Karfreitag: Alles Ewige, alles Wahre ist vernichtet.

Hegels Interpretation des Karfreitag … weltlich, säkular verstanden.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 14.4.2025.

1.
„Gott selbst ist tot“: Dieser provozierende Satz gehört tatsächlich zur klassischen christlichen Spiritualität. Er steht im Zentrum am Karfreitag, beim Gedenken an den Kreuzestod Jesu von Nazareth, der dann freilich in der üblichen, orthodox genannten Formel als „Gottes-Sohn“ gedeutet und verehrt wird.

2.
Wir wollen die spirituelle Erkenntnis Satz „Gott selbst ist tot“ weltlich, also auch politisch, neu verstehen. Damit wollen wir auch der Forderung des Theologen und Nazi – Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer entsprechen: „Wir müssen es riskieren, anfechtbare Dinge zu sagen, wenn dadurch nur lebenswichtige Fragen aufgerührt werden.“ (Brief aus dem Nazi – Gefängnis Tegel am 3.8.1944). Und am 16.7.1944 notierte er die inzwischen bekannte, aber bis jetzt nicht realisierte Forderung einer „nicht-religiösen Interpretation der biblischen Begriffe“…Zu Bonhoeffers Provokationen: LINK.

3.
„Gott selbst ist tot“- dieser Satz ist wohl für klassisch Fromme befremdlich: Denn Gott kann doch gar nicht sterben, behaupten sie. Und darum haben sie den Satz „Gott selbst ist tot“ auch relativiert: Es war ja „bloß“ Gottes Sohn, Jesus Christus, der am Kreuz gestorben ist. Der Kreuzestod Jesu ist eine geschichtliche Tatsache, im Unterschied zur Auferstehung Jesu von den Toten, diese ist kein historisch nachweisbares Faktum.

4.
Wie fanden Christen zu der Erkenntnis „Gott selbst ist tot“? In Zeiten schlimmsten Leidens, der Trostlosigkeit im Dreißigjährigen Krieg, hat der Jesuit Friedrich von Spee (1591-1635) ein Gedicht bzw. Kirchenlied verfasst , die ersten Worte heißen: „O Traurigkeit, o Herzeleid, ist das denn nicht zu klagen! Gottes des Vaters einzig Kind wird zu Grab getragen.“
 Weitergedacht hat der protestantische Pfarrer und Dichter Johann Rist (1607-1667), als er im Jahr 1641 in einer zweiten Strophe den Inhalt radikalisierte: „O große Not! Gottes Sohn liegt tot, am Kreuz ist er gestorben…“.. Das Lied ist Teil des evangelischen Gesangbuchs (von 1993).

5.
Bis heute aktuell interpretiert und gedeutet wurde diese theologische Überzeugung „Gottes Sohn ist tot“ von dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831). Und Hegel weist uns den Weg zu einer weltlichen, säkularen Interpretation des Karfreitag – Satzes „Gott selbst ist tot“.

6.
Hegel hat in seinen mehrfach gehaltenen „Vorlesungen zur Philosophie der Religion“ in Berlin (1818-1831) im Blick auf den Karfreitag gelehrt: „Gott ist gestorben. Gott ist tot.“ Und Hegel übersetzt dann den Begriff Gott in weltliche Wirklichkeiten: Hegel fährt fort: „Dieses ist der fürchterlichste Gedanke, dass alles Ewige, alles Wahre nicht ist; dass die Negation selbst in Gott ist; der höchste Schmerz, das Gefühl der vollkommenen Rettungslosigkeit, das Aufgeben alles Höheren ist damit verbunden“ (Suhrkamp, Theorie Werkausgabe, Band 17, S. 291).

7.
Hegel spricht also davon, dass der Tod Gottes (bzw. des Sohnes Gottes) ein Ereignis ist, das als „Aufgeben alles Höheren“ übersetzt wird. Und das heißt konkret: „Alles Ewige, alles Wahre“ ist nicht mehr, es existiert nicht mehr, ist verschwunden, Ewiges und Wahres haben keine Bedeutung. In dieser grundstürzenden Erfahrung des Zusammenbruchs entsteht der „fürchterliche Gedanke und das Gefühl der „vollkommenen Rettungslosigkeit“, wie Hegel sagt. Der Tod Gottes ist also, Hegel folgend, säkular und neu als der Zusammenbruch der humanen Welt zu verstehen.

8.
Karfreitag sollte also der Tag der Besinnung auf den Zusammenbruch der humanen Welt sein. Und dies ist die heutige Weltsituation, die nicht Resultat eines Naturereignisses ist: Es sind vielmehr Menschen, die diesen Zusammenbruch aus freier Entscheidung betreiben: Menschen, die die Klimakatastrophe erzeugen und nicht umfassend korrigieren und bremsen können oder wollen. Es sind Menschen, die Mord und Zerstörung zu ihrem politischen Geschäft machen. Es sind Menschen, die Diktatoren und Autokraten und andere Verbrecher an die Macht wählen, in den USA, in Russland, in Israel, in Ungarn, in Indien und so weiter. Es sind Menschen, die in noch funktionierenden Demokratien die Feinde der Demokratie wählen, etwa die Partei AFD, die Rechtsextremen in Frankreich und den Niederlanden. Es sind Menschen, die als Lobbyisten einflußreich genug sind, um eine Reichensteuer, Millionärs-und Milliardärs-Steuer, politisch zu verhindern. Sie wäre ein Ausdruck der gerechten, d.h. der sozialen Demokratie. Dies wird von sich noch dreist „christlich” nennenden Parteien auch in Deutschland verhindert.

9.
Der Philosoph Hegel hat den Zusammenbruch der humanen Welt, der im Ereignis des Todes Gottes am Karfreitag angezeigt wird, im Rahmen seiner Philosophie dann wieder „aufgehoben“, d.h. in eine positive Denkrichtung verwiesen durch den religionsphilosophischen Gedanken der Auferstehung. Aber Hegel kommt das Verdient zu, überhaupt den Tod Gottes in aller Tiefe gedacht zu haben.

10.
Wichtig ist für uns in dem Versucht einer „weltlichen Interpretation des Karfreitags“: In seiner „Phänomenologie des Geistes“ (1807) bietet Hegel schon eine säkulare, vernünftige und nicht-religiöse Antwort auf die Frage: Wie kann der Mensch dem Tod, in unserem Beispiel auch dem Tod Gottes, begegnen?
In der Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes“ (Seite 36 in der Suhrkamp – Ausgabe, Band 3) bezieht sich Hegel auf die Kraft des menschlichen Geistes – auch dem Tod gegenüber. Hegel schreibt: „Nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das den Tod erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Der Geist gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist der Geist nicht, indem er von dem Negativen wegsieht … sondern der Geist ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei dem Negativen verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die das Negative in das Sein umkehrt.“

11.
Dem Negativen ins Angesichts schauen: Das kann angesichts des genannten „Zusammenbruchs der humanen Welt“ bedeuten: Nicht nur schauen, nicht nur das Elend betrachten, sondern aktiv eintreten für die Rettung der Theorie betreiben, nicht nur ins Ästhetische sich zurückziehen, es geht um aktives „Verweilen“ beim Negativen, dem drohenden Tod. Dieses aktive Verweilen hat dann, wie Hegel schreibt, die „Zauberkraft, das Negative ins lebendiges, konstruktives Sein“ zu verwandeln. Diese Kraft, dem Negativen standzuhalten, kann von Hegel wie eine als Metapher „Zauberkraft“ genannt werden: Aber bei diesem Begriff „Zauberkraft“ spielt nichts Esoterisches , Wunderbares eine Rolle, sondern es wird nur das Überraschende formuliert: Einzig die „verweilende“, kritische Analyse der Verhältnisse, kann das „Negative in das Sein“, also in Leben, verwandeln. So kann der „Zusammenbruch der humanen Welt“ vielleicht noch aufgehalten werden.

12.
Karfreitag – weltlich, säkular verstanden, sollte also auch ein Tag des Gedenkens werden an die Widerstandskraft des Geistes, an die kritische Kraft der Vernunft angesichts der genannten miserablen Verhältnisse. Wahrscheinlich wird sich diese Widerstandskraft auf Dauer nur mobilisieren lassen, wenn sie selbst sich gegründet weiß in einem absoluten alles gründenden Sinnhorizont. Ein Gedanke, der dem Religions-Philosophen Hegel wichtig war. Und uns im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin noch immer ist.

13.
Unser Thema könnte natürlich weiter vertieft werden mit Hinweisen auf Nietzsche, etwa auf die Rede von „Gott ist tot“ in der „Fröhlichen Wissenschaft“ (Nr. 125). Siehe Fußnote 1.
Uns interessiert sehr die Erkenntnis Nietzsches, am Schluss dieses Absatzes Nr. 125 formuliert: „Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?“ Diese Frage haben die Kirche bis jetzt unbeantwortet gelassen. In dieser These, „Kirchen als Grabmäler Gottes“, sollte an die Mitschuld der Kirchenleitungen und der Christen erinnert werden am genannten „Zusammenbruch der humanen Welt“: Weil die Kirchenleitungen und die Frommen sich nachweislich ums Dogmatische und Spirituelle vor allem kümmerten und eben nicht um das auch politische Ziel der gerechten humanen Welt für alle. Theologisch nennt man dieses Ziel „Reich Gottes“. „Jesus verkündete das Reich Gottes … und gekommen ist die Kirche“, sagte sehr treffend der große französische Theologe Alfred Loisy (1857-1940). Er wurde von der römisch katholischen Kirche exkommuniziert.

 

Fußnote 1.

„Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: „Ich suche Gott! Ich suche Gott!“ – Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verlorengegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. „Wohin ist Gott?“ rief er, „ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!“ – Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, daß sie in Stücke sprang und erlosch. „Ich komme zu früh“, sagte er dann, „ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne – und doch haben sie dieselbe getan!“ – Man erzählt noch, daß der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur dies entgegnet: „Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?“

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon.de

 

 

Ostern – Karfreitag – Karsamstag: “Der ohnmächtige Gott der Liebe”. Von Prof. Wilhelm Gräb

„Der ohnmächtige Gott der Liebe“

Ostern – Karfreitag – Karsamstag: Ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb, Humboldt Universität zu Berlin.

Die Fragen stellte Christian Modehn. Das Interview wurde 2013 veröffentlicht. Wir meinen, es ist nach wie vor wichtig für alle, die nach dem Sinn von Karfreitag, Karsamstag und Ostern fragen. CM am 2. April 2015

Das Osterfest wird in der christlichen Tradition als Ereignis der Auferstehung Jesu begangen. Wie kann die Erfahrung der ersten Christen “Jesus ist lebendig über den Tod hinaus” heute im Blick auf Jesus selbst verstanden werden. Und welche Bedeutung hat dieser Auferstehungsglaube für die religiösen Menschen heute?

Sie formulieren ja selbst schon so, dass das Missverständnis vermieden wird, die Auferstehung Jesus sei ein beobachtbares Faktum gewesen, in dem Sinne, dass der zuvor gekreuzigte Jesus am Ostermorgen seinen Jüngern und Jüngerinnen erschienen und das Grab, in das man den Leichnam gelegt hatte, leer gewesen sei. Es mag sogar alles tatsächlich so gewesen sein wie die neutestamentlichen Texte berichten. Die Behauptung der Tatsächlichkeit des Geschehens sagt aber über dessen religiöse Bedeutung gar nichts aus. Darauf machen die neutestamentlichen Texte selbst aufmerksam, insbesondere Paulus. Das Neue Testament ist im Wesentlichen eine Sammlung von Deutungen des Todes und der Auferstehung Jesu. Nie geben sich die Texte mit der Behauptung des Faktischen zufrieden, immer geht es ihnen um die existentiell-religiöse Bedeutung der Worte und Taten, des Lebens und Sterbens Jesu.

Entscheidend für das Verständnis des Auferstehungsglaubens scheint mir eben diese Unterscheidung zwischen dem Ereignis und seiner Deutung zu sein. Indem Sie, lieber Herr Modehn, davon sprechen, dass es die „Erfahrung der ersten Christen“ war, dass Jesus „über den Tod hinaus lebendig“ sei, nehmen sie diese Unterscheidung ebenfalls vor. Die Überzeugung, die sich den Jüngern und Jüngerinnen Jesu in der Begegnung mit dem irdischen Jesus gebildet hat, war die: Dieser Mensch ist unzertrennbar mit Gott verbunden. Er kann und wird aus dieser Verbundenheit nicht herausfallen. In der Lebensgemeinschaft mit ihm, als die an ihn Glaubenden, kann auch uns nichts von der Liebe Gottes trennen. So die Interpretation des Kreuzes Jesu, explizit durch Paulus: „Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben… kann uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn“ (Röm 8, 38f.)

Der Glaube an die Auferstehung Jesu ist kein Fürwahrhalten eines Wunders, eines Mirakels, also der Wiederbelebung eines Leichnams. Sondern es ist eine persönliche Überzeugung, die ihren biblischen Anhalt an dieser Deutung des Kreuzestodes Jesus hat. Wer zu der Überzeugung kommt, zu der die ersten Jünger und Jüngerinnen und seither viele Christen gefunden haben, dass Jesus lebt, ja, dass er mit seiner Hoffnungsbotschaft in uns selbst lebendig ist, in dem keimt dann möglicherweise auch die Hoffnung auf die eigene Auferstehung. Dann setze ich darauf (was kein Wissen ist und niemals sein kann), dass es nicht unsere menschliche Bestimmung ist, letztlich nur eine „Krankheit zum Tode“ zu sein, sondern Gott uns ewig in seinen „Händen“ hält.

Vor der Auferstehung gedenken Christen am Karfreitag der Kreuzigung und des Todes Jesu. Welchen Sinn hat es heute noch zu sagen: Durch Jesu Blut wurden wir erlöst? Gibt es zugänglichere Aussagen, die andeuten: Dieser Tod hat eine große Bedeutung, weil er auf einen bedeutenden, vielleicht einmaligen Menschen bezogen bleibt?

Die Vorstellung vom erlösenden Opferblut Jesu sollten wir in der Tat ablegen. Sie entspricht auch nicht dem Grundsinn der Deutung des Todes Jesu, die das Neue Testament gibt. Dieser geht selbst dort, wo die Opfervorstellung angesprochen wird, dahin, in Jesu Gang ans Kreuz das Ende aller Opfer zu sehen. Jesus wurde ja nicht zum Opfer gemacht, sondern er hat sein Leben gegeben, sein Leben zum Einsatz gebracht – damit alle, die darauf schauen, das ewige Leben haben.

Diese Bedeutung des Todes Jesu geht aus seinem Leben hervor. Mit seinem Leben hat Jesus gezeigt, was unbedingt wichtig ist und dieser Welt eine gute Zukunft eröffnet: Dass dies die Gottes- und Nächstenliebe ist, dass nur die Liebe zählt, die vorbehaltlose Verbundenheit mit Gott und der Menschen untereinander – unbedingt und radikal, über alles uns Trennende hinweg, unabhängig von unseren religiösen, nationalen, kulturellen Zugehörigkeiten, unserer Hautfarbe und unserem Geschlecht. Diese universale Gottes- und Menschenliebe hat Jesus gelebt. Sie aber vertrug sich nicht mit den Gesetzen und Herrschaftsinteressen in dieser Welt. Sie tut es bis heute nicht. Deshalb musste Jesus sterben. Die Bedeutung seines Todes liegt insofern darin, dass wir die Unbedingtheit seiner liebenden Selbsthingabe erkennen. Sie war für ihn selbst nicht ohne Schmerzen, nicht ohne den tiefsten Schmerz der Gottverlassenheit.

Zwischen Karfreitag und Ostersonntag liegt der “Karsamstag”, ein traditioneller kirchlicher Feiertag, dessen Bedeutung so schwer zu fassen ist. Hegel hat ja in seiner Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie so eine Art Karsamstagsphilosophie angedeutet, indem er auf den alten Liedvers (von 1628) verwies: “O große Not, Gott selbst ist tot”. Ist also der Karsamstag das Fest des – zumindest vorübergehend – toten Gottes?

Blicken wir auf den Menschen Jesus, dann erkennen wir die Bedeutung seines Lebens und seines Sterbens darin, dass er die völlige Verbundenheit mit Gott und der Menschen untereinander gelebt hat, ja, dass er an dieser Verbundenheit festgehalten hat, auch noch als ihn in der Stunde seines Todes das Gefühl überkam, jetzt doch von Gott und aller Welt verlassen zu sein. Gerade im Lichte des Schreis der Gottverlassenheit am Kreuz kann – von Gott aus betrachtet – der Tod des die Einheit mit Gott lebenden Jesus auch als der Tod Gottes gedeutet werden. Das meinte Hegel mit dem „spekulativen Karfreitag“, dass Gott, der das Leben, lebendiger Geist ist, in sein Gegenteil eingeht. Doch nicht um in der bloßen Negativität zu verharren, sondern um sie ihrerseits zu negieren, den Tod in den ihn überwindenden absoluten Geist, in das ewige, alles einigende Leben der Liebe aufzuheben.

So ist Jesus derjenige, der Gott uns als den bekannt gemacht hat, der mit hineingeht in unsere menschliche Situation, auch noch in unser Sterben und unseren Tod, der sogar die Verzweiflung der Gottverlassenheit mit erleidet. Doch nicht, um uns darin allein zu lassen, sondern mit der Hoffnung auf den Sieg der Liebe über den Tod zu erfüllen. Der Gott, der am Kreuz stirbt, ist Gott der Allmächtige. Der Gott, der seit Ostern der Grund unserer Hoffnung ist, ist der ohnmächtige Gott der Liebe, der Gott, der in den Schwachen mächtig ist und den wir in der Kraft eines unwahrscheinlichen Lebensmutes jetzt schon in uns wirksam fühlen. Dieser Gott lässt uns nicht allein, auch wenn wir sterben müssen.

Copyright: Prof. Wihelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin