihre meist stringenten Argumentationen, schätzen ihr Eintreten für die Menschenrechte, ihren Kampf gegen den Juden-Hass. Einer solchen Frau und ihrem vielfältigen, umfangreichen Werk zu begegnen, führt ins lebendige Leben des Geistes und …ins „tätige Leben“.

Lyndsey Stonebridge, „Wir sin frei, die Welt zu verändern“. Hannah Arendts Lektionen in Liebe und Ungehorsam. Übersetzt von Frank Lachmann, C.H. Beck Verlag, 351 Seiten, 26€.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

75 Jahre Grundgesetz: Für eine Demokratie, einen Rechtsstaat, der sich verteidigt

Radikale Gruppen wollen in Deutschland anstelle der Demokratie das Kalifat, den Gottesstaat.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 6. 5. 2024.

1.
Vor 75 Jahren, am 24. Mai 1949, trat das „Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“ in Kraft. Der 23. Mai wird als „Verfassungstag“ gefeiert und auch „bedacht“: Vom 24. bis 26. Mai 2024 wird es rund um das Bundeskanzleramt und den Deutschen Bundestag ein großes Demokratiefest geben.

2.
„75 Jahre Grundgesetz“ : Das Ereignis ist bei aller Anerkennung der insgesamt „stabilen“ Demokratie, auch nach dem (übereilten?) Beitritt der DDR zur BRD-Verfassung, jetzt von der Erkenntnis bestimmt: Wir leben zunehmend in einer „gefährdeten Demokratie“. Darin sind sich die meisten Demokraten in Deutschland einig.

3.
Es geht jetzt entschlossen darum, in politischer Tat, für die Bewahrung der Demokratie und die demokratische Weiter – Entwicklung Deutschlands einzutreten. Eine Herausforderung, die alle wenigen, noch verbliebenen demokratischen Staaten, in irgendeiner Weise gestalten müssen. Neue Formen des Dialogs, der Überzeugung, der Debatte, der Teilhabe der Bürger am politischen Geschehen sind wichtig. Alles schon hundertmal gesagt. Auch über den Ausschluss (das Verbot) bestimmter gewalttätiger Gruppen aus dem Ganzen des demokratischen Zusammenhangs muss debattiert und dann wirksam entschieden werden.

4.
Die AFD nennt sich „Alternative für Deutschland“. Diese Partei ist aber nichts anderes als eine Alternative zu Deutschland, d.h. zur Demokratie in Deutschland. Ein autoritärer Staat ist das Ziel dieser rechtsradikalen Partei mit Führern, die man nun offiziell Faschisten nennen darf. Um so verlogener, wenn die AFD jetzt – angesichts der Grundgesetz Feierlichkeiten – groß tönend die Demokratie in Deutschland lobt: Die AFD ist also dankbar, dass sie in unserer Demokratie wachsen und gedeihen kann … bis sie dann eines Tages die Demokratie abschafft. Wer das sieht und auch noch „einfach so“ hinnimmt, begeht einen kontinuierlichen Suizid der Demokratie. Die Rechtsextremen sind in Deutschland und in den anderen europäischen Demokratien und Rechtsstaaten die größte Gefahr für eine humane Zukunft.

5.
Die Debatte über Formen des Widerstands gegen die AFD und andere rechtsextreme Parteien und Gruppen wird also – hoffentlich – im Mittelpunkt des Gedenkens „75 Jahre Grundgesetz“ stehen.

