„Himmelfahrt“ und Pfingsten vernünftig verstehen!

Christliche Feste vernünftig erklären. Für uns heißt das: „Undogmatisch“, also freisinnig verstehen.
Ein Hinweis von Christian Modehn

……. Wer sich sogleich für unsere Interpretation zu „Pfingsten“ interessiert: Siehe Nr. 8 f., besonders Nr. 17 und 18.

1.
Schwer tun sich die meisten – verständlicherweise – mit den Titeln (und der Bedeutung) christlicher und speziell katholischer Festtage: Von „Fronleichnam“ soll aber jetzt keine Rede sein. Auch nicht von „Allerheiligen“ oder „Allerseelen“. Von einer „Himmelfahrt“ soll gesprochen werden, aber nicht der Marias, der Mutter Jesu von Nazareth. Sie erlebte gemäß der Mythen und des Dogmas nicht eine „Himmel-Fahrt“, sondern eine „Aufnahme in den Himmel“ (Festtag 15.8.) Dabei sei Gott selbst tätig gewesen, sagte Papst Pius XII. Im Jahr 1950. Gott „nahm“ Maria in den Himmel auf… Jesus aber „stieg“/„fuhr“ – im uralten Bild – selbst in den Himmel.

2.
Hier geht es also um „Christi Himmelfahrt“. Ein religiöser Denk-Feier-Tag, der mangels tieferen Verständnisses säkular „Vatertag“ genannt wird. Populäre Ideen der Blumenhändler und Kneipiers: Die Mütter haben ihren Blumen-Feiertag, und die Väter bzw. Männer sollen doch bitte auch „endlich mal“ (?) ihren Feiertag haben. Jesus hat ja bekanntlich auch gern Wein getrunken, darin sehen „die“ Männer nun die Berechtigung, gerade an diesem berühmten Donnerstag, immer 10 Tage vor Pfingsten, einmal (un)ordentlich zu trinken. Für viele bleibt dies (leider) die einzige Verbindung zum Denken an die „Himmelfahrt Jesu Christi“.

3.
Der „Himmelfahrtstag“ meint also immer „Christi Himmelfahrt“, oder noch genauer: Die „Himmelfahrt“ Jesu von Nazareth, der von Christen als „der“ Christus, d.h. der Erlöser, verehrt wird.

4.
In den Himmel ist also Jesus „gefahren“: Was für ein merkwürdiges, ungeschicktes Bild, an dem die Kirchen dummerweise bis heute festhalten. Was ist damit in einer vernünftigen Theologie gemeint? Und nur um eine vernünftige Theologie kann es heute nur noch gehen, sie ist klar erklärend, Mysteriöses abweisend, Verstehen weckend. Und kann aber bei religiösen Themen, modern interpretiert, auch nicht auf neue Bilder, Symbole, Metaphern verzichten. Anders geht es nicht: Man hat philosophisch und theologisch nur die Wahl zwischen heute etwas verständlichen und heute sehr unverständlichen alten Bildern, Symbolen, Metaphern.

5.
Jesus von Nazareth ist, nach seinem Tod am Kreuz, als „Auferstandener“ nicht mehr sichtbar unter seinen Freunden gewesen, auch wenn die Evangelisten davon in Bildern, Mythen, voller Schwärmerei und maßlosen Übertreibungen sprechen und schreiben. Sie konnten 60 bis 80 Jahre nach Christi Geburt einfach nicht anders. „Weltbild gebunden“, sagen Theologen.

6.
Die Auferstehung Jesu bedeutet: Der Gekreuzigte liegt wie alle anderen Menschen als toter Körper im Grab. Aber eine Einsicht kommt seinen Freunden: Jesu Seele hat den Tod überlebt, den Tod überwunden: Man kann etwa sagen: Jesus lebt in der niemals zu zerstörenden Präsenz des Ewigen, dies ist eine transzendente Wirklichkeit. Das meint das uralte naive Bild: Jesus ist in den Himmel „gefahren“.
„Jesus ist nicht mehr hier“, sagt der Engel den Frauen am Grab Jesu (Markus, 16,6), d.h.: Er ist auf der Erde, irdisch, nicht mehr greifbar.
Der Glaube an eine geistige Nähe lieber Verstorbener ist ja eine weit verbreite Überzeugung, der sich niemand schämen muss.

7.
Wer also von der „Himmelfahrt Jesu von Nazareth“ spricht, muss zugleich von der Auferstehung Jesu von Nazareth reden. Und stellt dann fest: Beide Begriffe beschreiben die gleiche Erfahrung der Hinterbliebenen, also der Jesus-Freunde, der Gemeinde, die sich nach Jesu Tod versammelte. Beide Feste meinen das gleiche: Die Auferstehung Jesu IST seine „Himmelfahrt“. Nur diie bekannte Freude der Christen am Feiern erklärt die Verdoppelung des einen Gedenkens, des einen Feiertages. Und natürlich: das eigene „Kirchenjahr“ (es beginnt am 1. Adventssonntag) braucht auch verschiedene „Ereignisse“ und Feste…

8.
Und Pfingsten? Der tote Jesus ruht zwar im Grab, aber er ist als geistige, d.h. nicht zu greifende „Wirklichkeit“ mit der Gemeinde verbunden, im Geist, in der Erinnerung lebendig als der nun „Ewige“.
Diese Einsicht erlebt die Gemeinde als unverhoffte Erkenntnis, als außergewöhnliches Geschenk ihrer allen Menschen zugänglichen Vernunft. Die Freunde Jesu werden später diese besondere Einsicht ihrer Vernunft eine Gnade nennen.
Tatsächlich es ist ihr menschlicher Geist, der Jesus als auf andere Art als „lebendig“ erkennt, als Teil des Ewigen.

9.

Dieses „Ereignis“ der tieferen Einsicht meint „Pfingsten“: Jesus wird von der Gemeinde als „geistig lebendig“ erkannt und gefeiert. Diese Erkenntnis wertet die Gemeinde als überraschendes Geschenk, und: als Chance einer neuen, alle nationalen Identitäten sprengenden Gemeinschaft.

10.
Ostern – Jesu Himmelfahrt – Pfingsten, das ist die Folge der Feste im Kirchenjahr. Aber Pfingsten ist als das zeitlich letzte der drei Feste nun – logisch gesehen – das erste, d.h. das alles gründende „Ereignis“: Weil die Gemeinde der Freunde Jesu überhaupt um die Bedeutung Jesu von Nazareth ringt, kommt sie zur Einsicht: Jesus ist zwar körperlich tot – aber seine Seele, sein Geist, lebt. Und im Geist sind Gemeinde und Jesus also verbunden, diese Verbindung ist so außergewöhnlich, dass sie dann heiliger Geist genannt wird.

11.
Aber es bleibt ein Problem:
Wenn ich mit meinem menschlichen Geist, mit der Vernunft, über den „heiligen Geist“ nachdenke, ist es dann mein menschlicher Geist, der den heiligen Geist verstehen kann? Oder wirkt dann in mir, der Bibel und den offiziellen Dogmen folgend, irgendwie der besondere, der heilige Geist? Führt also nur der heilige Geist in die Höhen der Gotteserfahrung?
Noch einmal anders gefragt: Wenn ich mich mit religiösen Themen beschäftige, wirkt dann der „heilige Geist“ in mir? Aber wenn ich mich mit „weltlichen“ Problemen befasse, etwa mit der Gestaltung der Demokratie, der Solidarität oder meiner Gesundheit… , ist dann „nur“ mein menschlicher Geist tätig? Soll es also gleichsam zwei „Geister“ im Menschen geben, den üblichen menschlichen Geist, und parallel dazu, den gelegentlich wirkenden heiligen Geist?
Erlebe ich wirklich zwei Geister in mir? Der eine soll menschlich sein, der andere göttlich, heilig? Bedeutet dieser doppelte Geist nicht eine gewisse Form von Verwirrung, vielleicht von Spaltung, von Schizophrenie?

12.
Ich bin überzeugt, dass die Christen wie überhaupt alle Menschen nur einen einzigen Geist haben. Und dieser eine Geist, das Auszeichnende des Menschen, wird gelegentlich auch heilig genannt, erhaben, grundsätzlich unangreifbar. Dies ist die Leistung der Freunde Jesu, der ersten Gemeinde, in ihrer „Pfingsterfahrung“.

13.
Für die alltägliche Lebenspraxis bedeutet das: Etwas abstrakt formuliert: In der Kraft unseres Geistes, also auch der Vernunft und der Urteilskraft, können wir uns entscheiden für Gutes oder Böses in unserem Leben. Entscheiden wir uns für Gutes, etwa für den Respekt, das Mitgefühl, für die Förderung von Kunst und Literatur, für die Suche nach dem Göttlichen, dann erkennen wir: Der Geist kann in dieser speziellen Aktivität tatsächlich „heilig“, erhaben, ewig genannt werden, weil er hilft, den alltäglichen Egoismus und die Verkapselung ins Weltliche zu überwinden.
Das Böse als Tat ist genauso Ausdruck freier Entscheidungen, Ausdruck des Geistes, des Denkens. Haben wir uns für Böses entschieden, haben wir uns mit unserem Geist freiwillig (oder im psychischen Krankheitsfalle wie betäubt) gegen unser Gewissen entschieden. Aber immer ist es der eine Geist, der Geist der Freiheit, der uns zur freien Entscheidung führt.

14.
Eine weitere philosophische Überlegung:
Wenn man die menschliche Wirklichkeit mit dem Göttlichen in Verbindung bringen will, dann nur über die Erkenntnis: Das Göttliche hat die Evolution der Welt „geschaffen,“ darin entwickelt sich der Mensch als Geist und das heißt als Freiheit. Hätte der Mensch die Freiheit (die auch Freiheit zum Bösen ist) nicht, dann wäre er kein Mensch mehr, sondern ein Tier, das seinen Trieben folgt. Aber das Göttliche als „Schöpfer“ der Welt und des Menschen, hat mit seinem Geist das Geschaffene, den Menschen zumal, ausgestattet. Sonst wären die Welt und der Mensch außerhalb des Göttlichen, Gott hätte als Gott also eine Konkurrenz, er wäre nicht mehr Gott.
Der eine Geist, die eine Vernunft des Menschen ist wegen der engen Verbundenheit („Schöpfung“) mit dem Ewigen, dem Göttlichen also heilig!

15.
Durch diese Erkenntnis werden bestimmte uralte, aber immer umstrittene Dogmen in Frage gestellt. Darum ist diese hier skizzierte freisinnige theologische Erkenntnis für die dogmatisch verfassten Kirchensysteme erschütternd. Das Dogma der Erbsünde, das der Kirche von Augustinus (gestorben 430) gegen vernünftigen theologischen Widerstand aufgezwungen wurde, kann endlich beiseite gelegt werden. Fällt aber das Dogma der Erbsünde, fällt auch eine bestimmte kirchlich-dogmatische Vorstellung von „Erlösung“. Unvorstellbar wird dann das mittelalterliche Dogma, dass Jesu von Gott als dem Vater in den Tod geschickt, hingeschlachtet wird, um die Erbsünde bei den Menschen auszulöschen. Und das soll „Erlösung“ sein, diese Idee lebt leider bis heute in vielen kirchlichen Weihnachtsliedern oder Karfreitagsliedern weiter, gesungen von Leuten, die oft gar nicht verstehen, was sie da alles so singen…

16.
Jesus von Nazareth wird im neuen vernünftigen Denken zu einer Orientierung, zu einem Offenbarer, seine zentrale Lehre: Alle Menschen sind „Gottes Kinder“ – haben also den einen Geist in sich, er ist vom Ursprung her der heilige, göttliche und ewige Geist. Und die Menschen brauchen deswegen den Tod als das definitive Ende nicht zu fürchten.

17.
Und vor allem: Wenn alle Menschen „Gottes Kinder“ sind, wie das Bild richtig ausdrückt, dann ist jeder Mensch von absolutem Wert, dann sind alle Menschen untereinander Bruder und Schwestern. Daraus ergeben sich weitreichende politische Konsequenzen: Nämlich die Gültigkeit der Menschenrechte für alle, auch für die vom Kapitalismus arm Gemachten, die Hungernden, die Gefolterten, die Leute in den Lagern der Diktaturen usw.

18.
Pfingsten ist also auch ein politisches Fest, das Fest der absoluten Gleichberechtigung aller Menschen. Ein Fest mit einer Forderung also, ein Fest der Menschenrechte. Pfingsten hat also wenig zu tun mit dem Trallala des Alleluja – Enthusiasten, die sich “Charismatiker” nennen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Gott im Ukraine-Krieg. “Wenn es Gott gäbe, hätte er die Tragödie, die die Ukrainer erleben, nicht zugelassen“.

