Abbé Pierre: Ein hochverehrter Priester, nun Missbrauchstäter oder “bloß” sexuell-übergriffig?

Ein Hinweis von Christian Modehn. Als Überarbeitung des Beitrags vom 18.7.2024 veröffentlicht am 2.8.2024.

Die Perspektive dieses Hinweises: Bevor jemand Abbé Pierre übereilt einen “Missbrauchstäter” nennt, sollte er (sie) das offene Bekenntnis Abbé Pierres lesen: Er habe dem sexuellen Verlangen nachgegeben… Welcher “Missbrauchstäter” ist so offen und wahrhaftig? Siehe das Buch: Abbé Pierre, “Mein Gott, warum?” (DTV 2007), Seite 32f.

1.

Der französische Priester Abbé Pierre, 1912- 2007, war einer der beliebtesten und am meisten angesehen Franzosen, das beweisen Umfragen. Er soll einige (acht ?) Frauen vor etwa 30 Jahren oder noch früher sexuell belästigt haben. Das wird von ihnen jetzt öffentlich behauptet, von Fachleuten untersucht und jetzt als glaubwürdig bestätigt. Ist Abbé Pierre also ein Sexualverbrecher?
Wir wagen zu sagen: So schlimm war er nicht. Es gilt zu differenzieren. Es gilt zu sehen, wie deutlich Abbé Pierre die entsetzliche Last des katholischen Zölibatsgesetzes erlebt und öffentlich geäußert hat. Man möchte meinen: Angesichts der nun bekannt gemachten sexuellen Übergriffigkeit des Priesters Abbé Pierre muss immer auch die Mitschuld des rigiden und durchaus brutalen römischen Kirchenrechtes gesehen werden: Es mutet Männern, die als Priester arbeiten wollen, unerhörte Herausforderungen zu. Denen nur – bekanntermaßen – wenige Priester „adäquat“, also „treu den katholischen Gesetzen“, entsprechen können. Diese sind dann oft eher als neurotisch gestörte Herren bekannt.

2.
Abbé Pierre ist vor 17 Jahren (2007) verstorben: Ein schwieriges Thema wird nun aufgemacht, bei dem die Frage erlaubt sein darf: Warum haben die Frauen ihre Klagen nicht schon zu Lebzeiten Abbé Pierres vorgebracht? Haben sie ihn vielleicht doch auch noch verehrt – er galt als heiligmäßiges Vorbild – und wollten sie ihn durch ihr Schweigen schützen, ihn, den „berühmten Sozialpriester“? Und vor allem muss gefragt werden: Warum werden die wichtigen und zentralen Bekenntnisse Abbe Pierres in seinem Buch „Mon Dieu – pourquoi?“ (2005) in den Anklagen jetzt nicht berücksichtigt?

3.
Die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs beziehen sich den Angaben der betroffenen und befragten Frauen zufolge unter anderem auf „wiederholte (verbale) Äußerungen mit sexuellem Bezug und unerwünschtes Anfassen.“, schreibt katholisch.de am 17.7.2024 LINK . „Die Experten (des Sozialwerkes Emmaus) sammelten also die Aussagen von sieben Frauen, von denen eine zum Zeitpunkt der Übergriffe minderjährig gewesen sei. Die gesammelten Informationen könnten demnach darauf hindeuten, dass der Priester in dem Zeitraum zwischen dem Ende der 1970er Jahre und 2005 gegenüber Angestellten, Freiwilligen und Ehrenamtlichen der Emmaus – Organisationen sowie jungen Frauen aus seinem privaten Umfeld sexuell übergriffig geworden sei.“ Quelle: ORF: LINK

4.
Die Pariser Tageszeitung LE MONDE macht (am 17. Juli 2024) in ihrem Internet-Beitrag über Abbé Pierre als Missbrauchstäter den unabhängigen Untersuchungsbericht zu den Vorwürfen zugänglich: LINK  . Dieser Text von nur 8 (!) Seiten enthält einige Hinweise, die sich aus den Äußerungen von sieben Opfern (Frauen) ergeben. Deutlich wird: Die Frauen schildern Taten, die von Ende der 1970er Jahre bis 2005 stattfanden, also in einem hohen Alter Abbé Pierres, als er  z.T. schon auf den Rollstuhl angewiesen war. Abbé Pierre ist 2007 im Alter von 95 (!) Jahren gestorben. Er lebte die letzten Jahre eher zurückgezogen, auch im Benediktinerkloster St. Wandrille bei Rouen.
Auf Seite 8 des offiziellen“ Rapports vom 4. Juli 2024 wird ein Mitarbeiter Abbé Pierres zitiert: “Immer älter werdend, hatte er Mühe, seine Instinkte zu zügeln. Er konnte sich nicht bremsen, die Brust von Frauen zu berühren”. Der Rapport berichtet auch: Als sich Frauen gegen diese Berührungen wehrten, habe sich Abbé Pierre zurückgezogen, dies wird ausdrücklich erwähnt (etwa S. 6 oben). Man könnte denken: „Sexualverbrecher“ handeln wohl anders…
Ist also Abbé Pierre tatsächlich ein Sexual – Verbrecher, ein Missbrauchstäter? Hat er wie diese an seinen Opfern Vergewaltigungen, Schläge, Prügel, Quälereien, Erpressungen etc. vorgenommen? Offenbar nicht. Und sichtlich werden da heftigste Begriffe auf ihn bezogen, die für seine erotischen “Übergriffe”, für die er sich entschuldigte (das sagen ja die Opfer), NICHT zutreffen. Trotzdem spricht der Rapport der Pariser Forschungsgruppe EGAÉ mehrfach ziemlich undifferenziert von „potentiels faits de violences“, potentiellen (!) Gewalttaten, durch Abbé Pierre. Noch einmal: Sexuelle Belästigungen (Streicheln, Berühren) und heftigster sexueller Missbrauch (etwa Vergewaltigungen) sind vielleicht doch verschiedene Dinge.

5.
Man möchte also die – für viele vielleicht ungehörige  – Frage stellen: Gibt es jetzt bestimmte theologische oder politische Interessen, die Gestalt Abbé Pierres ins Abseits zu drängen?

6.
Die Wahrheit muss selbstverständlich freigelegt werden.

7.
Der Missbrauchs – Vorwurf ist für mich um so erstaunlicher: Abbé Pierre hatte viele Jahrzehnte an seiner Seite, liebevoll umsorgt, seine Sekretärin und vor allem seine Freundin Lucie Coutaz (1899 – 1982). Sie und wohl nur sie wurde von Abbé Pierre so sehr geschätzt, dass er es ausdrücklich wünschte, neben ihr auf dem Friedhof von Esteville bestattet werden wollte: LINK. 
Madame Coutaz wurde als „Le roc de l Abbé Pierre“ bezeichnet, als der sichere „Felsen“, auf dem er sich wohl fühlte. Nach dem Tod von Madame Coutaz hat Abbé Pierre sich zur engen liebevollen Beziehung zu dieser seiner Freundin auch öffentlich bekannt. Das hat viele konservative Katholiken damals empört: „Ein Priester darf nicht lieben.“ Die Frage ist spekulativ, aber nicht uninteressant: Begannen die sexuell geprägten Belästigungen durch Abbé Pierre nach dem Tod von Madame Coutaz?

8.

Um das Leiden am Zölibatsversprechen bzw. Zölibatsgesetz durch Abbé Pierre zu verstehen, sollten alle Kritiker und Ankläger das Buch „Mon Dieu, Pourquoi” (Paris 2005) lesen, auf Deutsch „Mein Gott warum“ (2007 DTV Verlag). Das Buch entstand in Zusammenarbeit mit dem bekannten Philosophen Frédéric Lenoir, es wurde hoch gelobt und in 15 Sprachen übersetzt. LINK.
Zum gesamten Inhalt des Buches: Ich wage die Behauptung: Ein Täter, ein Sexual- Verbrecher, spricht nicht so reflektiert und durchaus schuldbewusst wie Abbé Pierre in dem genannten Buch.
Ich kann hier die ganze Vielfalt der Aussagen Abbé Pierres in dem Buch „Mein Gott, warum?“ (DTV Verlag) nicht wiedergeben, die ausführliche Lektüre ist Pflicht eines jeden, der sich mit dem Fall befasst. Vielleicht fällt dann ein anderes Licht auf die Anklagen der Frauen zu Taten, die 30 Jahre und länger zurückliegen.

9.
Zur Erinnerung an eine klerikale Leidensgeschichte: Abbé Pierre, mit bürgerlichem Namen Pierre Grouès aus Lyon, 1912 geboren, ist im Alter von nur 17 Jahren in den Kapuzinerorden eingetreten. So war das damals (und bis ca. 1960) üblich: Ganz junge Männer, sozusagen kurz nach der Pubertät und unmittelbar nach dem Abitur, traten aus (angeblich) intensiv erlebter katholischer Frömmigkeit, in die Ordensgemeinschaften ein oder meldeten sich in den Priesterseminaren der Bistümer.

10.
In dem genannten Buch „Mein Gott …warum“, spricht Abbé Pierre im Rückblick von seinem sexuellen Verlangen, das ihn wie jeden Menschen, bestimmte. Auf Seite 31 heißt es: „Ich habe mich bereits mit jungen Jahren dafür entschieden, mein Leben Gott und anderen Menschen zu widmen, und habe daher ein Keuschheitsgelübde abgelegt.“ (Nur auf diese Weise konnte er Priester werden, CM) Und daran schließt sich ein Bekenntnis an, das Licht wirft auf das Leben, das Abbé Pierre seit seinem 17. Lebensjahr aufgrund der katholischen Bestimmungen führen musste, wenn er denn Mönch bzw. später dann als Diözesan – Priester sein wollte: Das ist das Zentrum des Bekenntnisses: „In gewisser Weise hatte ich das Leben eines Gefangenen“. Er wollte unbedingt im Dienst der Armen als Priester leben und musste sich sagen, so wörtlich, „eine Liebesbeziehung ist ausgeschlossen. Ich bezeichne diesen Zustand als freiwillige Unfreiheit“.
Das ist der Kern der Problematik: Im katholischen System kann jemand, der als Priester leben will und sich etwa ganz in den Dienst der Armen stellen möchte, nur „das Leben eines Gefangenen leben“, gefangen von den Zölibatsgesetzen der Kirche. „Mit dem Keuschheitsgelübde hatte ich in gewisser Weise das Leben eines Gefangenen. Ich bezeichne diesen Zustand als freiwillige Unfreiheit. Es kam vor, dass ich der Kraft des erotischen Verlangens nachgab. Aber ich hatte nie eine richtige Beziehung. Da ich nicht zuließ, dass sich das sexuelle Verlangen in mir verwurzelte. Dies hätte zu einer dauerhaften Beziehung mit einer Frau geführt, was jedoch mit meiner Lebensentscheidung zum Priestertum nicht vereinbar gewesen wäre.”
Abbé Pierre ging dann so weit einzugestehen, dass er seinen Freundinnen doch nicht gerecht geworden ist: „Folglich machte ich die Frauen unglücklich und fühlte mich selbst zwischen zwei unvereinbaren Lebensentscheidungen hin und her gerissen“.
Nur wenige Priester haben den Mut, über ihr eigenes Ringen mit der Sexualität offen zu sprechen.

11.
Erstaunlich bleibt, dass neuerdings der Aufenthalt Abbé Pierres in der Klinik de Prangins in der Schweiz erwähnt wird, in der er sich wegen seelischer und körperlicher Überforderung im Jahr 1957 aufhielt. Und dieser Aufenthalt wird JETZT in Verbindung gebracht mit der damals offenbar schon nötigen Heilung von sexuellen Übergriffen. Jedoch: In den bisher publizierten Berichten zum Klinikaufenthalt 1957 in der Schweiz ist nur von seelischer Überforderung und physischem Leiden die Rede.

12.

Man darf wohl, bei allem Respekt, fragen: Warum bringen 7 Frauen gemeinsam 17 Jahre nach dem Tod von Abbé Pierre und ca 30-35 Jahre nach den „Ereignissen“ ihre Vorwürfe vor? Von 12 Opfern wurden nur 7 von der unabhängigen Kommission interviewt…
Auch diese Frage könnte gestellt werden: Warum wird über die politische und religiöse Orientierung dieser sieben Frauen jetzt nichts gesagt? Auch ihre Namen bleiben geheim, nicht gerade so oft üblich bei Opfern sexuellen Missbrauchs, die sich öffentlich und nicht ohne berechtigten expliziten Mut zu ihrem Leiden bekennen.

13.
Das Buch Abbé Pierres „Mein Gott – warum?“ handelt nicht nur von seinem Leiden am Zölibatsgesetz, sondern auch von seinem Leiden an einer dogmatisch fixierten Kirche, etwa hinsichtlich des Verbotes, Frauen zu Priesterinnen zu weihen…

14.

Nebenbei: Abbé Pierre unterstützte seit etwa 1970 Homosexuelle in der katholischen Kirche, zu Zeiten also, als Schwule von allen kirchlichen Hierarchen und den meisten Theologen ausgegrenzt und verurteilt wurden. Abbé Pierre hatte den Mut, den offen homosexuellen Priester Jacques Perotti offiziell zu seinem Privatsekretär zu ernennen. Mit ihm zusammen lebte er in einem Appartement der EMMAUS – Sozialbauten in Charenton- le- Pont.

In dem genannten Buch “Mein Gott …warum” (2007) äußert sich Abbé Pierre sehr zustimmend und zu diesem Zeitpunkt 2007 durchaus überraschend progressiv – für ein eheähnliches Zusammenleben von Homosexuellen, er spricht von “Alliance”: “Dieser Begriff ist ebenso schön wie Ehe und im gesellschaftlichen Gebrauch weniger eng (also heterosexuell) besetzt” (S. 48).

15.
Man wird wohl der Person Abbé Pierres nur gerecht, wenn man ihn als Rebellen deutet, als Kritiker einer Gesellschaft, die die Armen ignoriert, als Kritiker eines Staates, der in seiner Nationalhymne noch immer kriegerische Ideologien verbreitet, als Kritiker einer dogmatischen Kirche. LINK

16.
Über Abbé Pierre hat Christian Modehn in seinem Buch „Religion in Frankreich“ (Gütersloh 1993) einen kleinen Essay geschrieben, S. 109 f., „Liebe ist von Wut nicht zu trennen“, der Titel des Essays, ist ein Zitat von Abbé Pierre.
 Und über seinen Sekretär, Abbé Jacques Perotti, ist ebenfalls in dem genannten Buch ein Essay publiziert auf den Seiten 114 – 116 mit dem Titel: „Er betet Gott an und liebt die Männer“.

Das Buch „Religion in Frankreich“ von Christian Modehn ist antiquarisch noch erreichbar.

Copyright: Christian Modehn, religionsphilosophischer-salon.de

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