6.
Den „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“ interessiert die Frage: Wie geht die Demokratie in Deutschland mit religiösen Gruppen und religiös sich nennenden Organisationen um, die die demokratische Verfassung ignorieren und Demokratie abschaffen wollen, etwa zugunsten eines Gottesstaates, eines Kalifates. Ob diese Gruppen hinsichtlich der Form ihrer angedachten Herrschaft selbst rechtsextrem zu nennen sind, ist eine Frage, die hier nicht diskutiert wird. Hier geht es um fundamentalistische religiöse Gruppen, in denen so genannte Kleriker herrschen sollen: Sie wollen die angeblich von Gott selbst übermittelten menschenrechtsfeindlichen Grundsätze durchsetzen. Jegliche Trennung von Religion und Staat ist in einem politischen Kalifat ausgeschlossen.
Das Thema steht im Mittelpunkten Debatten, weil etwa eine – zwar – nicht repräsentative Studie zeigt: Fast die Hälfte einer in Niedersachen befragten Gruppe muslimische Schüler meinte, ein islamischer Gottesstaat sei die beste Staatsform. Noch problematischer: Während einer Demonstration in Hamburg am 28. April 2024 sind einige hundert Menschen ganz offen für die Einführung des Kalifates in Deutschland eingetreten: „Kalifat ist die Lösung“, hieß es auf einem der Plakate. Oder: „Kalifat ist die Lösung“. (Nur eine von vielen Quellen: https://www1.wdr.de/nachrichten/dieanderefrage-scharia106.html)

7.
Man kann diese aktuellen Forderungen nach einem Gottesstaat in Deutschland im Jahr 2024 nicht in Verbindung bringen mit dem bekannten Spruch aus dem Neuen Testament: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apostelgeschichte, 5,29). Dieses Bekenntnis der Apostel richtet sich gegen die Umgangsformen der hohen Vertreter des Judentums: Die kleine Gemeinde der Jesus – Gläubigen wollte mit dieser Forderung auf ihrem eigenen Verständnis der göttlichen Wirklichkeit bestehen, gegen andere Deutungen der religiösen Mehrheit der Juden. Dieser Spruch des Neuen Testaments bezieht sich also auf einen inter-religiösen Streit, er hat gar nichts mit der radikalen Profilierung bestimmter Religionsgemeinschaften in einer modernen Demokratie zu tun.
Wenn man schon diesen Spruch aus der Apostelgeschichte des Neuen Testaments verallgemeinern will, kann er nur lauten: „Christen sollen im Konflikt mit autoritären, diktatorischen (!) Staaten ihrem Gewissen folgen und nicht den ungerechten Gesetzen dieser Staaten.“ In einer Demokratie, einem Rechtsstaat, hat dieser genannte Bibelspruch keine politische Bedeutung. Dass etwa die Päpste als „Stellvertreter Christi auf Erden“ (katholische Kalifen ?) auch maßlos politische Herrschaft beanspruchten, ist historisch evident. Dass es Katholiken heute noch gibt, die von der Durchsetzung katholischer und für göttlich gehaltener moralischer Forderungen träumen, ist genauso zweifelsfrei. Aber diese Kreise sind – bis jetzt – nicht bestimmend im Katholizismus innerhalb demokratischer Staaten.

8.
Mit unserem Hinweis auf Forderungen, das politische Kalifat in Deutschland zu errichten, wird selbstverständlich überhaupt nicht und ganz und gar nicht unterstellt, „der“ Islam in seiner Vielfalt halte das Kalifat in Deutschland für wichtiger als das Grundgesetz. Es gilt aber wachsam zu sein: „Die wachsame, weil bedrohte Demokratie“ ist das Motto der Gegenwart:
Und dann gilt es, endlich umfassend wahrzunehmen: Auch innerhalb der Religionen machen sich rechtsradikale, fundamentalistische und gewalttätige Tendenzen stark. Das gilt etwa für evangelikale Christengemeinden in den USA, man denke an den Sturm auf das Kapitol in Washington am 6.1.2021: Fundamentalistische Christen waren an der Gewaltaktion maßgeblich beteiligt. Man denke auch an die gewalttätigen Aktionen evangelikal – charismatischer Unterstützer für Präsident Bolsonaro in Brasilien usw. Von der religiös motivierten Gewalt in Diktaturen soll hier gar nicht die Rede sein: Religion ist für diese Herrscher sozusagen die himmlische, absolut geltende Entschuldigung für alle ihre Untaten gegen die Menschenrechte. In solchen Fällen denkt der Demokrat oft: Gäbe es doch bloß diese (fundamentalistischen Interpretation der) Religionen nicht, wie „nackt“ und blamiert und geistig hilflos würden dann die totalitären Herrscher dastehen.