Religionsphilosophische Überlegungen zu einer Aussage von Oksana Ivanets, Oberstleutnant der Ukrainischen Armee. Publiziert im „Tagesspiegel“ am 8. Mai 2023, S. 10.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 9. Mai 2023. Die 13. der “unerhörten Fragen”.

1.
Jede und jeder kann seinen Glauben frei aussagen. Das ist selbstverständlich. Aber jedes individuelle Glaubensbekenntnis, bezogen auf eine göttliche Wirklichkeit, auf Gott, kann und sollte philosophisch befragt werden. Gedankliche Klarheit kann das Leben nicht nur erleichtern, sondern helfen, es neu und besser zu gestalten.

2.
Die totale Verzweiflung Okasana Ivanets ist verständlich: Die Region um die bedeutende ukrainische Stadt Charkiw wurde von den russischen Truppen aufs übelste fast völlig zerstört, selbst Krankenhäuser mit ihren PatienTinnen wurden vernichtet. Menschliches Leben ist in den Ruinen nicht möglich. Die Felder sind von russischen Minen übersät, die Aufräumarbeiten werden viele Jahre dauern. Es ist schwer für die Menschen (nicht nur dort), überhaupt noch Hoffnung zu bewahren. Und dann wird von den oft noch frommen UkrainerInnen die Frage gestellt: Warum hat Gott dieses Grauen, dieses sinnlose Töten der russischen Mörder, nicht verhindert? Oksana Ivanets hat offenbar den Glauben an einen allmächtigen, treu sorgenden Gott verloren.

3.
Wer Gott als einen allmächtigen, immer wieder aktuell Wunder wirkenden und ins Weltgeschehen eingreifenden Gott versteht, wie offenbar Oksana Ivanets, kann an diesem Gott verzweifeln. Und wird damit neue Antworten suchen zu der nicht abzuweisenden Frage: Was ist der Sinn dieses Grauens, dieses Mordens, dieses Krieges. Eindeutige, sozusagen mathematisch unbedingt beweisbare Antworten kann es zu diesem philosophischen Thema nicht geben.

4.
Es kann aber gefragt werden: Wie sinnvoll ist es, eine göttliche Wirklichkeit, einen Gott, für das Kriegsgeschehen verantwortlich zu machen. Die grundlegende ERKENNTNIS ist: Ein solches Denken lenkt ab von der Verantwortlichkeit der Menschen, der Politiker vor allem, für diesen Krieg … wie für alle Kriege, die jemals von verblendeten Menschen in ideologischem Wahn geführt wurden. Und genauso wichtig: Wer Gott als Täter – parteiisch – im Krieg will, folgt einem, mit Verlaub gesagt, naiven Gottesbild. Es wurde von den Kirchen und ihren alten Dogmen zwar mit dem Inhalt vermittelt: „Gott handelt”. Aber es wurde nicht gesagt: Gott handelt nur durch die freie Entscheidung der eigentlich vernünftigen Menschen,

5.
Lassen wir also Gott in dieser konkreten politischen Frage beiseite. Fragen wir nach den Menschen, vor allem den Politikern, den Machthabern, in diesem brutalen Geschehen. Denn sie sind, die Kriege planen, Kriege ausführen, Männer als Soldaten, als Kanonenfutter, in die Schlacht schicken, sie sind es, die vom Schreibtisch aus mit Bomben humanes Lebens auslöschen.
Es sind also konkrete Menschen mit konkreten Namen, so genannte Politiker, die dieses Grauen ausrichten. Die politischen Täter (Verbrecher) wurden aber zugelassen in ihrem Tun von Politikern der benachbarten oder ferneren Staaten. Diese haben aus Mangel an kritischer Kraft, aus Bequemlichkeit, aus ökonomischen Interessen die sich aufbauenden Mörder-Politiker (etwa in Russland) zugelassen.

6.
Es ist also menschliche Dummheit, politische Nachlässigkeit, ökonomische Gier, die auch unter demokratischen Politikern den langsamen Aufbau politischer Gewalttäter wie in Russland zugelassen haben.

7.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine, gegen die Freiheit, gegen die Demokratien und Menschenrechte ist also eindeutig Schuld der Menschen. Und Schuld der Politiker, die von diesen Menschen, selbst oft unkritisch, gedankenlos, egoistisch, nationalistisch, gewählt wurden. Diese Leute und die von ihnen gewählten Politiker sind nicht der besseren Einsicht gefolgt, haben im Falle Putins nicht rechtzeitig STOP gesagt und gewaltfreie Aktionen und Sanktionen gegen ihn eingeleitet. Dass eine Gestalt wie Putin und sein System so übermächtig gewaltsam werden konnten, verweist auch auf das völlig unterentwickelte demokratische Bewusstsein in Russland. Die orthodoxe Kirche wurde seit 1990 nie eine Kraft, die die Verteidigung der Menschenrechte genau wichtig fand ihre Weihrauch umwölkten stundenlangen Liturgien in altrussischer Sprache. Dieser Kirche war und ist Dogmatismus und Nationalismus wichtiger als die Ausbildung des Volkes in den Menschenrechten. Und diese russisch-orthodoxe Kirche ist seit 1961 Mitglied im „Ökumenischen Weltrat der Kirchen“ in Genf: Aber diese Theologen aus aller Welt dort ist es offenbar nicht gelungen, diesen russischen Patriarchen und Popen die Verteidigung der Demokratie und der Menschenrechte als obersten Auftrag einer jeden sich christlich nennenden Kirche einzuschärfen. Stattdessen hat man sich in Genf theologisch hübsch ausgetauscht, und statt auch von Russland bzw. damals der Sowjetunion kritisch zu sprechen, hat man im Ökumenischen Weltkirchenrat eher von Südafrika geredet, was ja richtig war, aber eben einseitig. Die Nachlässigkeit im Umgang mit den russischen Patriarchen sieht man jetzt. Und Papst Franziskus sieht sich so stark, dass er unbedingt Patriarch Kyrill I. In Moskau treffen und „bekehren“ will. Eine Aktion, leider verspätet. Zu vieles wird versäumt…

8.
Damit sollte klar sein: Gott ist nicht schuldig am Morden und Grauen im Krieg Russlands gegen die Ukraine und die Demokratien. Was hätte Gott denn vom Himmel aus Tun sollen? Mit einem göttlichen Blitz etwas den Kreml auslöschen oder den Patriarchen zum Christentum führen sollen oder was? Wenn man schon von Gott redet, sollte man wissen: Das Göttliche hat als Schöpfer der Welt (als einem evolutiven Geschehen !) den Menschen Geist und Verstand gegeben, also die einzigartige Möglichkeit, in reflektierter Freiheit das Leben, auch die Politik, zu gestalten. Diese Freiheit vollzieht sich immer in einer inneren, geistigen Reflexion, die man klassisch Gewissen nennt. Kriege sind Ausdruck dafür, dass Menschen, dass Politiker, nicht auf ihr Gewissen achten, also nicht auf die Stimme der allen Menschen gemeinsamen humanen Vernunft hören.
Nebenbei: Was wäre wenn die aktuellen Gebetswünsche der Russen „Gott hilf, dass wir die Ukraine auslöschen“, von Gott erfüllt würden? Wie parteilich darf Gott eigentlich sein, in diesem naiven Gottesbild?

9.
Kriege sind also Menschensache, und damit eigentlich zu verhindern, wenn denn Menschen auf ihre Vernunft achten, auf Ihr Gewissen, und achtsam reagieren, wenn sich in dieser Welt Gewaltherrscher etablieren. Aber viele Menschen in den Demokratien sind ja froh über diese Fehlentwicklungen, dann können sie den Gewaltherrschern und ihren Regimen Waffen verkaufen… Und Politiker können ihre nationalistischen Ambitionen ausleben. Alles das ist unvernünftiges, inhumanes Tun. Es hat aber mit Gott nichts zu tun. Es sei denn, man klagt ihn als „Schöpfer“ dieser Welt an, den Menschen überhaupt die Freiheit gegeben zu haben. Hätte der Mensch aber keine Freiheit, wäre er kein Mensch, sondern ein den eigenen Trieben folgendes Tier. Aber diese Tiere – ohne Freiheit – gehen ja mit anderen Tieren auch nicht immer freundlich um. Fressen und Gefressenwerden ist das Motto. Die Menschen aber sind eigentlich zu anderem fähig. Aufgrund ihrer Vernunft, ihres Gewissens. Aber beides „lieben“ die Menschen immer besonders, wenn Vernunft und Gewissen schlafen, stillgestellt sind…Und der Egoismus sich durchsetzen kann…

10.
Solange Friedenserziehung für Kinder und für Erwachsene in allen Ländern nicht Pflichtfach über mehrere Jahre ist, wird es immer wieder Kriege geben. Dies ist eine optimistische, vielleicht auch utopische Erkenntnis. Aber sie ist viel mehr wert als einen Gott fürs Kriegsgeschehen verantwortlich zu machen.

11.
Ist aber der Krieg einmal Realität, wie jetzt in der Ukraine, kann das stille und schreiende Gebet des leidenden einzelnen eine Hinwendung zu einer göttlichen Wirklichkeit sein, als Suche nach einem letzten spirituellen Halt, einem letzten Sinn „trotz allem“. Gebet ist also als eine poetische Form der seelischen Beruhigung und damit der reflektierten Akzeptanz des Geheimnisses menschlicher Freiheit. Was bleibt, wenn wir die Idee einer vernünftigen humane Weltordnung aus Resignation aufgeben?

12.
Befreien wir uns also davon, Kriegsgeschehen und Gott in Verbindung zu bringen. Aber die Frommen und die Weniger Frommen neigen immer wieder dazu. Jetzt wird etwa Gott in die furchtbare Trockenheit in Italien, Spanien, Frankreich einbezogen. Er, Gott als Wettergott ???, soll Regen schicken. Ein naiver Wunsch: Und ein Wahn. Es ist doch der fehlende Respekt der Menschen vor der Natur und vor allem vor dem Klima, der zu dieser gefährlichen Trockenheit führt. Anstelle von Regen-Bitt-Prozessionen sollte politische und ökologische Aufklärung in den Kirchen geschehen: Wie viel Wasser wird seit Jahren – durch schlechte Leitungen – vergeudet in den Obst-Plantagen im Süden Spaniens usw… Dies ist ein anderes, aber ähnliches Thema, das, nebenbei gesagt, zeigt, wie dringend kritische religionsphilosophische Überlegungen bleiben. Aber die Predigten der Pfarrer preisen nach wie vor einen Kriegsgott oder einen Wetter-Regen-Gott. Manchmal ist es zum Verzweigfeln mit der Unwissenheit und Dummheit des Klerus…

13.

Hat dann Gott/das Göttliche nichts mehr mit der Welt und den Menschen, den Ereignissen in der Welt etc.zu tun? In einer kritischen Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie ist die Antwort klar: Gott/das Göttliche wirkt als solcher/solches nicht unmittelbar als solcher. Da Gott/das Göttliche aber als “Schöpfer” der Evolution und des Menschen (und des menschlichen Geistes) gedacht werden kann, wirkt Gott/das Göttliche durch den von ihm geschaffenen GEIST, der Vernunft, der Empathie IM Menschen auch in der Welt etc.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Huub Oosterhuis gestorben: Der christliche Glaube als Poesie, Gebet und Protest.

Huub Oosterhuis ist am Ostersonntag, 9.4.2023, im Alter von 89 Jahren in Amsterdam gestorben.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 10.4.2023.

1.
Huub Oosterhuis ist einer der bedeutenden Poeten nicht nur im niederländischen Sprachraum. Er ist Schöpfer einer religiösen Sprache, die nicht nur die Tiefe des Empfindens heutiger Menschen bewegt, sondern die an Bildern und Symbolen so reichen Texte der Bibel, auch des „Alten Testaments“, mit dem Lebensgefühl der Moderne verbindet. Dabei ist seine politische Option auch sehr deutlich: Seine Gesellschaftskritik ist von sozialistischem Geist inspiriert und der lateinamerikanischen Befreiungstheologie.

2.
Auch das ist wichtig: Oosterhuis ist als Theologe auch Initiator von freien progressiven ökumenischen Gemeinden, wie der „Ecclesia“ in Amsterdam. Er hatte 1970 sein Amt als katholischer Priester (und Jesuit) aufgegeben, weil er das Zölibatsgesetz der römischen Kirche nicht mehr akzeptieren konnte und ohnehin das autoritäre System der Kirche kritisierte. Aber von der katholischen Kirche ausgestoßen, wollte er auf Gemeinden nicht verzichten, und inspirierte zu Rom-unabhängigen Gemeinden. Die „Ecclesia“ in Amsterdam ist seine Gründung, auch die rom-unabhängige Dominikus-Gemeinde in Amsterdam ist stark von ihm inspiriert.

