“Kirchenaustritte sind eine Erlösung für die Kirche”

Über steile Thesen aus offiziellem protestantischen Munde.
Ein Hinweis von Christian Modehn. Zuerst veröffentlicht am 3.7.2022, erneut veröffentlicht am 11.3.2023.

Der Ausgangspunkt:
Eine maßgebliche protestantische Theologin, Dr. Kristin Jahn, Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages, bewertet jetzt die zunehmenden Kirchenaustritte als „Erlösung“. Dabei versteht sie Erlösung als Befreiung vom System der Volkskirche. …hin zu einer Minderheitenkirche. Sehr optimistisch wird diese Minderheitenkirche „Freiwilligenkirche“ des „mündigen Bekennens“ genannt, Frau Jahn schreibt:. „Heute erleben wir einen Erlösungsprozess durch Austritte hin zu einer Kirche der Freiwilligkeit und des mündigen Bekennens“, so Kristin Jahn am 30.6.2022 in Fulda. (Quelle: Pressemeldung des Ev. Kirchentages vom 1.7.2022)

Hinter dieser These der Theologin Kristin Jahn steht die (unausgesprochene) Überzeugung: Die gegenwärtige Kirche ist selbst reformunfähig, sie kann ihre eigenen Mitglieder nicht mehr in der Kirche „halten“, geschweige denn für die Kirche begeistern.
So bleibt also der irgendwie „gelähmten“ Kirchen – Führung und – Institution und – Bürokratie nichts anderes übrig, als sich über die Kirchenaustritte von hunderttausenden Christen pro Jahr zu freuen – als Erlösung sogar.

Erlösung gibt es für eine reformatorische, kritische Theologie nur dann, wenn sich nun die „Ausgetretenen“ von den vielen belastenden Dogmen und Kirchengesetzen, den veralteten Liedern und unverständlichen Gebeten befreien. Das sollten die verbliebenen Mitglieder auch tun.

Eine kritische Reflexion:
1. „Kirchenaustritt als Erlösung“
Die großen Kirchen in Deutschland schrumpfen und schrumpfen … und wahrscheinlich werden sie, hält dieser Trend an, in etwa 40 Jahren fast verschwunden sein, zahlenmäßig betrachtet. Die Zahl der Austritte aus diesen trotz allem noch machtvollen Organisationen, mit ihren Milliardenetats bis heute, nimmt zu. Und was tun Verantwortliche dieser schrumpfenden Großorganisation: Sie zeigen sich geradezu glücklich über diese Entwicklung: So sagte Dr. Kristin Jahn, Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages, am 30.6.2022 in Fulda auf einem Podium mit dem Titel “Wohin steuern die christlichen Kirchen?“: „Die evangelische Kirche steht sich aus meiner Sicht oft selbst im Weg mit ihrem Amtsverständnis und Kirchenordnungen, die noch aus einer Zeit resultieren, in der man durch Sitte und Tradition in Kirche war. Diese Zeiten sind vorbei. Heute erleben wir einen Erlösungsprozess durch Austritte hin zu einer Kirche der Freiwilligkeit und des mündigen Bekennens.”

2.
Kirchenaustritte als Erlösungsprozess zu deuten: Eine steile These. Konservative, evangelikale Christen, zu denen ich absolut nicht gehöre, könnten einwenden: Erlösung im klassischen Sinne kann doch einzig durch Jesus Christus kommen und nicht durch Kirchenaustritte.

3. “Die  nicht immer jugendlichen Freiwilligen“
„Erlöst“, so denkt die Kirchentagsgeneralsekretärin, sollen sich aber nicht etwa die Millionen EX-Kirchenmitglieder fühlen, weil sie, „ausgetreten“, nun keine Kirchensteuer mehr zahlen müssen.
Nein, „erlöst“ soll sich die Institution Evangelische Kirche fühlen, das „System“, wie Frau Jahn sagt. Freude also darüber, dass sich die Kircheninstitution nun – endlich – auf dem Weg hin zu einer Kirche der Freiwilligkeit befindet. Aber worin ist diese Hoffnung begründet? Die verbliebenen evangelischen Kirchenmitglieder sind, wenn sie öfter als am Heiligabend in die Kirche zum Gottesdienst gehen, eher „ältere Semester“. Wie lange kann man mit Senioren die „Kirche der Freiwilligkeit“ gestalten?
Diese Hoffnungen auf „Erlösung“ sind deswegen haltlos, weil man immer noch nicht im Detail weiß, welche Altersgruppen aus den Kirchen ausgetreten sind, man weiß nichts über deren ökonomischen Status, nichts über deren Bildungsniveau. Es gibt keine präzise soziologische Forschung der „Ausgetretenen“.

4.
Wer jetzt aus der katholischen Kirche in Deutschland austritt, hat sicher andere Gründe und Motive als die austretenden Protestanten. Es ist bereits ein Zeichen für die geringe Kenntnis der eigenen Konfessionalität, wenn Protestanten aus ihrer Kirche austreten, weil sie den Papst nicht hochschätzen oder den zölibatären Klerus….

5. „Wenn Kirchenleute sich den Ast absägen, auf dem sie sitzen“
Auf der genannten Tagung konnte der protestantischen Erlösungsthese der katholische Theologe Prof. Thomas Söding zustimmen: “Wir werden eine Kirche der freiwilligen Entscheidung sein müssen.“ Ob es dann, bei den realistisch gesehen wenigen freiwillig Entschiedenen noch Kirchentage/Katholikentage und gut bezahlte Generalsekretärinnen oder gut bezahlte Domherren und bestens bezahlte TheologieprofessorInnen an staatlichen Universitäten geben wird, ist wohl eher ausgeschlossen. Man könnte also diese Ausführungen in Fulda deuten als „das begeisterte Sägen auf dem Ast“, auf dem es sich für Kirchenangestellte bisher materiell sehr gut leben ließ.

