Abbé Pierre: Ein hochverehrter Priester, nun Missbrauchstäter oder “bloß” sexuell-übergriffig?

Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.
Wenn Abbé Pierre jetzt als Missbrauchstäter angezeigt wird, dann wird die Gestalt des “beliebtesten und vorbildlichen Franzosen”, das sagen viele Umfragen der vergangenen Jahre zerstört. LINK

2.
Abbé Pierre (1912-2007) galt nicht nur in Frankreich, sondern weithin, über die Kirche hinaus, als eine Art „Lichtgestalt”, er war sehr viel mehr als der jetzt wieder wiederholt titulierte „Sozialpriester“ und mehr als nur der “Gründer der Emmaus-Bewegung“. Über seine Tätigkeit in der Résistance wurde oft berichtet.

3.
Abbe Pierre war insgesamt ein heftiger, prophetischer Sozialkritiker, ein leidenschaftlicher Kritiker der Kirchen-Hierarchie, er forderte etwa die Abschaffung des Zölibates, er forderte die Priesterweihe von Frauen LINK .
Er war auch – erfolglos – ein Kritiker der skandalösen kriegerischen französischen Nationalhymne „Marseillaise“, kurzum, er war ein progressiver Denker und „Kämpfer“ an der Seite der Armen, ein Freund des Schauspielers Coluche, des Gründers der „Restaurants du Coeur“… und des progressiven Bischofs Jacques Gaillot.

Nebenbei: Abbé Pierre unterstützte seit etwa 1970 Homosexuelle in der katholischen Kirche, zu Zeiten also, als Schwule von allen kirchlichen Hierarchen und den meisten Theologen ausgegrenzt und verurteilt wurden. Abbé Pierre hatte den Mut, den offen homosexuellen Priester Abbé Jacques Perotti offiziell zu seinem Privatsekretär zu ernennen.Mit ihm zusammen lebte er in einem Appartement der EMMAUS – Sozialbauten in Charenton- le- Pont.

4.
Die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs beziehen sich den Angaben der betroffenen und befragten Frauen zufolge unter anderem auf „wiederholte Äußerungen mit sexuellem Bezug und unerwünschtes Anfassen.“, schreibt katholisch.de am 17.7.2024 LINK .
„Die Experten (des Sozialwerkes Emmaus) sammelten demnach die Aussagen von sieben Frauen, von denen eine zum Zeitpunkt der Übergriffe minderjährig gewesen sei. Die gesammelten Informationen könnten demnach darauf hindeuten, dass der Priester in dem Zeitraum zwischen dem Ende der 1970er Jahre und 2005 gegenüber Angestellten, Freiwilligen und Ehrenamtlichen der Emmaus – Organisationen sowie jungen Frauen aus seinem privaten Umfeld sexuell übergriffig geworden sei.“ Quelle: ORF: LINK
„Sexuell übergriffig“ ist etwas anderes als „Sexualverbrecher“, das sollte von vornherein deutlich sein.

5.
Die Pariser Tageszeitung LE MONDE macht (am 17. Juli 2024, um 17.21 Uhr) in ihrem Internet-Beitrag über Abbé Pierre als Missbrauchstäter den unabhängigen Untersuchungsbericht zu den Vorwürfen zugänglich: LINK  .Dieser Text von nur 8 (!) Seiten enthält einige Hinweise, die sich aus den Äuétrungen von sieben Opfern (Frauen) ergeben. Deutlich wird: Die Frauen schildern Taten, die von Ende der 1970ger Jahre bis 2005 stattfanden, also in einem hohen Alter Abbé Pierres, als er  z.T. schon auf den Rollstuhl angewiesen war. Abbé Pierre ist 2007 im Alter von 95 (!) Jahren gestorben. Er lebte die letzten Jahre eher zurückgezogen, etwa im Benediktinerkloster St. Wandrille bei Rouen.
Auf Seite 8 des offiziellen“ Rapports vom 4. Juli 2024 wird ein Mitarbeiter Abbé Pierres zitiert: “Immer älter werdend, hatte er Mühe, seine Instinkte zu zügeln. Er konnte sich nicht bremsen, die Brust von Frauen zu berühren”. Der Rapport berichtet auch: Als sich Frauen gegen diese Berührungen wehrten, habe sich Abbé Pierre zurückgezogen, dies wird ausdrücklich erwähnt (etwa S. 6 oben). „Sexualverbrecher“ handeln wohl anders….
6.
Man lese in diesem Zusammenhang unbedingt das Zitat von Abbé Pierre aus seinem Interview- Buch “Mon Dieu, Pourquoi” (2005). Ein Täter, ein Verbrecher, spricht nicht so reflektiert und durchaus schuldbewusst. Warum erwähnt dieser offizielle “Rapport d`enquete” vom 4. Juli 2024 diese Aussagen Abbé Pierres nicht? Das Zitat aus dem Buch „Mon Dieu, Pourquoi?“ (2005, Plon, Paris, 2005, auf Deutsch im DTV Verlag). Das Buch entstand in Zusammenareit mit dem bekannten Philosophen Frédéric Lenoir, es wurde hoch gelobt und in 15 Sprachen übersetzt. LINK.

Das in unserem Zusammenhang wichtige Zitat (Übersetzung aus dem französischen von Christian Modehn) wurde zuerst in einem Beitrag von Christian Modehn auf der Website religionsphilosophischer-salon.de LINK publiziert, es ist vielleicht der „Schlüssel“ zum Verständnis der sexuellen Übergriffe Abbé Pierres im hohen Alter:
Abbé Pierre sagt: „Mit dem Keuschheitsgelübde hatte ich in gewisser Weise das Leben eines Gefangenen. Ich bezeichne diesen Zustand als freiwillige Unfreiheit. Es kam vor, dass ich der Kraft des erotischen Verlangens nachgab. Aber ich hatte nie eine richtige Beziehung. Da ich nicht zuließ, dass sich das sexuelle Verlangen in mir verwurzelte. Dies hätte zu einer dauerhaften Beziehung mit einer Frau geführt, was jedoch mit meiner Lebensentscheidung zum Priestertum nicht vereinbar gewesen wäre.”
Abbé Pierre ging dann so weit einzugestehen, dass er seinen Freundinnen doch nicht gerecht geworden ist: „Folglich machte ich die Frauen unglücklich und fühlte mich selbst zwischen zwei unvereinbaren Lebensentscheidungen hin und her gerissen“.
Nur wenige Priester haben den Mut, über ihr eigenes Ringen mit der Sexualität offen zu sprechen.

7.
Der Missbrauchs – Vorwurf ist für mich um so erstaunlicher, als Abbé Pierre viele Jahrzehnte an seiner Seite, liebevoll umsorgt, seine Sekretärin und vor allem Freundin Lucie Coutaz (1899 – 1982) hatte, die Abbé Pierre so sehr liebte, dass er es ausdrücklich wünschte, neben ihr auf dem Friedhof von Esteville bestattet werden wollte: LINK. 
Madame Coutaz wurde als „Le roc de l Abbé Pierre“ bezeichnet, als der sichere „Felsen“, auf dem er sich wohl fühlte. Nach dem Tod von Madame Coutaz hat Abbé Pierre sich zur engen liebevollen Beziehung zu dieser seinen Freundin auch öffentlich bekannt. Das hat viele konservative Katholiken damals empört: „Ein Priester darf nicht lieben.“ Die Frage ist spekulativ, aber nicht uninteressant: Begannen die sexuell geprägten Belästigungen durch Abbé Pierre nach dem Tod von Madame Coutaz?

8.
Man darf wohl bei allem Respekt fragen: Warum bringen 7 Frauen gemeinsam (erst) 17 Jahre nach dem Tod von Abbé Pierre ihre Vorwürfe vor? Von 12 Opfern wurden nur 7 von der unabhängigen Kommission interviewt… Die Frage kann gestellt werden: Warum wird über die politische und religiöse Orientierung dieser sieben Frauen nichts gesagt? Auch ihre Namen bleiben geheim, nicht so oft üblich bei Opfern sexuellen Missbrauchs, die sich öffentlich zu ihrem Leiden bekennen.
.
9.
Die Wahrheit muss freigelegt werden. Aber ist Abbé Pierre tatsächlich ein Sexual – Verbrecher, ein Missbrauchstäter? Hat er wie diese an seinen Opfern Vergewaltigungen, Schläge, Prügel, Quälereien, Erpressungen etc. vorgenommen? Wohl kaum. Offenbar werden da heftigste Begriffe auf ihn bezogen, die für seine erotischen “Übergriffe”, für die er sich entschuldigte (das sagen ja die Opfer) NICHT zutreffen. Trotzdem spricht der Rapport der Pariser Forschungsgruppe EGAÉ mehrfach undifferenziert von „faits de violences“, Gewalttaten, durch Abbé Pierre.
Man möchte die – ungehörige  ? – Frage stellen: Gibt es jetzt bestimmte theologische oder politische Interessen, die Gestalt Abbé Pierres ins Abseits zu drängen?

10.
Über Abbé Pierre hat Christian Modehn in seinem Buch „Religion in Frankreich“ (Gütersloh 1993) einen kleinen Essay geschrieben, S. 109 f., „Liebe ist von Wut nicht zu trennen“, der Titel des Essays, ein Zitat von Abbé Pierre.
 Und über seinen Sekretär, Abbé Jacques Perotti ist ebenfalls in dem genannten Buch ein Essay publiziert auf den Seiten 114 – 116 mit dem Titel: „Er betet Gott an und liebt die Männer“.

Das Buch „Religion in Frankreich“ von Christian Modehn ist antiquarisch noch erreichbar.

Copyright: Christian Modehn, religionsphilosophischer-salon.de

Der Tee-Weg: Eine humanistische Spiritualität?

Ein Essay von Christian Modehn, veröffentlicht am 7.4.2009. Der Beitrag wurde zuerst in der Zeitschrift PUBLIK FORUM publiziert, wegen vielfacher Nachfragen wurde er erneut publiziert.

“Der Tee-Weg gründet auf der Verehrung des Einfachen und Schönen inmitten des schmutzigen Alltags. Er umschließt Reinheit, Harmonie und das Geheimnis des Mitleidens. Die Tee-Zeremonie ist eine Verehrung des Unvollkommenen, sie ist ein zarter Versuch, etwas Mögliches zu vollenden in diesem Unmöglichen, das wir Leben nennen”. Kakuzo Okakura, einer der hervorragenden Tee-Meister Japans, beschreibt einen “Weg”, der nach japanischer Auffassung zu Ausgeglichenheit, Weiterlesen ⇘