3.
Huub Oosterhuis ist als katholischer Theologe außerhalb der römischen Macht für einige Katholiken und für etliche Protestanten zu einer Art Prophet geworden, er hat den Traum von einer anderen katholischen Kirche bereits realisiert und nicht mehr nur davon gesprochen, wie sonst überall in katholischen Kreisen üblich:
Selbstverständlich waren für ihn praktizierte Abendmahlsgemeinschaft mit Protestanten. Es war für katholische Bischöfe ein Skandal, eine Häresie, als Oosterhuis in seinen Gottesdiensten das “Wandlungsgebet” der Eucharistie von einem Chor singen ließ, diese Auszeichnung der “Wandlung” im “Hochgebet” steht im römischen Verständnis nur dem ordinierten zölibatären Prierster zu.

Laien, auch Frauen, waren als Vorsteher der Eucharistie selbstverständlich; genauso die Pflege einer hohen sprachlichen Kultur in Lied, Gebet und Predigt, selbstverständlich auch die Predigt von „Laien“ (die es im Sinne von Oosterhuis gar nicht als Laien gab), selbstverständlich auch für völlige Gleichstellung von Homosexuellen nicht nur in der Gemeinde. Selbstverständlich auch für ihn die politische Kulturdebatte in seinen Zentren, wie „de nieuwe liefe“ oder auch in „de rode Hoed“, beide in Amsterdam.

4.
Aber Oosterhuis hatte von Anfang an viele Feinde in der römischen Kirche, er, der die besten Lieder für den Gottesdienst geschrieben hatte und hervorragende Komponisten fand zur „Vertonung“ seiner Poesie, wurde ausgebremst und als Ketzer angeklagt, in manchen Bistümern der Niederlande durften seine Lieder nicht mehr in den Messen gesungen werden: Es waren ja – wie entsetzlich für die Bischöfe – Texte eine „verheirateten Ex-Priesters“.

5.
In Deutschland hatte Oosterhuis einige Freunde, seine Lieder wurden ins Deutsche übersetzt und etwa in Osnabrück in einer Kirche gesungen. Ihm wurde 2014 sogar ein Preis als Prediger von der Evangelischen Theologie in Deutschland verliehen. Der katholische Herder-Verlag in Freiburg hat etliche Bücher von Oosterhuis publiziert, dabei aber meist seine vielfältigen Aktivitäten, etwa als Inspirator progressiver Rom-unabhängiger Gemeinden verschwiegen.

6.
Irgendwie und von irgendwem inszeniert, war es möglich, dass Papst Franziskus – über den zuständigen Bischof von Haarlem-Amsterdam – am 21.Dezember 2020 Huub Oosterhuis einen persönlich wirkenden Brief schrieb, in englischer Sprache, ein Schreiben, das dem Ex-Jesuiten eine gewisse „brüderliche Nähe“ ausdrückt und verspricht, im päpstlichen Gebet seiner zu gedenken. Offenbar meint der Papst, Oosterhuis ginge es zu dem Zeitpunkt, Ende 2020, (gesundheitlich) nicht gut. „Maar dat is helemaal niet zo, hoor.”, sagte Oosterhuis, „aber das ist ganz und gar nicht so, jawohl!“ (Quelle: Tageszeitung TROUW, Amsterdam, 28.1.2022), LINK 
Von einem Dankeschön für die großartige poetisch-theologische Leistung von Oosterhuis ist im Schreiben des Papstes NICHTS zu lesen. Kein päpstliches Wort an die konservativen Bischöfe, doch bitte das Singen der Oosterhuis-Lieder in der Messe zu gestatten. Nichts davon.
Der Amsterdamer Dichter und Theologe zeigte sich vom päpstlichen Schreiben überrascht, eine Antwort hat er dem Papst nicht geschrieben.

7.
Die Liste seiner Publikationen zählt mehrere hundert Titel, mindestens 60 Bücher liegen allein in niederländischer Sprache vor, übersetzt wurden seine Bücher in sieben Sprachen.
Mit dem großen Theologen Edward Schillebeeckx (1914 – 2009) war Oosterhuis befreundet, beide setzten sich für eine radikale Kirchenreform ein. Mit Schillebeeckx führte Oosterhuis einGespräch, das auch auf Deutsch unter dem Titel „Gott ist jeden Tag neu“ 1984 erschienen ist.

Weitere Informationen von Christian Modehn über Huub Oosterhuis  LINK.

7.
Welchen Weg hätte die katholische Kirche in den Niederlanden (und darüber hinaus) genommen, wenn Papst und Bischöfe Huub Oosterhuis nicht ausgegrenzt und bekämpft hätten, sondern, wie es so viele katholische Niederländer seit 1965 wünschten, mit ihm eine moderne, demokratische, vom Zölibatsgesetz usw. befreite Kirche gestaltet hätten. In ihrer dogmatischen Erstarrung aber haben Papst und Bischöfe seit 1965 niederländische Katholiken aus der Kirche getrieben. Es blieben eigentlich nur der „harte Kern“ der Konservativen und Rom-Fans. Heute besuchen, so die Statistik 2022, nur 1 Prozent der Katholiken die Sonntagsmesse…(Quelle: https://religionsphilosophischer-salon.de/15614_christen-und-kirchen-in-der-minderheit-neueste-entwicklungen-in-den-niederlanden_alternativen-fuer-eine-humane-zukunft)

8.

Ein bekanntes Lied von Huub Oosterhuis, “Lied aan het Licht”: Lied an das Licht:

Licht, das uns anstößt, früh am Morgen
uraltes Licht, in dem wir stehn,

kalt, jeder einzeln, ungeborgen,

komm über mich und mach mich gehn.

Dass ich nicht ausfall ́ , dass wir alle,

so schwer und traurig wie wir sind,

nicht aus des andern Gnade fallen

und ziellos, unauffindbar sind.

Licht, meiner Stadt wachsamer Hüter,
Licht, ständig leuchtend, das gewinnt.

Wie meines Vaters feste Schulter

trag mich, dein ausschauendes Kind.

Licht in mir, schau aus meinen Augen,

ob irgendwo die Welt ersteht,

wo Menschen endlich Frieden schauen

und jeder menschenwürdig lebt.

Alles wird weichen und verwehen,
was auf das Licht nicht ist geeicht.

Sprache wird nur Verwüstung säen,

unsere Taten schwinden leicht.

Licht vieler Stimmen in den Ohren,

solang das Herz in uns noch schlägt.

Liebster der Menschen, erstgeboren,

Licht, letztes Wort von ihm, der lebt

Die Musik, die Chorsätze, zu den Gedichten, Gebeten, der Poesie von Huub Oosterhuis haben die Komponisten Bernard Huijbers, Antoine Oomen und Tom Löwenthal gestaltet.

9.

Das Kulturzentrum “De rode hoed”: LINK:

“Ecclesia in Amsterdam”: LINK.

Die freisinnige Kirche der Remonstranten hatte ihre jährliche Begegnung (“Beraadsdag) im Jahr 2012 mit Huub Oosterhuis gestaltet. LINK.

Die Ekklesia Amaterdam hat einige Partnergemeinden in einigen Städten der Niederlande:

Ekklesia Twente

Westfriese Ekklesia

Ekklesia Breda – https://www.ekklesiabreda.nl/

Stichting De Zijp in Arnhem – http://www.dezijp.nl/ 

Stichting Oecumenische Vieringen Eindhoven – https://sove-eindhoven.nl/

Pepergasthuiskerk Groningen – https://ovg-web.nl/ 

Dominicusgemeente Amsterdam- http://dominicusamsterdam.nl/ 

Keizersgrachtkerk Amsterdam – https://www.keizersgrachtkerk.nl

Oecumenische Basisgemeente de Duif – https://deduif.net/

In seinem Buch “Twee of drie. Voor en over kritische gemeenten” (Ambonboeken, Baarn, 1980),  (“Zwei oder drei. Für und über Kritische ökumenische Basisgemeinden”) schrieb Oosterhuis diese zentralen Worte (Seite 70):
“Wir hegen nicht die Illusion, das Institut Kirche von innen umwandeln zu können. Wir halten uns offen für Projekte und vor allem für Menschen innerhalb der Kirche, Bischöfe nicht ausgenommen, die an der Befreiung und Erneuerung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung interessiert sind”.

Im Jahr 2003 hat Christian Modehn ein Radio-Feature für den RBB gestaltet mit O Tönen von Oosterhuis und Stellungnahmen aus Amsterdam und Osnabrück. LINK:

Lieder und Gebete von Huub Oosterhuis auf Deutsch: LINK:

Im Herbst 2023 erscheint ein neues Liederbuch mit hundertfünfzig Liedern auf Texten von Oosterhuis, in Deutsch unter dem Titel Solang es Menschen gibt. Darin werden, neben dem Großteil der hundert Lieder aus dem Bundel Du Atem meiner Lieder (Herder 2009), mehr als fünfzig neu übersetzte Lieder erscheinen, teilweise mit Chorsätzen. Die restlichen Chorsätze und die Begleitungspartituren werden dann via Email ‘individuell’ zur Verfügung stehen.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Karsamstag – Gedenken an den toten Gott?

Jesus von Nazareth, der „Sohn Gottes“:  Tot in seinem Grab. Und auch Gott ist tot?

Ein Hinweis von Christian Modehn

Es wird Zeit, der Gedankenlosigkeit oder Oberflächlichkeit zu widerstehen. Wir sollten vernünftig verstehen, was christliche Gedenk-Tage und Feier-Tage bedeuten können… etwa der „KARSAMSTAG“. Das ist, so wird hier gezeigt,  keine spekulative Spielerei. Wenn Gott wenigstens für kurze Zeit tot war, können sich doch Atheisten freuen. Und Christen mit ihnen.

1.
Einige haben den Tag zwischen Karfreitag und Ostersonntag den Samstag des „toten Gottes“ genannt. Was für ein treffender Titel! Vielleicht zeigt sich da ein für Atheisten und Christen gemeinsamer Feiertag, ein gemeinsamer Gedenktag? Welch eine Herausforderung für eine wirklich umfassende Ökumene aller Menschen, also einer Gemeinschaft, die sich nicht durch enge konfessionelle Strukturen, sondern von der menschlichen Situation angesichts von Leben und Tod bestimmt. Eine Utopie? Vielleicht.

2.
Zu der Überzeugung, dass Gott selbst tot im Grab liegt, sind religiöse Menschen gekommen durch theologische Poesie, ein Lied des Mainzer Jesuiten Friedrich von Spee. Er, der Feind aller Hexenverfolgungen, hat seine Verse 1628 geschrieben, zu Beginn des allgemeinen Abschlachtens der Christen untereinander im „Dreißigjährigen Krieg“. Die Strophe des Jesuiten hat den theologisch wahrlich umwerfenden Text: „O Traurigkeit, o Herzeleid, ist das denn nicht zu klagen! Gottes Vaters einigs Kind wird zu Grab getragen.“
Gott des Vaters „einigs Kind“ – es ist jenes „Kind Gottes“, das ganz “EINS” ist mit Gott dem Vater im Himmel… dieses “Kind” ist in der klassischen Theologie Jesus von Nazareth. Mit dem sterbenden und toten Kind Gottes, Jesus, liegt also auch Gott selbst im Grab. Sind doch Christen wie auch der Jesuit von Spee vom Einssein Gottes mit Jesus überzeugt. So liegt also Gott selbst tot im Grab. Und noch zugespitzter gesagt im Denken der klassischen Theologie: Zwei „Personen“ der Trinität sind tot. Nur der Heilige Geist, in der klassischen Theologie die dritte „Person“ der Trinität, lebt weiter, der Geist ist ewig.

3.
Es ist die Mühe wert, sich auf ein Intermezzo einzulassen und die Rezeption dieser Strophe und des dann weiter gedichteten Liedes „O Traurigkeit, o Herzeleid“ zu bedenken. Der protestantische Theologe und Poet Johann Rist hat 1641 die Strophen 2 bis 6 hinzugefügt.

Christen, selbst die „rechtgläubigen“, die dogmatisch korrekten Protestanten und Katholiken, haben diese Strophe des Jesuiten Friedrich von Spee in ihre Gesangbücher aufgenommen. In dem katholischen Gesangbuch „Ehre sei Gott“, Berlin 1958, ist es unter der Nr. 58 mit diesem Text aufgeführt. Auch die späteren Neuauflagen (etwa „Gottlob 1975) haben den Text so, wie er ist, beibehalten, das gilt auch für die evangelischen Gesangbücher (1993), dort die Nr. 80.
Hingegen wurde die zweite Strophe dieses Liedes, geschrieben von dem protestantischen Pfarrer und Dichter Johann Rist, von Katholiken verändert. In der ursprünglichen Fassung von Johann Rist heißt es in der zweiten Strophe „ O große Not! Gottes Sohn liegt tot…“, so im „Evangelischen Kirchen-Gesangbuch von 1951 wie auch in der Neuausgabe des evangelischen Kirchengesangbuches von 1993.

Theologische Angst vor einem „toten Sohn Gottes“ bekamen hingegen die Katholiken. Und so folgen sie nicht dem Text des Protestanten Johann Rist. Und behaupten in ihrer katholischen Fassung der 2. Strophe: „O höchstes Gut, unschuldiges Blut. Wer hätt dies mögen denken, dass der Mensch seinen Schöpfer sollt an das Kreuz aufhenken“.
Diese katholische Formulierung „der Mensch hängt seinen Schöpfer ans Kreuz“ ist für fromme Gemüter auch sehr irritierend und äußerst gewagt: Nicht mehr nur Gottes Sohn (Jesus) ist tot, sondern nun auch sogar der Schöpfer selbst, also Gott Vater! Und zwar wurde Gott selbst von Menschen ans Kreuz gehängt, wie es in der zweiten Strophe heißt. Gott ist also durch die Tat der Menschen gestorben. Diese hier zitierte zweite Strophe von „ O Traurigkeit, o Herzeleid“ ist tatsächlich die Nr. 188 im offiziellen katholischen Gesangbuch für Deutschland, Österreich, Brixen und Lüttich enthalten!

4.
Dieser Hinweis war notwendig, um Probleme beim Verstehen des Karsamstag deutlich zu machen. Dieser Samstag heißt immer noch der Karsamstag, das Wort „Kar“ stammt vom althochdeutschen Kara und bedeutet: Kummer und Trauer. Der Karsamstag ist also der Kummer-Samstag, der Trauersamstag. Wenigstens für diesen einen Tag ruht tatsächlich auch heute noch der ganze übliche kirchliche Betrieb, also auch das Feiern von Messen und Gottesdiensten, wenigstens an diesem einen Tag, dem Karsamstag, so will die katholische Kirchenführung, soll in ihren Kirchengebäuden förmlich „toten Stille“ oder besser „Stille des Toten Christus oder des toten Gottes“ herrschen. In den katholischen Kirchen ist der Altar leer geräumt, es gibt keinen Blumenschmuck, in manchen Kirchen wurde früher sogar ein Sarg, als Symbol des Grabmals Jesu, aufgestellt.

5.
Der Karsamstag ist also eingefügt zwischen dem Kar-Freitag, dem Kreuzestod Jesu, und dem Sonntag, dem Tag der Auferstehung Jesu, dem Tag, an dem Jesus siegreich den Tod überwunden hat und mit verklärten Leib der Gemeinde erscheint. So formuliert die klassische Theologie der Rechtgläubigen, der Katholiken und Protestanten, das Oster-Geschehen – in dem eigenes konstruierten „Kirchenjahr“. In diesem kirchlichen Jahresablauf hat der tote Jesus von Nazareth als „Gottes eigenes Kind“ nur einen einzigen Tag der Toten-Ruhe, nach dem Tod am Kreuz geht es nach dem Intermezzo des Karsamstags gleich siegreich und erfreulich und voller Wunder mit Jesus weiter, wie es die vier Evangelisten sehr bildhaft und extrem, unkontrolliert enthusiastisch beschreiben.

6.
Der Karsamstag als Tag der Leere und des toten Jesus (bzw. des toten göttlichen Weltenschöpfers, wie es das Lied sagt) war und ist den Kirchen immer irgendwie peinlich. Ich kann mich nicht erinnern, dass dieses Lied in der Zeit vor Ostern in den Messen oft gesungen wurde. Es ist ein Fremdkörper. Der tote Jesus, oder kirchlich-dogmatisch, der tote Jesus Christus oder sogar der „ans Kreuz gehenkte Schöpfer“, stören den Betrieb einer runden, alles wissenden und immer positiv gestimmten Theologie. Es gibt fast keine theologischen Studien zum toten Jesus (Christus) im Grab als Leiche. Es gibt also keine ausgebreitete und aktuelle Theologie des Karsamstags, die doch inspirierend sein könnte angesichts der Erfahrung vieler Menschen vom toten Gott.

7.
Denn der Gedanke könnte doch sein: Die Menschen haben „Gottes eignes Kind“ getötet, sie haben sogar den Schöpfer der Welt ans Kreuz gehenkt, wie es im Lied heißt. Die Menschen als Mörder Gottes, oder allgemeiner gesagt: Die Menschen als Mörder des Göttlichen, des Ewigen, des Heiligen – welche Provokation. Die Menschen haben die Idee Gottes ausgelöscht. Ist dieser Gedanke heute so abwegig, wenn wir an die Allmacht der Menschen in anderen Bereichen denke, in der Technik, der atomaren Rüstung, der systematischen Zerstörung der Natur, des Klimas, der Umwelt. Drückt „die letzte Generation“ nicht genau diese Erfahrung aus?

8.
Könnte Karsamstag nicht ein Tag werden, an dem das Schweigen in den Kirchengebäuden für eine Stunde unterbrochen werden sollte, etwa durch Lesungen, etwa aus Nietzsches Rede des tollen Menschen in dem Buch „Also sprach Zarathustra“: Nur ein kurzer Auszug:

„Wohin ist Gott?” rief der tolle Mensch, “ich will es euch sagen! 
Wir haben ihn getötet – ihr und ich!  
Wir sind seine Mörder! Aber wie haben wir das gemacht?  
Wie vermochten wir das Meer auszutrinken?  
Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? 
Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun?
Wohin bewegen wir uns? 
Fort von allen Sonnen? 
Stürzen wir nicht fortwährend?  
Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? 
Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts?  
Haucht uns nicht der leere Raum an? 
Ist es nicht kälter geworden? 
Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?…..

9.
Friedrich Nietzsche könnte also der Philosoph des Karsamstags sein. Und der katholische Schriftsteller Reinhold Schneider könnte mit seinen Notizen “Winter in Wien” ein Theologe des Karsamstags werden. LINK. Als musikalische Inspiration zu Veranstaltungen an Karsamstag könnte die “Liturgie pour un Dieu mort” (“Liturgie für einen toten Gott”) wichtig sein, siehe die CD unter diesem Titel, der Komponist ist Charles Rabvier (1934-1984).

Auch andere Philosophen haben von Karsamstag gesprochen, etwa der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Er spricht in seiner Frühschrift „Glauben und Wissen“ (1802) von Karfreitag, ausführlicher dann wieder in seinen „Vorlesungen zur Philosophie der Religion“, die er viermal in Berlin vorgetragen hat. Dort sagt Hegel: „Gott ist gestorben. Gott ist tot. Dieses ist der fürchterlichste Gedanke, dass alles Ewige, alles Wahre nicht ist, die Negation selbst in Gott ist; der höchste Schmerz, das Gefühl der vollkommenen Rettungslosigkeit, das Aufgeben alles Höheren ist damit verbunden“ (Suhrkamp, Theorie Werkausgabe, Band 17, S. 291). Man sollte diese Worte einmal mit Nietzsches “tollem Menschen” vergleichen….Aber für Hegel ist der Tod Gottes nur ein vorübergehendes Moment im Leben Gottes: Und dieses Leben des göttlichen Geistes ist von der Dialektik der Vernunft bestimmt: Das Negative (Tod) muss also sein, aber es wird überwunden, “aufgehoben”! Gott erhält sich selbst in seinem Tod, er ist stärker als der Tod, so dass der Tod Gottes förmlich nur ein kurzfristiger Irrtum des Betrachters ist. Hegel schreibt im Anschluss an das genannte Zitat: „Es findet eine Umkehrung statt: Gott nämlich erhält sich in diesem Prozess, und dieser ist nur der Tod des Todes. Gott steht wieder auf zum Leben!“ (ebd.) Und später sagt Hegel. „Es ist die unendliche Liebe, dass Gott sich mit dem Fremden (d.i. dem Tod) identisch gesetzt hat, um es, das Fremde, also den Tod, zu töten“ (S. 292).

10.
Der Philosoph Hegel denkt die Lehre des protestantischen Christentums seiner Zeit in philosophischen Begriffen, so hofft er, auch die unkirchlichen, die skeptischen Zeitgenossen für den zentralen Inhalt des christlichen Glaubens interessieren zu können. Einige Jahre vor Hegel hat der Dichter Jean Paul (1763-1825) eine „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab“ formuliert (1797), aber Jean Paul hat den Toten Christus vorsichtshalber nur als Traumgestalt beschrieben. LINK

11.
Eine starke Bedeutung für aktuelle Reflexionen und Diskussionen haben freilich die oben genannten Ausführungen Nietzsches. Von ihm stammt auch die aktuelle Frage: „Wird die Kirche zum Grab Gottes?“ Auch diese Frage stammt aus der „Fröhlichen Wissenschaft“ (1887, III, Buch, Nr. 125: Dort heißt es: “Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?“
Mit diesem Thema hat sich als einer der wenigen Theologen der niederländische Augustinerpater Robert Adolfs auseinandergesetzt: LINK  Robert Adolfs  Buch erschien 1966 unter dem Titel „Wird die Kirche zum Grab Gottes?“ (Styria Verlag auf Deutsch).
Robert Adolfs hat seinem Buch ein Zitat des Jesuiten Alfred Delp vorangestellt, der als Widerstandskämpfer gegen die Nazis am 2. 2. 1945 in Plötzensee hingerichtet wurde. Alfred Delp schrieb kurz vor seinem Tod: „Die Kirche steht durch die Art ihrer historisch gewordenen Daseinsweise sich selbst im Wege. Ich glaube, über all da, wo wir uns nicht freiwillig um des Lebens willen von dieser Daseinsweise trennen, wird die geschehende Geschichte uns als richtender und zerstörender Blitz treffen“.
Die katholische Kirche wird für viele spirituelle Menschen besonders heute zum Grab Gottes: Das ist eine empirisch belegbare Tatsache. Man denke an den sexuellen Missbrauch durch Priester und Ordensleute, an die vielfache Korruption in den so genannten „neuen geistlichen Gemeinschaften“, an den immer noch herrschenden Klerikalismus und die ungebremste unkontrollierbare Allmacht des Klerus: All das vertreibt die Gläubigen aus der Kirche, sie sehen in ihrer dogmatisch erstarrten Kirche „Das Grab Gottes“. Und wollen auferstehen…

12.

Und was ist mit dem Grab Jesu? Ist es leer seit dem Ostermorgen? Vernünftige und kritische Theologen sagen nein. Die Überzeugung, dass Jesus von Nazareth auferstanden ist und lebt, kommt ohne den “Glauben” an das leere Grab aus. Jesu Körper bleibt im Grab, so ist es bei allen anderen Menschen. Aber: Jesu Geist lebt, sein Geist hat den Tod überwunden, so wie der Geist eines jeden Menschen den Tod überwindet. Wie genau der Geist im Ewigen lebt, das wissen wir nicht. Aber es bleibt dabei: Der Geist ist das Ewige im Menschen. Auch im Menschen Jesus von Nazareth.  Siehe auch den Hinweis zur “Auferstehung Jesu – vernünftig verstehen”: LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Picasso und das Christentum: Überlegungen anläßlich des 50. Todestages Picassos am 8.April 2023.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.

Picasso hat seine Distanz gegenüber dem christlichen Glauben und der katholischen Kirche oft geäußert. Deswegen ließ er sich zur Mitarbeit an der inzwischen berühmten „Künstler-Kapelle“ von Assy (Savoyen) nicht gewinnen. Pater Alain Couturier, Künstler und Kunstexperte, hatte ihn – wie etliche andere andere Künstler – dazu eingeladen. Auch die Mit-Gestaltung der Rosenkranz-Kapelle in Vence bei Nizza (eingeweiht 1951), von Matisse gestaltet, hat Picasso abgelehnt.
Picasso,1881 in Malaga geboren, kannte den volkstümlichen Katholizismus Spaniens der Prozessionen und Heiligenverehrung, mit der Bindung des Klerus an die herrschenden Großgrundbesitzer. In Barcelona lernte er die frühe anarchistische Bewegung kennen, die auch die mächtige Klerus-Herrschaft bekämpfte. 1901 kam er in Paris an und war dort mit einer katholischen Kirche konfrontiert, die noch um Macht und Einfluss kämpfte. Erst 1905 wurden Kirchen und Staat getrennt. Es war der Klerikalismus, den Picasso stark ablehnte. Seine eigene, ungewöhnliche, nicht den kirchlichen Dogmen konforme Spiritualität zeigt er in seinen Werken. Man muss sie nur suchen.

2.

Vor allem ein – vom Umfang her – kleines Gemälde aus dem Jahr 1930 kann als eine der wenigen expliziten Darstellungen Picassos christlicher Motive gelten: die „Kreuzigung“. In einigen Zeichnungen (1929) hat Picasso dieses Gemälde vorbereitet: Eine weibliche Gestalt, mit dem Kopf nach unten, umschließt die Beine Jesu von Nazareth am Kreuz. Der Kunsthistoriker Horst Schwebel über diese enge Verbindung von Jesus und der Frau: „Dieses Bild ist eindeutig als Koitus zwischen dem Gekreuzigten und der Frau zu verstehen“ („Die Kunst und das Christentum“, München 2022, S. 160). Eine provokative Deutung des kirchlich gepredigten „Erlösungsgeschehens“ am Kreuz, auf die dann Picasso letztlich doch verzichtete: In dem Ölbild von 1930 ist dieses Motiv nicht mehr sichtbar.

3.

Man wird auch „Die Kreuzigung“ von 1930 mit der Lebensgeschichte Picasso verbinden müssen, es ist die letzte Zeit der Ehe mit der Tänzerin Olga Koklowa, die Ehe erlebte Picasso in ihrer letzten Phase als unerträglich…
Das kleine Gemälde „Kreuzigung“ (jetzt im Picasso Museum in Paris) hatte für Picasso immer eine große Bedeutung, er hat es bis zu seinem Tod nicht weggegeben (verkauft), sondern bei sich behalten. Das Gemälde erschließt sich dem Betrachter nur mit viel Ausdauer.
Der Betrachter ist gewarnt, durch die Hinweise des Kunstkritikers John Berger („Glanz und Elend des Malers Pablo Picasso”, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 44), beim Verstehen der Arbeiten Picassos zu sehr aufs begriffliche Verstehen zu setzen: „Picasso leugnet die Kraft der Vernunft…Er hasst jede verstandesmäßige Erklärung und verachtet Ideen“ (S. 43 f.). Dennoch ist es normal, dass sich die Betrachter auch der “Kreuzigung“ eigene Gedanken machen… und die haben immer eine sprachliche, eine begriffliche also dann doch vernünftige Struktur…

4.

Zum Gemälde „Kreuzigung“:
Jesus am Kreuz ist von kleiner Gestalt, dabei eher an eine Skizze erinnernd, die Person ist kaum wahrzunehmen. Der Gekreuzigte wird in heller, weißer Umgebung dargestellt. Sonst dominieren die Farben Gelb, Rot, Orange, aber Schwarz als üblicher Ausdruck der Trauer wird vermieden. Der in heller, lichter Umgebung Hängende ist umstellt von Figuren, die man als bedrohlich und ungeheuerlich mit aufgerissen Maul deuten kann. Wollen sie die schmale Jesus-Gestalt verschlingen? Man entdeckt, wie ein Typ in die rechte Hand Jesu einen Nagel hämmert, eine andere Gestalt sticht mit in einer Lanze in Jesu Körper. Ein weibliches Wesen, ist es Maria (?), kann erahnt werden. Sie ist wie Jesus selbst eher schemenhaft dargestellt, dabei erscheint sie eher unsympathisch, aber offenbar abwehrend-aggressiv gegen die Widersacher?
Zu denken geben die hellen Farben, die Picasso für diese Darstellung von Leiden und Gewalt und Tod Jesu wählt: Picasso sieht offenbar in diesen lichtvollen Farben, dass der Gekreuzigte schon den Tod überwunden hat.

5.

Der in Künstler-Kreisen damals sehr bekannte Dominikanerpater Marie-Alain Couturier ( 1897-1954) stand auch mit Picasso in Verbindung. (Quelle: http://forezhistoire.free.fr/pierre-couturier.html) Pater Couturier hat die Darstellung christlicher Motive durch eher kirchenferne Künstler stets unterstützt und verteidigt. Zusammen mit dem Dominikaner Pater Pie R. Régamey (1900-1996) hatte er einige Jahre die angesehene Zeitschrift „l Art sacré“ geleitet, der Grundsatz dieser Zeitschrift war: Das Können der Künstler ist wichtiger als deren konfessionelle Bindung oder religiöse Orientierung. Er wandte sich gegen alle schlichte, bloß erbauliche Kirchen-Kunst. Die große intellektuelle Offenheit machte ihn in klerikalen Kreisen nicht gerade beliebt. Sein Freund Pater Regamey sagte: „Jedes gute Gemälde ist in sich edel und fromm und von daher geeignet, Gott zu ehren, ohne dass dazu der übernatürliche Glaube nötig sei“ (Régamey, „Kirche und Kunst im 20. Jahrhundert“, Graz-Wien, 1954, S. 245.)

6.

Vermag der Betrachter des Gemäldes „Kreuzigung“ (1930) die bei Picasso oft erlebte Erfahrung zu machen, förmlich hineingezogen zu werden in das Bildgeschehen? Wer etwa den „Spiegel“, 1932, oder den „Weiblicher Akt“,1939, betrachtet, ist geradewegs gezwungen, alle übliche Distanz zum Bild aufzugeben und ins Bild „hineinzutreten“ und auf vertraute Interpretations-Konventionen zu verzichten. Beim Gemälde „Kreuzigung“ ist die Erfahrung prägend, „dass das Minimum an Abstand“ (John Berger, S. 132) gegenüber dem Gemälde doch noch erhalten bleibt.

7.

Spiritualität im Werk Picassos sollte also gerade außerhalb der expliziten „christlichen Darstellungen“ zu suchen sein.
Der „frühe“ Picasso zeigte in Paris (etwa 1904) ein starkes Interesse und eine Leidenschaft für die armen Menschen, für jene, die aus der Gesellschaft ausgestossen waren.Man denke etwa an das Gemälde „Das kärgliche Mahl“ von 1904. „Das (hungernde) Paar verlangt nur das (eigene) Kranksein, um damit das von der Bourgeoisie monopolisierte und vulgarisierte Wohlbefinden zu beschämen. Es ist die entsetzliche Überlegenheit (des armen Paares)“, schreibt John Berger über dieses Picasso-Gemälde (a.a.O.,S. 54). Auch das berühmte Gemälde „Les Demoiselles d Avignon“ (von 1907) gehört in seiner kraßen Darstellung der fünf nackten Frauen zu den frühen Provokationen Picassos, zu seiner Kritik an der so genannten Zivilisation, die für ihn nichts als dekadent ist. Auch in diesem frühen Eintreten Picassos für die Armen und Ausgestoßenen zeigt sich eine Form von Spiritualität, die dem Geist des armen Jesus von Nazareth so fern bekanntlich nicht ist. Insofern ermuntert Picasso dazu, das ungewöhnliche Gesicht des Christlichen, des Jesuanischen, zu suchen und vor allem Spiritualität von Kirchenbindung zu unterscheiden.

8.

Auch beim bekanntesten Gemälde Picassos „Guernica“ (1937 ) werden spirituelle Dimensionen und eine Verbundenheit mit christlichen Traditionen vielfach besprochen. Das Gemälde entstand als Versuch einer Antwort auf die zerstörerische Gewalt der deutschen („Legion Condor“) und italienischen Faschisten, sie hatten die kleine, hilflose baskische Stadt Guernica 1937 in einem Bombenangriff fast total vernichtet, etwa 2.000 Tote sind zu beklagen.
Picasso hatte sich mit dem Isenheimer Altar auseinandergesetzt, das ist bekannt, und manche Betrachter des Gemäldes Guernica entdecken etwa das Motiv der Pietà in „Guernica“. In jedem Fall ist dieses Gemälde deutlicher Ausdruck für den Willen Picassos, mit seiner Kunst an der Seite der Leidenden, der Ausgegrenzten, der Opfer sinnloser Gewalt zu stehen.

Dabei ist nicht zu übersehen, dass in “Guernica”, von der Wahl der Farben her, eindeutig eine pessimistische Grundstimmung sich offenbart, durch die Schwarz-Weiß und GRAU Töne, die dominieren. Es ist, angesichts des Niedergangs der Macht der Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg, ein Dokument der Trauer, vielleicht ein ahnungsvolles Zeugnis des Nahen der Finsternis…(siehe dazu Werner Spiess, Picasso – Die Zeit nach Guernica”, Hatje Verlag Stuttgart  1993, “Picasso”, S. 18 ff.).

1955 wird das riesige Original „Guernica“ im Haus der Kunst in München gezeigt. „Doch es dient dort nicht zur Aufklärung über die Luftangriffe der deutschen Legion Condor auf den baskischen Ort Guernica. Das ist besonders auffällig“, erklärt Julia Friedrich, Kuratorin im Museum Ludwig in Köln, „wenn so ein Bild, das die Verbrechen der Legion Condor zeigt, im Haus der Kunst in München präsentiert wird und dieser Zusammenhang ausgeblendet wird, sodass sich die deutschen Besucher, die dieses Bild angucken, mit den Opfern auf dem Bild identifizieren können, obwohl sie dem Kollektiv der Täter angehört haben.“ (Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/der-geteilte-picasso-im-osten-verehrt-als-kommunist-im-100.html, vom 25.9.2021). Und dieses ignorante Verhalten damals ist sicher typisch für den Umgang der frühen BRD- (Kultur)-Politiker mit der Vergangenheit, den Verbrechen des Nazi-Deutschland.

Über Picassos innere Verbundenheit mit der Kommunistischen Partei Frankreichs, der er 1944 beitrat und aus der nie austrat, müsste in dem Zusammenhang weiter nachgedacht werden. Und muss bedenken: Die Kommunisten und ihre Partei PCF galten in Frankreich als die stärksten Kräfte der Résistance gegen die Herrschaft der Nazis in Frankreich unter dem Pétain-Regime.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Der katholische Glaube könnte eigentlich modern sein! Karl Rahners Beitrag für einen zeitgemäßen „katholischen Modernismus“

Ein Hinweis von Christian Modehn am 28.2.2023

Karl Rahner 1974, (c) Wikipedia, Kirtap
Karl Rahner 1974, (c) Wikipedia, Kirtap

Zur Einführung:

Auf dieser website hat Christian Modehn schon mehrfach auf den international geschätzten Theologen Karl Rahner hingewiesen, etwa am 24.3.2014.
Dieser neue Hinweis wurde im Februar 2023 veröffentlicht. Es handelt sich um den Versuch, als Diskussionsbeitrag, Rahners umfangreiche katholische Theologie als eine moderne, und, durchaus gewagt formuliert, aber treffend, als eine „liberale katholische“ Theologie und als eine zaghafte „modernistische katholische Theologie” zu erweisen. Dass Rahner auch sehr explizit viele „katholisch-dogmatische Themen“ dargestellt hat, steht außer Frage. Aber es kann doch in einigen zentralen Texten und in der Grundform des Denkens eine Dimension freigelegt werden, die man liberal-theologisch bzw. vor allem modernistisch nennen könnte. Ich weiß, die meisten RahnerinterpretInnen, und sie sind meist katholisch, würden dieser genannten Dimension der Rahnerschen Theologie nicht zustimmen.
Aber vielleicht hilft ein ungewohnter Blick, Neues zu entdecken. Dabei ist klar, dass für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin „theologisch-liberal“ und „modernistisch“ wertvolle, sogar erstrebenswerte, positive Dimensionen jeder Theologie sind. Liberal-theologisch und modernistisch sind für uns also keine Schimpfworte, wie so oft bis heute in konservativen katholischen Kreisen, und die meisten, einflussreichen Kreise der katholischen Kirche sind dogmatisch-konservativ und klerikal. Und werden es wohl ohne eine wirkliche Reformation, die mehr ist als ein paar Reförmchen, bleiben.
Dieser Hinweis hat einen praktischen Zweck: Er will den heute und seit langem schon an ihrer Kirchenführung verunsicherten KatholikInnen (vor allem den zurecht an ihrer Kirche verzweifelten Frauen) Mut machen, von Rahners genannten Ideen inspiriert, das Wesentliche im menschlichen Leben zu entdecken und das Wesentliche im christlichen Glauben zu leben. Alle Debatten über Inner-Kirchlich-Katholisches und Strukturelles sind dann sekundär. Und mit Rahner wird man wohl sagen können: Menschlich leben und christlich glauben kann man auch außerhalb der katholischen Kirche. Dann wird vielleicht das (religiöse) Leben etwas leichter und freier.

