Buchmesse 2024: Wo sind die Ketzer Italiens?

Über das Thema Religionen und Kirchen auf der Buchmesse in Frankfurt.

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Die Buchmesse in Frankfurt am Main 2024: ITALIEN ist „Ehren-Gast“.

2.
Der Religionsphilosophische Salon Berlin erinnert auch 2024 an ein Thema, das auf der Frankfurter Buchmesse meist keine große Bedeutung hat und eher wenig Beachtung findet: Es sind die Religionen und Kirchen und Philosophien. Dabei geht es uns gerade am Beispiel Italiens nicht um die dort übliche massenhafte Produktion frommer Traktate und Broschüren, sondern um Hinweise zu kritischen Aspekten des religiösen Lebens dort.
Nebenbei: In vergangenen Jahren hatten wir schon Hinweise gebracht: Zu 2017 Frankreich  LINK und LINK zu Georgien 2018 und Link 2011 zu Island.

3.
2024 konzentrieren wir uns anläßlich des Ehrengastes Italien auf eine zahlenmäßig kleine, aber geistig und politisch bedeutende progressive protestantische Kirche. Sie ist für uns ein Kontrast Programm zum allgegenwärtigen, auch politisch noch machtvollen Katholizismus in Italien. Diese protestantische Kirche hat den Namen „Waldenser – Kirche“. Und dieser Titel passt gut zum Motto des „Ehrengastes“ der Buchmesse 2024: „Verwurzelt in der Zukunft“. Die Waldenser – Kirche ist tatsächlich stark verwurzelt in der Geschichte Italiens und sie hat auch politische Perspektiven für die Zukunft dieses in Nord und Süd geteilten Landes. Unsere Hinweise verstehen sich wie immer als Einladungen, als Impulse an die LeserInnen, selbst weiter zu forschen.

4.
Der Name Waldenser bezieht sich auf den mittelalterlichen Katholiken Petrus Valdes, er stammte aus Lyon (Frankreich), war ein Laie, kein Kleriker, aber er war ein kirchenkritischer Prediger und ein leidenschaftlicher Freund der Armen in dergleichen Kleriker – Kirche. Die Bibel wollte er selber lesen und deuten, etliche katholische Lehren lehnte er ab, wie den Glauben an ein Fegefeuer oder die Heiligenverehrung. Mit ihm bildete sich die “Bewegung der Armen von Lyon“. Sie konnte sich in Zeiten der Verfolgung durch die Inquisition in die westlichen Bergtäler Norditaliens (Piemont) zurückziehen.
Um 1210 ist Petrus Valdes gestorben. Die Waldenserkirche hat als ketzerische Vereinigung (ketzerisch in der Sicht der Päpste) trotz aller Anfeindungen und Verfolgungen durch die Päpste und die weltlichen Herrschaften überlebt. Eigentlich ist dies eine Sensation. Sie zählt heute etwa 40.000 Mitglieder in Italien, auch in Lateinamerika und sogar in Deutschland gibt es Waldenser – Gemeinden. LINK Deutsche Waldenservereinigung.
In Italien haben sich die Waldenser mit einer anderen protestantischen Kirche, den Methodisten, zusammengeschlossen.
Nebenbei: Papst Franziskus hat in einem Schreiben die Waldenser um Vergebung gebeten für die Verfolgung durch die katholische Kirche. LINK.

5.
Die Waldenser Kirche in Italien ist heute eine moderne, NICHT – fundamentalistische protestantische Kirche, die Bibellektüre folgt den historisch – kritischen wissenschaftlichen Grundsätzen und Frauen sind als Pfarrerinnen willkommenem, um nur zwei Beispiele zu nennen. Die ewigen Probleme der Katholiken haben Waldenser also nicht.
Und diese Kirche ist wegen ihres sozialen Engagements zugunsten behinderter Menschen und vor allem zugunsten der Flüchtlinge sehr beliebt. Ein Beispiel: Nur 70 Prozent der katholischen Italiener wollen ihre so genannte Kultur – und Religions-Steuer, das sind 0,8 Prozent der Steuerschuld, der dominanten katholischen Kirche überlassen. Viele weisen diese Steuer sozialen Projekten des Staates zu oder eben auch der Waldenserkirche: Obwohl weniger als 0,1 Prozent der Italiener Mitglieder dieser Kirche sind, entscheiden sich fast 3 Prozent aller steuerpflichtigen Italiener, diese Steuerschuld den Waldensern zu überweisen! Ein Zeichen für das gute Renomée dieser Kirche, die sehr genau und mit großer Transparenz dokumentiert, was mit dem Steuergeld geschieht: Viel Geld geht an Projekte zur Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten oder an die Prävention und Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt… „Die Arbeit der Projektbewertung ist schwierig und komplex, und wir versuchen, das Prinzip zu respektieren, das auf die Emanzipation der Menschen, auf die Verteidigung der Schwächsten und die Entwicklung der Völker blickt, soziale Veränderungen mit der gebührenden Aufmerksamkeit für den Nächsten und ohne Vorurteile“, heißt es in einer Publikation der Waldenser. LINK

6.
Ausdruck für die theologische ökumenische Offenheit der Waldenser ist auch deren theologische Fakultät in Rom: Sie ist offen für Studenten aller Konfessionen und auch für Interessenten, die keiner Kirche angehören, wie es in einer Publikation der Fakultät heißt. LINK
In diesen Zusammenhang gehört auch ein Hinweis auf eine ökumenische Monatszeitschrift: CONFRONTI ist der Titel, einst gehörte der bekannte ehemalige Benediktiner Abt und Theologe Giovanni Franzoni (1928 – 2017) zur Chefreaktion. Franzoni ist auch als Autor zahlreicher (politischer) Bücher bekannt geworden: Aber es ist bezeichnend, dass die Theologen der Waldenser Kirche mit einem vom Papst abgesetzten katholischen Abt zusammenarbeitete. I LINK.

7.
Offen für die Rechte der Homosexuellen eintreten und die Gleichberechtigung praktisch leben: Dies ist ein weiteres typisches Kennzeichen der Waldenser. Der Journalist und Italien -Experte Thomas Migge sagte im Deutschlandfunk 2011: „Bereits im Jahr 2010 hatten die italienischen Waldenser auf ihrer Synode die Möglichkeit der kirchlichen Eheschließung für homosexuelle Paare einstimmig beschlossen. Aber erst Ende Juni 2011 wurde dieser Beschluss in die Tat umgesetzt. Eine Entscheidung, die vom Vatikan in Rom wie ein Schlag ins Gesicht empfunden wurde. So hieß es nach dem Trauungsakt von Homosexuellen in einer Waldenser Kirche in Mailand inoffiziell aus dem Vatikan, dass nach so einem Schritt an eine Vertiefung der Beziehungen zwischen beiden Kirchen im ökumenischen Sinn vorerst nicht zu denken sei.“ LINK.

8.
Die Waldenser sind nach wie vor ein Stachel im Fleisch des italienischen Katholizismus: Diese Kirche verliert ständig und sytematisch an Mitgliedern, vor allem unter jungen Leuten und Frauen: Im Jahr 2018 waren 73 % der Italiener Mitglieder der katholischen Kirche, im Jahr 1981 waren es noch 93%. Der Katholizismus ist zwar nicht mehr offizielle Staatsreligion, aber er ist die „Religion des italienischen Kulturerbes“, etwa mit Religionsunterricht auch in staatlichen Schulen und dem obligatorischen Kreuz in staatlichen Gebäuden. LINK

9.
Der Katholizismus in Italien setzt nach wie vor auf die Pflege der so genannten Volksfrömmigkeit: Also auf Wallfahrten (man denke etwa an den Marienwallfahrtsort Loreto in den Marken, dort kann das Haus besichtigt werden, in dem die Jungfrau Maria als Mädchen angeblich lebte.) Oder man denke an die Verehrung des heiligen Scharlatans, des Paters Pio, LINK  oder an die Verehrung des Heiligen Gennaro und seine mysteriöse Blutkapsel in Neapel. Diese Mischung aus Aberglaube und diffusem Volkskatholizismus gilt offenbar immer noch als eine starke Stütze für die zerrissene italienische Gesellschaft. Heilen kann dieser religiöse Wahn diese kranke Gesellschaft (Mafia!) nicht.
Unter diesen Bedingungen haben die Waldenser als eine nüchterne, aufgeklärte, man könnte sagen vernünftige Kirche nur wenige Chancen, eine breite Reform- Bewegung zu werden…

10.
In Italien gab es immer schon Abweichler vom offiziellen Katholizismus, eigentlich müßen Historiker und Religionswissenschaftler eine italienische Ketzergeschichte schreiben, wobei es immer die Herrscher und die Päpste waren, die Menschen als Ketzer definieren. Aber sie waren oft klüger und wertblickender als das meist erstarrte System des Katholizismus.

11.
Vom fast vergessenen Theologen und Augustiner-Mönch Arnaldo de Brescia (1090- 1155) wäre im Zusammenhang der Ketzerei zu sprechen, an die theologisch radikalen Franziskaner – Spiritualen wäre zu erinnern, genauso an die Tatsache, dass Franziskus von Assisi eigentlich eine radikale Armuts-Bewegung als Glaubensgemeinschaft gründen wollte. Dann aber hat er sich der Macht des Papstes beugen müssen und einen „normalen, korrekten Orden“ entstehen lassen. Zur Rettung dieser machtvollen Klerus – Machtkirche… Neapel wurde später für kurze Zeit ein Zentrum reformatorischer Ideen, auch Venedig war zeitweise ein Zufluchtsort für Protestanten. Weil die kirchliche Zensur in Italien so heftig war, konnten Luthers Schriften in Italien kaum verbreitet werden. Bartolomeo Fonzie hat als erster Luthers Traktat „An den christlichen Adel“ ins Italienische übersetzt. Die wenigen Lutheraner wurden verfolgt, der Humanist Antonio Bruccioli (1498- 1566) übersetzte die Bibel ins Italienische, wurde deswegen von den Päpsten verfolgt… er lebte unter Hausarrest und starb in großer Armut.
Später machten radikale italienische Reformatoren von sich reden, wie Girolamo Zanchi (der später in Neustadt an der Weinstraße predigte), vor allem Lelio und Fausto Sozzini (1539 – 1604) sind auch nach wie vor wichtig und in Deutschland leider kaum bekannt oder sie werden verteufelt wegen „dogmatischer Abweichungen“ etwa von den großen Konzilien des 4. Jahrhunderts. Aber die Sozzinis waren theologisch hochgebildete Theologen und sehr gut begründete Überwinder des üblichen Dogmas der göttlichen „Dreifaltigkeit“ (Trinität). Fausto Sozzini konnte in das damals liberale Polen fliehen und dort Gemeinden aufbauen, die der „Polnischen Brüder“. Aber auch sie hatten letztlich dort kein Lebensrecht, einige „polnische Brüder“ flüchteten nach Holland und traten später in Kontakt mit den dortigen liberal – theologischen Remonstranten.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.