Kann Lektüre heilen? Durch Bücher gesund werden?

Notizen zur Bibliotherapie und anderen Formen geistiger Therapien…

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Kürzlich diskutierten wir über das Buch von Fabio Stassi „Die Seele aller Zufälle“, erschienen in der Edition Converso; ein Buch, das sich mit Sinn und Unsinn der „Bibliotherapie“ unterhaltsam auseinandersetzt. LINK.
„Die Seele aller Zufälle“ steht übrigens auf der Hotlist 2024 der „Bücher aus unabhängigen Verlagen“.

Und es zeigen sich bei anderen Autoren immer wieder Hinweise auf Formen der “Bibiotherapie”, etwa bei dem bekannten tschechischen Autor Bohumil Hrabal (1914-1997), siehe Fußnote 1 unten.

2.
Diese Form der Buch – Lesen – Therapie gibt es wirklich, dies sei allen therapeutisch noch etwas Unkundigen gesagt. In Kanada, etwa in der Provinz Québec, ist die Bibliotherapie weit verbreitet und offenbar wirksam, auch therapeutisch akzeptiert, die Pariser Tageszeitung „La Croix“ berichtete am 12.3.2024 darüber. LINK.

3.
Grundsätzlich kann man zu der Überzeugung neigen: Eigentlich ist jede Lektüre von Romanen, Erzählungen, Poesie etc. immer auch Ausdruck einer Suche nach Therapie, elementar als Hilfe vermutet gegen Langeweile und Einsamkeit, dann aber auch explizit als Suche nach Orientierung und als Impuls zum Weiter – Denken und in die Weite denken. Diese allgemeine Erwartung „Lesen hilft mir auch therapeutisch“ ist meist umthematisch, unreflektiert.

4.
Was ist die Grundsituation einer Bibliotherapie? Der Therapeut ist ein guter Kenner vieler „großer (aber auch eher unbekannter) Werke“ der Literatur,. Er empfiehlt nach einem eingehenden Gespräch mit einem Patienten (Klienten?) ein bestimmtes, ihm bekanntes Buch zur privaten Lektüre. Die Leitlinie der Therapie heißt wohl: „Wenn Sie dieses Buch, diesen Roman, diese Novelle, dieses Drama, dieses Gedicht usw. lesen, gründlich und in Ruhe meditieren, kann sich ihre spezielle seelische Problematik, vielleicht ihr seelisches Leiden (Melancholie, Hemmung im Umgang mit anderen, Genusssucht usw.) nicht nur klären, sondern auch abmildern, vielleicht heilen … eben durch reflektiertes Nachdenken über den Text des Buches, über das Schicksal der Protagonisten, deren Hoffnung und Lebenssinn… Vielleicht wird dann der heilende Gedanke sozusagen irgendwann „geschenkt“, und vielleicht sieht man sieht klarer und hoffnungsvoller in die Welt und auf das eigene Leben.

5.
Jede Therapie lebt wohl von der Ungewissheit, ob Heilung des Patienten möglich ist. Aber es gibt wohl Unterschiede: In den Psychotherapien etwa begegnet der Patient immer wieder einem leibhaftigen Menschen, einem „Spezialisten“ für seelische Leiden, zu dem der Patient und mit dem er – manchmal sehr oft – sprechen kann.
In der Bibliotherapie ist der einzelne mit einem Text konfrontiert, der eben nur ein „Gesprächspartner“ im übertragenen Sinne sein kann. Der Patient wie jeder Leser bestimmt die Deutung, die Interpretation, in der Auseinandersetzung mit dem Text selbst. Es ist eines der Grundgesetze der Hermeneutik, der Verstehenslehre von Texten, dass immer der Lesende seine subjektiven Verstehensbedingungen, seinen geistigen Horizont, nicht nur „mitbringt“. Sondern oft wird der Text einseitig, allzu subjektiv, förmlich überwältigt und fehl interpretiert. Allzu subjektive Deutungen können und sollten im Laufe der Lektüre korrigiert werden, erst dann kann von einem Verstehen die Rede sein. Bibliotherapie ist aufgrund dieser Stellung: „der einzelne Leser und sein Buch“, also auch ein anspruchsvolles, aber oft auch ein scheiterndes Unternehmen.

6.
Die Bibliotherapie aber erinnert an die Vielfalt reflektierender, geistiger Therapien: Über „Philosophie als Therapie“ haben Damian Peikert und Sam Adhar Ball ein Buch im angesehenen philosophischen Karl Alber Verlag (Freiburg) publiziert und dabei mit gutem Grund an die Überzeugung antiker Philosophen erinnert: Philosophie sei ursprünglich als Hilfe zum Leben und im Leben zu verstehen, ein Thema, das der Pariser Philosoph Pierre Hadot in den Mittelpunkt seiner Studien stellte. LINK. Über die Beziehung zwischen der therapeutischen Praxis etwa in der Stoa oder bei Epikur und der modernen Logo – Therapie (Viktor E. Frankl 1905-1997) wäre ebenfalls weiter nachzudenken.

7.
Von den verschiedenen Formen der Musiktherapie wäre zu sprechen. Musiktherapie im weiten Sinne, also Musik (und Singen ) ALS Therapie, bezieht sich nicht nur auf die seelische „Stärkung“ der einzelnen. Musik ALS Therapie, verstanden als Einheit von Sängern/Musikern und teilnehmenden Zuhörern, die in den Stadien auch Mitsingende waren, hat immer einen politischen Charakter: Eintreten für die Demokratie, „gegen die Konsumgesellschaft, gegen die apolitische Zerstreuung, den American Way of life…Die Musik schuf politische Identifikationen“, so Antonis Liakos in „Lettre International Nr 145, S. 21, Sommer 2024). Diese (!) Musik stärkt die einzelnen, gibt neuen Lebenssinn: Der Autor erinnert u.a. an Mikis Theodorakis, Ioannis Makropoulos, Christos Leonies und andere…“ Antonis Liakos schreibt: „Diese Konzerte, zu denen Menschenmassen strömten, waren selbst politische Ereignisse, Quellen eines aufrührerischen Geistes und eines grenzenloses Optimismus“ (ebd.).
Zu sprechen wäre auch von der Kunst-Therapie, d.h. auch der Mal – Therapie oder der Arbeit mit Collagen, die direkt in guten Kliniken (etwa speziell bei Krebskranken) schon eingesetzt wird.

8.
Noch einmal zur Bibliotherapie:
Johann Wolfgang von Goethe hat sehr persönlich gesprochen, als er von seinen melancholischen und depressiven Phasen in jungen Jahren berichtete: Aus der tiefen Krise (Suizid-Gedanken) konnte er sich nur befreien, wie er gesteht, als er weiter seine Texte verfasste: Literarisches Schreiben als Therapie also, dies ist sicher eine Praxis, die nicht nur hochbegabten Autoren wie Goethe vorbehalten ist. Anja Höfer schreibt in ihrem Essay über Goethes Kunstanschauung (in „Philosophie der Freude“, Leipzig 2003, S. 131).“ Goethe schildert, wie seine poetische Produktion einen inneren Heilungsprozess einleitet, in dem der Dichter sein eigenes Leiden in ästhetischer Form objektiviert und das Leiden so zugleich überwindet. Das Ergebnis dieses Prozesses bezeichnet Goethe nicht zufällig mit dem Wort Heiterkeit“. Und auf Seite 132 heißt es: „Für Goethe wird die dichterische Produktion zum probaten Mittel, um sich selbst immer wieder die rettende Heiterkeit abzunötigen… er spricht vom poetischen Talent mit seinen Heilkräften.“

9.
Inmitten des alltäglichen Lebens können und sollten also Formen geistiger Therapie entdeckt werden, wobei zur Überraschung wohl erkannt wird: Hilfen zur Gesundung durch bestimmte Formen geistiger/geistvoller Praxis stehen uns eigentlich immer in der genannten Vielfalt zur Verfügung. Leider kann man den Gottesdiensten der christlichen Kirchen diesen heilsamen Charakter eher selten zusprechen, sie sind meist Routine und das Dahersagen von frommen Stereotypen und alten, veralteten dogmatischen Sprüchen…

10.
Und selbst der größte Skeptiker wird erkennen: Er kann sich zu seiner eigenen skeptischen Lebenshaltung noch einmal selbst skeptisch verhalten, in der Kraft des reflektierenden Geistes eben: Inmitten dieser Skepsis-skeptischen Haltung wird der Skepsis sozusagen ihre Allmacht genommen. Es bleibt der Geist, dies ist auch die Vernunft, die Fixierungen und Ideologien durchschaut und überwindet… und – etwas metaphysisch gesagt – in die Weite des Geistes führt.

Fußnote 1: In dem Buch “Allzu laute Einsamkeit” des großen Schriftstellers Bohumil Hrabal ist auch ein Gespräch mit Peter Sacher publiziert, darin äußert sich Hrabal über seine Lektüre des Tao Te-king von Laotse. Hrabal berichtet, einige der Sätze des Tao te king auswendig gelernt zu haben: “Ich kann einen ganzen Tag lang von einem solchen Satz leben…, dergestalt, dass ich den Eindruck habe, erlöst zu sein… Das alles geschieht in der Stille, in einer sprühenden Stille, in dieser auflebenden Einsamkeit, in der ich mit allen lebenden und toten Freunden sprechen kann..” (S. 149). Das Buch ist in der Deutschen Verlgasanstalt 2003 erschienen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

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