1.
Lässt sich Katholizismus und moderne Lebenswelt verbinden? Darüber wird auch jetzt wieder gestritten in den weltweiten Debatten um einen „synodalen Weg“ in der katholischen Kirche, also um eine moderate, sehr bescheidene Form der Demokratie in dieser Klerus-Männer-Kirche. Für die meisten ist und bleibt „Katholizismus und moderne Lebenswelt“ also sicher ein Widerspruch, aber das Thema ist in jedem Fall eine Herausforderung fürs (geistige) Überleben dieser Kirche. Und damit sollte sich die kulturell interessierte Öffentlichkeit befassen.
Dieser Hinweis zeigt in der gebotenen Kürze: Es gibt eine katholische Theologie, die den Katholizismus aus der theologischen Sackgasse mittelalterlichen, erstarrten neu-scholastischen Denkens herausführen könnte. Der Initiator dieses zeitgemäßen Denkens ist der katholische Theologe Karl Rahner. Seine – von manchen revolutionär genannten – Einsichten sind heute weiten Kreisen kaum bekannt, seine Vorschläge haben sich noch längst nicht innerhalb der katholischen Kirche durchgesetzt, obwohl einige Bischöfe wahrscheinlich die theologischen Entdeckungen Rahners verstanden haben (wie einst Kardinal Karl Lehmann). In den evangelischen, diesen philosophisch-theologischen Spekulationen eher abgeneigten Kirchen, fand Rahners Theologie kein großes Echo, schon gar nicht in den in vielfacher Hinsicht theologisch nach wie vor erstarrten orthodoxen Kirchen.
Es ist also Zeit, an Karl Rahner zu erinnern. Der äußere Anlass: Sein Geburtstag (am 5.3.1904) oder auch sein Todestag 80 Jahre später (am 30.3.1984). Biographische über wikipedia als Erstinformation.
2.
Karl Rahner SJ ist ein katholischer Theologen der „besonderen“ Art: Er war immer auch Philosoph bzw. immer philosophierender Theologe, man denke an seine Studien „Geist in Welt“ (1939) oder auch „Hörer des Wortes“ (1941). Nur in der spekulativen Kraft seines philosophischen Denkens konnte Rahner ein hervorragender Theologe werden, der endlich Eigenes, Neues, zu sagen hat.
Rahner gebührt zweifellos das Prädikat „einer der bedeutendsten“ Theologen des 20.Jahrhunderts: Nur dies als eine knappe Begründung: Er hat die uralten Fixierungen erstarrter katholischer Theologie aufgebrochen, überwunden zugunsten einer grundlegenden Reform der Kirche. Er hat die katholische Theologie mit einer ungewöhnlichen Denkform vertraut gemacht, die man treffend „liberal theologisch“ und sogar „modernistisch“ genannt hat (1). Solche – katholisch immer umstrittenen – Prädikate einem katholischen Theologen zuzuweisen, bedeutet nicht, ihn „einzuordnen“, sondern nur aufmerksam zu machen: Wie mutig dieser Theologe war, sich auf offiziell, katholischerseits verachtete und verfolgte Denkformen der Moderne und der philosophischen Aufklärung einzulassen.
Nichts war und ist bis heute verwegener, schlimmer, skandalöser, als wenn Rom einen Theologen mit dem Titel „Modernist“ (2) diskriminiert(e) (3). Also als einen Theologen „qualifizierte“, der die subjektiven Glaubenserfahrungen des einzelnen zum Schlüssel und zum Mittelpunkt allen katholischen Glaubens macht. Und so musste Rahner sich hüten, um des eigenen Überlebens willen, mit allzu großer Deutlichkeit diese seine „modernistische“ oder auch „liberale“ Denkform plakativ zu vertreten. Er musste sogar bei seinen mehr als 4000 Publikationen uralte Themen bearbeiten und publizieren, die in die katholischen „Steinzeit“ gehören, wie etwa die Lehre von Ablass. Diese wie bestellt wirkenden Beiträge (auch gegen Hans Küngs Neuverständnis der päpstlichen Unfehlbarkeit) verfasste Rahner wohl, um in dem kontrollierenden System überleben zu können und seine aktuelle „modernistische“ Theologie weiter zu bearbeiten. Das ist eine sich aufdrängende These, wenn man die Zurückhaltung, wenn nicht Angst in den 1950-1960 Jahren denkt, mit der Rahner seine eigentlichen theologischen Neuerungen vortrug.
3.
Der „Modernismus“ war eine breite und vielfältig ausgeprägte theologische Bewegung innerhalb der katholischen Kirche von ca. 1890 bis 1940), vor allem in Frankreichs, Englands und Deutschlands Kirche. Kurz zusammengefasst: Die Modernisten (ein Titel, der ihnen von Rom, dem Zentrum der Feinde des modernen katholischen Denkens, gegeben wurde) deuteten den katholischen Glauben „als die Wahrnehmung des im menschlichen Bewusstsein wirkenden Gottes; dieses lässt das Dogma entstehen, das sich also in einer vitalen Entwicklung aufgrund der Verarbeitung dieser Erfahrung durch den menschlichen Geist bildet“, schreibt der katholische Historiker Prof. Roger Aubert (4). Diese Beschreibung des „Modernismus“ ist in dieser Kürze wohl treffend, auch wenn Auberts Lexikonbeitrag eher die kirchen-offiziell gewünschte Kritik am „Modernismus“ durchblicken lässt.
4.
In diesem Hinweis wird kurz, aber angemessen, eine besonders neue, auffällige Dimension im Denken des ungewöhnlichen Karl Rahner vorgestellt. Diese Gestalt seines Denkens ist zunächst unter dem Stichwort „anthropologische Wende“ bekannt geworden. Diese Wende zum Menschen, die als Ausgangspunkt aller theologischen Reflexion die menschliche Lebenswelt nimmt, leitet heute prominente Autoren, wie Pater Anselm Grün aus Münsterschwarzach oder auf andere Art auch Eugen Drewermann.
Anthropologische Wende bedeutet, kurz gesagt, für Rahner: Des Menschen geistiges Leben, wie etwa Lieben, Solidarität, Auseinandersetzung mit Verzweiflung, mit Tod, verweisen von sich aus auf eine transzendente Dimension, auf eine Bindung des menschlichen Geistes an etwas absolut Geltendes, das man Gott nennen kann, so benennt die klassische Theologie den Unendlichen und Ewigen.
Diese von Rahner inszenierte anthropologische Wende hat weitreichende Konsequenzen: Sie sprengt sozusagen die enge Bindung an einen immer wieder vermittelten amtlichen Dogmen-Glauben, der nur als Gehorsam gegenüber Dogmen etc. verstanden wird. Der offizielle „Katechismus der katholischen Kirche“ von 1995 hat fast 800 Seiten der „zu-Glaubenden“ Sätze, d.h. Wahrheiten! Welch ein Wahn! Rahner hingegen erkennt: Auf den bewussten Vollzug geistigen Lebens kommt es an, auf die Reflexion über das lebendige geistvolle Leben inmitten des Alltags: Da und nur da wird Gott erfahren. In der Lebenspraxis, die immer Praxis des Geistes, der Vernunft ist, zeigt sich einem jedem die Verbundenheit mit dem Ewigen, Absoluten, Göttlichen (5). So kann Rahner ausführlich begründet: zeigen Nächstenliebe ist Verbundenheit mit Gott, ist „Gottesliebe“. Und darauf kommt alles an im menschlichen Leben.
5.
Von dieser Einsicht aus zeigt sich für Karl Rahner eine ungewöhnliche Hochschätzung der Mystik. Denn in der Mystik wird die Trennung von Göttlich-Menschlich überwunden. Mystik „macht“ den Menschen also nicht zu einem Gott, sondern sie erfährt und benennt dann auch die Anwesenheit des Göttlichen im endlichen, begrenzten Menschen. Über die Mystik wird erneut Rahners Interesse an einer „modernistischen und liberalen katholischen Theologie“ deutlich. Grundlage ist seine zentrale, auch heute ständig zitierte These “Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein“ (6). Und Mystik ist eben nur denkbar als eine INDIVIDUELLE Lebensform und Interpretation des Glaubens. Eine historische Erinnerung: “Ab dem 16. und 17. Jahrhundert wird Mystik die Erfahrung eines radikal individuellen Umgangs mit dem Universellen, dem Transzendenten, mit Gott“. (7)
6.
Wenn Rahner von Gott spricht, dann immer nur von dem “unendlichen Geheimnis”. Geheimnis meint dabei nichts Mysteriöses, Hinterweltliches oder gar Spinöses, sondern eine alles grundlegende geistige Wirklichkeit, die sich im Denken und Handeln erschließt, die aber nur berührt, niemals umfasst und definiert oder gar beherrscht werden kann. Die Naturwissenschaften haben es mit „Rätseln“ zu tun, die sie im Laufe der Forschungen immer wieder annähernd beantworten können. Philosophien und Theologie haben es hingegen mit einem niemals durchschaubaren, aber ansatzweise erfahrbaren, berührbaren und in Poesie ahnungsweise nennbaren Geheimnis zu tun. Die alles grundlegende Wirklichkeit wird Gott genannt, aber Gott immer als als Geheimnis. Und damit stört Rahner alle besserwisserische Alltags-Theologie, die mit Gott umgeht wie mit einem Gegenstand und ihn in albernen Liedern, Gebeten etc. besingt und in höchsten Tönen preist oder aber ihn ideologisch, politisch missbraucht.
Diese Relativierung aller menschlichen Definitionen von Gott ist eine Art Revolution für die römische Kirche. Rahner denkt radikal und lässt sich von kirchenamtlichen Kritikern nicht beirren: Gott ist absolutes Geheimnis. Aber noch einmal: Dieser Gott als Geheimnis ist eine ungreifbare, aber in allen geistigen Vollzügen des Menschen anwesende Kraft, der unendliche Horizont des Denkens, der nie greifbare Urgrund, der alles gründet und belebt. Damit steht Rahner in der Tradition der Mystik. Er erwähnt in seinen Aufsätzen etwa Meister Eckart oder Theresa von Avila.
Mystik ist also nur die andere Seite der anthropologischen Wende der Theologie. Mystik ereignet sich „immer schon mitten im Alltag, verborgen und unbenannt“ (8). An vielen Beispielen aus den „konkreten Lebenserfahrungen“ zeigt Rahner die Anwesenheit des Geistes, des Heiligen Geistes, die Anwesenheit von Mystik (9), diese gut nachvollziehbaren Beschreibungen der Mystik im Alltag sind absolut lesenswert! Er spricht von Erfahrungen der Freiheit, von dem Nahesein der Finsternis des Todes, vom Trost angesichts von Verzweiflung…Und aus der Beschreibung geistvoller Lebenserfahrung in jedem Menschen zieht Rahner eine radikale Konsequenz. Radikal deswegen weil sie das enge Kirchendenken und die Herrschaft der Kirche über den einzelnen überwindet. Rahner notiert zu diesen geistvollen Alltagserfahrungen: „Da haben wir auch faktisch die Erfahrung des Übernatürlichen (also Gottes) gemacht“ (10). Und diese erfahrene, aber nie fassbare Nähe Gottes, des Ewigen wie auch immer , ist das alles Entscheidende für den Theologen Karl Rahner. Jetzt versteht man, warum er ein neuer „Modernist“ ist. Er reduziert die „Glaubenslehre“ auf Wesentliches, auf Humanes!
7.
Es muss nun hingewiesen werden auf die kreative „modernistische“ Leistung Karl Rahners: Es handelt sich um seine „transzendentale Theologie“. Der Begriff transzendental erklärt den Grund, die subjektive „Basis“ des religiösen, auch des mystischen Erleben des einzelnen Menschen.
Mit dem Begriff „transzendental“ bezieht sich Rahner auf den Philosophen Immanuel Kant. Er hatte „transzendental“ seine damals neue, alles entscheidende Frage genannt, die nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis im Menschen (im Subjekt) fragt. Diese Bedingung der Möglichkeit des Erkennens liegt – populär gesagt – in der Vernunft des Menschen, in seinem Geist. Dem folgt Rahner gegen die Überzeugungen der versteinerten katholischen Theologie der fünfziger und sechziger Jahre, und er sagt: “Die transzendentale Frage in der Theologie bedeutet: Welche Bedingungen müssen im Geist des Menschen gegeben sein, damit das Wort der Bibel überhaupt verstanden wird?” Rahner geht noch weiter: „Der Mensch kann die Bibel nur deswegen verstehen, weil Gott, als göttliche Gnade, bereits im Menschen anwesend ist, als innere, als subjektiv erlebte, als „transzendentale Offenbarung“ , schreibt Rahner. Er will zeigen, dass „der Glaube an Jesus Christus nicht als eine bloß von außen kommende, auch noch so erhabene Zutat zur unabwälzbaren Existenz des Menschen erscheint. Sondern wir wollen den Glauben an Jesus Christus in der innersten Mitte der Existenz auffinden, wo er schon wohnt, bevor wir, hörend auf die Botschaft der Kirche, diesen Glauben satzhaft reflektieren“ (11).Und an anderer Stelle schreibt Rahner: „Ich bin der Überzeugung, dass das Christentum eben nicht nur eine von außen her kommende Lehre ist, die dem Menschen eingetrichtert wird. Sondern, dass es wirklich ein Christentum von Innen heraus, von der innersten persönlichen, menschlichen Erfahrung her, gibt und geben muss. Das Christentum ist nicht eine Lehre, die von aussen einem erzählt, dass es so etwas gibt wie Gnade, Erlösung, Freiheit, Gott, so wie einem Europäer mitgeteilt wird, dass es Australien gibt. Sondern das Christentum ist wirklich die Auslegung dessen, was in der innersten Mitte des Menschen (an einer vielleicht verdrängten, vielleicht nicht reflektierten Erfahrung doch) schon gegeben ist“.
8.
Mit der „transzendentalen Offenbarung“ ist die Anwesenheit Gottes im Geist, in der Seele des Menschen, und zwar JEDES Menschen, gemeint. Dabei werden universale Perspektiven wichtig! Das Denken wird befreit aus der engen Kirchenwelt des dogmatischen Klerus. Dieser Gott ist im Geist und der Seele und im Fühlen und Denken eines jeden Menschen grundsätzlich wirksam, lebt im Menschen, und der Mensch äußert seinen subjektiven Glauben selbstverständlich auch in Worten. Die zur anregenden Glaubenseinsicht auch für andere werden können. Dieser „innere“, der subjektive Gott ist der Ursprung der in der Geschichte sich äußernden Wort/Schrift-Offenbarung mit ihren biblischen Texten. Die „objektive“, sozusagen „außen“ greifbar sich zeigende, in der Geschichte sichtbare Offenbarung als Text ist nur in dieser engen Verbindung zur inneren Anwesenheit Gottes in jedem Menschen zu verstehen. Damit wird Entscheidendes gesehen: Wenn der Mensch den weisheitlichen Weisungen der Bibel folgt, die man als göttliche Offenbarung (Buch) nennt, dann folgt er zugleich seinen eigenen inneren Weisungen, die ihm auch seine eigene Vernunft erschließt. Es gibt also keine Fremdheit mehr gegenüber der Weisheit, die dem religiösen Menschen in den Texten der Bibel begegnen. Rahner schreibt: „Man soll aus der Erfahrung des eigenen Daseins heraus erfahren, ob das Christentum die Wahrheit des Lebens sei“ (12)
9.
Nun kann bei dieser Einsicht für den Glaubenden nicht jeder Satz der Kirchenlehre die gleiche Bedeutung, Würde und Dringlichkeit haben. Es gibt also ein Kriterium, mit dem der Glaubende Wichtiges von Unwichtigem in der riesigen katholischen dogmatischen -ethischen- rechtlichen Glaubenslehre findet.
In dem Aufsatz „Die Forderung nach einer =Kurzformel= des christlichen Glaubens“ (13) zeigt Rahner das wahre, und das ist das einfache (also von der Überfülle der Lehren und Sätze befreite!) Zentrum des Glaubens auf. Letztlich hat die eine alles entscheidende Mitte einen Namen: Die Nächstenliebe, die auf die Gottesliebe zugleich verweist und die Erkenntnis, dass der Mensch in seinem Leben auf ein unendliches Geheimnis (Gott genannt) bezogen ist und sich von diesem unendlichen Geheimnis getragen wissen kann.
10.
Karl Rahner wusste das er sich das Leben und Arbeite als katholischer Theologe nicht leicht macht mit seinen tatsächlich neuen Erkenntnissen. Er weist sozusagen prophylaktisch im Blick auf das strafende Lehramt in Rom auf die für ihn zentrale, aber trotz Neuinterpretation orthodoxe Gnadenlehre hin (14). In Fußnote 1 dort heißt es also: „Wenn man bedenkt, dass die Gnade Christi der äußeren Predigt des Evangeliums IMMER SCHON zuvorgekommen ist (nämlich als Anwesenheit der Gnade im Menschen selbst, CM), kann diese Forderung (nämlich nach einer Kurzformel) nicht des Modernismus verdächtigt werden“.
Wer die Geltung subjektiver Wahrheit, ja subjektiver Offenbarung im Glauben des einzelnen als Bedingung objektiver christlicher Wahrheit herausstellt, hat es also nicht leicht in der auf objektive Lehren fixierten Kirche. Kein Wunder also, dass Rahner sich schützen musste. Man sollte bedenken, dass Rahner seit den fünfziger Jahren immer unter der Kontrolle des “Heiligen Offiziums” in Rom stand und sogar noch 1961 vom Vatikan mit einem Schreibverbot bedroht wurde. Man möchte denken, dass die tatsächlich oft schwierige Sprache Rahners nicht auch sein Schutz ist, um seine Erkenntnis vor oberflächlichen Dogmatikern zu schützen! Tatsächlich sind manche Artikel Rahners eine gewisse sprachliche Zumutung, etwa sein wichtiger Beitrag über „Transzendentaltheologie“ ,ausgerechnet in dem eher doch wohl für breite Kreise bestimmten „Herders Theologisches Taschenlexikon“ Band 7, Freiburg, 1973, Seite 324-329.
Trotz dieser unerfreulichen, feindlichen Situation etwa in Rom fühlte sich Rahner doch immer frei, zumal nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, also in den siebziger Jahren, kirchenpolitisch öffentliche Kritik zu äußern. Es gibt viele Stellungnahmen, Interviews, Zeitungsbeiträge Rahners, die seine Ablehnung des römischen Herrschaftssystems belegen: So nannte er vatikanischen Theologen „Bonzen“, (16), im Sinne von ideologisch verblendeten Partei-Bonzen oder Partei-Genossen.
Seine Kritik an der bürokratischen, der möglicherweise den „heiligen Geist auslöschenden Kirche“, ist unvergessen, sein Zorn über die Dummheit der etablierten Kleriker ist bekannt. Seine radikalen Vorschläge für eine praktische „Ökumene jetzt“ (mit den Protestanten) fanden nicht das gewünschte Echo. Denn Rahner sagte tatsächlich: Abendmahls/Kommuniongemeinschaft unter Protestanten und Katholiken ist möglich, und zwar jetzt! Wenig Interesse zeigte sich die in ständigen Variationen doch immer gleichbleibende bürokratische Kirche an Rahners radikalen Vorschlägen, die er in seinem wichtigen Buch “Strukturwandel der Kirche als Chance und Aufgabe”, 1973, machte.
Nebenbei: Ich erinnere mich noch gern, dsss sich Rahner 1977 auf ein ihm durchaus neues Thema einließ und ein Vorwort schrieb zu dem von mir (und Hans Zwiefelhofer) herausgegebenen Buch „Befreiende Theologie“, (Kohlhammer Verlag), also über die Theologie der Befreiung in Lateinamerika.
11.
Warum also Rahner als modernen Theologen lesen und seinen Impulsen folgen? Das wird eingestanden: Nicht alles von ihm Veröffentlichte hat heute (2023) Relevanz für viele, etwa seine Äußerungen zum Zölibat oder zu Details der Dogmengeschichte.
In zentralen Aufsätzen hingegen hat Rahner die unaufgebbare Bedeutung und das grundlegende Recht des Glaubens des einzelnen, des Subjekts, des Menschen, im Ganzen des Glaubens verteidigt und begründet! Rahners Denken in seinen zentralen und aktuellen Veröffentlichungen befreien, weil sie auch überkonfessionell, ökumenisch, das Wesen des christlichen, also auch katholischen Glaubens zeigen, und dieses Wesen des Glaubens ist inhaltlich einfach und universal: Die Nächstenliebe und das Erspüren, dass menschliches Leben mit einem unendlichen Geheimnis zu tun hat. Mehr braucht der Mensch eigentlich nicht. Dieses von Rahner mehrfach herausgestellte Zentrum des christlichen Glaubens erinnert an Kant, an seine Religionsschrift. Aber das ist keine Kritik in meiner Sicht. Das ist gut so. So wird deutlich, dass Rahner auf die Herausforderung der modernen Philosophie, des modernen Denkens, antworten wollte. Und auf die Spuren Hegels in Rahners Denken wäre eigens hinzuweisen, also auf die Erkenntnis, dass der subjektive Geist auch die Formen des objektiven Geistes und damit auch des absoluten Geistes (Religion) prägt und in der lebendigen Geschichte zur Darstellung bringt. Und auf die Inspirationen, die Rahner von Heideggers Existenzanalysen in „Sein und Zeit“ empfangen hat, wurde schon mehrfach hingewiesen. Hier soll nur noch einmal betont werden: Rahner hat sich auf seine Art, angstvoll manchmal, den Herausforderungen der Moderne gestellt.

Zum Schluss ein Wort Rahners:
„Das Christentum ist die „universale Botschaft, die nichts verbietet als die Selbstverschließung des Menschen in seine Endlichkeit. Das Christentum ist die universale Botschaft, die nichts verbietet, als dass der Mensch nicht glaubt, dass er mit der radikalen Unendlichkeit des absoluten Gottes begabt ist”. (16).
———————————
Belege der Zitate:
(1) Rahner als liberaler und modernistischer Theologe: Beleg beim englischen Theologen Philip Endean SJ in „Stimmen der Zeit, Spezial 1, 20004, Karl Rahner“. Karl Rahner als liberaler Theologe dort S. 67, 68, 69. Karl Rahner als Modernist S. 67: „Karl Rahners Vorhaben war im Grunde genommen dasselbe wie das ihre (der Modernisten)“ , S 67.

(2) Zum Modernismus, eine kurze Einführung: Prof.Peter Neuner, „Erfahrung und Geschichte. Die bleibende Herausforderung des Modernismus“, Orientierung Zürich, 1979, S. 2-6. Dieser Text kann noch im Archiv der Orientierung nachgelesen werden.

(3) Der viele Jahrzehnte gültige Antimodernisten-Eid, den alle Priester ablegen mussten, wurde 1967 von Papst Paul VI. abgeschafft, siehe den Beitrag „Antimodernisteneid“ in wikipedia.
Eine moderatere Form des Antimodernisteneids wurde aber von Kardinal Ratzinger bzw. Papst Johannes Paul II. 1998 wieder eingeführt: „Als dann in den streckenweise chaotischen Jahrzehnten nach dem Konzil anstelle des Modernismus ein Relativismus, also eine gewisse Beliebigkeit in Glauben, Liturgie und Lehre Einzug hielt, versuchte wieder ein Papst, mit einem Eid gegenzusteuern. Johannes Paul II. (1978-2005) führte 1998 einen vom damaligen Kurienkardinal Joseph Ratzinger formulierten Treueid verbindlich ein.Er enthält im Wesentlichen eine feierliche Wiederholung des “normalen” Glaubensbekenntnisses aller Gläubigen, darüber hinaus aber auch Formeln wie diese: “Fest glaube ich auch alles, was im geschriebenen oder überlieferten Wort Gottes enthalten ist und von der Kirche als von Gott geoffenbart zu glauben vorgelegt wird, sei es durch feierliches Urteil, sei es durch das ordentliche und allgemeine Lehramt.” Auch gegen diesen Eid gab es zunächst Proteste und Polemik. Eine tiefgreifende Krise wie der Antimodernisteneid vor 100 Jahren löste die neue, deutlich gemäßigtere Formel indes nicht aus.“ (Quelle: DOM RADIO, Beitrag von Ludwig Ring-Eifel 31.8.2010.)

(4). Lexikonbeitrag „Modernismus“ in „Herders Theologisches Taschenlexikon“ Band 5 (1973), Seite 100.

(5). Aufsatz „Einheit von Gottes- und Nächstenliebe“ In: „Karl Rahner Lesebuch“, Freiburg 2014 hg. Albert Raffelt, S. 408 ff.

(6). Christ ist Mystiker… Siehe: Karl Rahner: „Frömmigkeit früher und heute“, in: ders., Schriften zur Theologie, Bd. VII, Einsiedeln u.a. 1966, 22f.

(7) Koenraad Geldof, in: “Michel de Certeau”, hg. von Marian Füssel, Konstanz 2007, Seite 140.

(8) Karl Rahner, , siehe Fußnote 5, S. 257.

(9) ebd. S. 258 ff.

(10) ebd. S. 261

(11), Karl Rahner, „Ich glaube an Jesus Christus“, Benziger Verlag, 1968, S. 29.

(12) : in „Gegenwart des Christentums“, Freiburg 1963, S. 51, dort der Aufsatz „Über die Möglichkeit des Glaubens heute“, 1960 geschrieben
(13), veröffentlicht in Band VIII der „Schriften zur Theologie“, Seite 153 ff.
(14). ebd. auf Seite 153 in Band VIII.
(15) In“ Gegenwart des Christentums“, S. 51.
(16) Die Kleriker, die in ihrer rigiden Haltung Rahner viel Leid, viele Probleme, zufügten nannte Karl Rahner schon 1962 „gräßliche Bonzen“, Leute, die sich eines Spitzel – und Zuträgersystems bedienten. In: Herbert Vorgrimler, „Karl Rahner verstehen“, Topos Taschenbücher 2002, S. 117.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Christen und Kirchen in der Minderheit: Neueste Entwicklungen in den Niederlanden.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 29.12.2022.

Die Kirchenführer in Deutschland jammern jetzt wieder über die hohen Austrittszahlen aus den Kirchen.
Es könnte hilfreich sein, einmal über die Grenze, in die Niederlande, zu schauen…

Der Abschied so vieler EuropäerInnen von ihrer Kirchenbindung kann durchaus als ein kultureller Bruch bezeichnet werden. Mit dem Abschied von den Kirchen verändern sich auch die Vorstellungen von Werten, vom Lebensganzen, vom Sinn des Lebens…Das Thema ist also alles andere als bloß „kirchenintern“.

In den Niederlanden, bis ca. 1960 tatsächlich weltweit bekannt als Inbegriff eines sehr lebendigen vielfältigen kirchlichen Landes, sind 2021 nur noch 32 % der Bewohner Mitglieder einer christlichen Kirche.
Holland gilt als ein säkulares Land förmlich als ein Beispiel für das, was andere Länder sehr bald „erwartet“.

Eine Frage bleibt hingegen: Sind alle, die sich „nicht-kirchlich“ nennen, auch Atheisten? Ich vermute die Antwort heißt Nein. Auch dazu gibt es differenzierte Studien. Allgemein-theologisch gesagt: Irgendeinen Gott verehren die (meisten) Menschen immer…Aber dieses Thema führt über einen religionssoziologischen Hinweis hinaus.

1. “Entkirchlichung”
Seit 1970 verabschieden sich Niederländer systematisch und stetig von ihren Kirchen. Das ist alles seit Jahren bestens dokumentiert. Die „Entkirchlichung“, wie man dort sagt, hat eine längere Tradition. Über die Ursachen wurde vielfach geforscht. Jetzt liegen wieder neueste Statistiken vor: Tatsache ist: Die Kirchen repräsentieren eine Minderheit in der Bevölkerung, bei der Altersstruktur der Kirchenmitglieder werden Kirchen sogar allmählich zur sehr kleinen Minderheit…Das Verschwinden von Kirchengebäuden als explizit „religiösen Gebäuden“ aus dem Leben der Städte, Kleinstädte und Dörfer ist in den Niederlanden ganz offensichtlich, viele hundert Kirchengebäude wurden dort abgerissen, verkauft, umgewandelt etc. Der Kommerz bzw. der „Sparzwang“ der Kirchenführung, haben insofern auch das bislang bestimmende Bild westeuropäischer Städte, zu der eben auch Kirchengebäude gehörten, ausgelöscht. Manche Niederländer bedauern das vielleicht allzu schnelle Abreissen von Kirchengebäuden seit 1960.

Zur Erinnerung: Katholische Kirchenführung für die “Austritte” verantwortlich.
Bis 1960 waren die Niederlande ein geradezu extrem kirchliches Land, bezogen auch auf deutsche Verhältnisse, mit vielfältigsten Formen protestantischen Lebens. Und mit einem, wie man in klerikalen Kreisen damals sagte, „äußerst blühendem katholischen Leben“.
Mit der gesellschaftlichen Entwicklung seit 1960, die das Individuum in seine umfassende Freiheiten führte, begann der systematische Abschied von der traditionellen Kirchenbindung. Gleichzeitig fand auch in der Provinz Québec in Kanada eine ähnliche Entwicklung statt. Heute ist die einst „absolut katholische Provinz Québec“ absolut säkular…
Im niederländischen Katholizismus führte die Personalpolitik des Vatikans (Ernennung reaktionärer Bischöfe, etwa: Simonis, Gijsen etc.) zu einem systematischen Abschied von der katholischen Kirche: Sie wurde und wird zurecht als autoritäre, explizit anti-demokratische Organisation wahrgenommen.

Römisch-Katholischsein und Niederländischsein passt nicht zusammen. Progressive katholische Organisationen (die „8. Mei-Bewegung“) sind verschwunden oder sind von der rigiden katholischen Haltung zum Verschwinden gebracht worden. Die Klöster sind in den Niederlanden fast ganz verschwunden. Die Provinz des Dominikaner-Ordens, bis vor 40 Jahren ebenfalls „blühend“, hat noch vier kleine Klöster. Bei den noch etwa 15 holländischen Augustinern ist niemand unter 70 Jahren…. Das Ordensleben – auch der Frauen – stirbt aus. Da und dort versuchen Laien, die alten (klerikalen) Ordenstraditionen auf neue Art fortzuführen.
Es sind Theologen und Religionssoziologen, die die Schuld an dem systematischen Verschwinden des holländischen Katholizismus dem Vatikan, allen voran dem dogmatisch-strengen polnischen Papst Johannes Paul II., geben. Mit anderen Worten: Wie überall, ist die rigide katholische klerikale Kirchenführung auch verantwortlich für diese „Entkirchlichung“. Und das ist keine Meinung, sondern eine Tatsache!

2. 18 % der Bevölkerung nennen sich katholisch, 14 % protestantisch.
Das „Centraal Bureau voor Statistiek“ (CBS), also das statistische Zentralbüro, hat nun die aktuelle Entwicklung für die Niederlande veröffentlicht (Siehe auch: https://www.cbs.nl/nl-nl/nieuws/2022/51/bijna-6-op-de-10-nederlanders-behoren-niet-tot-religieuze-groep).
Vor allem bei den Katholiken ist der Abschied von der Kircheninstitution besonders deutlich: Im Jahr 2010 nannten sich noch 27 Prozent der Niederländer Römisch – katholisch; 2021 sind es nur nicht 18 Prozent. Zu den protestantischen Kirchen bekannten sich 2010 18 Prozent, 2022 noch 14 Prozent der Bevölkerung. Interessant ist ein Blick auf die Altersstruktur: Bei jungen Menschen zwischen 18 und 25 Jahren beträgt der Anteil der Gläubigen 28 Prozent; bei den über 75 Jährigen noch 65 Prozent. Die Kirchen sind also, etwas überspitzt gesagt, nicht nur „Senioren-Organisationen“, sondern letztlich auch langsam aussterbende Gemeinschaften.
Etwa 4,5 % der Bewohner der Niederlande sind mit muslimischen Gemeinden verbunden. Angesichts dieser eher überschaubaren Zahl der Muslime bleibt es fast unverständlich, wie jetzt rechtsextreme Parteien in Holland ihren Hass auf „die MuslimInnen“ und „die Fremden“ in die Öffentlichkeit tragen.

3.
Das ist die Tatsache: im Jahr 2021 nennen sich noch 32 Prozent der Niederländer kirchlich gebunden. Eine Ziffer, die sich etwa an das traditionell nicht-bzw. antikirchliche Tschechien, vor allem Böhmen, annähert, aber noch längst nicht an die entsprechenden Zahlen im Osten Deutschlands, in den so genannten neuen Bundesländern,

4. Leere Kirchen am Sonntag.
Auch die Teilnahme an den Gottesdiensten am Sonntag ist in den Niederlanden sehr schwach: 2021 nahmen 13 Prozent der Kirchenmitglieder wenigstens einmal im Monat an den Gottesdiensten teil, 2010 waren es noch 18 Prozent. Besonders gering ist die regelmäßige Teilnahme an der Messe bei den Katholiken, bei den Protestanten nehmen mehr als die Hälfte der Mitglieder an den Sonntagsgottesdiensten teil, heißt es in der Studie vom CBS.

5. Auf der Suche nach einer Zukunft.
Beobachter haben den Eindruck, dass viele der noch verbliebenen Kirchenmitglieder und ihre Pastoren (der protestantischen Kirchen) nicht unbedingt in Depressionen fallen, sondern eher nach neuen Konzepten suchen und eine neue kirchliche Praxis probieren. Allerdings ist der Mangel an Pastoren in der großen „Protestantischen Kirche der Niederlande“ (PKN) deutlich zu spüren, das führt zu einem Zusammenschluss verschiedener Gemeinden. Andererseits gibt es Pläne und schon erste Erfahrungen, Gemeindemitglieder, die nicht eine umfassende theologische Ausbildung haben, mit bestimmten Aktivitäten der Gemeinde-Liturgien zu betrauen, etwa in der Gestaltung und Leitung von Trauerfeiern und Bestattungen. Es werden, dem Vorbild der Anglikanischen Kirche folgend, auch Kurse angeboten für Männer und Frauen, die sich neben ihrem (weltlichen) Beruf als Teilzeitstudenten auf den Pastorenberuf vorbereiten. Diese Kurse werden an der „Protestantse Theologische Universiteit“ (in Amsterdam und Groningen) angeboten.

6.
Weil viele Gemeinden und kirchliche Hilfsorganisationen immer noch umfassende soziale Hilfe leisten (Flüchtlingshilfe, Essensausgabe für Arme etc.), haben staatliche Instanzen schon jetzt ihre Sorgen geäußert, was denn an Hilfeleistungen der Kirchen noch möglich bleibt, wenn sie immer mehr zur Minderheit werden.

7. Die freisinnge Kirche der “Remonstranten”
Unter der Vielfalt protestantischer Kirchen in den Niederlanden ist die kleine Kirche der Remonstranten, theologisch gesehen, eine ganz besondere, manche sagen theologisch eine einmalige Kirche in der weiten Ökumene: Die Remonstranten, offizieller Name „Remonstrantische Bruderschaft“, sind die einzige offiziell christliche freisinnige Kirche: Das heißt: Sie halten nicht viel von traditionellen dogmatischen Bindungen, sie versuchen eine neue zeitgemäße Sprache für alte Begriffe, sie eine christlich-humanistische Kirche, die jedem Mitglied die Formulierung des eigenen Glaubensbekenntnisses überlässt.
Die Remonstranten waren niemals eine zahlenmäßig starke Kirche. Jetzt haben sie ca. 5.000 Mitglieder bzw. „Freunde der Remonstranten“, dabei handelt es sich um Menschen, die noch einer anderen Kirche angehören, aber gern im Geist der christlich-humanistischen Remonstranten leben wollen. Auch diese Möglichkeit einer „doppelten Kirchenmitgiedschaft“ ist wohl einmalig in der weiten Ökumene. Aber selbst diese theologisch liberale Kirche hat viel Mühe, neue Mitglieder zu gewinnen, obwohl sie eigene Projekte des Dialogs mit religiös Interessierten oder auch Religiös-Nicht-Interessierten anbietet.

8. Freie ökumenische “Basis-Gemeinden”
In den 1970ger Jahren bildeten sich in ganz Holland „freie ökumenische (Basis)-Gemeinden, man denke an die „Ekklesia“ in Amsterdam, die von dem Theologen und Poeten (und ehemaligen Jesuiten) Huub Oosterhuis in Amsterdam gegründet wurde oder an die Dominicus-Gemeinde in Amsterdam oder die Basis-Gemeinde „de Duif“, ebenfalls in Amsterdam. Diese freien ökumenischen und alles andere als fundamentalistischen Gemeinden haben sich von den Bindungen an einen Bischof gelöst, sie haben ihre Kirchengebäude gekauft (wie die Dominicus-Gemeinde) … und sie gehen ihren eigenen, unabhängigen Weg in der immer noch bunten Kirchenszene der Niederlande. Aber auch diese freien ökumenischen Gemeinden, die einige Leute (naiv?) für ein Vorbild hielten auch für Deutschland, haben Mühe, neue Mitglieder zu gewinnen.
Huub Oosterhuis, der Theologe und Poet, hat durch seine Poesie, seine vielen Lieder, Gedichte, Reflexionen, sicher dazu beigetragen, dass viele Gottesdienste in Holland ein beträchtliches poetisches und theologisches Niveau haben. Die Bedeutung der Poesie (und biblisch inspirierten Theologie) Oosterhuis` ist kaum zu überschätzen, selbst wenn der klerikale Katholizismus immer wieder gegen Oosterhuis polemisierte.

9. Die Zukunft?

Wie es mit dem christlichen Glauben und den Kirchen in Zukunft weitergeht, in den Niederlanden wie in West-Europa, ist völlig offen.

Möglich ist, dass sich ein christlicher Glaube bildet, der sich von allem dogmatischen Starrsinn und moralischen engen, Frauen-feindlichen Lehren befreit hat und einige zentrale Aspekte der Weisungen des Propheten Jesus von Nazareth lebt, in kleinen Basis-Gruppen, auch politisch natürlich im Sinne umfassender Gerechtigkeit.

Aber dass im Ernst noch viele intellektuell wache Menschen diesem rigiden klerikalen katholischen Männer-System, bewusst und stolz anti-demokratisch, anhängen, ist äußerst unwahrscheinlich.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.