9.
Zu unserem aktuellen „Scharia“ – Kalifat – Problem in Deutschland: Den Autoren des Grundgesetzes stand dieses Thema 1949 überhaupt nicht vor Augen. Dennoch muss das Problem mit den Mitteln des Grundgesetzes von 1949 gelöst werden.

10.
Es galt und es gilt: Artikel 4, Absatz 1 des Grundgesetzes: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich“. In Absatz 2 heißt es: „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ Das heißt: Religiöse Menschen, nicht-religiöse Menschen, Atheisten … haben gleichberechtigt Anteil an dieser Freiheit des Glaubens.
Der Artikel 140 des Grundgesetzes folgt weithin den Artikel der Reichsverfassung von Weimar (WRV, 1919), darin wird das Kirche – Staat – Verhältnis in Deutschland definiert. Es „besteht keine Staatskirche“ (Art. 137). Das Grundgesetz sieht eine milde zu nennende Form der Trennung von Kirche und Staat vor, aber das speziell ist nicht unser Thema. Wichtig in unserem Zusammenhang: Artikel 137, § 3: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig“, und zwar, wie es ausdrücklich heißt, „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.“

11.
Das Grundgesetz ist also bestimmt von einer weltanschaulichen, religiösen Neutralität des Staates. Kein Vertreter irgendeiner Religion darf sich ermächtigt fühlen, politisch zu herrschen. „Staat ohne Gott“ ist also der richtige, für eine Demokratie einzig angemessene Titel, des Buches des Rechtsphilosophen Horst Dreier zur Verhältnisbestimmung von Religion und demokratischem Staat: Die Demokratie braucht keinen Gott irgendeiner Religion. (Zum Buch von Horst Dreier, siehe Fußnote 1).

12.
Das heißt aber nicht, das dieser demokratische Staat selbst eine gottlose Ideologie entwickeln und vertreten darf: Der demokratische Staat hat deswegen keinen eigenen Gott, weil er – prinzipiell – alle Götter aller Religionen und Konfessionen gleichberechtigt sich entfalten lässt. Weil die Demokratie zu ihrer eigenen Legitimierung keine (Staats -) Religion braucht, kann sie umfassende Religionsfreiheit gewähren. Die Demokratie pflegt und anerkennt die religiöse Pluralität. Und die Demokratie in der deutschen Verfassung steht zu allen Religionen in der gleichen Distanz. Um das „Seelenheil“ des Bürgers, seine innere, persönliche religiöse Ideologie kümmert sich die Demokratie nicht. Die Gestaltung des Seelenheils eines Bürgers geht den demokratischen Staat nichts an. Jeder und jede suche selbst auf seine Weise sein „Seelenheil“ in irgendeiner der Religionen oder auch atheistischen Weltanschauungen.

13.
Diese Bestimmungen des Grundgesetzes entwerfen förmlich eine ideale Situation des Miteinanders von Staat und Religionen in Deutschland. Die Gefährdung der Demokratie in Deutschland durch radikale, extreme und tendenziell gewalttätige religiöse Gruppen war selbst für den renommierten Staatsrechtler Horst Dreier kein Thema, als er sein Buch „Staat ohne Gott“ im Jahr 2018 veröffentlichte.
Dreier schreibt auf Seite 63 die heute brisant wirkende Einschätzung: : „Religionsfreiheit stellt eine radikal individuelle Rechtsposition dar, die ohne jede Verpflichtung auf den Staat gewährleistet wird und auch bei inhaltlicher Fundamental – Opposition ihm (dem Staat) gegenüber ohne Abstriche garantiert wird.“ Religionsfreiheit soll also auch „bei inhaltlicher Fundamental – Opposition ihm (dem Staat) gegenüber ohne Abstriche garantiert“ sein?
Hintergrund für diese Aussage ist zunächst die richtige und gültige Erkenntnis: Der Staat darf die innere religiöse Gesinnung seiner Bürger nicht prüfen, geschweige denn bewerten und kontrollieren. „Rechtsgehorsam muss genügen“, also die formale Befolgung der Gesetze, auch wenn der Handelnde gar nicht die Grundsätze der Verfassung und der ihr folgenden Gesetze schätzt.. . und etwa nur aus Angst vor Strafe die Gesetze respektiert…

14.
Natürlich entspricht es dem Geist der Demokratie und des Rechtsstaates: Zuerst mit allen Gegnern und auch Feinden der Demokratie und des Rechtsstaates zu sprechen. Doch wie „unendlich“ darf dabei die Geduld der Demokraten mit den Verweigerern der vernünftigen Argumente sein? Wie soll die Demokratie mit religiösen Gruppen umgehen, die Rechtsstaat und Demokratie abschaffen wollen? Muss also dieser prinzipiell religiös neutrale Staat dann doch die zur Gewalkt aufrufende Lehre einer bestimmten Religion zurückweisen (etwa das politische Kalifat und die politische Herrschaft der Scharia) und diese Gruppe zum Schutz der Demokratie öffentlich anklagen und dann verbieten? Es zeigt sich hier ein gewisses Dilemma der Demokratie: Sie soll dann also ins innere Leben einer Religion eingreifen, hinsichtlich der irrigen Vorstellungen vom Gottesstaat usw., obwohl solche Eingriffe, also mit dem Ziel inhaltlich begründeter Verbote, von der eigentlich religiös neutralen Demokratie nicht möglich sein dürften. Es ist für die Demokratie in Deutschland untersagt: „die parteiergreifende Einmischung in die Überzeugung, die Handlungen und in die Darstellung Einzelner oder religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften“ (Dreier, Seite 98).

15.
In der Not der gefährdeten Demokratie muss sich der Rechtsstaat vor den im „Innern“ agierenden Zerstörern der Demokratie wehren. Gegen Aggressoren von außen wehrt sich die Demokratie bekanntlich selbstverständlich.
Es ist offensichtlich, dass die AutorInnen des Grundgesetzes (1949) nicht sahen und noch nicht sehen konnten, wollten, dass es Religionen, Konfessionen etc. geben kann, die die Demokratie abschaffen wollen. Dabei hätten sich die AutorInnen doch an die Ideologie der evangelischen Nazis und Hitler Freunde, der „Deutschen Christen“ (gegründet 1931), erinnern können. Diese nicht gerade minoritären Kreise wollten im Dienste Hitlers religiös die Weimarer Republik zerstören. Komisch, diese Vergesslichkeit damals 1949…

16.
Jetzt geht es darum: Der demokratische Staat, nun in einem Notfall der Bedrohung durch gewalttätige antidemokratische religiöse Gruppen, kann seine grundlegende Religionsfreiheit nur am Leben erhalten, wenn er selbst eine Ausnahme macht hinsichtlich der sonst umfassend geltenden Anerkennung der Religionsfreiheit. Konkret also: Die religiöse Vereinigung derer verbieten, die ein politisches Kalifat in Deutschland errichten wollen. Wenn eine Rechtsordnung von religiösen Fanatikern angestrebt wird oder bereits realisiert wurde, “die die Menschenwürde untergräbt, kann es unsere Pflicht sein, diese (angestrebte oder bereits reale) Ordnung in Frage zu stellen. Die Menschenwürde bezeichnet exakt die Grenze der Souverenität des Staates”(Omri Boehm, “Die Zeit”, 10. 8.2023, S. 45)

17.
Im Grundgesetz gibt es den Artikel 9, der sich – im allgemeinen – auf Vereine und Gesellschaften bezieht. Darunter könnte man ja auch religiös (sich nennende) Vereine zählen. Sie könnten vom Absatz 2 dieses Artikels 9 mit gemeint sein, dort heißt es in Absatz 2: „Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten.“

18.
Der demokratische Rechtsstaat ist bei der Verteidigung gegen rechtsextreme und religiös fundamentalistische Gruppen selbst an die geistige, aber wirkliche Verpflichtung gebunden, den Prinzipien der Gerechtigkeit und der universellen Menschlichkeit zu entsprechen. Dieser Gedanke geht von der Erkenntnis aus: Was alle Menschen erst zu Menschen macht, ist die Verpflichtung, universellen ethischen Gesetzen zu folgen. Und denen können Menschen in der Tat auch entsprechen, weil sie in ihrer Vernunft selbst den Aufruf zu diesem moralischen – ethischen Handeln erleben. Diese sich also in jedes Menschen Geist zeigende Idee einer universellen Menschlichkeit „leuchtet“ im Geist auf als eine solche, die „nicht von Menschen gemacht ist“ (Omri Boehm, Radikaler Universalismus, S. 17): Die Idee der universell für alle Menschen geltenden Menschlichkeit weist jegliche sich abkapselnde identitäre Ideologie einer Gruppe, wie die der „Kalifen – Freunde“, entschieden ab: Diese Identitäten Ideologien sind letztlich tödlich für den Bestand einer humane Menschheit. (Zum Buch von Omri Boehm, siehe Fußnote 2)

19.
Diese sich in jedes Menschen Vernunft zeigende Idee der universellen Menschlichkeit kann also prinzipiell nicht von Menschen abgeschafft und ausgelöscht werden. Denn sie gehört zur immer schon gegebenen inneren Verfassung des menschlichen Geistes.

20.
Diese Erkenntnis, dass die sich verteidigende Demokratie selbst einem universellen geistigen Gesetz der für alle geltenden Menschlichkeit untersteht, mag für einige „Ungeübte“ zunächst nur mit Geduld nachzuvollziehen sein. Aber ohne diese anspruchsvolle Erkenntnis sind Demokratie und Rechtsstaat nicht zu verstehen. Es gilt, wie Omri Boehm sagt, „die Verpflichtung auf die universelle moralische Wahrheit“ (S. 78) zu erkennen und zu realisieren: Und diese wollen Vorkämpfer des Kalifates wie die Rechtsextremen zugunsten ihrer totalen Herrschaft zerstören… Die identitären Ideologien (des Kalifates und der Rechtsextremen), die man mit Immanuel Kant „Maximen“ nennen kann, haben in der Konfrontation mit dem ethischen Kriterium „Kategorischer Imperativ“ keinen Bestand. Diese Ideologien, „Maximen“, werden durch die Erkenntnis des „Kategorischen Imperativs“ zurückgewiesen: „Handle so, dass die Maxime deines Handelns allgemeines Gesetz für alle sein können“ (Kant). Welcher Kalifats Fanatiker, welcher Rechtsextreme, möchte schon selbst erleben, dass sein eigenes Dasein in einem totalen, identitären Staat bedroht, gegängelt und ausgelöscht werden kann.

21.
Ohne universell geltende Grundsätze der Menschlichkeit können selbst die fanatischen Kalifats – Ideologen und die Rechtsextremen (Faschisten) wie auch Linksextremen (Stalinisten) gar nicht überleben. Um ihres eigenen Überlebens willen sollen sie sich von ihrer verbrecherischen Ideologie befreien oder sich von Demokraten befreien lassen.

Fußnote 1. Horst Dreier, „Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne“, C.H.Beck Verlag, München, 2018.

Fußnote 2: Omri Boehm, „Radikaler Universalismus“. Propyläen Verlag, Berlin, 2022.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Anton Bruckner – 200. Geburtstag: Eine ungewöhnliche Einladung nach Oberösterreich.

Ein Buch macht mit dem “Dickschädel” Anton Bruckner vertraut.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 26.4.2024.

1.
Der runde, der 200. Geburtstag des Komponisten Anton Bruckner am 4. September steht – vom Tag (26.4.2023) der Publikation dieses Hinweises aus gesehen – noch nicht unmittelbar bevor: Aber wir sollten uns viel Zeit gönnen, um das vielfältige Opus Anton Bruckners zu entdecken oder durch nochmaliges Hören wieder schätzen zu lernen, etwa seine 8. Sinfonie oder das „Te Deum“ oder das “Requiem“, sogar seine Kammermusik könnte man wahrnehmen, ganz abgesehen von den Orgelwerken.

2.
Eigentlich haben Musikwissenschaftler über Anton Brucker und sein Werk alles gesagt, kann man berechtigterweise denken angesichts der riesigen Fülle der Bruckner Studien. (So auch Florian Sedmark, in dem hier vorgestellten Buch, S. 107). Aber ein Aspekt hat noch gefehlt: Ein Buch, das nicht nur informierend, sondern durchaus unterhaltsam in Bruckners Heimatland Oberösterreich führt. Eine Art neuer, interessanter Melange ist entstanden, bestehend aus Reiseführer zu den etwa 40 Bruckner – Orten in Oberösterreich, und immer auch Hinweisen zu des Komponisten Leben dort, also das Leben und Feiern dort und Komponieren und Essen und Trinken und Geselligsein. So ist also ein Buch entstanden, das als Begleiter für „leibliche Reisen“ „vor Ort“ sehr dienlich ist, das aber auch als geistiger Begleiter, etwa bei der Lektüre auf dem Sofa zu Hause, in die Dörfer und Städtchen und Klöster führt, in denen der reiselustige Bruckner sich oft aufhielt.

3.
Der Autor Florian Sedmark wird diesem Anspruch gerecht: Er hat die Begabung, die LeserInnen zu den Bruckner Orten in Oberösterreich mitzunehmen (und dort auch viel lokale Geschichte bis hin zu Gaststätten und Kirchen zu beschreiben). Dabei erliegt er bei allem Respekt nicht der Versuchung, sozusagen Bruckner heilig zu sprechen. Er weiß von des Komponisten „widersprüchlicher Persönlichkeit“, von seiner Starrköpfigkeit vor allem: Eine Erkenntnis, die auch zum Titel des Buches führte: „Dickschädels Reisen“. Bruckner sah sich selbst so…Er war im Aufbruch der Moderne und der zunehmenden Säkularisierung traditionsverbunden, er pflegte eine fast kindlich erscheinende katholische Frömmigkeit mit regelmäßigen Gebetszeiten, eine Ausnahme im Europa des 19. Jahrhunderts, nicht nur unter Komponisten. Gleichzeitig liebte er sehr gute Portionen deftiger „heimatlicher Speisen“und natürlich schätzte er manchmal allzu heftig auch das Bier. All die „Ambivalenzen“ Bruckners will der Autor nicht auflösen (S. 13). Brucker war so vieles, Schulmeister, Musiklehrer, Ländlergeiger, Dozent, Professor, leidenschaftlicher Schwimmer, Organist in berühmten Kirchen, glänzender Schöpfer von Improvisationen auf der Orgel.
Das Buch zeigt die komplexe Wirklichkeit des Menschen Anton Bruckner. Er war ein hochbegabter Musiker, stammte aus eher “bescheidenen Verhältnissen“, er schätzte immer diese Menschen, die auf ihre Art in den Dörfern etwa musikalische Traditionen pflegten, auch in „Gesangsvereinen“. Er war durchaus gebunden an Autoritäten, ängstlich vor Kritikern seines Werkes, aber: Bruckner hat sich durchgesetzt und große Musik uns gegeben.

4.
Das Buch ist außergewöhnlich und originell, weil es auch über QR Codes viele Möglichkeiten bietet, Bruckners Musik an den jeweiligen Orten „nachzuhören“. Etwa auch den 1. Satz der 8. Sinfonie (Seite 117).

5.
Dass Bruckner seine Karriere auch in Wien erlebte, in den Jahren 1868 -1896), wird von Florian Sedmark erwähnt , aber nicht weiter vertieft. In den für Bruckner schwierigen Jahren in Wien zog es ihn immer zu längeren Aufenthalten (Urlaub, Erholung, aber auch Therapie) in seine Heimat, nach Oberösterreich.

6.
Für alle, die sich spätestens im Sommer nach Oberösterreich aufmachen, nach Linz, St. Florian, Kremsmünster usw… oder auf dem Sofa ihre Reisen gestalten: Hier eine alphabetisch gegliederte Liste der „Bruckner-Orte“, die das Buch präsentiert, das allerdings der Lebensgeschichte folgt: Ansfelden der Geburtsort), Attersee, Bad Goisern, Bad Ischl, Bad Kreuzen, Eferding, Enns, Gmunden, Grein, Hörsching, Kirchdorf an der Krems, Klaus an der Phyrnbahn, Kremsmünster, Kronstorf, Leonding, Linz, Luftenberg an der Donau, Micheldorf, Neufelden im Mühlkreis, Ottensheim, Perg, Ried im Innkreis, Schlierbach, Schwanenstadt, Sierning, St. Florian, St. Marienkirchen an der Polsenz, Steyr, Steyregg, Ternberg, Vöcklabruck, Wels, Wilhering, Windhaag bei Freistadt, Wolfern.