6. „Das Lämmelein (Jesus) will gern leiden“
Aber das ist nicht mein zentrales Thema. Wenn man schon das hochwertige Wort „Erlösung” im Zusammenhang der zunehmenden Kirchenaustritte verwenden will: Erlöst wird durch den erlösenden Kirchenaustritt die Menschheit, speziell die Christenheit, von der Macht eines dogmatischen und moralischen Glaubenssystems, das auf alle Fragen, die irgendwie mit Gott zu tun haben, umfassende Antworten hatte und hat.
Eine solche Befreiung vom Wahn der allwissenden Dogmen und tausend Kirchengesetzen ist tatsächlich eine Erlösung, von der allerdings keine Generalsekretärin, kein Bischof, kein Theologieprofessor zu sprechen wagt. Sie genieren sich, endlich das Wort „Zeitenwende“ auch auf die kirchliche dogmatische Verfasstheit ihrer Kirchensysteme anzuwenden.
Die globale Zeitenwende findet aber durch die Kirchenaustritte schon seit langem statt. Christen verabschieden sich nicht nur von den Dogmen, sondern, um nur ein nahe liegendes Beispiel aus den Gottesdiensten zu nennen, auch von den Kirchenliedern: Diese muten als Text dem heutigen Menschen Unsägliches an Gedankenwirrwarr zu, die tausend Beispiele kann ich hier nicht dokumentieren. Zu den katholischen immer noch üblichen Marienbildern habe ich das exemplarisch gezeigt. LINK.
Man lese bitte auch die theologisch befremdliche Theologie der evangelischen Passions – und Karfreitagslieder , etwa: „Ein Lämmlein (gemeint ist Jesus von Nazareth, CM) geht und trägt die Schuld der Welt und ergibt sich auf die Würgebank … und spricht ich wills gern leiden“ (Nr. 83 Ev. Gesangbuch, Text von Paul Gerhardt 1647!) Auch die heute irritierenden Texte von Bachs Kantaten wären ein eigenes Thema, schön ist da nur die Musik….

7. „Die Reihen fest geschlossen“
Man denke im katholischen Bereich auch daran, dass bis 1975, also bis zur Herausgabe eines neuen katholischen Gesangbuches, die 6. Strophe des sehr beliebten und oft in überfüllten Messen geschmetterten katholischen Liedes „Ein Haus voll Glorie schauet“ heißt:“ Viel tausend schon vergossen mit heilger Lust ihr Blut. Die Reihen stehen fest geschlossen in hohem Glaubensmut, Gott wir loben dich, Gott wir preisen dich….“ usw.
Die 7. Strophe verstärkt dann den Charakter eines Kampfliedes „Auf eilen liebentzündet auch wir zum heilgen Streit, der Herr, ders Haus gegründet, uns ewigen Sieg verleiht“….
Fraglich ist, ob der Nazi Horst Wessel für seine Lied-Zeile „Die Reihen fest geschlossen“, Anregungen von diesem sehr oft gesungenen katholischen „Kampflied“ aus dem Jahr 1877 empfing. Für die katholische Kirche aber gilt nach wie vor: Die „Reihen sind fest geschlossen“ : Dies ist eine Art Ideal des herrschenden Klerus…Häretiker, Abweichler und Reformer wissen ihr trauriges Lied davon zu singen…Und die Laien, die Masse der Gehorchenden und Gehorsamen,  sollte sich sicher fühlen, abgeschottet von den Gefahren, den Gefährdern, den Irrlehrern, den Refomratorn. Die geschlossene katholische Welt als Burg – das war das Ideal.Und der Wahn, der krank machte als Snbgrenzung von allem Modernen … bis 1962, mit den minimalen Reformen des 2. Vatikanischen Konzils.
Und das ist vielleicht der größte Skandal bei diesem Sing-Sang: Die erste Strophe des Liedes (Gotteslob Nr. 639) darf immer noch gesungen werden, trotz aller Missbrauchsskandale durch Priester, trotz aller Macht des Klerus nach wie vor, trotz aller immer noch vorhandener Benachteiligung der Frauen in der Römischen Kirche: Da heißt es also: „Ein Haus VOLL GLORIE SCHAUET, weit über alle Land. Aus engem Stein erbauet, von Gottes Meisterhand…“ Theologisch zudem falsch: Hat Gott, der Ewige, höchstpersönlich diese römisch-katholische Kirche gegründet und, so wie sie ist, aufgebaut? Wer glaubt denn so etwas?

8.
Was bedeutet nun Erlösung für Christen, die durch ihren Kirchenaustritt spirituelle Freiheit erlangen:Sie werden von Lasten befreit, von einer Institution die „Steine statt Brot“ den Glaubenden reicht, ihnen das Leben schwer macht… Ich will das nur am Beispiel der katholischen Kirche zeigen: Da umfasst der Inhalt des zu Glaubenden tatsächlich 717 Seiten im offiziellen „Katechismus der katholischen Kirche”, herausgegeben von der damaligen Ratzinger Behörde, der „Glaubenskongregation“, im Jahr 1993.

9. Der christliche Glaube ist einfach und undogmatisch
Erlösung inmitten der aktuellen theologischen Zeitenwende (Kirchenaustritte, Zusammenbruch kirchlicher Glaubwürdigkeit usw.) bedeutet: Der christliche Glaube als religiöse Lebenshaltung und Lebenspraxis kann auf einigen wenigen DINA4 Seite dargestellt werden als Anregung und Impuls. Wichtig ist: Der christliche Glaube ist in seiner Lehre einfach.
Konfessionelle Verschiedenheiten verschwinden bei einer kontemplativen Lebenshaltung: Sie wird der göttlichen Wirklichkeit im Menschen, in jedem Menschen, inne. Wenn von Gott die Rede sein soll, dann nur: Gott ist Geist, präsent in der Welt und in Menschen. Diese Erfahrung ist keine billige Vertröstung, sondern eine Einladung, geistvoll (d.h. vernünftig, den Menschenrechten praktisch folgend) in der Welt zu handeln, zugunsten des Gemeinwohls und immer unter dem Anspruch des Kategorischen Imperativs.
Dieses „einfache Christentum“ sieht Jesus von Nazareth als ein Vorbild der Lebendigkeit, die Bibel wird bei kritischer Lektüre als Buch von Weisheit empfohlen, neben anderen religiösen Texten. Und man kann sich als Christ mit anderen versammeln, um Jesu zu gedenken, in der Mediation, im Dialog, beim gemeinsamen Mahl der Solidarität. Und dieses einfache Christentum sucht das gleichberechtigte und lernbereite Gespräch mit anderen (nicht nur religiösen) Menschen.

10. Lektüre Empfehlungen
Die hier nur skizzierte These der Erlösung als Befreiung von der starren klerikalen Dogmenwelt könnte für die „Ausgetretenen“ inspirierend sein, selbständig zu suchen und neue spirituelle Dimensionen zu entdecken.
Dabei können Texte von Philosophen und Mystikern hilfreich sein. Unter anderem auch die Spiritualität des mittelalterlichen und zugleich modernen Meister Eckart, für den Einheit des Menschen mit der göttlichen Wirklichkeit im Zentrum des Glaubens steht. Mehr braucht der Mensch eigentlich nicht, meint Eckart!! Als Einstieg für Anfänger: „Vom Wunder Seele. Eine Auswahl aus den Traktaten und Predigten“, Reclam Verlag 2,60 Euro.
Wer die Mühe der Eckart-Lektüre jetzt noch nicht so will: Dem empfehle ich die kontemplativen und gleichzeitig politischen Texte des us-amerikanischen Mönchs Thomas Merton, etwa das leicht zugängliche Buch: „Sich für die Welt entscheiden“, Arbor Verlag, Freiburg, 2009.

Zu den Austrittszahlen

Für die katholische Kirche:
2012 haben 118.300 Katholiken die Mitgliedschaft in der Kirche gekündigt.
2021 waren es 359.200 Katholiken.

Weitere umfassende Informationen: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/4052/umfrage/kirchenaustritte-in-deutschland-nach-konfessionen/

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

 

Eine total katholische Welt… in Pfarrgemeinden in West-Berlin

Gegen das Vergessen: Ein Zeitzeuge aus den Jahren 1958-1965 erinnert sich.

Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 14.2.2022

1.
Gegen das Vergessen: Das gilt auch für die „katholische Welt“ in der Mitte des 20. Jahrhunderts in West-Berlin. Wie diese Welt aussah, wie sie die Katholiken bestimmte und prägte, ist heute, zumal für die Jüngeren, nahezu unbekannt. Viele kennen heute bestenfalls den etwas „reformierten“ Katholizismus seit dem 2. Vatikanischen Konzil (1962-1965). Diese alte katholische Welt in den Pfarrgemeinden hatte für die intensiver Beteiligten und „Engagierten“ (Laien) durchaus etwas Totales, Abgeschottetes, Rund-um Betreutes…
Aus anderen Regionen Deutschlands, die zudem katholischer geprägt waren als die Diaspora-Situation in West-Berlin, könnten zweifellos viele Ergänzungen genannt werden.

Aber diese hier dokumentierte, umfassend prägende, also durchaus totale katholische Welt der  Jahre 1958 -1968, ist letztlich gescheitert, sofern man unter Scheitern die Nicht – Akzeptanz dieser religiösen Welt durch die betroffenen Katholiken (Laien) versteht. Diese Akzeptanz schwindet immer mehr, jetzt zumal, wegen der (sehr zögerlich) freigelegten “Fälle” von sexuellem Missbrauch durch Priester. Also von “Geistlichen”, “Hochwürden”, “Monsignores”, “Exzellenzen” (Bischöfe), “Patres” (also “Väter”) usw…

Diese totale katholische Welt aus der Mitte des 20. Jahrhunderts verschwindet also in Europa, um das Verschwinden zu verstehen, sollte man sich an diese “Welt” erinnern.

2.
Die folgende Liste katholischen Lebens in den Jahren 1958 bis 1968 bezieht sich auf die West – Berliner Gemeinden St. Carl Borromäus, Grunewald, und St. Ansgar, Tiergarten, vor allem.
Die meisten der hier genannten religiösen katholischen Veranstaltungen kenne ich aus eigenem Erleben, geboren wurde ich 1948 in Berlin (Ost) -Friedrichshagen. Als Kind lernte ich dort die St. Martins -Pfarrei in Berlin – Karlsdorf kennen.
Viele Informationen wurden aus familiärem Umfeld, etwa der Eltern, mitgeteilt.

Dabei wäre es noch ein eigenes Thema, an die Erfahrungen der katholischen Eltern in Berlin zu erinnern, da drehte sich auch die gesamte Freizeit (etwa in den Jahren 1920-1933) um die Teilnahme in der Gemeinde (etwa St. Sebastian, Berlin – Gesundbrunnen.)

