Gegen die Klerus-Herrschaft und den kirchlichen Aberglauben: Kants vernünftige Religion.

Die Erinnerung an Kant – anläßlich seines 300. Geburtstages – muss eine Provokation bleiben.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 14. 4. 2024.

Dieser Beitrag plädiert im Sinne Kants für einfache, dogmatisch reduzierte, die ethische Praxis betonende christliche Kirchen. Das Projekt erfordert einen radikalen Umbau und Abbau der Dogmatik, einen Verzicht auf Hierarchien, es geht darum, dass Menschen ihre individuelle Verbindung mit Transzendenz, dem Göttlichen, wieder einfach leben können.

1.
Es gibt einige Erkenntnisse des Philosophen Immanuel Kant, die bleibend das „Wesen“ des Menschen aussagen, Erkenntnisse, die das Dasein auch heute nicht nur inspirieren, sondern leiten sollten. Kant ist ein Philosoph, der zwar, wie alle anderen Philosophen auch, geschichtlich geprägt ist, der aber universell geltende Wahrheiten formulierte.

2.
Kants Erkenntnisse wurden anläßlich seines 300. Geburtstages am 22.4.2024 tausendfach, oft verkürzt, popularisiert, unters „Volk gebracht“. Aber ist diese journalistische Pflichtübung vorbei, ist dann auch die Erinnerung vorbei? Das darf im Falle Kants nicht sein.

3.
Wir behaupten: Man muss damit rechnen, dass es philosophische Erkenntnisse gibt, die jeder und jede verstanden haben sollte, sie förmlich im Geist stets präsent haben müsste -zur Orientierung im privaten, gesellschaftlichen und religiösen Leben. Diese Erkenntnisse gehören zur geistigen Verfassung der Menschen.

4.
Dabei gibt es keinen Zweifel: Kant hat in seiner Zeit (im 18. Jahrhundert, in Königsberg) auch falsche Einschätzungen publiziert, auch darüber wurde anläßlich seines 300. Geburtstages gesprochen. Und manchmal wurde dem Vorurteil Raum gegeben: Wenn Kant doch vieles aus heutiger, aus ethischer Sicht Problematisches, sogar Falsches sagte: Dann brauchen wir uns um ihn eigentlich nicht weiter zu kümmern. Genannt wurden als Verfehlungen Kants ein gewisser kollonialistischer Ungeist, eine Abwertung de Judentums, eine Respektlosigkeit gegenüber außereuropäischen Völkern, das absolute Verbot – auch im Notfall – zu lügen…

5.
Aber die besten kritischen Kenner der Philosophie Kants (wie Marcus Willaschek) betonen: In dieser Hinsicht bleibt Kant unterhalb seines eigenen, von ihm sonst überzeugend dargestellten ethischen und intellektuellen Niveaus. Das heißt: Es gibt „trotz dieser begrenzten Verirrungen“ bleibende wahre Erkenntnisse Kants. Zum Beispiel: Kants „Kategorischer Imperativ“.

5.
Über die Formulierungen des Kategorischen Imperativs wurde auch auf dieser Website mehrfach gesprochen.
Der Kategorische Imperativ im Sinne Kants ist ein bleibender Maßstab in der praktischen Lebensgestaltung: Darf ich diese meine freie Tat begehen, ist sie gut oder ist sie schlecht? Zur Antwort muss ich meine Entscheidung mit der Frage konfrontieren: Kann meine Entscheidung ein universelles Gesetz für alle anderen Menschen werden?
Nur ein Beispiel: Ich will unbedingt mit einem Diktator und Kriegstreiber befreundet bleiben: Kann diese meine Entscheidung allgemeines Gesetz für alle werden? Können also alle Menschen mit Diktatoren und Kriegstreibern befreundet sein, selbst wenn sie ihren Diktator-Freund auf seine abzulehnende Haltung deutlich hingewiesen haben? Die Antwort ist eindeutig: Wenn alle Menschen mit verbissenen Kriegstreibern und Diktatoren befreundet sind, dann ist die leitende Idee der Menschenrechte, der Demokratie und Friedensordnung definitiv zerstört. Das darf nicht sein, also darf auch meine genannte Freundschaft nicht sein.

6.
Für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin sind naturgemäß Fragen zu „Religion und Philosophie“ bzw. „Kirchen und Philosophien“ von besonderem Interesse. Darum sind für uns auch religionsphilosophische und kirchenkritische Erkenntnisse Kants von großer Bedeutung, das gilt für alle spirituell Interessierten.
Wir beziehen uns auf das zu Kants Zeiten viel beachtete Buch Kants „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (von1793). Die Zitate beziehen sich auf die Ausgabe des Felix Meiner Verlages, Hamburg, 2003.

7.
Für Kant ist evident: Auch die allgemeine Vernunft muss Religion und kirchliches Leben bestimmen. Was denn auch sonst? Etwa ein jeweils subjektiver Wunderglaube oder irgendwelche Einsichten von fundamentalistischen Scharlatanen oder dogmatische Behauptungen von Päpsten – etwa zum Frauenpriestertum?

8.
Dabei muss man beachten: Die Vernunft, die Religionen und Kirchen kritisiert, ist für Kant göttlichen Ursprungs. Der menschliche Geist ist für ihn Gabe der göttlichen Schöpfung. Es gibt also eine „in aller Menschen Herz eingeschriebene Religion“ (S. 213). Und diese kann der Mensch mit seiner eigenen Vernunft hervorbringen. Kant zeigt darüber hinaus, dass zentrale Weisungen und Grundsätze des Neuen Testaments, bezogen auf den „Lehrer“ (S. 213) Jesus Christus, allen Menschen „durch ihre eigene Vernunft faßlich und überzeugend vorgelegt“ werden können (S. 218).

9.
Um nur einige zentrale Erkenntnisse Kants in dem Zusammenhang – für weitere Studien und Lektüren – zu erwähnen:
Nicht die Erfüllung von religiösen, kirchlichen Vorschriften lehrt Jesus Christus, sondern die Pflege der „moralischen Herzensgesinnung“ (S. 214). Nicht gottesdienstliche Handlungen können den Menschen von den Verfehlungen an seinem Mitmenschen befreien, sondern nur die praktische Wiedergutmachung des Unrechts. Nicht das „süße Gefühl der Rache“ darf vorherrschen, sondern die Duldsamkeit…Dies sind die Weisungen des Lehrers Jesu von Nazareth. Es ist die Ethik und die Erfüllung der ethischen Pflichten, die den wahren Dienst an Gott, den Gottesdienst, bestimmen. Das ist das reliöse Zentrum im Denken und Leben Kants.

10.
Kant nennt sehr modern, man möchte sagen schon kapitalismuskritisch, den „Eigennutz, den Gott dieser Welt“ (S. 217), dem so viele Menschen dienen. Davon muss der Mensch sich befreien, um sein wahres Menschsein zu entdecken.

11.
Kant weiß als Philosoph, dass es eine göttliche Wirklichkeit gibt. Er betont aber: Gott kann nicht wissenschaftlich bewiesen werden, wenn man denn wissenschaftlich im Sinne der Naturwissenschaften versteht. Insofern gibt es für Kant auch keine „Gottes – Beweise“. Aber die göttliche Wirklichkeit muss gedacht werden als Idee, diese göttliche Idee ist denknotwendig, will man die Existenz des Menschen umfassend verstehen. Weil der Mensch Anteil hat am Ewigen, am göttlichen Geist, kann er auch hoffen, über den Tod hinaus auch auf nicht zu definierende Weise irgendwie „fortzubestehen“.

12.
Die wahre alleinige und universale Welt – Religion enthält „solche praktischen Prinzipien, deren unbedingter Notwendigkeit wir uns bewusst werden können“, diese Prinzipien sind „durch reine Vernunft, nicht empirisch, offenbart“ (S. 226). Es sind die Prinzipien, dass Liebe vernünftiger ist als Hass, Brüderlichkeit wichtiger als Beharren auf nationaler Identität.

13.
Es gibt Statuten, Verfügungen, Wahrheiten der Kirche: Diese sind aber übetrhaupt „nicht wesentlich zum Dienste Gottes“ (226). Wer hingegen diese Statuten, Dogmen, der Kirche zur „Bedingung des göttlichen Wohlgefallens macht“, folgt einem „Religionswahn“. Dessen “Befolgung ein Aberglaube ist, d.h. eine nur vermeintliche Verehrung Gottes“. (226-227).

14.
Es ist bloßer „Religionswahn und Aberglaube“ zu glauben, als Mensch für ein gottgefälliges Leben noch etwas anderes und mehr zu tun zu müssen, als den guten Lebenswandel zu praktizieren. (230). In der frommen Aufopferung, der Askese, „im Eremitenleben, Mönchsdasein“, bringe der Mensch gerade die einzig bei Gott zählende erforderliche moralische Gesinnung nicht auf. Es gibt also für Kant NUR „die Religion des guten Lebenswandels als das einzige religiöse Ziel der Menschen“ (236). Solange die Kirchen mit ihren eigenen Lehren noch bestehen, muss die Vernunftreligion allmählich diesen Kirchenglauben durchdringen und überwinden. (ebd.)