7.
Neu dürfte für einige LeserInnen auch der Aufenthalt Bruckners in Berlin im Jahr 1894 sein: Zwei Jahre vor seinem Tod erlebte Bruckner dort die Aufführung der Siebten Sinfonie und des Te Deum. In Berlin logierte er im Luxushotel ADLON. (S. 174).

„Dickschädels Reisen. Durch Oberösterreich mit Anton Bruckner“. Von Florian Sedmark. Mit einem Essay von Norbert Trawöger. 256 Seiten, Hardcover mit Lesebändchen. Anton Pustet Verlag Salzburg, 2024, 25 €.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Ist Kant jetzt wieder tot? Oder lebt er weiter nach den Geburtstags – Feierlichkeiten?

Ein Hinweis von Christian Modehn am 23. April 2024

1.
Die Geburtstagspartys zu Ehren Immanuel Kants, in allen Medien veranstaltet, sogar mit ehrenden Worten von „prominenten“ Politikern, sind zu Ende: Kants großer Tag war der 22. April 2024, da feierte er mit vielen Menschen in aller Welt seinen 300. Geburtstag. Schon Monate vorher lief der Geburtstagstrubel auf Hochtouren: So wollen es nun die Gesetze des Kulturbetriebes und des Journalismus: Große Gedenktage großer Namen bringen eben auch großes Geld … Sollten aber vor allem Erkenntnisse fördern.

2.
Die Gemeinde der „Kulturschaffenden“ hat sich bereits voller Publikationslust den nächsten runden Gedenktagen zugewandt: Bis zu seinem 100. Tagestag, am 3. Juni 2024, wird Franz Kafka noch weiter gefeiert, bedacht, geehrt, „gewürdigt“, hoffentlich auch gelesen und der Vernichtung vieler seiner Familienmitglieder durch Deutsche, Nazis, gedacht… Dann folgt der große Caspar David Friedrich, sein 250. Geburtstag am 5. September treibt schon jetzt viele Tausend Menschen zum Staunen und Entzücken in die Sonderausstellungen. LINK.  Wer denkt bei so vielen Größen noch daran, dass der Schriftsteller und Satiriker Karl Kraus am 28. April 2024 seinen 150. Geburtstag feiert? LINK. Wer hat sich musikalisch und religiös bereits auf den Komponisten Anton Bruckner eingestellt, der am 4.9. seinen 200. Geburtstag begeht? Wird höchste Zeit, z.B. seine 8. Symphonie wieder zu hören … oder sein Heimatland Oberösterreich zu besuchen (zu Bruckner, siehe Fußnote 1)

3.
Man hat den Eindruck: Die Präsentation von Kultur bewegt sich heute hart an der Grenze der „Gedenktageritis“, der Fixierung auf runde Geburts – und Todestage. Dabei könnte man doch prinzipiell jeden Menschen und dessen einmalige Individualität auch an „eckigen“ Gedenktagen bedenken…

4.
Zurück zu Kant: Ist er ab heute, 23. April 2024, schon wieder tot für die meisten Menschen? Philosophen werden sein Werk zwar weiter studieren und die schon jetzt unübersehbare Fülle der Kant – Studien ausbauen. Aber muss man wirklich erst 10 Jahre abwarten, um zu wissen: Welche breite Wirkung hatten denn nun die vielen Bücher, Reden, Beiträge, Sendungen anläßlich von Kants 300. Geburtstag? War alles eine kulturelle Zwangshandlung oder bleibt „etwas hängen“ im Bewusstsein der Menschen?

5.
Um nicht gleich in ein kulturkritisches Jammer zu verfallen: Besser ist die Antwort auf die Frage, die eigentlich als Leitmotiv alles öffentlich Kant-Gedenken und Kant – Besprechen hätte bestimmen sollen: Was soll denn jeder Menschen von Kants universell geltenden Erkenntnissen wissen:

– Jeder Mensch soll wissen, was der „Kategorische Imperativ“ deutlich erklärt. Er könnte eine Art ethisches „Allheilmittel“ sein. Und er bietet große Sicherheit bei der Frage: Wie gestalte ich mein menschliches Leben mit anderen? Es geht um die Förderung der Würde des Menschen! Dann entsteht aber die Frage: Welche Lebensphilosophie, welche Ideologie, welche Maxime ist für mich wichtig, hat sie auch Bestand vor der universell für alle Menschen geltenden Vernunft? So, wie doch die meisten Menschen gewisse mathematische Kenntnisse haben (etwa die schlichte Erkenntnis: „Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel“), so sollte eben auch jeder den Kategorischen Imperativ kennen.

Jeder Mensch sollte mit Kant wissen: Angesichts des zunehmenden Fundamentalismus in der Politik und in den Religionen und Kirchen, ist eine noch zu schaffende universale vernünftige Menschheitsreligion der Humanität entscheidender als die Bindung an eine konkrete historisch gewachsene Religion und Konfession. Diese Menschheitsreligion braucht keine Institution, braucht keinen Klerus: Die einzelnen Menschen sollen erfahren und wissen: Es gibt eine göttlich genannte schöpferische Urkraft, im Geist der Menschen ist sie verstehbar. Und diese einfache Vernunftreligion hat wenige Grundsätze, allgemein vernünftig einsehbar: Diese Menschheitsreligion gebietet die Toleranz, den Respekt, empfiehlt die Liebe. Kant spricht in dem Zusammenhang von der unsichtbaren Kirche.

Auch wenn es um Frieden und Krieg geht, ist eine große Leitlinie für Kant zentral: Jeder Krieg ist zuerst und vor allem ein Unrecht, weil er die Menschenrechte verletzt, d.h. Weil er die Würde eines jeden Menschen verletzt. Und gegen diese schlimmste aller Degradierungen, den Verlust der Würde des Menschen, können aufgeklärte Bürger und deren Politiker nach Kant – schon im 18. Jahrhundert gedacht – Entscheidendes tun: Sie können z.B. Verträge untereinander schaffen, die den Krieg verhindern, sie können einen Völkerbund organisieren, sie sollen ein „Weltbürgerrecht“ schaffen, das die Rechte eines jeden gegenüber jedem anderen Staat garantiert. Diese Vorstellung mag „idealistisch“ erscheinen: Aber nur unter der globalen Perspektive einer anderen, also einer gerechten, friedfertigen Welt, von den Menschenrechten geregelt, lässt sich die Hoffnung bewahren, die Hoffnung, dass es sinnvoll ist, auf dieser Erde als Mensch mit anderen leben zu können.

6.
Mit diesen sehr knappen Hinweisen wird kein Spezialwissen zu Kant verbreitet, sondern mit Kant werden die Grundlagen des Menschseins freigelegt.
Kant hat natürlich nicht auf alle Fragen richtige Antworten. Aber er hat einige bleibende, richtige Antworten auf die ewige Frage: Wie kann ich als Mensch – jeder Kultur – menschlich leben? Einige zentrale Erkenntnisse des Philosophen Immanuel Kant zu kennen, sie im Gedächtnis zu behalten, sie praktisch im Leben als Orientierung zu gebrauchen: Das sollte nun wirklich ein Resultat all der vielen Feierlichkeiten, Publikationen, Reden usw. zu Kants 300. Geburtstag sein. Es ist doch wohl nicht so, dass wir von dem Gefühl bestimmt sein sollten: Na ja, gibt es halt zu unserer Abwechslung immer wieder runde Gedenktage, und die “haken wir ab“, und dann geht ungebrochen der alte Trott weiter. Mit neuen runden Gedenktagen. Das wäre dann wirklich der Kulturbetrieb…

Fußnote 1: “Durch Oberösterreich mit Anton Bruckner: Dickschädels Reisen” von Florian Sedmak, Verlag Anton Pustet, 2024, 256 Seiten.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin