Über steile Thesen aus offiziellem protestantischen Munde.
Ein Hinweis von Christian Modehn. Zuerst veröffentlicht am 3.7.2022, erneut veröffentlicht am 11.3.2023.
Der Ausgangspunkt:
Eine maßgebliche protestantische Theologin, Dr. Kristin Jahn, Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages, bewertet jetzt die zunehmenden Kirchenaustritte als „Erlösung“. Dabei versteht sie Erlösung als Befreiung vom System der Volkskirche. …hin zu einer Minderheitenkirche. Sehr optimistisch wird diese Minderheitenkirche „Freiwilligenkirche“ des „mündigen Bekennens“ genannt, Frau Jahn schreibt:. „Heute erleben wir einen Erlösungsprozess durch Austritte hin zu einer Kirche der Freiwilligkeit und des mündigen Bekennens“, so Kristin Jahn am 30.6.2022 in Fulda. (Quelle: Pressemeldung des Ev. Kirchentages vom 1.7.2022)
Hinter dieser These der Theologin Kristin Jahn steht die (unausgesprochene) Überzeugung: Die gegenwärtige Kirche ist selbst reformunfähig, sie kann ihre eigenen Mitglieder nicht mehr in der Kirche „halten“, geschweige denn für die Kirche begeistern.
So bleibt also der irgendwie „gelähmten“ Kirchen – Führung und – Institution und – Bürokratie nichts anderes übrig, als sich über die Kirchenaustritte von hunderttausenden Christen pro Jahr zu freuen – als Erlösung sogar.
Erlösung gibt es für eine reformatorische, kritische Theologie nur dann, wenn sich nun die „Ausgetretenen“ von den vielen belastenden Dogmen und Kirchengesetzen, den veralteten Liedern und unverständlichen Gebeten befreien. Das sollten die verbliebenen Mitglieder auch tun.
Eine kritische Reflexion:
1. „Kirchenaustritt als Erlösung“
Die großen Kirchen in Deutschland schrumpfen und schrumpfen … und wahrscheinlich werden sie, hält dieser Trend an, in etwa 40 Jahren fast verschwunden sein, zahlenmäßig betrachtet. Die Zahl der Austritte aus diesen trotz allem noch machtvollen Organisationen, mit ihren Milliardenetats bis heute, nimmt zu. Und was tun Verantwortliche dieser schrumpfenden Großorganisation: Sie zeigen sich geradezu glücklich über diese Entwicklung: So sagte Dr. Kristin Jahn, Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages, am 30.6.2022 in Fulda auf einem Podium mit dem Titel “Wohin steuern die christlichen Kirchen?“: „Die evangelische Kirche steht sich aus meiner Sicht oft selbst im Weg mit ihrem Amtsverständnis und Kirchenordnungen, die noch aus einer Zeit resultieren, in der man durch Sitte und Tradition in Kirche war. Diese Zeiten sind vorbei. Heute erleben wir einen Erlösungsprozess durch Austritte hin zu einer Kirche der Freiwilligkeit und des mündigen Bekennens.”
2.
Kirchenaustritte als Erlösungsprozess zu deuten: Eine steile These. Konservative, evangelikale Christen, zu denen ich absolut nicht gehöre, könnten einwenden: Erlösung im klassischen Sinne kann doch einzig durch Jesus Christus kommen und nicht durch Kirchenaustritte.
3. “Die nicht immer jugendlichen Freiwilligen“
„Erlöst“, so denkt die Kirchentagsgeneralsekretärin, sollen sich aber nicht etwa die Millionen EX-Kirchenmitglieder fühlen, weil sie, „ausgetreten“, nun keine Kirchensteuer mehr zahlen müssen.
Nein, „erlöst“ soll sich die Institution Evangelische Kirche fühlen, das „System“, wie Frau Jahn sagt. Freude also darüber, dass sich die Kircheninstitution nun – endlich – auf dem Weg hin zu einer Kirche der Freiwilligkeit befindet. Aber worin ist diese Hoffnung begründet? Die verbliebenen evangelischen Kirchenmitglieder sind, wenn sie öfter als am Heiligabend in die Kirche zum Gottesdienst gehen, eher „ältere Semester“. Wie lange kann man mit Senioren die „Kirche der Freiwilligkeit“ gestalten?
Diese Hoffnungen auf „Erlösung“ sind deswegen haltlos, weil man immer noch nicht im Detail weiß, welche Altersgruppen aus den Kirchen ausgetreten sind, man weiß nichts über deren ökonomischen Status, nichts über deren Bildungsniveau. Es gibt keine präzise soziologische Forschung der „Ausgetretenen“.
4.
Wer jetzt aus der katholischen Kirche in Deutschland austritt, hat sicher andere Gründe und Motive als die austretenden Protestanten. Es ist bereits ein Zeichen für die geringe Kenntnis der eigenen Konfessionalität, wenn Protestanten aus ihrer Kirche austreten, weil sie den Papst nicht hochschätzen oder den zölibatären Klerus….
5. „Wenn Kirchenleute sich den Ast absägen, auf dem sie sitzen“
Auf der genannten Tagung konnte der protestantischen Erlösungsthese der katholische Theologe Prof. Thomas Söding zustimmen: “Wir werden eine Kirche der freiwilligen Entscheidung sein müssen.“ Ob es dann, bei den realistisch gesehen wenigen freiwillig Entschiedenen noch Kirchentage/Katholikentage und gut bezahlte Generalsekretärinnen oder gut bezahlte Domherren und bestens bezahlte TheologieprofessorInnen an staatlichen Universitäten geben wird, ist wohl eher ausgeschlossen. Man könnte also diese Ausführungen in Fulda deuten als „das begeisterte Sägen auf dem Ast“, auf dem es sich für Kirchenangestellte bisher materiell sehr gut leben ließ.
6. „Das Lämmelein (Jesus) will gern leiden“
Aber das ist nicht mein zentrales Thema. Wenn man schon das hochwertige Wort „Erlösung” im Zusammenhang der zunehmenden Kirchenaustritte verwenden will: Erlöst wird durch den erlösenden Kirchenaustritt die Menschheit, speziell die Christenheit, von der Macht eines dogmatischen und moralischen Glaubenssystems, das auf alle Fragen, die irgendwie mit Gott zu tun haben, umfassende Antworten hatte und hat.
Eine solche Befreiung vom Wahn der allwissenden Dogmen und tausend Kirchengesetzen ist tatsächlich eine Erlösung, von der allerdings keine Generalsekretärin, kein Bischof, kein Theologieprofessor zu sprechen wagt. Sie genieren sich, endlich das Wort „Zeitenwende“ auch auf die kirchliche dogmatische Verfasstheit ihrer Kirchensysteme anzuwenden.
Die globale Zeitenwende findet aber durch die Kirchenaustritte schon seit langem statt. Christen verabschieden sich nicht nur von den Dogmen, sondern, um nur ein nahe liegendes Beispiel aus den Gottesdiensten zu nennen, auch von den Kirchenliedern: Diese muten als Text dem heutigen Menschen Unsägliches an Gedankenwirrwarr zu, die tausend Beispiele kann ich hier nicht dokumentieren. Zu den katholischen immer noch üblichen Marienbildern habe ich das exemplarisch gezeigt. LINK.
Man lese bitte auch die theologisch befremdliche Theologie der evangelischen Passions – und Karfreitagslieder , etwa: „Ein Lämmlein (gemeint ist Jesus von Nazareth, CM) geht und trägt die Schuld der Welt und ergibt sich auf die Würgebank … und spricht ich wills gern leiden“ (Nr. 83 Ev. Gesangbuch, Text von Paul Gerhardt 1647!) Auch die heute irritierenden Texte von Bachs Kantaten wären ein eigenes Thema, schön ist da nur die Musik….
7. „Die Reihen fest geschlossen“
Man denke im katholischen Bereich auch daran, dass bis 1975, also bis zur Herausgabe eines neuen katholischen Gesangbuches, die 6. Strophe des sehr beliebten und oft in überfüllten Messen geschmetterten katholischen Liedes „Ein Haus voll Glorie schauet“ heißt:“ Viel tausend schon vergossen mit heilger Lust ihr Blut. Die Reihen stehen fest geschlossen in hohem Glaubensmut, Gott wir loben dich, Gott wir preisen dich….“ usw.
Die 7. Strophe verstärkt dann den Charakter eines Kampfliedes „Auf eilen liebentzündet auch wir zum heilgen Streit, der Herr, ders Haus gegründet, uns ewigen Sieg verleiht“….
Fraglich ist, ob der Nazi Horst Wessel für seine Lied-Zeile „Die Reihen fest geschlossen“, Anregungen von diesem sehr oft gesungenen katholischen „Kampflied“ aus dem Jahr 1877 empfing. Für die katholische Kirche aber gilt nach wie vor: Die „Reihen sind fest geschlossen“ : Dies ist eine Art Ideal des herrschenden Klerus…Häretiker, Abweichler und Reformer wissen ihr trauriges Lied davon zu singen…Und die Laien, die Masse der Gehorchenden und Gehorsamen, sollte sich sicher fühlen, abgeschottet von den Gefahren, den Gefährdern, den Irrlehrern, den Refomratorn. Die geschlossene katholische Welt als Burg – das war das Ideal.Und der Wahn, der krank machte als Snbgrenzung von allem Modernen … bis 1962, mit den minimalen Reformen des 2. Vatikanischen Konzils.
Und das ist vielleicht der größte Skandal bei diesem Sing-Sang: Die erste Strophe des Liedes (Gotteslob Nr. 639) darf immer noch gesungen werden, trotz aller Missbrauchsskandale durch Priester, trotz aller Macht des Klerus nach wie vor, trotz aller immer noch vorhandener Benachteiligung der Frauen in der Römischen Kirche: Da heißt es also: „Ein Haus VOLL GLORIE SCHAUET, weit über alle Land. Aus engem Stein erbauet, von Gottes Meisterhand…“ Theologisch zudem falsch: Hat Gott, der Ewige, höchstpersönlich diese römisch-katholische Kirche gegründet und, so wie sie ist, aufgebaut? Wer glaubt denn so etwas?
8.
Was bedeutet nun Erlösung für Christen, die durch ihren Kirchenaustritt spirituelle Freiheit erlangen:Sie werden von Lasten befreit, von einer Institution die „Steine statt Brot“ den Glaubenden reicht, ihnen das Leben schwer macht… Ich will das nur am Beispiel der katholischen Kirche zeigen: Da umfasst der Inhalt des zu Glaubenden tatsächlich 717 Seiten im offiziellen „Katechismus der katholischen Kirche”, herausgegeben von der damaligen Ratzinger Behörde, der „Glaubenskongregation“, im Jahr 1993.
9. Der christliche Glaube ist einfach und undogmatisch
Erlösung inmitten der aktuellen theologischen Zeitenwende (Kirchenaustritte, Zusammenbruch kirchlicher Glaubwürdigkeit usw.) bedeutet: Der christliche Glaube als religiöse Lebenshaltung und Lebenspraxis kann auf einigen wenigen DINA4 Seite dargestellt werden als Anregung und Impuls. Wichtig ist: Der christliche Glaube ist in seiner Lehre einfach.
Konfessionelle Verschiedenheiten verschwinden bei einer kontemplativen Lebenshaltung: Sie wird der göttlichen Wirklichkeit im Menschen, in jedem Menschen, inne. Wenn von Gott die Rede sein soll, dann nur: Gott ist Geist, präsent in der Welt und in Menschen. Diese Erfahrung ist keine billige Vertröstung, sondern eine Einladung, geistvoll (d.h. vernünftig, den Menschenrechten praktisch folgend) in der Welt zu handeln, zugunsten des Gemeinwohls und immer unter dem Anspruch des Kategorischen Imperativs.
Dieses „einfache Christentum“ sieht Jesus von Nazareth als ein Vorbild der Lebendigkeit, die Bibel wird bei kritischer Lektüre als Buch von Weisheit empfohlen, neben anderen religiösen Texten. Und man kann sich als Christ mit anderen versammeln, um Jesu zu gedenken, in der Mediation, im Dialog, beim gemeinsamen Mahl der Solidarität. Und dieses einfache Christentum sucht das gleichberechtigte und lernbereite Gespräch mit anderen (nicht nur religiösen) Menschen.
10. Lektüre Empfehlungen
Die hier nur skizzierte These der Erlösung als Befreiung von der starren klerikalen Dogmenwelt könnte für die „Ausgetretenen“ inspirierend sein, selbständig zu suchen und neue spirituelle Dimensionen zu entdecken.
Dabei können Texte von Philosophen und Mystikern hilfreich sein. Unter anderem auch die Spiritualität des mittelalterlichen und zugleich modernen Meister Eckart, für den Einheit des Menschen mit der göttlichen Wirklichkeit im Zentrum des Glaubens steht. Mehr braucht der Mensch eigentlich nicht, meint Eckart!! Als Einstieg für Anfänger: „Vom Wunder Seele. Eine Auswahl aus den Traktaten und Predigten“, Reclam Verlag 2,60 Euro.
Wer die Mühe der Eckart-Lektüre jetzt noch nicht so will: Dem empfehle ich die kontemplativen und gleichzeitig politischen Texte des us-amerikanischen Mönchs Thomas Merton, etwa das leicht zugängliche Buch: „Sich für die Welt entscheiden“, Arbor Verlag, Freiburg, 2009.
Zu den Austrittszahlen
Für die katholische Kirche:
2012 haben 118.300 Katholiken die Mitgliedschaft in der Kirche gekündigt.
2021 waren es 359.200 Katholiken.
Weitere umfassende Informationen: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/4052/umfrage/kirchenaustritte-in-deutschland-nach-konfessionen/
Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.