15.
Die universelle Vernunftreligion ist vergleichbar mit einer „unsichtbaren Kirche, die alle Wohldenkenden in sich befasst, sie ist die wahre allgemeine Kirche“ (238). Aber… angesichts der Macht der Kirchen und des Klerus ist diese alle Menschen umfassende Kirche noch eine Idee, eine Forderung.
Nebenbei: Der große katholische Theologe Karl Rahner hat diese Idee Kants von der unsichtbaren Kirche auf seine Art aufgegriffen, als er von den „anonymen Christen“ sprach, also von der theologischen Einsicht, dass eigentlich die universale göttliche Wirklichkeit im Sinne der Christen eben auch universal alle Menschen erreicht…

16.
Wenn in den Kirchen Gesetze, Gebote, Dogmen, veräußerlichte religiöse Praxis (Prozessionen…) vorherrschen, dann sind in dieser Kirche die, wie Kant sagt, die „Pfaffen“ an der Macht. In diesen Pfaffen – Kirchen gelten nicht die Prinzipen der Sittlichkeit (242). Nebenbei: Man denke aktuell an den massiven sexuellen Missbrauch durch Kleriker und Pastoren…Eine solche Pfaffen – Kirche ist für Kant, so wörtlich, „despotisch“ (243), weil nur der Klerus das Glaubensleben bestimmt und „befiehlt“ (243). Dieser Klerus bestimmt dann als Herrscher über die Laien, also auch über die Politiker, den Staate (ebd.).Das ist ein unvernünftiger Zustand! Das ewige Kirche – Staat – Problem klingt hier an.

17.
Religiöse Praxis in den Kirchen, die als gebotene fromme Übungen verstanden wird, deutet Kant als „Frondienst” (250).
Beten darf kein Wünschen Gott gegenüber sein, Beten soll verstanden werden als Wunsch, Gott in der ethischen Praxis wohlgefällig zu sein (S. 264). Auch die Teilnahme an Gottesdiensten, Messen, ist nur ein Wahn, wenn denn die Teilnahme an den Gottesdiensten als Mittel verstanden wird, dadurch Gnade bei Gott finden zu wollen (S. 269).

18.
Das Buch „Die Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft“ endet eher skeptisch, pessimistisch. „Es wird geklagt, dass Religion noch immer so wenig zur Besserung der Menschen beiträgt“ (273), dieser Klage schließt sich Kant an und nennt auch den entscheidenden den Grund: Religion und Kirche werden immer noch nicht als Institution zur Förderung des einzig entscheidenden moralisch guten Lebenswandels verstanden…

Kant als Lehrer der Weisheit: LINK

Hat Kant die Metaphysik vernichtet? LINK

Ein Hinweis auf das neue, wichtige Kant – Buch von Marcus Willaschek:  LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Omri Boehm (Philosoph und Kritiker der Politik Israels) erhält den Leipziger Buchpreis 2024

Von Christian Modehn am 8.3.2024

Am 21.3.2024 eingefügt: Die Rede von Omri Boehm in Leipzig mit dem Titel “Freundschaft in finsteren Zeiten”. LINK

Über das in Leipzig wichtige geehrte Buch von Omri Boehm: “Radikaler Universalismus”:  LINK

Die Laudatio auf Omri Boehm und sein Buch “Radikaler Universalismus” hielt in Leipzig die Soziologin Eva Illouz (Frankreich/Israel). LINK

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Unser Hinweis vom 8.3.2024:

1.
Man darf am 20. März 2024 gespannt sein, wenn in Leipzig der israelisch – deutsche Philosoph OMRI BOEHM den Leipziger Buchpreis erhalten wird. Die Laudatio wird die Soziologin Eva Illouz halten. Omri Boehm wurde 1970 in Haifa (Israel) geborren, er besitzt die israelische und die deutsche Staastbürgerschaft, er arbeitet vor allem in New York an der “New School for Social Research” als Philosophieprofessor.

Und wir können nur hoffen, dass den richtigen Aussagen Omri Boehms zur gegenwärtigen Politik in Israel (siehe unten) die Attacken erspart bleiben, die der jüdische Filmemacher Yuval Abraham nach seinen Aussagen, auch auf der “Bären Gala”der Berliner Filmfestspiele, erleben musste. Yval Abraham (Regie: “No Other land”) hatte die rechtsextrem beherrschte Politik Israels treffend als “Apartheids-Politik” bezeichnet. Und er hatte deswegen Morddrohungen erhalten, weil bestimmte “übereifrige Deutsche”  seinen Argumenten unterstellten,  sie seien antisemitisch… LINK zu Yval Abraham.

2.
Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung wird seit 1994 verliehen, LINK,  er gehört in Deutschland zu den bedeutendsten Literaturauszeichnungen. Veranstalter des Preises sind der Freistaat Sachsen, die Stadt Leipzig, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels und die Leipziger Messe.
Omri Boehm erhält den Preis zu Beginn der Leipziger Buchmesse am 20. März 2024 im Leipziger Gewandhaus.

3.
Omri Boehm zeigt u.a. in seinem wichtigen Buch „Radikaler Universalismus“ einen Ausweg aus den ständigen Kriegen Israel – Palästina: Es ist die Idee/Utopie eines gemeinsamen Staates von Juden und Arabern. Die viel besprochene Zweistaatenlösung lehnt Omri Boehm ab.

4.
Aktuell wichtig erscheint uns die Deutlichkeit, mit der Boehm in seinem Buch „Radikaler Universalismus“ (Propyläen – Verlag) den Staat Israel und seinen Zionismus, vor allem die jetzige Regierung Israels kritisiert. Schon 2020 verfasste er eine „Streitschrift“ „Israel. Eine Utopie“. Nach dem Terroranschlag der Hamas am 7.10.2023 wiederholte Boehm seine Grundüberzeugung: “Wir haben es mit einer unerträglichen Situation zu tun, wo das Unmögliche notwendig ist. (…) Wir müssen Vorschläge für eine politische Lösung in der Zukunft finden. Die einzige Alternative zum entgrenzten Krieg ist der Kompromiss einer Föderation.“
Omri Boehm spricht auf Seite 150 des Buches „Radikaler Universalismus“, von der „Apartheidsstruktur, die Israels jahrzehntelange Siedlungspolitik im Westjordanland bestimmt.“

5.
Das Wort Apartheidsstruktur öffentlich zur Qualifizierung von Israels Westjordan – Politik zu gebrauchen, ist hierzulande doch „ein bißchen“ mutig. Man denke an die Aufgeregtheit, die anläßlich der Berliner Film – Festspiele die Debatten bestimmten, als auch das Wort „Apartheidspolitik Israels“ fiel…

6.
Ebenso erstaunlich, dass Boehm den Staat Israel und die westlichen Demokratien dadurch gekennzeichnet sieht, „dass sie für immer auf der gewaltsamen Unterdrückung anderer gegründet“ sind.(S. 152). Noch deutlicher auf Seite 153: Israel könne beides sein, ein Staat der Holocaust – Überlebenden und ein kolonialistischer Apartheidsstaat. Israel kann dieses beides nicht nur sein, sondern, so fügt Boehm wörtlich hinzu: „Ist es auch“ (S. 153).

7.
Mit dieser Kritik will Omri Boehm überhaupt nicht einen Antisemitismus fördern. Und auch ein deutscher Journalist, der Böhms Aussagen und Urteile dokumentiert, ist kein Antisemit, sondern wie Boehm ein Kritiker der von rechtsextremem Denken bestimmten gegenwärtigen Politik Israels! Diese Politik ist ein heftiger und für Humanisten und Philosophen unerträglicher Widerspruch gegen die vernünftige Politik, die den „radikalen UNIVERSALISMUS“, „Jenseits von Identität“ lebt. Zum Buch „Radikaler Universalismus“ der Hinweis des “Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin” ,veröffentlicht am 30.9.2022: LINK.

8.
Omri Boehm will nur für Klarheit sorgen über die gegenwärtigen Zustände in Israel und Palästina; er denkt und argumentiert zugunsten eines besseren, eines gerechten Israel für Juden wie auch selbstverständlich für Araber.

9.
Unser herzlicher Glückwunsch zum Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung für Omri Boehm.

10.

Zur “weiten Herkunft” (und damit der universalen “Verbreitung” dieser Erkenntnis, also des universell gültigen Prinzips der selben Menschenwürde für alle Menschen. Nur ein Beispiel: Marc Aurel (121 – 180 n.Chr.) sagt in seinen “Selbstbetrachtungen”: „Ich habe klar erkannt, dass der Mensch, der gegen mich fehlt, in Wirklichkeit mir verwandt ist, nicht weil wir von demselben Blut oder derselben Abkunft wären, sondern wir haben gleichen Anteil an der Vernunft, der göttlichen Bestimmung.“ (Seite 22 in Reclam, „Marc Aurel, Selbstbetrachtungen 2001). Und auch: „Jedes vernünftige Wesen ist mit mir verwandt“, (ebd. S. 34, 3. Buch)
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Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Immanuel Kant provoziert. Ein Dialog: Omri Boehm und Daniel Kehlmann.

Ein Hinweis auf das Buch: „Der bestirnte Himmel über mir. Ein Gespräch über Kant“.

Von Christian Modehn am 26.2.2024.

1.
Omri Boehm, der Philosophieprofessor in New York und Daniel Kehlmann, der Bestseller – Autor (philosophisch gebildet), sprechen über Kant auf 300 Seiten. Und beide zeigen einander, natürlich auch den LeserInnen, wie sehr sie doch bestens mit Kants Denken vertraut sind und gemeinsam um viele Nuancen ringen im Verstehen seines Werkes auf hohem Niveau. Dabei dominieren (auch quantitativ) durchaus die Beiträge und Argumente Boehms.
Unter diesen anspruchsvollen Voraussetzungen entsteht ein Buch, das zwar „originell” ist, wie der Verlag schreibt, das aber nicht unbedingt „eine sehr zugängliche Annäherung an das Werk des großen Philosophen Kant“ bietet, wie der Verlag – werbend – betont.

2.
Kants Werk selbst ist – abgesehen für Fachphilosophen an den Universitäten – nun wirklich keine „leicht lesbare geistvolle Kost“. Aber das neue Buch mit dem Kant – Zitat als Titel „Der bestirnte Himmel über mir“ erleichtert doch etwas das Verstehen einiger (!) Aspekte der Philosophie Kants, vorausgesetzt: Man nimmt die Anstrengung des Mitdenkens auf sich und plant ausreichend Denk – Zeit beim Lesen ein! Dann gelangt man in weiteres eigenes kritisches Denken, Philosophieren genannt. Dies ist zweifelsfrei die Praxis der Philosophie.

3.
Warum aber Kant gerade jetzt? Nur weil wieder ein „runder Geburtstag“ ansteht? Nein, um diesen feuilletonistischen Rummel geht es wirklich nicht: Denn Kants Philosophie bietet grundlegende Einsichten in die Lebenspraxis der Menschen. Kants Philosophie zu bedenken, ist also kein beliebiges nettes kulturelles Hobby einiger Gebildeter. Sondern: Die alles humane Leben gründenden Strukturen des menschlichen Geistes werden durch Kant freigelegt und als gültig beschrieben. Diese im Geist der Menschen angelegten Strukturen können Orientierung bieten im Verstehen der eigenen ethischen Lebenspraxis, im Verstehen der Erkenntnis der Welt, des Ich, der Religion. Der große Philosoph Pierre Hadot nannte Kants Werk zurecht eine Lehre der Weisheit. Etwas besser weise werden, darum geht es doch, auch mit Kant. LINK.

4.
Das Buch trägt als Titel ein verkürztes Zitat Kants „Der bestirnte Himmel Himmel über mir“ (weiter sagt Kant: „Und das moralische Gesetz in mir erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht“). Das Buch der beiden Autoren geht auf Gespräche zurück, die am 30. und 31.Mai 2023 in Berlin stattfanden: Omri Boehm, der als Kant-Forscher natürlich wohl Deutsch versteht und spricht, redete aber erstaunlicherweise auf Englisch, so dass seine Beiträge ins Deutsche von Michael Adrian übersetzt werden mussten.
Das Buch hat 8 „Teile“, wie es heißt, also Kapitel, die aber ohne inhaltlich bezogene Titel auskommen. So herrscht dann auch der Eindruck vor, dass manche Themen aus früheren „Teilen“ später noch einmal aufgegriffen werden.
Bei dieser Argumentationsstruktur liegt es für eine Rezension nahe, nicht einen „Teil“ nach dem anderen vorzustellen. Vielmehr will ich – auch von eigenen philosophischen Interessen geleitet – einige zentrale Erkenntnisse der beiden Gesprächspartner vorstellen. Dass dabei nicht „alles“ inhaltlich „Wesentliche“ möglicherweise gesagt werden kann, ist klar. Es gibt aber einzelne Aussagen, sozusagen „Leitsätze“ der Gesprächspartner, die Erstaunen hervorrufen und Neugier wecken, wobei die LeserInnen eingeladen sind, sich in den jeweiligen Kontext dieser Sätze zu vertiefen.

5.
Daniel Kehlmann sagt zu Beginn Wesentliches über den Menschen Immanuel Kant: „Er war kein höflicher Wächter der Sittlichkeit, kein Produzent gewunden trockener Sätze, sondern ein Denker, vor dessen regelrecht anarchistischer Kompromisslosigkeit kein Stein auf dem anderen blieb.“ (Seite 12). Kehlmann bezieht sich dabei auf das Buch „Radikaler Universalismus“ von Omri Boehm, auch eine Kant -Interpretation, der Autor wird wegen des Buches während der Leipziger Buchmesse 2024 geehrt.  LINK
Interessant auch der weitere Hinweis: Kant sei ein „wacher, heiterer, lustiger Mensch“ gewesen. Das berichtet glaubhaft Kants Schüler Johann Gottfried Herder.
Omri Boehm legt von Anfang an allen Wert darauf, Kants kritisches Denken tatsächlich als eine „Revolution“ zu bewerten. Seine großen Werke verfasste Kant bekanntlich im Umfeld und während der Französischen Revolution, von der Kant förmlich hin – und hergerissen war. „Kant war mit seiner (philosophischen) Revolution in gewisser Weise fast völlig allein, in einer inneren Gedankenwelt“, betont Boehm (Seite 24). Und dies ist – kurz gefasst – jene Revolution, die Kant selbstverständlich „nur“ in seinem Denken leistete: Aber nur wenn das Denken sich wandelt, „revolutioniert“, können politische und ökonomische Wandlungen und Revolutionen geschehen…
Es gibt für Kant die Evidenzen: Der Mensch ist kein Tier. Der Mensch sollte sich vernünftigerweise einen Gott innerhalb des menschlichen Geistes suchen. Der Mensch darf auch nicht bei einem so genannten Übermenschen (Nietzsche) Zuflucht suchen. Sondern: Es geht Kant – geradezu grundlegend einfach – um den geistvoll handelnden und denkenden Menschen (vgl. S. 41).

6.
Religionsphilosophisch Interessierte werden schon auf den ersten Seiten des Buches zum „Erhabenen“ geführt. Boehm weist darauf hin, „dass die Erfahrung des kantischen Erhabenen uns für die Unendlichkeit öffne“ (S. 33). Und weiter: „Kant glaubte, dass wir jene wahre Unendlichkeit denken können“ (S. 37). Die wahre Unendlichkeit wird durch die Freiheit erfahren, die wiederum die Grundlage unserer Verpflichtung auf den Kategorischen Imperativ bildet.Das ist schon der „ganze Kant“.

7.
Vom Erhabenen bietet sich der Übergang zur schwierigen Frage nach Gott: Gegen alle tiefsitzenden Vorurteile sagt Omri Boehm: „Kant hat Gott selbstverständlich nicht hingerichtet, er hat vielmehr (nur) die Beweise für die Existenz Gottes sowie die Autorität Gottes komplett widerlegt.“ (S. 43).
Aber eine vernünftige Nähe und Verbindung zu Gott geschieht nicht durch autoritative Belehrung der Kirchen, sondern durch die Erkenntnis der inneren geistigen Verfassung jedes Menschen. Boehm sagt: „Wir glauben an Gott, weil wir in uns die absolute Forderung der Ethik vorfinden“ (S. 44). Und weiter: „Wir sind nicht an moralische Gesetze gebunden, weil Gott diese uns geboten hat, sondern wir glauben an Gott, weil uns das moralische Gesetz den Glauben gebietet“B (DS. 313). Das ist Kant: Das Erleben und Denken der inneren Wirklichkeit des Geistes führt zu Gott! Ein Gedanke, den der große katholische Theologe des 20. Jahrhunderts Karl Rahner in seiner transzendentalen Theologie realisierte. LINK.
Aber: Wenn man Gott dann als „Schöpfer“ auch dieser geistigen Strukturen im Menschen denkt, dann ist es doch letztlich (wieder) der schöpferische Gott, der da in uns wirkt…Dieser Gedanke wird leider in dem Buch von Boehm/Kehlmann nicht angesprochen…

8.
Die Ethik gebietet im Kategorischen Imperativ absolut, sie steht förmlich noch über dem, was die Menschen Gott nennen. Wenn man Gott – populär – mit der Qualität der Freiheit und des freien Handelns beschreibt, dann ist Gott als freies Wesen selbst auch noch den Gesetzen der Freiheit unterlegen. Dies sind Kants Überzeugungen, die er aufgrund seiner eigenen Definition von Erkenntnis eben nicht Erkenntnis und nicht Wissen nennen kann. Es sind für ihn Überzeugungen, immerhin.

9.
Die Gespräche Kehlmanns und Böhms über Kants Auseinandersetzungen mit Descartes, Hume und Spinoza finden wir philosophiehistorisch interessant, sie sind aber in unserer Sicht nicht notwendig, um die Aktualität Kants für heute zu entdecken. Da wäre das Thema „Kant der ewige Friede“ dringender gewesen…
Die Auseinandersetzung „Kant gegen Einstein“ ist für Physiker wahrscheinlich wichtig, in diesem Kapitel ,„Teil“, zeigen die beiden Gesprächspartner nur ihr glänzendes, förmlich ihr universales Wissen…
Im 4. „Teil“ wird noch einmal auf die Gottesfrage zurückgekommen (S.175 ff)…. Und im 5. „Teil“ wird über Kants Lehre von der Schönheit debattiert…

10.
Die Debatten im 8, dem abschließenden Teil sind aktuell wichtig. Das einleitende Wort Kehlmanns weckt im Blick auf die Kapitel zuvor ein gewisses Schmunzeln: „Lass uns etwas weniger abstrakt werden“ (S. 275).
Jetzt erklärt Boehm sozusagen die absolute Bedeutung des Kategorischen Imperativs, er verteidigt ihn entsprechend auch absolut. Auch hinsichtlich des Gehorsams der Bürger gegenüber den Gesetzen des Staates habe der „Kategorische Imperativ“ die höchste Autorität. „Wie schon gesagt, hat der Staat streng genommen überhaupt keine Autorität so wenig wie Gott…“(S. 312)…“Die Quelle der Verpflichtung den (staatlichen) Gesetzen zu folgen ist NIE die Autorität des Staates, die Quelle ist der Kategorische Imperativ, mithin meine eigene Autonomie“ (S. 312).

11.
Mit einer gewissen Bravour verteidigt Boehm Kants Überzeugung, dass absolut und in jedem Fall der Mensch verpflichtet ist, die Wahrheit zu sagen und auf gar keinen Fall zu lügen. Auch dann, wenn ich etwa einen Freund, einen zu unrecht Verfolgten, verstecke, aber die Polizei mich fragt: Haben Sie den versteckt? Boehm sagt selbst, dass er „auf dem Wert von Kants entsprechender Schrift „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“ beharrt (S. 297). Boehm will also auch in dem Zusammenhang keine „verwässerten, wohlwollenden Kant – Interpretationen anbieten“ (S. 298). Lügen ist auch für ihn absolut und immer unmoralisch. „Kant könnte in dieser Situation (der angedrohten polizeilichen Suche nach dem Versteckten) GEWALT akzeptieren, aber keine Lüge“, behauptet Boehm. Er betont, „dass es für ihn ein Drahtseil ist, wenn ich auf dem Wert von Kants Schrift – Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe lügen – BEHARRE.“ (S. 297). Zuvor hatte Boehm schon gesagt (S. 289): „Ich bin nicht entsetzt darüber, dass Kant sagt, man sollte dem Mörder an die Tür die Wahrheit sagen“…

Nebenbei: Sehr viel differenzierter und einleuchtender argumentiert der Kant-Spezialist Professor Marcus Willaschek in seinem Buch „Kant – Die Revolution des Denkens“ auf Seite 106 zum absoluten Lügen – Verbot. Willaschek meint: Der befragte Mensch, der jemanden versteckt, könnte ja diese richtige Maxime haben: „Ich will nicht lügen, es sei denn, die Lüge ist das einzige Mittel, um ein großes Unrecht zu verhindern…“ . Diese Maxime hat vor dem Kategorischen Imperativ auch hinsichtlich ihrer „Verallgemeinbarkeit“ Bestand. zu Marcus Willaschek: LINK

12.
Überraschend, dass Boehm ausführlich auf die Verbindung Kants mit dem Denken Platons hinweist: Er meint: „Die Idee der Menschheit ist eine platonische Idee.“ ( S. 58). „Es gibt bei Kant einen durchgängigen Platonismus.“ (Ebd.) „Eine Offenheit für die Menschheit in jedem Menschen ist platonisch (S. 59).

13.
Boehm und Kehlmann äußern durchaus Kritik an einigen wenigen Erkenntnissen Kants, so würde Kant etwa in seiner Schrift“ Was ist Aufklärung“ Denken und Wissen vermengen. Auch die jetzt in den Vordergrund dringende Erkenntnis: Kant habe durchaus rassistische Positionen und einen Antisemitismus vertreten, wird von den Autoren besprochen: „Warum soll Kant als Privatperson nicht auch großen Unsinn reden?“, fragt Daniel Kehlmann (S. 67).
Oder: „Die kantische Lehre vom radikal Bösen hat noch niemand wirklich verstanden.“ (S.74). Denn „sie ist ziemlich undurchsichtig.“ (S.74.)

14.
Es irritiert, dass oft einzelne Sätze – etwa von Boehm – nicht zu Ende geführt werden und durch ein paar … ins Ungefähre entlassen werden. Wurde da gekürzt? Oder wurde der Gedanke abgebrochen, etwa wenn Boehm vom Gehorsam gegenüber den Gesetzen des Staates spricht: „Wenn man zu dem Schluss kommt, dass Rechtsstaatlichkeit die Freiheit nicht mehr gewährleistet, ist man nicht mehr durch den Kategorischen Imperativ daran gebunden, dem Gesetz zu folgen, ja man kann sogar die Pflicht haben …und dann folgen die drei Punkte, die wohl sagen: Dann soll man ungehorsam sein. (Seite 305).
An anderer Stelle aber die Verdeutlichung. „ Wenn man das Gesetz in die eigenen Hände nimmt, um die Freiheit zu verteidigen, muss das nicht gleich mit Terrrorismus gleichgesetzt werden.“ (S. 307). Boehm geht soweit, diese seine – wohl auch auf die gegenwärtige Politik im Staat Israel bezogene Aussage – mit Kant selbst zu verbinden: „In einem anderen Sinne ist Kant, weißt du was, fast schon ein Anarchist“ (304).

15.
Es irritiert auch, dass Boehm manchmal – jedenfalls in der deutschen Übersetzung seiner im Englischen vorgetragenen Erläuterungen – etwas oberlehrerhaft mit Kehlmann spricht, durch das häufige „schau mal“ oder „Weißt du was?“

16.
Nur zwei der Fragen, die ich gern Omri Boehm gestellt hätte:
– Warum wird in dem Buch nicht über Kants „Friedensschrift“ gesprochen? Ist sie etwa nicht aktuell?
– Und philosophisch gefragt: Die Wahrnehmung der geistigen Strukturen, die das begreifende und erkennende Welt – Verhältnis der Menschen konstituieren, bezieht sich zweifellos auf geistige Strukturen, etwa auf ein Apriori: Diese aber werden dann benannt und begrifflich erfasst: Ist dieses Wahrnehmen des “Nicht sachlich -Objekthaften“ aber eine Erkenntnis, gar ein Wissen, das der (doch sehr engen) Erkenntnis – und Wissens – Definition von Kant standhält?

17.
Gibt es ein Fazit? In wenigen Worten ist dies schwer zu sagen. Nur das so viel:Es geht Kant in seinem „revolutionären Denken“ um nichts anderes als um die Verteidigung der Freiheit des Menschen. Sie ist das Wesentliche, sie bestimmt alle Lebenspraxis, die als Lebenspraxis ethisch sein kann. Der Mensch ist ein freies und vernünftiges Wesen, der Mensch hat Anteil an der geistvollen „allgemeinen, also allen gemeinsamen Menschheit“. Er hat im Kategorischen Imperativ einen formalen Maßstab, um sein Leben ethisch und religiös – vernünftig zu gestalten. Menschen als kluge Tiere zu definieren, entfällt also völlig für Kant. Auch der heutige üblich gewordene philosophische Naturalismus wird von Kant zurückgewiesen.
Insofern ist und bleibt Kant ein Lehrer der umfassend humanen Weisheit, auch wenn einige seiner Thesen und Erkenntnisse, wie gezeigt, heute korrigiert werden und nicht mehr gültig sind. (Rassismus, Antisemitismus…)

Omri Boehm und Daniel Kehlmann, „Der bestirnte Himmel über mir. Ein Gespräch über Kant“. Propyläen Verlag, Berlin, 2024, 352 Seiten, 26 €.

Viel beachtet wird unser Beitrag über Kants Vorschlag für eine vernünftige christliche Religion, LINK

Copyright: Christian Modehn, www.Religionshilosophischer-Salon.de

 

 

Kant – In chaotischen Zeiten vernünftiger werden…

Eine Sonderausgabe des „Philosophie Magazin“ zum 300.Geburtstag von Immanuel Kant

Ein Hinweis von Christian Modehn am 13.2.2024

Eines sollte unbedingt von vorn herein klar sein: Wer sich mit Kants philosophischen Einsichten jetzt befasst, widmet sich nicht einem irgendwie beliebigen Thema der Philosophie(geschichte). Wer sich mit Kants philosophischen Einsichten befasst, entdeckt auch noch heute gültige Grundstrukturen geistigen Lebens, entdeckt die Vernunft, den Geist, die Sinnlichkeit, die vernünftige Religion, die Suche nach einer universalen Friedensordnung. Und das alles nicht als akademisches Räsonieren. Sondern als Hilfe im Leben, gerade heute, in einer zunehmend verrückter werdenden Welt.

1.
„Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“: Diese dringende Empfehlung des Philosophen Immanuel Kant, geradewegs an alle Menschen adressiert, gilt natürlich auch, wenn es um Begegnungen mit Kants eigenem Denken geht: Man möchte also sagen: „Habe den Mut, Kant zu lesen und dabei und danach mit ihm zu denken, um die Welt und dich selbst besser und tiefer zu verstehen.“

2.
Denn eigenes Philosophieren ist die Praxis der Philosophie (so wie Malen die Praxis der Kunst ist) bedeutet also gerade nicht ein nettes Hobby einiger Unentwegter. Philosophieren als kritisches Reflektieren gehört sozusagen zum „Wesen“ der Menschen. Man kann als Mensch menschlich (auch glücklich) leben, ohne die Erkenntnisse der Mineralogie oder die Feinheiten der anorganische Chemie verstanden zu haben. Man kann aber nicht richtig menschlich leben, ohne einige zentrale Erkenntnisse des Philosophen Immanuel Kant als sein Eigen zu bezeichnen. Das ist eine steile These von mir, die sich aber dann bestätigt, wenn man zentrale Erkenntnisse in aller Ruhe bedenkt und dann versteht und als Lebensorientierung in der Praxis gestaltet.

3.
Es ist nach diesen wenigen Sätzen doch so: Das Philosophieren und das Denken mit Kant bedarf heute (leider!) förmlich einer eigenen Verteidigung.

4.
Wer also bisher um Kants Denken einen weiten Bogen gemacht hat, vielleicht, weil er/sie den Vorurteilen der schweren Verständlichkeit seiner Bücher folgte, hat nun die Chance, langsam und behutsam Überraschungen des Denkens mit Kant zu erleben: Dazu bietet die Sonderausgabe des „Philosophie Magazin“ eine sehr gute Möglichkeit. Auf 114 Seiten hat die verantwortliche Redakteurin Theres Schouwink unterschiedliche Beiträge zusammengestellt: Zitate von „Prominenten“ zur Bedeutung Kants als Einstieg, biografische Hinweise, die deutlich machen, wie sehr Kant doch an intensiven Freundschaften mit Männern interessiert war, bei Bekanntschaften mit Frauen „wartete Kant zu lange, um ihnen einen Heiratsantrag zu machen“ (S. 17). „Was ist guter Sex, Herr Kant“ fragt die Philosophin Manon Garcia (S. 75 f.). Im Mittelpunkt steht Kants Überzeugung: Jeder Mensch ist Selbstzweck, kein Mensch darf von anderen als bloßes Mittel – auch in den sexuellen Begegnungen – gebraucht bzw. missbraucht werden.
Wichtiger sind im Heft die Hinweise auf die „Quellen der Inspiration“, also auf Philosophen, die Kants Denken erst so richtig in Schwung brachten. „War er Genie, ein Spinner, vielleicht sogar ein Rassist?“ heißt eine provozierende Frage, die im Interview mit der Literaturwissenschaftlerin Gayatri C. Spivac eine Antwort findet.

5.
Wichtiger sind die Interviews mit PhilosophInnen und Philosophen zu zentralen Erkenntnisse Kants: Grundlegend das Gespräch mit Omri Boehm, er erhält am 20.März 2024 auf der Leipziger Buchmesse den „Buchpreis zur europäischen Verständigung“ (wegen seines Buches „Radikaler Universalismus. Jenseits der Identität“).
Im Gespräch mit Theresa Schouwink wird klar: Kant fordert uns auf, die Gesetze der Staaten, auch der sich demokratisch nennenden, kritisch zu prüfen: Massstab dabei ist: Fördern die Gesetze und garantieren sie die Menschenwürde aller (!) Menschen – oder nur einer Elite bzw. einer ökonomisch bzw. religiös machtbesessenen Gruppe. Ist das nicht der Fall, ist Ungehorsam des Bürgers geboten… Omri Boehm, israelisch – deutscher Philosoph, sieht in der Freiheit der Menschen den absoluten Mittelpunkt, den es zu verteidigen gilt. „Freiheit definiert sich nicht in erster Linie über die Fähigkeit zu wissen, sondern über die Fähigkeit, moralischen Vorstellungen zu folgen“ (S.21). Und diese moralischen Vorstellungen sollen niemals im Dienst einer Gruppe, also einer bestimmten „Identität“, stehen, sondern die Menschenwürde aller, auch der bisher Rechtlosen, aufbauen und pflegen. In dem Zusammenhang ist die Kritik Boehms an der Regierung des Staates Israel gegenüber den Palästinensern im Westjordanland sehr inspirierend…(S. 20 f.): „Auch die israelische Selbstverteidigung muss jetzt unter Einhaltung des Völkerrechts (von Boehm kursiv gesetzt) erfolgen“, vernünftige Forderungen, ohne Wirkungen allerdings, bei dieser Regierung Netanjahus!

6.
Das Kant Heft des Philosophie-Magazins erläutert vor allem die drei großen Hauptschriften Kants, in denen es um die Grundlegung von vernünftiger Erkenntnis und Denken geht sowie um die Fragen der Moral: Diese stehen für Kant im Mittelpunkt seines Denkens: Kant will die Lebenspraxis der Menschen erklären und durch die Freiheit, die jeden Menschen als Menschen auszeichnet, in vernünftige Bahnen führen. Dazu gehört auch Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ von 1795. Der Philosoph und Musikwissenschaftler Friedrich Weißbach bietet auf drei Seiten einen Essay, der sehr gut und nachvollziehbar die bis heute aktuellen Vorschläge Kants für einen „ewigen Frieden“ darstellt! Dabei fehlt es nicht an kritischen Hinweisen zum Kant – Text, etwa zu den „Lobpreisungen“ Kants für die „friedensstiftenden Formen des Handels“ (S. 66). Wichtig vor allem Kants Forderungen zur „Hospitalität“, zur gastfreundlichen Aufnahmebereitschaft von Fremden: „Kants Konzept einer Hospitalität kann als Vorläufer des modernen Asylrechts gelesen werden“, schreibt Friedrich Weißbach (S. 67 über diesen Kant Text, den er als „Meilenstein in der Philosophiegeschichte“ bezeichnet (ebd.). Mit den politisch – ökonomischen Bedeutungen von Kants Erkenntnissen befasst sich das Interview mit der in London lehrenden, aus Albanien stammenden Philosophin und Autorin Lea Ypi. LINK.

7.
Über den „Begriff des Bösen“, zentral im Denken Kants, informiert ein Interview mit der Philosophin Susan Neiman (Potsdam). „Das Ringen damit, wie man eine Welt ertragen kann, in der Tugend und Glück auseinanderfallen (also das glücklose Leben des tugendhaften Menschen, C.M.), war ein zentrales Thema für Kant.“ (S. 62). „Ohne einen Versuch, das Böse zu verstehen, werden wir es nie beseitigen oder bekämpfen können“ (S. 63).

8.
Zum Schluß: Unter den 10 größeren Beiträgen über Kant noch eine Empfehlung: Das Interview mit dem Tübinger Philosophen Otfried Höffe scheint mir besonders geeignet zu sein, gerade den „Kant-Angfängern“ Wesentliches im Denken Kants gut nachvollziehbar zu erschließen.

9.
Für uns im „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“ ist es natürlich von besonderem Interesse, dass Otfried Höffe wie andere Interview-Partner auch am Rande auf das Religionsverständnis Kants hinweist. Das sollte man ab sofort sich einprägen: Kant war kein Zerstörer „der“ christlichen Religion, auch wenn er es ausschloss, dass im Rahmen einer Metaphysik die Menschen zur wissenschaftlichen Erkenntnis Gottes („Gottes – Beweise“) kommen können. „Aber Religion hat die Moral der Menschen zu fördern“ (S. 101), meint Kant, und: „Gott wird als Schöpfer der Welt gedacht“ (ebd.). LINK zu einem Hinweis von Christian Modehn zu Kants”Religionsschrift”.

10.
Leider wird Kants wichtige Publikation „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (von 1795) im Kant -Heft des Philosophie -Magazins nur so zwischendurch, eher am Rande, gewürdigt, etwa durch die Literaturwissenschaftlerin Gayatri C. Spivak: „Die Art und Weise wie Kant mit dem Christentum umgeht und Christus als Lehrer beschreibt, ist wunderbar zu lesen…“ (S. 87). Man fragt sich als religionsphilosophisch Interessierter: Ist das „an den Randstellen“ des religionsphilosophischen Themas vielleicht Ausdruck eines Vorurteils, vielleicht einer Laune oder einer ideologischen Fixierung?
Dabei weiß jeder und jede, dass ohne ausführliche kritische Auseinandersetzungen mit den Religionen und auch mit der Frage nach dem Göttlichen etc. die heutigen Probleme der Welt und der Menschen kaum angemessen in den Blick genommen werden können.

Kant. Eine Sonderausgabe des “Philosophie Magazin”. 114 Seiten, 11,90 €.  www.philomag.de

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

 

Menschen schaffen das Göttliche, die Götter, Gott.

Ludwig Feuerbach: Die große philosophische Wende.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 31.1.2024.

Ein Vorwort:

Die meisten Christen und ihre Theologinnen behaupten in irgendeiner Weise immer noch: Das Christentum und die Kirchen, auch in ihrer klerikalen Verfassung, sind das Werk Gottes selbst: ER als Gott hat dieses Christentum geschaffen. Der Anteil der Menschen bei diesem „Schaffen“ wird dann meist heruntergespielt etwa im Sinne „der Mensch als Werkzeug in Gottes Hand“.
Hier wird eine zentrale Erkenntnis des Philosophen Ludwig Feuerbach aufgegriffen und weiter entwickelt. Das heißt: Es sind wirklich die Menschen, die Gott schaffen. Aber welche Qualität haben die Menschen in diesem schöpferischen Prozess?
Dieser Beitrag ist ein am 31.1.2024 überarbeiteter Text von Christian Modehn, der Text wurde schon am 30.8. 2020 im www.religionsphilosophischer-salon.de publiziert. Bis zum 31.1.2024 hatte dieser Beitrag von 2020:  1035 Seitenaufrufe und 359 Postviews.

1.
Gleich nach Hegels Tod (1831) ereignet sich eine Art Bruch in der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie, also auch hinsichtlich der Vorstellung von Gott eine Umkehrung dessen, was für Hegel zentral und wichtig war: Nicht mehr Gott wird als die schöpferische Kraft von allem, auch vom Geist des Menschen, erkannt und anerkannt, sondern Gott wird zum Geschöpf des Menschen erklärt. Der bekannteste Philosoph, der diese „Umstülpung“ dieses philosophischen Grundsatzes leicht zugänglich ausbreitete und verbreitete, ist Ludwig Feuerbach: Am 28. Juli 1804 in Landshut geboren, studierte er zunächst Theologie, wechselte dann aber zur Philosophie, hörte 1824/25 in Berlin bei Hegel auch dessen Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie; Feuerbach wurde Privatdozent in Erlangen. Diese Stellung wurde ihm nach seiner provozierenden Schrift von 1830 „Gedanken über Tod und Unsterblichkeit“ wieder genommen, so dass er bis zu seinem Tod am 13.9.1872 (in Rechenberg bei Nürnberg) als freischaffender philosophischer Publizist und Religionskritiker – zum Teil sehr bescheiden – lebte, von 1868 an als Mitglied der SPD von seiner Partei unterstützt wurde.

2.
Ludwig Feuerbach, theologisch sehr gut gebildet, beruft sich für seine philosophischen Thesen auf die christliche Lehre von der Menschwerdung Gottes: Diese „Inkarnation“ Gottes in dem Menschen Jesus von Nazareth wird in der klassischen Theologie bis heute als „Beweis der Liebe Gottes zum Menschen“ gedeutet. Für Feuerbach ist dieser Mensch werdende Gott der Liebe aber keine selbständige Wirklichkeit mehr. Vielmehr liebt der Mensch, wenn er auf dieses Bild der Menschwerdung des liebenden Gottes schaut, nur die Liebe, „und zwar die Liebe zum Menschen“. Der Inhalt der christlichen Religion ist also die Liebe unter den Menschen. Daraus macht Feuerbach ein politisch-religiöses Programm: “ Sein Prinzip ist: Der Glaube an den Menschen als die letzte und höchste Bestimmung des Menschen und ein diesem Glauben gemäßes Leben…“ „Wer also den Menschen um des Menschen willen liebt, der ist Christ, der ist Christus selbst“. Ein Wort Feuerbachs, das heute jeder reflektierte Theologe unterschreiben kann.
Feuerbach, der religiöse Religionskritiker, will dem Leben selbst eine religiöse Bedeutung geben…und nur dem Leben. Problematisch erscheint sein ethisches Prinzip „Der Mensch ist dem Menschen ein Gott“, „homo homini Deus“. „Dies ist der Wendepunkt der Weltgeschichte“ (“Das Wesen des Christentums“, Reclam Verlag, Stuttgart, 1971, S.401)

3.
Mit seinem ersten großen Buch „Das Wesen des Christentums“ von 1841 erreichte er weiteste Kreise. Seine Thesen wurden förmlich intellektuelles Allgemeingut und sie wurden wie Slogans verbreitet: „Das Geheimnis der Theologie ist die Anthropologie“, anstelle von „Gott ist die Liebe“ muss es heißen „Die Liebe ist göttlich“. Vor allem geradezu populär die These: „Religiöse Vorstellungen sind nichts anderes als Projektionen des Menschen“. „Nicht Gott schafft den Menschen, sondern der Mensch schafft sich seinen Gott“. Karl Marx hat diese zentrale Thesen Feuerbachs gekannt und auf seine Art ins Soziale und Ökonomische erweitert. Ebenso Max Stirner, Friedrich Engels und viele andere wurden durch Feuerbach zur Ablehnung einer eigenständigen göttlichen Wirklichkeit geführt. Sigmund Freud schreibt in „Zur Psychologie des Alltagslebens“ im Sinne Feuerbachs: „Ich glaube in der Tat, dass ein großes Stück der mythologischen Weltauffassung, die weit bis in die modernsten Religionen hineinreicht, nichts anderes ist, als in die Außenwelt projizierte Psychologie“.
Der Mensch muss auf dem langen geschichtlichen Weg zur Selbsterkenntnis sein eigenes Wesen außer sich selbst setzen, indem er Göttliches produziert. „Der Mensch – dies ist das Geheimnis der Religion – vergegenständlicht sein Wesen und macht dann wieder sich selbst zum Objekt dieses vergegenständlichten Wesens“.

4.
Für ein philosophisches Gespräch mit Ludwig Feuerbach scheint mir die grundsätzliche Frage wichtig zu sein: Woher hat der Mensch die Kraft und die Begabung, aus seinem menschlichen Geist sich Gott/Göttliches/Absolutes zu schaffen und zu projizieren? Mit anderen Worten: Der Mensch als endlicher und begrenzter Geist ist aufgrund seiner geistigen Struktur in der Lage, über sich selbst hinaus zu gehen, über sich hinaus zu denken, seine Grenzen zu überschreiten, um einen Gott etc. zu setzen, d.h. zu „projizieren“. Man könnte dann mit Hegel die Frage stellen: Ist diese Kraft, ist diese Begabung des Schöpferischen IM Menschen nicht eine Gabe eines unendlichen Schöpfers oder eines schöpferischen Prinzips. Aber Hegel formuliert da nur eine Grundüberzeugung einiger christlicher Theologen, die nicht fundamentalistisch denken.

5.
Zurück zu Feuerbach: Insofern führt die Anthropologie dann wieder zu einer philosophischen Theologie als der Voraussetzung dieser Leistungen der Anthropologie. So dass man sagen kann: Der schöpferische Gott schafft den schöpferischen Menschen, der mit seinem von Gott als dem Schöpfer gegebenen Geist eben auch Gott schafft: Aber dieses „Gottschaffen” ist letztlich als Tat (und „Wunsch“) des schöpferischen Gottes gemeint. Gott will sozusagen, dass die Menschen für sich ihren Gott schaffen…Die Offenbarung Gottes, sein Sprechen zu den Menschen, ist dann nicht unmittelbar Tat Gottes sozusagen vom Himmel herab, ist nicht Sprechen Gottes als Gott, sondern Tat des Menschen. Die Bibel also ist Menschenwort, „Werk des Menschen“, aber: Ein Werk der von Gott geschaffenen Menschen…So ist Religion, so ist der Begriff Gott, also Tat des Menschen UND Gottes zugleich! Um es mit Hegel zu sagen: Der Geist des Menschen ist auch ein und derselbe Geist Gottes.

6.
Man hat den Eindruck: Die Theologen (und Religionsphilosophen) sollten viel intensiver Feuerbach studieren und debattieren. Der Mensch als ein Wesen, das Religionen und sogar Gott, Göttliches, schafft, wäre ein zentrales Thema. Diese Leistung kann der Mensch nur vollbringen, weil der Mensch als Geschöpf einer unendlichen „göttlichen Kreativität“ selbst Anteil an dieser „göttlichen Kreativität“ hat, das ist die Konsequenz der These einer „göttlichen Kreativität“, einst „Schöpfer der Evolution“ genannt. Sind dann z.B. alle Religionen der Religionsgeschichte Ausdruck des göttlichen Geistes? Auch alle „Götzen“, die sich Menschen schaffen, gehören dann zum Thema. Gibt es im Laufe dieser Entwicklung der Religionsgeschichte aber Kriterien zur Bewertung der „Qualität“ dieser Religionen? Diese Kriterien können natürlich nicht aus der Welt der Religionen selbst stammen. Diese Kriterien können nur aus der allgemeinen Vernunft der Menschen selbst kommen, etwa formuliert in den universell geltenden Menschenrechten. Dann heißt die Frage: Fördert eine bestimmte Religion die Menschenrechte – oder nicht. Ein Maßstab, ein Kriterium, das heute bei der Zunahme und Macht fundamentalistischer Religionen und Konfessionen von besonderer Bedeutung ist.

7.
Es sollte weiter gefragt werden, welche Bedeutung in diesem Zusammenhang dann die Erkenntnis Karl Rahners hat, wenn er, zentral in seinem Denken, von der „transzendentalen Offenbarung“ spricht. Denn Rahner geht auch davon aus, dass im Geist der Menschen Gottes Geist selbst wirksam ist, und zwar auch hinsichtlich der schöpferischen religiösen Kraft des Menschen.
Karl Rahner schreibt: “Die transzendentale Frage in der Theologie bedeutet: Welche Bedingungen müssen im Geist des Menschen gegeben sein, damit das Wort der Bibel überhaupt verstanden wird?” Rahner geht noch weiter: „Der Mensch kann die Bibel nur deswegen verstehen, weil Gott, als göttliche Gnade, bereits im Menschen anwesend ist, als innere, als subjektiv erlebte, als „transzendentale Offenbarung“ . Rahner will zeigen, dass „der Glaube an Jesus Christus nicht als eine bloß von außen kommende, auch noch so erhabene Zutat zur unabwälzbaren Existenz des Menschen erscheint. Sondern wir wollen den Glauben an Jesus Christus in der innersten Mitte der Existenz auffinden, wo er schon wohnt, bevor wir, hörend auf die Botschaft der Kirche, diesen Glauben satzhaft reflektieren“ (1).
Und an anderer Stelle schreibt Rahner: „Ich bin der Überzeugung, dass das Christentum eben nicht nur eine von außen her kommende Lehre ist, die dem Menschen eingetrichtert wird. Sondern, dass es wirklich ein Christentum von Innen heraus, von der innersten persönlichen, menschlichen Erfahrung her, gibt und geben muss. Das Christentum ist nicht eine Lehre, die von aussen einem erzählt, dass es so etwas gibt wie Gnade, Erlösung, Freiheit, Gott, so wie einem Europäer mitgeteilt wird, dass es Australien gibt. Sondern das Christentum ist wirklich die Auslegung dessen, was in der innersten Mitte des Menschen (an einer vielleicht verdrängten, vielleicht nicht reflektierten Erfahrung doch) schon gegeben ist“. (1), Karl Rahner, „Ich glaube an Jesus Christus“, Benziger Verlag, 1968, S. 29.
LINK

8.

Es bleiben zu Feuerbachs „Wesen des Christentums“ viele Fragen, z.B.: Wenn Feuerbach sagt: „Der Mensch ist dem Mensch Gott“ und man diese These nicht nur als Bonmot auffasst: Wie soll denn der Mensch den anderen, die anderen Menschen, als Gott „verehren“? Doch wohl nicht in einem nun wieder kultisch-religiös zelebrierten „Gottesdienst“.
Die von Feuerbach vorgebrachte These „Der Mensch ist dem Menschen Gott“ hat nur Sinn, wenn man die Realität der Menschenrechte einbeziehst und sagt: Die universell geltenden Menschenrechte verdienen höchsten Respekt unter allen Menschen. Und das ist keine theoretische Leistung, sondern eine immer praktische politische Tat zugunsten der vielen Menschen heute, die noch keinen realen Anteil an den Menschenrechten haben.

Siehe auch: Einen etwas ausführlicheren Hinweis von Christian Modehn zur Philosophie Ludwig Feuerbachs: LINK.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Mit Kant denken: Das neue Buch von Marcus Willaschek

„Die Revolution des Denkens“. Der treffende Untertitel des großartigen Buches
Ein Hinweis von Christian Modehn am 12.1.2024

1.
Wer das Buch „Kant – Die Revolution des Denkens“ von Marcus Willaschek gelesen, also dem Text folgend mit-gedacht hat, versteht sicher das Wichtigste, was der Philosoph Immanuel Kant in seinem umfangreichen Werk an Erkenntnissen vermittelt. Und dann kann man sich auch getrost heranwagen an die Lektüre von Kants Werken.
2.
Die Lust nachzudenken und vorauszudenken sowie die eigene Gegenwart im Mit- Denken mit Kant zu erleben: Das ist ja kein Hobby von einigen Philosophen und Historikern. Es geht in den Philosophien um vernünftige Vorschläge zur Lebensgestaltung. Diese Bindung des philosophischen Denkens an die Praxis des Lebens, unterstreicht Willaschek deutlich. In der Praxis des Lebens entsteht Philosophie, auch für Kant!
Es geht in dem Buch „Kant.Die Revolution des Denkens“ nicht um die Verehrung einer großen vergangenen Gestalt der Geschichte der Philosophie, sondern um ein eigenständiges Philosophieren heute, nur in der Übung entsteht dann Philosophie. „Philosophie lässt sich nur durch selbsteigenen Gebrauch der Vernunft lernen“, betont Kant (S 381).
3.
Marcus Willascheks Kant – Buch (C.H.Beck Verlag) ist eine Inspiration, vernünftig zu leben in dieser verrückten Welt heute.
Das Buch ist hoffentlich auch eine Einladung, bis zu Kants 300. Geburtstag am 22. April 2024 jeden Tag den nicht sehr umfangreichen Text des Buches zu lesen, zu meditieren, mit anderen zu debattieren, in Frage zu stellen … um dabei entdecken: Das Buch umfasst 30 in sich geschlossene Essays. Sie sind alle leicht zugänglich auch für philosophisch „nicht so Geübte“. Und je nach Interesse kann man beliebig bei einem der 30 Essays „einsteigen“.
4.
Wie oft hat Kant recht bei entscheidenden Themen der Lebensorientierung, auch heute:
Etwa: Hinsichtlich der Begründung menschlicher Erkenntnis von „Objekten“: Da bringt der Mensch, jeder Mensch, in seinem Geist die entscheidenden Kategorien von Raum und Zeit „immer schon“ schon mit. Nur durch diese „Subjektivität“ wird Objektivität und Wahrheit möglich.
Oder: Kants Verteidigung des Weltbürgers anstelle des kleinkarierten, ängstlich – fanatischen Nationalisten: „So ist es Kant zufolge notwendig und sinnvoll, sich aktiv um Gerechtigkeit und Frieden in der Welt zu bemühen, egal wie unwahrscheinlich es ist, dass wir damit in absehbarer Zeit Erfolg haben“ (S. 25).
Angesichts des furchtbaren religiösen Fundamentalismus in allen Religionen ist Kants Verteidigung einer Vernunft – Religion und einer „unsichtbaren Kirche“ der vernünftigen, d.h. der nicht – dogmatisch gebundenen Frommen von höchster Aktualität.
Oder: Kants Erkenntnis, dass der einzelne Mensch immer auch als Mitglied der allgemeinen, universellen Menschheit zu verstehen ist. Oder, dass in der Ethik immer auch universale Kriterien von gut und böse gelten. Kant formuliert diese Erkenntnis in den Gestalten des „Kategorischen Imperativs“. Aber Willaschek betont: „Kant ist kein moralisches Orakel, das auf jede moralische Frage die richtige Antwort weiß, sondern Kant ist ein fehlbarer Mensch, wenn auch ein besonders kluger, klarsichtiger und reflektierter Mensch“ (S. 109).
5.
Marcus Willaschek ist ein international anerkannter Kant-Spezialist, er arbeitet als Professor für Philosophie der Neuzeit an der Goethe Universität in Frankfurt am Main. Sein neues Buch ist keine Biographie Kants, auch wenn im Text immer wieder überraschende biographische Hinweise geboten werden, zu seinem Freundeskreis, zu seinen Wohnverhältnissen, auch zu seinem Reichtum aufgrund von Sparsamkeit.
Der Autor bietet natürlich keine Verklärung Kants. Kritische Fragen und Relativierungen und Zurückweisungen einiger Kant – Positionen sind für ihn selbstverständlich, etwa zu seiner Geringschätzung afrikanischer Menschen, zu seiner Geringschätzung von Frauen im allgemeinen. Willaschek meint zu diesen Fehlern Kants: „Sie sind mit dem kosmopolitischen Geist und dem humanen Universalismus der kantischen Philosophie nicht zu vereinbaren“ (S. 379).
6.
Die Grundeinsicht zu Kants Werk bleibt trotzdem gültig: Kant hat eine „Revolution des Denkens“, wie es im Untertitel heißt, eingeleitet.. Wo denn, wenn nicht im Denken sollen denn auch Revolutionen überhaupt beginnen?
Dabei ist die Hochschätzung des Begriffs Revolution durch Kant eigentlich erstaunlich. Er hat zwar immer die Französische Revolution einerseits hoch geschätzt, andererseits die Terrorherrschaft 1792 verurteilt.
7.
Aber von einer Revolutionen wollte Kant nicht viel wissen, öffentlich dafür einzutreten, wäre bei der politischen Herrschaft Friedrich Wilhelm II. höchst gefährlich gewesen. So blieb Kant ein Mann der Mitte, er plädierte für Reformen. Kant war diese Reformer-Haltung etwas Realistisches, er wusste, dass der Mensch aus „krummem Holz“ gefertigt ist, also auch eine Schlagseite zum Bösen hat. Dennoch ließ er sich nicht zur Resignation odergar zum Zynismus hinreißen: Zweifelsfrei stand für ihn fest: Die Menschen müssen sich für eine universelle Rechtsordnung in einem Rechtsstaat entscheiden, sonst geben sie ihr Menschsein selbst auf.
Auch die Bedingungen für einen „ewigen Frieden“ hat Kant gedacht, der ewige Friede als politische Realität muss ein Ziel der Menschheit bleiben, ein Ziel, utopisch jetzt noch, das niemals aufgegeben werden darf, selbst wenn die politischen Umstände im Augenblick noch dagegen sprechen. Internationale Friedensgremien, wie die UN, sind durchaus von Kants Friedens-Philosophie inspiriert. Kant, der manchmal an einer guten , erfolgreichen Wirkungsgeschichte seines Denkens und seiner Publikationen zweifelte, wirkt heute, inspiriert heute, stellt heute richtige Fragen!
8.
Nur zwei Vorschläge hat der Rezensent: Bitte noch vor Kants 300. Geburtstag dieses Buch preisgünstig als Taschenbuch veröffentlichen, Kant würde sich über dieses Geburtstagsgeschenk freuen. Und viele nicht so wohlhabende LeserInnen mit ihm. Und: Bitte ein Stichwort – Register auch zu SACH – Themen anbieten.
Und …. Ein Hinweis auf einen Druckfehler: Hegels Vorname ist korrekt Georg Wilhelm Friedrich… (Vgl. S. 385).

9. Kant als Lehrer der Weisheit: Siehe einen Beitrag von Christian Modehn   LINK

Marcus Willaschek, „Kant. Die Revolution des Denkens“. C.H.Beck Verlag München, 2023, 430 Seiten, 28 €.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophioscher Salon Berlin, www.religionsphilosophischer-salon.de

Die geheimen Botschaften entlegener Bücher

Der „Detektivroman“ „Die Seele aller Zufälle“ von Fabio Stassi (Edition Converso)

Von Christian Modehn

1.
Ich muss gestehen: Von „Bibliotherapie“ und “Bibliotherapeuten” hatte ich bisher keine Vorstellung. Nun habe ich einen guten Eindruck erhalten von den Schwierigkeiten dieses therapeutischen Berufs: Der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller Fabio Stassi führt in seinem Roman „Die Seele aller Zufälle“ in die Welt der Bibliotherapie. Stassi arbeitet auch als Direktor der „Biblioteca di Studi Orientali“ an Universität Sapienza (Rom), er ist mit den verschlungenen Wegen literarischer Produktionen bestens vertraut.
Aber der Roman wäre als bloße Illustration dieses seltenen therapeutischen Berufs wohl eher langweilig. Stassi erzählt die Geschichte eines Bibliotherapeuten, der sich auch noch als Detektiv engagieren lässt und dabei in verwirrende, mysteriöse Zusammenhänge gerät.

2.
Vince Corso heißt der Bibliotherapeut mit seiner allzu bescheidenen „Praxis“ im Zentrum von Rom. Corso ist ein freigestellter Studienrat, ein hervorragender Kenner der großen Literaturen dieser Welt. Er verschreibt also – nach Beratungsgesprächen – Bücher zur Heilung der Seele. So hundertprozentig ist er allerdings nicht von der Wirkung seiner Therapie überzeugt… Aber was soll er machen, finanziell hat er große Sorgen. Da besucht ihn eines Tages eine wohlhabende Dame und bittet dringend um Hilfe. Sie will unbedingt ein Buch entdecken, das ihr inzwischen an Alzheimer leidender Bruder offenbar hoch schätzte: Aus diesem Buch will sie ihm, dem einst hoch gebildeten Dolmetscher und Botschafter, unbedingt vorlesen, um ihn zu trösten, wenn nicht zu heilen, das behauptet sie. Aber, und hier beginnt es spannend und mysteriös zu werden: Von dem Buch liegen nur einige Satzfragmente vor, vielleicht sind es nur Zitate aus anderen Texten. Und Vince Corso macht sich an die Arbeit, dieses eine unbekannte Buch zu finden. Eine Recherche im Labyrinth seltener Bücher.

3.
Es sind eher zufällige Begegnungen und Gespräche mit alten Freunden, die den Detektiv langsam auf die Spur des gesuchten Buches bringen. Der Zufall ist ohnehin der Horizont dieser Geschichte: Vince Corso sieht sich selbst eher als unbekanntes Zufalls -„Produkt“: Sein Vater, so meint er, ist gleich nach der Liebesnacht verschwunden, unerreichbar, unauffindbar., aber immer schreibt ihm der Sohn einen Brief in die Ferne…
Von mysteriösem Charme ist auch der Aufbau des Romans: Er beginnt in Corsos Stammcafé und endet … auch dort, mit einer unvorhergesehenen Begegnung. Sie bringt Licht in die Bedeutung des gesuchten Buches.
Es sind auch die durchaus berührenden Reflexionen über das Hineingeworfensein in das Leben, in die Reflexionen Corsos dazu, die das Buch auszeichnen. Genauso wichtig sind die Kapitel, die abseits des Detektivgeschehens, sozusagen als Intermezzi, von den Mühen der bibliotherapeutischen Beratung erzählen. Etwa die Hinweise Vince Corsos zu Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“.

4.
Der Roman hat zwei „Nachträge“, wie es heißt.
Der eine Nachtrag berichtet von einem Gespräch Corsos mit der Vermieterin seiner Wohnung bzw. Praxis. Dabei wird Erstaunliches erzählt: Der Bibliotherapeut entschließt sich, auf seine Praxis mit einem Schild aufmerksam zu machen: Der Titel: „Literarische Erste Hilfe“. Eine geniale Idee. Aber leider sind es der hilfreichen Bücher so viele, dass es immer schwer ist, in größter Not als erste Hilfe schnell den richtigen heilenden Text zu reichen. Vielleicht würden da Aphorismen schneller helfen. Oder Sprüche von Seneca und Epikur!

5.
Der zweite Nachtrag umfasst 10 Seiten, der Nachtrag bietet Lektüreempfehlungen für alle möglichen Formen seelischen Leides. Sehr gewagt das Therapeutikum „Künstliche Beatmung“, ein Roman des argentinischen Autors Ricardo Piglia, in Zeiten der Militärherrschaft verfasst und deswegen notgedrungen voller versteckter, aber vor der Zensur noch öffentlich sagbarer Weisheiten. Fabio Stassi empfiehlt dieses Buch aus brutalen Zeiten „gegen Sprachverlust und Geschwätzigkeit“ (S. 274). Die LeserInnen könnten also lernen: Selbst in Zeiten höchster Gefahr und schlimmer Diktatur ist noch verschlüsselt Kommunikation möglich. Man darf nur nicht geschwätzig werden.
Es sind diese zunächst paradox erscheinenden therapeutischen Buchvorschläge, die diese bibliotherapeutische Lektüre so erfolgreich machen können: So empfiehlt er sogar Erwachsenen ein Buch für Kleinkinder: „Das kleine Blau und das kleine Gelb“ von Leo Lionni … und zwar als Therapie gegen Rassismus. Originell darf man diesen Vorschlag wohl nennen, wenn man das Buch kennt.

6.
Könnte dieses Buch “Die Seele aller Zufälle” auch ein Bibliotherapeut empfehlen? Natürlich! Es ist hilfreich für Menschen, die sich nicht auf Neues, Unbekanntes einlassen wollen.

Es ist hilfreich für Menschen, die auch einmal ihren Ahnungen und Empfindungen nachgehen, wenn sie ein schweres Problem lösen müssen. Und die mit Zufällen rechnen. Und Zufälle dann als Geschenk erleben können.

Es ist hilfreich für Menschen, die anderen ungewöhnliche Fragen stellen wollen, in der Hoffnung ungewöhnliche Antworten zu erhalten.

Es ist hilfreich für Menschen, die voller Liebe und Respekt Kranken begegnen, zumal solchen, die ihr Gedächtnis verlieren.

Fabio Stassi, „Die Seele aller Zufälle“. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Edition Converso, Karlsruhe, 2024. 224 Seiten. 24 €.

PS.:

Mich hat der Titel “Literarische Erste Hilfe” (Nr.4) beeindruckt. Er erinnerte mich an ein Interview mit dem Philosophen Peter Sloterdijk in Berlin. Dabei machte Sloterdijk mir den Vorschlag, philosophische Arbeit heute durchaus als Hilfe im Sinne des “Roten Kreuzes” zu verstehen. Ich habe dieses Statement aus dem Interview auch für meine Ra­dio­sen­dung verwendet: In der Reihe “Lebenszeichen” des NDR mit dem Titel: “Was glauben Atheisten. Über die Frömmigkeit der Gottlosen.” Sendung am 3.2.2008.

Der O TON Sloterdijks: “Die eigentliche Arbeit der Philosophie in diesen verwickelten Debatten besteht eigentlich in einer Art Dienstleistung, die der des Roten Kreuzes vergleichbar ist. So wie auf den Schlachtfeldern von Solferino Henri Dunant zwischen den Verwundeten beider Lager hin und her geeilt ist, um zu retten, was zu retten ist. So muss, heute glaube ich, heute die Philosophie auf diesen neuen Schlachtfeldern einen Rettungsdienst anbieten, um diejenigen, die noch zur Vernunft zu bringen sind, die Schwerverletzten der Glaubenskämpfe, versuchen aus dem Gefecht herauszuholen und sie unter dem Zeltdach eines vernünftigen Lazaretts zu therapieren.”

Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.