Eine Geschichte von Verlusten: Auch das ist die Moderne!

Hinweise zu Kipppunkten, zur Kollapsologie, zur „Rache der Populisten“ und so weiter
Eine Buchempfehlung von Christian Modehn am 17.2.2025

1.
Wir haben so vieles und so viele verloren: Belastende und schöne Beziehungen, vielfältige Naturerfahrungen, wir haben verloren die Hochschätzung der Demokratie oder das Wissen, in einer religiös fundierten sinnvollen Welt leben zu können.
2.
Wir können jetzt das Ausmaß unserer erlebten und erkannten Verluste kaum überschauen. Und dennoch folgen so viele wie üblich der neoliberalen Ideologie vom permanenten Wachstum und damit des Fortschritts im allgemeinen. Die Wahrheit hingegen ist: Eigentlich sind Menschen der Moderne immer auch Verlierer. Vieles geht verloren im turbulenten Geschehen des Aufbruchs und des immer-Mehr.
Verlust sollte also das Grundwort sein, um unsere Selbst – und Welterfahrung heute zu bezeichnen. Fortschritt ohne Verlust sehen und zu verstehen, ist also naiv, ist „fortschritts-gläubig“.
3.
Das ist das Thema des international geachteten Soziologen Prof. Andreas Reckwitz (Humboldt – Universität Berlin) in seiner neuesten Studie „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“ (Suhrkamp Verlag). Reckwitz hat die Begabung, mit einem zentralen Stichwort unsere Aufmerksamkeit hinzulenken zum differenzierten Verstehen der Moderne, die eigentlich nun als eine zerbrechende Moderne treffender „Spät-Moderne“ (etwa S. 289) genannt werden sollte.
4.
Das neueste Buch von Andreas Reckwitz könnte als eine Art ausführliches, aber gut lesbares und sehr empfehlenswertes  Lehrbuch verstanden werden, das viele Aspekte von Verlusten soziologisch analysiert und einordnet. Etwa das „Unsichtbarmachen“ des Verlustes im Umgang mit dem Tod als Verlust von lieben Menschen. Inspirierend die Hinweise zu üblichen Formen, Verluste zu bearbeiten: Etwa in der Nostalgie, dem Konservatismus, der Religionen…
5.
Das Buch ist die Arbeit eines Soziologen, der zugleich auch mit historischen und philosophischen Entwicklungen vertraut ist: Aber auch die genaue Kenntnis aktueller politischen Fragen wird deutlich, etwa, wenn vom Populismus als der „Rache an den Gewinnern“ (den ökonomischen, den politischen…) die Rede ist. Diese Erkenntnis ist zentral, und sie sollte im Zusammenhang des Aufstiegs etwa der rechtsextremen AFD oder der FPÖ beachtet werden, Reckwitz schreibt: „Den Populismus kann man ohne seine `rächende` Stoßrichtung nicht verstehen. Den anderen, den vermeintlichen Gewinnerinnen und Gewinnern der (Spät)- Modernisierung und zugleich den direkt oder indirekt vorgeblich Verantwortlichen für die eigene Misere sollen (von Populisten) ihrerseits Verluste zugefügt werden (vom Autor kursiv)… Das kann sich gegen Klimaschützerinnen oder erfolgreiche Homosexuelle richten, …. gegen Flüchtlingsaktivisten oder gegen Frauen in Führungspositionen.“

Die Populistenführer reden sich und ihren Anhängern ein: Sie seien zu kurz gekommen, hätten selbst zu viele Verluste erlebt, ihr Motto also, betont Andres Reckwitz: „Nun sollen die anderen verlieren.“ (Seite 394). Und solch eine Maxime ist ein Aufruf zum Kampf.
6.
Hier können nicht die vielen, in die Tiefe fahrenden Überlegungen von Andreas Reckwitz zur Dialektik von Fortschritt und Verlust in der (spät-)modernen Lebenswelt gewürdigt werden. Nur diese Hinweise:
7.
Wir sollten die gesellschaftliche Entwicklung gerade in zugespitzt empfundenen Situationen genau analysieren: Es geht um die Wahrnehmung von KIPP-PUNKTEN, also um die Wahrnehmung: Es gibt keine eindeutige lineare gesellschaftliche Entwicklung. Das schlichte Muster „kleine Ursache-große Wirkung“ sollte also vermehrt beachtet werden. „Im Falle des Kipppunktes braucht es am Ende nur ein winziges Ereignis, um das gesamte System aus dem Gleichgewicht zu bringen. Dieses Ereignis ist allerdings nicht zufällig, sondern lässt sich in ein langfristiges, sich steigerndes Prozessgeschehen einordnen… „(S. 310).
Ein Beispiel aus unserer Sicht: Am 29. Januar 2025 hat der CDU/CSU Kanzlerkandidat Friedrich Merz seinen „Gesetzesentwurf“ für eine „Zustrombegrenzung “von Flüchtlingen bewusst und direkt geplant mit den Stimmen der AFD gewonnen. Die demokratische Presse sprach von einem Dammbruch, man könnte auch sagen: Es war ein Kipppunkt. Man wird abwarten, wie und wann sich Kollaborationen von CDU/CSU mit der AFD wiederholen. Kollaboration ist ja einmal schon geschehen, am 29.1.2025 und wohl auch am 31.1.2025 wieder im Deutschen Bundestag.
Interessant ist in dem Zusammenhang der für viele LeserInnen neue Begriff der Kollapsologie, also der soziologisch – politischen Lehre vom Kollaps von Staaten und Gesellschaften, wenn nicht der ganzen Welt. Ein entsprechendes „Handbuch der Kollapsologie“ ist 2022 erschienen, S. 309, Fn. 30. , ausführlicher S. 417 f.
8.
Auch die Religionen sind bekanntlich Formen der Bewältigung von Verlusten: In einem viel zu kurzen Kapitel „Religion: Der Trost der Transzendenz“ (S. 273ff.) weist Andreas Reckwitz darauf hin. Der Titel sagt alles: Angesichts der Sterblichkeit bieten Religionen, etwa das Christentum, einen Trost, der über die Welt hinausführt in die himmlische Welt. „Letztlich basiert das Christentum auf einer anthropologischen Verlustgeschichte“, meint Reckwitz, er denkt dabei an die Vertreibung der Menschen aus dem Paradies wegen des Sündenfalls, so der biblische Mythos. Aber es ist schon falsch, wenn Reckwitz meint: Das Christentum und damit die Kirchen würden „ökonomische Verluste, Machtverluste und Verluste von Erwartungen auf eine im innenweltlichen Sinne positive Zukunft“ (s. 277) als „letztlich Zweitrangiges oder inkomplett Irrelevantes“ (s. 277) ansehen. Darin zeigt sich, das der Autor in diesem knappen Kapitel eher alte theologische Literatur verarbeitet und etwa die Befreiungstheologie ignoriert, die gerade den Verlust der Armen an politischer Mitbestimmung und Gleichberechtigung aufgreift und betont: Erlösung beginnt schon hier „auf Erden“, etwa im real – materiellen Erleben der Gültigkeit der Menschenrechte und der Sicherung des menschenwürdigen Lebens.
Andere aktuelle Verlusterfahrungen etwa von Katholiken hätten thematisiert werden können: Man denke an Erzbischof Marcel Lefèbvre, der nach dem 2. Vatikanischen Konzil seinen eigenen traditionalistischen Weg ging mit der Gründung der Pius – Bruderschaft: Lefèbvre klagte darüber, dass dieses Konzil die lateinische Messe in der uralten Form abgeschafft hatte: In seiner konservativen Ideologie, die nur das Alte liebte, sagte Lefèbvre: „Man hat uns die heilige Messe genommen.“ Eine Verlust – Erfahrung… Andererseits gibt es sicher auch Verlust -Erfahrungen unter progressiven Katholiken: Sie treten aus der Kirche zu tausenden aus, auch, weil sie der Kirchenleitung jegliche Glaubwürdigkeit absprechen müssen, das aber bedeutet: Ihren einst vermittelten Glauben an die hohe geistliche und menschliche Qualität des Klerus verloren haben. Und auch: jede Hoffnung auf eine tiefgreifende Reformation der Katholischen Kirche.
9.
Wenn in der Spätmoderne überhaupt noch dem Fortschritt ein positiver Inhalt zugewiesen wird, dann in der Lebensgestaltung des einzelnen. Reckwitz spricht von „Subjektivierung des Fortschritts“ (S. 322ff.). Diese entspricht der „neoliberalen Kultur der Selbstverantwortung des Individuums für seinen subjektiven Lebenserfolg“ hin zu umfassender „Selbstoptimierung.“ Kurz gesagt: Mag auch die Welt am Rande des Untergangs taumeln, ich baue an meiner eigenen Innerlichkeit für mich weiter, ich entwickle und pflege meine nur mir gehörende Subjektivität und will persönlich wachsen, auch wenn in der Wirtschaft nichts mehr wächst und die Demokratie von Rechtsextremen lädiert wird. Das ist diesem Subjekt ziemlich egal… Hauptsache: Ich habe ein „gelungenes Leben“ (s. 326). Gesellschaftlicher Fortschritt geht verloren, aber ich rette meine schöne, wohl entwickelte Seele: Geht diese Spaltung von Gesellschaft und Ich auf die Dauer? Eines Tages werden die neuen Herren der Anti – Demokratie den schönen Seelen doch den Schrecken einjagen, wenn es zu spät ist…
10.
Andreas Reckwitz sieht die demokratischen Gesellschaften und Staaten in einer tiefen Krise und Gefahr. Er persönlich ist überzeugt, dass ein Untergang wohl nicht bevorsteht, andererseits ist auch das Erlebnis von Fortschritt und von permanentem Wachstum ausgeschlossen. Welche Möglichkeit der Hoffnung bleibt da?
Reckwitz setzt auf die „Reparatur der Moderne“, diese ist die Ausbesserung der vorgegebenen modernen Institutionen und Lebensformen. Das Programm könnte man einen progressiven Konservatismus nennen – zugunsten der Rettung der guten und hoffentlich bleibenden Errungenschaften der Moderne, der Menschenrechte und der Demokratie. „Es geht darum, den Fortschritt als Erbe zu bewahren,“ so Andreas Reckwitz (S. 420).

Andreas Reckwitz, „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“. Suhrkamp, 2024, 463 Seiten, 32€.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

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