3.
Es steht zudem fest, dass die hier mitgeteilten Informationen noch weitere inhaltliche Vertiefungen brauchen. Dies wäre eigentlich ein weites Feld für interessante kirchenhistorische oder mentalitätsgeschichtliche Forschungen.

4.
Aber die LeserInnen im Jahr 2022 bemerken schon bei dieser ziemlich umfangreichen Liste, dass diese katholische Welt bis vor kurzem noch die Katholiken bestimmen, prägen, wenn nicht beherrschen wollte. Die Betroffenen (Laien) merkten oft gar nicht, wie ihnen dadurch viel Lebenszeit, viel Lebensfreude, viel Interesse an weltlicher, politischer Kultur geraubt wurde, wie ein mögliches Engagement für politische und soziale Projekte dadurch zweitrangig wurde.

5.
Ob die Katholiken, die Laien wie die vielen Priester, die es damals noch gab, durch diese unglaubliche Fülle von religiösen Angeboten damals wirklich zu einer reifen Spiritualität fanden, ist eine offene Frage. Ich würde sie eher mit Nein beantworten. Spiritualität war nur Kirchenbindung, “Liebe zur Kirche“, wie heute noch manche ungeniert sagen. Wie kann man „die“ Kirche lieben? Christen sollen zuerst Gott lieben UND den Nächsten und sich selbst.

6.
Die folgenden Beispiele sind bewusst nicht systematisch sortiert, dadurch wird die bunte Fülle dieser katholischen Welt deutlich.

Gottesdienste und Gebetsstunden, also Veranstaltungen in der Kirche (hier vor allem die St. Ansgar Gemeinde im Bezirk Berlin – Tiergarten):

Frühmessen, bis ca. 1968 war es üblich, in vielen Berliner Kirchen sonntags die erste Messe schon um 6 Uhr anzubieten, werktags ebenso. Ich war als Ministrant oft sogar vor Schulbeginn in der Messe um 6.45 Uhr in St. Ansgar engagiert.

Stille Messen, vor dem 2. Vatikanischen Konzil üblich; sie wurden in lateinischer Sprache vom Priester am Altar in ca. 20 Minuten „absolviert“. Die Messdiener mussten auf Latein den Gebeten des Pfarrers antworten, Wein und Wasser reichen für ein „Lavabo“ etc. Mit dem 2. Vatikanischen Konzil wurden diese „stillen“ , d.h. leise „brubbelnd gesprochenen oder gehauchten“ lateinischen Messen abgeschafft, die Traditionalisten (die Freunde Bischof Lefèbvres) pflegen sie bis heute.

Die Sonntagspflicht: Jeder Katholik ist laut Kirchenrecht verpflichtet, „Sonntags die Messe mit Andacht zu hören“, wie es offiziell heißt. Die Sonntagspflicht wird im offiziellen Katechismus aus dem Vatikan bis heute vorgeschrieben (§ 2180).

Die Osterbeichte, vor Ostern muss ein Katholik zur Beichte gehen. Als Beleg erhält er vom Pfarrer ein Bildchen, das die Teilnahme bestätigt. Auch die Teilnahme an der Kommunion zu Ostern wird durch ein Heiligen-Bildchen bestätigt.

Nüchternheitsgebote als Bedingung zur Teilnahme an der Kommunion in der Messe. Bis zu zwei Stunden vor Beginn der Messe hat der Priester und der Laie, der an der Kommunion teilnehmen will, nüchtern zu sein: Also keine Nahrung zu sich nehmen, nur etwas Wasser war erlaubt. Warum bloß? Der Leib Christi, in der Hostie, sollte offenbar auf einen „makellosen“ Magen stoßen…Das galt auch für Erstkommunion-Kinder bis etwa 1962, viele dieser „nüchternen“ Kinder (auch die Messdiener) wurden dann mangels Nahrung während der Messe ohnmächtig.

Heilige Stunde, eine Andachtsform, oft mit Anbetung der Hostie. Immer vor dem Herz-Jesu-Freitag.

Herz Jesu Freitag, dies ist der 1. Freitag eines jeden Monats, mit einer besonders feierlichen Messe und der Zusage eines guten Todes bei regelmäßigem Besuch dieser Messe, meist am Abend gelesen. Nach dem Bau der Mauer durch die DDR wurde freitags in West-Berliner Kirchen die “Bistumsmesse” gefeiert, so sollte im Gebet die Einheit des Bistums Berlin real werden, sagten die Priester.

Complet, Abendgebet, oft von der „Pfarrjugend“ am Samstag-Abend gestaltet, meist sogar in lateinischer Sprache, mit werkwürdigen Bitten auf Lateinisch: Dass man gut schlafe und, so wörtlich,„nec polluantur corpora“. Diese Gebets-Bitte haben die wenigsten Jugendlichen beim Gesang verstanden: „Dass die Körper nicht durch nächtliche Pollution (Samenerguss) befleckt werden“ (war offenbar auch ein Anliegen der täglich diese Komplet singenden Mönche in den Klöstern, auch in Frauenklöstern? Das weiß ich nicht).

Novene, Gebete an neun aufeinanderfolgenden Tagen, um besondere Gnadengaben zu erbitten.

Ewiges Gebet, ein Tages – oder Wochen-Programm, rund um die Uhr sollte mindestens eine Person in der Kirche anwesend sein, um vor der Monstranz still zu beten.

Ablass Erwerben (etwa am 2.November für die Verstorbenen), trotz Luthers Kritik bis heute völlig eine selbstverständliche, auch von Papst Franziskus empfohlene Praxis in der katholischen Kirche.

Ein Triduum, drei Tage der Vorbereitung auf ein Hochfest, wie Pfingsten. Aber auch drei Tage „besondere Predigten.“ Ein Pflichtprogramm für „gute Katholiken“. „Gute Katholiken“ waren praktizierende Katholiken. Und praktizieren hieß in einem sehr begrenzten Verständnis von Praxis: An den Messen regelmäßig teilnehmen, zur Beichte gehen etc…

Volksmission „Motto: „Rette deine Seele“, Ordenspriester besuchen die Pfarrgemeinde zwei Wochen lang und predigen täglich mehrfach, meist getrennt für Männer, Frauen, Jugendliche. Dringendste Aufforderung zur Beichte (bei dem Volksmissionar).

Beichten beim fremden Beichtvater, wenn man nicht bei dem bekannten Gemeindepfarrer beichten will, der alles Private von der Familie kennt, kommt gelegentlich ein unbekannter fremder Beichtvater. An dessen „Beichtstuhl“ bilden sich dann lange Warteschlangen…Unvorstellbar, heute 2022, solche Bilder von vielen reumütigen Sündern in Deutschland noch in den Kirchen zu erleben.

Levitenamt mit feierlichem Einzug, Pfarrer, Diakon und Subdiakon zelebrieren gemeinsam das Hochamt, die wichtigste Messe am Sonntag.

Diese Levitenämter wurden oft beendet mit dem – in überfüllter Kirche – laut geschmetterten Bekenner – Lied „Ein Haus voll Glorie schauet, weit über alle Land“ (gemeint ist die römische Kirche). In der 6.Strophe dieses Liedes, in der alten Fassung bis 1975 gesungen, heißt es: „Viel tausend schon vergossen mit Heilger Lust ihr Blut, die Reihen stehen fest geschlossen in hohem Glaubensmut…“ Dieser Text stammt von einem J. Mohr 1877, in dem Gesangbuch für das Bistum Berlin „Ehre sei Gott“, die Nr.197. ” Die Reihen fest geschlossen“ …diesen Vers haben dann auch Nazis gegrölt.

Diese genannte 6. Strophe ist in dem neuen katholischen Gesangbuch „Gotteslob“ von 1975 (dort Nr. 639) nicht mehr enthalten, wie überhaupt der Text des Herrn Mohr revidiert wurde

Katholische Identität: Das Lied „Ein Haus voll Glorie schauet, weit über alle Land“ möchte ich als katholisches „Kampflied“ bezeichnen, der Text definiert die Liebe zur Kirche als dem Haus voller Glorie. Es wurde bewusst eingesetzt gegen das protestantische „Kampflied“ „Ein feste Burg ist unser Gott“. Man beachte nur den Unterschied. In dem protestantischen Lied geht es im Text um Gottes Macht; im katholischen Lied um die römisch-katholische Kirche. Es ist diese totale Kirchenfixierung, die den Katholizismus bestimmt(e) und ihn oft in die Nähe zu einer umfassenden Ideologie rückt: Zuerst die Kirche, dann der liebe Gott.

Segensandachten, oft sonntags am Nachmittag oder am Abend gefeiert. Beten nach den Vorlagen des Gebetbuches und singen, gelegentlich werden vom Pfarrer auch fromme Texte verlesen: Das ist dann die „Christenlehre am Sonntagabend“. In jedem Fall sind Ministranten anwesend, die große Freude haben, Weihrauch zu schwenken und davon mit Freude viel zu verbrauchen.

Kreuzweg-Andachten, in den 6 Wochen vor Ostern, Betrachten der Kreuzwegbilder in der Kirche mit entsprechenden Gebeten, geleitet vom Pfarrer.

Ölbergstunden, das stille Beten am Gründonnerstag vom ca. 20 Uhr bis Mitternacht.

Rosenkranzandachten, immer möglichst täglich im Oktober, am Abend; aber auch während des Jahres oft einmal wöchentlich. Bei den stillen Messen (s.oben) beteten die TeilnehmerInnen der Messe gern den Rosenkranz, weil sie das leise gesprochene Lateinische, also die Messe selbst, nicht verstanden.

Maiandachten, Marien-Andachten oft täglich im Monat Mai, mit den merkwürdigsten und theologisch hochproblematischen Marien-Liedern. Man denke an das Lied „Maria Maienkönigin, dich will der Mai begrüßen“. Oder „Die Schönste von allen, von fürstlichem Stand“ oder „Mein Zuflucht alleine, Maria die reine, zu beten an“ (sic), „Über die Berge schallt s , lieblich durch Flur und Wald, Glöckchen dein Klang….“ (Siehe auch: „Mythos Maria“, von Hermann Kurze, München, 2014).

Müttermessen“, spezielle Werktagsmessen für Frauen und Mütter, selbst zu Wort gekommen sind sie in der Müttermesse natürlich nicht, sie waren passive ZuhörerINNEN.

Fastenpredigten, in den Wochen vor Ostern, der Fastenzeit, kamen mehr oder weniger begabte „auswärtige“ Prediger (oft Ordenspriester) in die Pfarreien und predigten intensiver und länger als gewöhnlich.

Primizsegen, der frisch geweihte Neupriester segnet die einzelnen Gläubigen, weil ihm offenbar ganz „besondere geistliche Macht oder frische Segnungs-Energie“ zugetraut wird. Katholiken sagten mir: Für einen Primizsegen laufe ich mir die Schuhe kaputt”. Offenbar glaubte man, ein frischer Segen eines jungen Priesters sei wirkungsvoller… Katholischer Aberglaube halt.

Priestersamstag, an dem Tag werden Messen gehalten, um für Priesterberufe zu beten. Diese Gebete wurden vom lieben Gott seit ca. 1970 nicht mehr erhört: Kein junger Berliner wollte noch Priester werden, heute stammen sehr viele Priester in Berlin aus Polen, Spanien, Afrika, Indien, den Philippinen usw. Wenn von dort in absehbarer Zeit auch kein Priester mehr „aushilft“, kann „man den Laden (Katholizismus in Berlin) zumachen“, wie ein Pfarrer mir kürzlich (2021) sagte.

Nachtanbetung für Männer, sie trafen sich in Kirchen und Kapellen West-Berlin, um in der Fastenzeit von Freitagabend 22 Uhr bis Samstag 6 Uhr zu beten, zu beichten, Predigten zu hören.

Roratemessen, in der Adventszeit frühmorgens um 5 Uhr gelesene Messen, oft speziell für Jugendliche, die danach gemeinsam frühstückten bevor sie zur Schule usw. gingen.

Versehgänge: Der Priester bringt, oft begleitet von einem Ministranten, die Kommunion einem Schwerkranken und Sterbenden, der Priester „versieht“ ihn mit der Kommunion. Wer auf der Straße einen solchen Priester bei seinem „Versehgang“ traf, durfte ihn nicht ansprechen: „Er hatte den lieben Gott bei sich“, hießt die populäre Erklärung. In manchen bayerischen Kirchen war der Altar mit einem Tuch geschmückt, darauf stand: „Stille, hier wohnt Gott“. In Katholischen Kirchen dürfen die Gläubigen untereinander nur leise flüstern.

Gebotene Fast – und Abstinenztage: Ein Tag vor kirchlichen Hochfesten sollte der Katholik fasten und keinen Alkohol trinken, zu den Hochfesten zählte auch der 8. Dezember, das fest Martens Unbefleckte Empfängnis, also war der 7. Dezember einer der Fast – und Abstinenz Tage.

Der Kirchenchor: Er hält seine Proben einmal wöchentlich, in St. Ansgar wurden viele schlesische Lieder und schlichteste Messen (von Max Filke aus Schlesien) geprobt und aufgeführt an hohen Festtagen.

Der Organist (in St. Ansgar) zieht bei der Begleitung der Lieder oft alle Register, er erschlägt beinahe den Gesang der Gemeinde. Orgel als Herrschafts-Instrument. In evangelischen Kirchen versteht man trotz Orgelbegleitung meist noch den Gesang der Gemeinde.

Aushilfen durch Priester: Es gab bis ca. 1968 sehr viele Priester in Berlin, zum Teil pensioniert, zum Teil früh-pensioniert aus welchen ungenannten Gründen auch immer.Diese Priester wollten gern mal in einer Gemeinde die Messe lesen und predigen. Die Gemeindepfarrer waren also „entlastet“. In der Verwaltungszentrale, dem Ordinariat, war für jedes „Ressort“ selbstverständlich ein Priester, meist ein „Monsignore“ oder „Geistlicher Rat“ tätig. Sie wohnten oft in dem – von Laien – so genannten „Priesterpalais“, einer riesigen Villa in der Winklerstr. im eleganten Stadtteil Grunewald.Es gab in West-Berlin auch viele Ordenshäuser, das Dominikanerkloster St.Paulus in Berlin-Moabit war zeitweise geradezu überfüllt, auch mit jungen Priestern, die dann in St. Ansgar zur Messfeuer auftauchten und nach einigen Wochen wieder verschwanden (wegen eigener Eheschließungen etc.).

Veranstaltungen in den Gemeinderäumen

Beichtunterricht, Kommunionunterricht, Firm-Unterricht: Diese Unterrichtsstunden waren verpflichtend für alle, die an der Ersten Beichte mit ca. 8 Jahren, der Erstkommunion mit ca. 10 Jahren und mit ca. 12 Jahren an der Firmung durch den Bischof teilnehmen wollten. Ich erlebte diese Stunden, die sich oft über mehrere Wochen hinzogen, als Form der Indoktrination. Meine einzige als Achtjähriger: Was soll ich denn bloß dem Pfarrer im dunklen Beichtstuhl sagen? Da gab es Vorlagen, welche Sünden man denn begangen haben könnte… Man wählte aus.

Kirchenvorstand, Laien werden vom Pfarrer berufen, nach dem Konzil gewählt, um über die finanzielle Situation der Gemeinde zu wachen.

Pfarrgemeinderat, nach dem 2. Vatikanischen Konzil eingerichtetes Beratungsgremium von Laien, darunter auch Jugendlichen, die Mitglieder werden von anderen Gottesdienstteilnehmern gewählt. Erster Vorsitzender ist der Pfarrer, ohne seine Zustimmung geht gar nichts, es sei denn der Pfarrgemeinderat beschließt, eher gelbe Tulpen als roter Tulpen für den Altar zu verwenden…

Ministrantenrunde, damals nur männliche Minstranten, einmal wöchentlich eine Stunde mit dem Pfarrer, Festlegung der Ministranten-Einsätze, Liedersingen etwa: „Wilde Gesellen vom Sturmwind umweht“, Quiz. Für jedes Ministrieren erhielt der Ministrant 10 Pfennig, wurde durch eine Strichliste dokumentiert. Solange noch lateinische Messen gefeiert wurden, mussten die 10-12 Jährigen die vielen lateinischen Gebete auswendig lernen, dies wurde geübt etwa aus dem „Stufengebet“: „Ad deum, qui laetificat iuventutem meam“. Der Pfarrer brüllte dann in der Ministrantenstunde, wenn ein Junge versehentlich iuventutum sagte statt iuventutem… Welch eine eingepaukte Gebets-Entfremdung für Kinder, die in fremder Sprache des römischen Altertums beten sollten.

Katholische Pfarrbibliothek: Jede Gemeinde hatte eine eigene kleine, so genannte öffentliche Bibliothek, sie war aber nur sonntags nach den Messen geöffnet. In St. Ansgar gab es ihn der Pfarrbibliothek etwa 300 Bücher, vor allem Romane und katholische Jugendliteratur, ich konnte als einer der wenigen Leser Vorschläge zur Anschaffung von Neuerscheinungen machen.

Seelsorgestunde, zusätzlich zum Religionsunterricht in der Schule, katholische Unterweisungen imm Gemeindehaus am Nachmittag. Die Trinität würde erklärt oder die Jungfrau Maria beschworen. Über Sexualität würde kein Wort gesprochen. Auch nicht darüber, wie man sich als Kind/Jugendlicher bei Auseinandersetzungen mit den Eltern oder den Lehrern verhalten sollte.
Diese Gemeinden waren keine angenehmen „Orte“ des Lebens, des lebendigen Lebens. Manchmal dachte ich als 16 Jähriger, diese Gemeinden sind eigentlich Partei-Büros einer bestimmten Partei, Ost-Berlin war nahe für uns im Westen Berlins…

Männer – und Frauenrunde, einmal monatlich, oft Vorträge des Pfarrers zu theologischen/ideologischen Fragen.

Kolpingfamilie, Treffen für Ehepaare, die „Kolpingsfamilie“ hatte eine eigene Flagge, die etwa bei Prozessionen außen vorgeführt wurde. Gemütlichkeit war das Motto. Es gab auch katholische Arbeiutervereine, oder Katholisch-kaufmännische Vereine oder eine katholische Ärzte Gilde selbst für die katholischen Philatelisten gab es eine Gruppe in West-Berlin.

Vinzenz – und Elisabeth-Konferenz: Männer und Frauen treffen sich regelmäßig, um zu planen, welche Bedürftigen besucht und finanziell unterstützt werden sollen. Dabei handelte es sich um fast immer um „arme Katholiken“. Dies war eine Form des sozialen Engagements.

Bewegung für eine bessere Welt (gegründet von P.Lombardi SJ), Diskutieren über den Zustand der Welt. Ich erinnere mich: Eine Frau stpürzt ins Gemeindehaus von St. Ansgar, fragt: Ist hier die bessere Welt? Nein, sagt der Pfarrer, die ist in St. Canisius, bei den Jesuiten.

Weltmissionssonntag: Immer Ende Oktober gedachten die Gemeinden der katholischen Weltmission. Ich fand diesen Tag wegen des „internationalen Geistes“ als Schüler immer besonders wichtig!

Action Pater Leppich, Kreis von Aktivisten, die überall katholische Schaukästen aufstellen wollten.

Tanztee für katholische Jugendliche, damit die Jugendlichen nicht in säkulare Discos „abdriften“, sie sollen katholische PartnerInnen kennenlernen. Haben sie dann auch, manchmal schnell wieder geschieden…

Kreuzweg in der Stadt, katholische Männer ziehen mit einem Kreuz durch die Stadt. Vor Ostern, an einem Samstagnachmittag.

Fronleichnams Prozessionen, intensiv vorbereitet, mit Altären in den Straßen, Plätzen auch im Bezirk Tiergarten.

Autosegnungen, in Berlin, in der St. Christophorus Kirche, Neukölln. (Nebenbei: heute werden auch Handys etc. gesegnet, der Segen für homosexuelle Paare ist vom Vatikan verboten).

Die katholische Welt: Katholische Friedhöfe, katholische Krankenhäuser, katholische Schulen, katholische Gymnasien, katholische Kindergärten, katholische Buchhandlungen (Mores-Buchhandlungen in vielen Stadtteilen Berlins), katholische Ärzte für Katholiken: Die Totalität wird sichtbar. Es war schwer, sich dem nicht zu entziehen…

Caritas-Sammlungen: Ich beteiligte mich als Jugendlicher an der so genannten Straßensammlung, zog als den ganzen Samstag nachmittag und Abend mit einer Sammelbüchse aus Metall auch über den Ku-Damm und bettelte alle mir entgegen kommenden Passanten an. Ich war stolz, wenn dann am Sonntag aus der Büchse etwa 150 D Mark in Münzen hervorkamen.

Nicht erwähnt sind: Der “Bund Neudeutschland” (ND), die “katholischen Pfadfinder St. Georg”, der “Katholiscche Frauenbund”, der Dritte Orden des heiligen Dominikus, der Verein vom heiligen Land, der Fatima-Sühnekreuzzug, der Bund des deutschen katholischen Jugend BDKJ, das Kindermissionswerk, die Sternsinger, die Sommerausflüge der Gemeinde, der Gemeinde (Tanz) -Abend im Herbst (in der “Kongreßhalle” in Tiergarten, die “Informationsabende” über die Weltmission,  die Gespräche mit dem Pfarrer vor der krichlichen Trauung, “dem Ehesakrament”, und so weiter…

Es gab keine speziellen Bibelstunden, also keine Kreise, die sich nur mit der Lektüre und der Interpretation der Bibel befassten! Dazu waren die katholischen Pfarrer oft gar nicht in der Lage, schließlich war die historisch-kritische Bibelforschung bis ca. 1960 verboten bzw. Übel angesehen. In West – Berlin gab es EINEN speziell für Bibelfragen und das „Bibel-Werk“ zuständigen Pfarrer.

Es gab in den Jahren keine offiziellen ökumenischen Begegnungen mit den evangelischen Gemeinden in der Nachbarschaft.

Sonntags um 9.50 läuteten die Glocken der St. Ansgar Kirche und die Glocken der ca 100 Meter entfernten Evangelischen Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche gleichzeitig für die Gottesdienste um 10 Uhr. Und kein Christ kam auf die Idee, einfach mal den Gottesdienst der anderen Konfession zu besuchen.

Am Schriftenstand am Eingang der Kirche:
Broschüren, zum Beispiel: „Katholik, das musst du wissen“, vom Johannes
-Bund Leutesdorf. Zeitschriften: „Maria siegt“. „Hoffnung“, „Der Feuerreiter“, „Mann in der Zeit“, „Echo der Zeit“, „Petrusblatt“, „Der Jesusknabe“, „Stadt Gottes“ und so weiter

Die Anreden: Hochwürden, Herr Pfarrer XY, Herr Kaplan, Eminenz, Seine Durchlaucht (für den Vorsitzenden des ZK der Katholiken), Monsignore, Domherr, Domvikar, Geistlicher Rat, Erzpriester, Defensor Vinculi, Frauenseelsorger, Männerseelsorger.
Die Nonnen wurden als „ehrwürdige Schwestern“ genannt oder „Mutter Oberin“.

Wenn ein Kaplan sein Priesteramt aufgab und meistens dann heiratete, nannte man ihn im katholischen Milieu „einen Abgesprungenen“ oder „Abgefallenen“. Diese Abgesprungenen mussten das alte Wohngebiet verlassen, sie sollten kein „Ärgernis“ geben. Wer sich als Priester verliebt, erregt für Katholiken ein „Ärgernis“…

Ansätze zu einer Bewertung
Bis ça. 1968 nahmen von den 1.600 Mitgliedern der St. Ansgar Gemeinde in Berlin-Tiergarten ca. 500 Menschen an der Sonntagsmesse teil, dreimal wurde sonntags die Messe gefeiert. Diese Teilnahme entsprach auch kirchlichem Druck: der Sonntagspflicht!
Aber die Gemeinde bot auch Raum für allgemein menschliche, oft freundschaftliche Kommunikation. Manche nahmen wohl den Messbesuch bloß „in Kauf“, um danach noch lange Zeit mit anderen plaudern zu können, sich zu verabreden etc..

Diese starke Kirchenbindung damals hat sicher auch kulturell-soziale Gründe: Man denke an das Freizeit Verhalten damals; Gemeinde war auch ein Ort von kontrollierter, behüteter Freizeit, allerdings nicht immer, wenn man an die vielen Fälle von sexuellem Missbrauch durch Priester denkt. Darüber sprach damals niemand, auch wenn in der „weltlichen“ Presse, wie dem Tagesspiegel, gelegentlich Notizen des Missbrauchs veröffentlicht wurden. Ich erinnere mich an entsprechende kurze Meldungen aus dem Don-Bosco-Jugendheim in Berlin Wannsee (Leitung: der Salesianer-Orden, SDB), Pater von …XY wurde um 1965 aus dem Don-Bosco-Heim „versetzt wegen Unregelmäßigkeiten“, hieß es dann knapp im Tagesspiegel. Die katholische Kirchenzeitung berichtete selbstverständlich NICHT darüber…„Na ja, es menschelt halt bis zu Gott“, war die Standard – Antwort vieler Katholiken, und keiner wagte nachzufragen. Erst 2010 wurde aus diesem Don – Bosco – Jugendheim sexueller Missbrauch durch die dortigen Patres gemeldet: https://www.morgenpost.de/berlin/article103989118/Patres-sollen-Jungen-vergewaltigt-haben.html

Das Zweite Vatikanische Konzil gab den Katholiken endlich und zurecht ein Gefühl von individueller Freiheit und religiöser Wahl: Warum muss ich mich jeden Sonntag in die Kirche zur Messe setzen mit immer denselben Riten und fast schon zu Floskeln gewordenen Gebeten und den schlechten Predigten? Diese Frage stellten sich viele und entschieden sich individuell.

Heute hat die Kirche auch in Berlin die meisten Katholiken, als aktive Mitglieder, „verloren“. Die Gemeinden schrumpfen, sie werden „zusammengelegt“, kaum noch ein Pfarrer ist erreichbar, es werden Messen gelesen von den wenigen gestressten Priestern und alle wissen: In zehn Jahren bricht auch dieses System der Versorgung zusammen: Die Kirchenführer und die Laien sprechen öffentlich nicht differenziert und mit allem Wissen darüber, weil momentan der sexuelle Missbrauch durch Priester alle Debatten und Reflexionen beherrscht.

Das heutige Sterben der katholischen Gemeinden ist vor allem als ein Verlust an menschlicher Kommunikation zu beklagen. Und die Bischöfe lassen das alles zu, ohne endlich das totale Klerus-System zu beenden: Das da heißt: Nur ein Priester kann Messe feiern. Nur die Messe ist der Höhepunkt des Gemeindelebens. Solange die Kirche an diesen vom Evangelium unbegründeten Überzeugungen festhält, kann man alle Hoffnung für die katholische Kirche in Deutschland z.B. fahren lassen.
Die Zahl der LaientheologInnen in Berlin, die keine Arbeit in dieser Kirche fanden oder finden wollten, ist groß. Warum hätten sie nicht auch Gemeinden „leiten“ können? Weil der allherrschende Klerus das nicht wollte und auch heute nicht will. Der Klerus will herrschen, allein und immer. Da hilft nur eine weitere Reformation, also NICHT etwa eine „Reform“ oder ein „Reförmchen“.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin