Der christliche Glaube ist einfach und vernünftig. Die radikalen Vorschläge des Immanuel Kant.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 15.9.2023

Ein notwendiges Vorwort:
Kann ein religionskritisches Buch aus dem Jahr 1793 heute wichtig, weiterführend und hilfreich sein? Diese Frage wird in dem folgenden Hinweis diskutiert. Und, das soll jetzt schon gesagt werden, bejaht. Denn ohne eine radikale Vereinfachung der Lehren und Dogmen des Christentums, von Kant vorgeschlagen, bleiben die Kirchen fundamentalistische Vereinigungen naiver Frommer (Evangelikale, Pfingstler) oder sie bleiben erstarrte hierarchische Machtapparate des männlichen Klerus wie im Katholizismus und in der Orthodoxie.

In der Gegenwart behaupten sehr viele Kirchenführer, Theologen und etliche „Laien“, etwa im Katholizismus, die tiefgreifende Kirchenkrise sei nur eine Strukturkrise.
Aber es ist die Lehre, die Doktrin, die Dogmatik der Kirche selbst, die damals wie heute zumal die Kritischen, die Nachdenklichen aus der Kirche treibt.

Für Kant ist die christliche Religion etwas Einfaches: Sie entsteht in der Vernunft des Menschen selbst, ist also nicht auf äußere Offenbarungen und kirchliche Institutionen angewiesen. Sie ist die weltweite „unsichtbare Kirche“ der Menschen guten Willens, wie Kant sagt. Diese Vernunftreligion lehrt: Entscheidend ist einzig die Verbundenheit mit Gott sowie die absolute Hochschätzung der humanen ethischen Praxis, und das ist die Nächsten – Liebe und die (nicht – egoistische) Selbstliebe.

Ein einfaches Programm also, das aber alles andere als schlicht ist, es hätte Potential, das Zusammenleben der unterschiedlichen Menschen friedlicher und gerechter zu gestalten. Denn dass dogmatisch geprägte Kirchen heute (wie früher ständig) Kriegstreiber sind und die Nation als Gott verehren, sieht man aktuell an der russisch orthodoxen Kirche mit ihrem Putin-Ideologen und ehem. KGB Mann, dem Patriarchen Kyrill I. an der Spitze.

Ein einfacher Vernunftglaube im Sinne Kants könnte eine Inspiration sein: Für die aus den Kirchen „Ausgetretenen“ wie auch für die in den Kirchen noch Verbliebenen, also eine Anregung zu einer „anderen Spiritualität“.
Dass dieser Wunsch ein utopischer bleiben wird, liegt etwa an der Verbissenheit des römisch-katholischen Kirchensystem, das jedes der vielen Dogmen aus der langen Kirchengeschichte für unaufgebbar hält und verteidigt. Etwa wenn Papst und Bischöfe meinen: Besser ist es, hundertmal das Dogma der Erbsünde oder der Trinität zu drehen und zu wenden und dann aber das Dogma als solches zu behalten … als zu sagen: Wir legen Dogmen als verstörende Mythen jetzt beiseite und suchen andere, vernünftig argumentierende Erklärungen, etwa für das Übel in der Welt oder für einen Gott, der nur „berührt“, nicht aber umfassend („trinitarisch“) definiert werden kann…

Hinzu kommt als Problem, dass heute sehr viele kirchlich gebundene Menschen ihren Glauben für etwas Mysteriöses, Wunderbares, Außergewöhnliches, Gefühlvolles halten bis hin zum frommen Trallala ziemlich banaler Gesänge (viele Weihnachtslieder!) und einen einfachen rationalen Glauben als intellektuelle Überforderung abweisen. Religion ist für diese Menschen dann doch noch „Opium des Volkes“. Opium aber legt die Vernunft still und führt zur Halluzinationen. Aber diese Religion ist bequemer, als die rationale Vernunftreligion.
Eine Vernunftreligion weiß die religiös geprägten Kulturen als ästhetische Leistungen zu schätzen, Musik, Kathedralen, Gemälde usw… Sie schätzt diese kulturellen Formen religiösen Ausdrucks, ohne zu behaupten, sie seien der beste und einfachste Weg zur Gotteserfahrung.

Diese Probleme sind aber überhaupt kein Grund, auf die Darstellung einiger Grundideen der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie Immanuel Kants zu verzichten und nachvollziehbar zu erklären, denn die Lektüre seines Werkes ist durchaus sehr anspruchsvoll.

Die Zitate Kants im folgenden Text sind der Ausgabe „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ des Felix Meiner-Verlages, Hamburg 2003, entnommen, herausgegeben und mit einer Einleitung und Anmerkung versehen von Bettina Stangneth.

………Zum Text von Immanuel Kant……:

1.
Immanuel Kant hat sein Buch „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ 1793 in Königsberg veröffentlicht. Es wird oft nur „Religionsschrift“ genannt.

2.
Es geht Kant, der sich hier „philosophischer Religionsforscher“ nennt (S. 15), um die Frage: Wo sich „Gott als Idee“ im menschlichen Leben zeigt und in welcher Weise bzw. in welchen Strukturen sich Menschen auf Gott beziehen.

Der Ort, wo die Frage nach Gott auftaucht, ist für die Kant das vernünftige moralische Leben. „Diese Idee (Gott) geht aus der Moral hervor“, schreibt Kant gleich in der Vorrede der ersten Auflage, Seite 6. Die Gotteserfahrung und die „Kirchenfrage“ stellt sich also in der praktischen Philosophie, in der Ethik und nicht in der „theoretischen Philosophie“, wie der „Metaphysik“ als der „Disziplin“ theoretischer Philosophie.

3.
Dabei betont Kant im Vorwort zur 2. Auflage von 1794, dass sein Buch beim Leser nicht die Kenntnis seiner früheren großen Werke („Kritik der reinen Vernunft“, “Kritik der praktischen Vernunft“ usw.) voraussetzt. „Es bedarf, um diese Schrift zu verstehen, nur der (all)gemeinen Moral…“ (S. 16)

4.
Zur Geschichte dieses Buches hat die Philosophin Bettina Stangneth eine ausführliche Einleitung verfasst. Sie zeigt, unter welchen widrigen Bedingungen im damaligen Preußen Kant sein Buch veröffentlichte. Bettina Stangneth erinnert an das spinöse religiöse Denken König Friedrich Wilhelm II. (König von 1786 – 1797), der sich von spiritueller Schwärmerei nicht befreien konnte und entsprechende protestantische Pfarrer in seiner Umgebung förderte. Kant spricht deswegen in seiner Schrift von „Pfaffen“. Die „Religionsschrift“ zu publizieren war dann ein mutiger Entschluss. Kant schätzte es, in die große Öffentlichkeit – etwa durch Zeitschriftenbeiträge – zu treten. Seine “Religionsschrift“ wurde in den folgenden Jahren heftig diskutiert.

5.
Der Titel der Religionsschrift sollte in einer Umschreibung übersetzt werden: Es geht um die Leistung der philosophisch reflektierten Vernunft, der Religion (den Religionen, vornehmlich aber dem Christentum und seinen Kirchen) durch die kritische Vernunft gebotene Grenzen zu ziehen, um Religionen vor „Wahn“, wie Kant sagt, und Unsinn zu bewahren. Es geht also darum, mit entsprechenden vernünftigen philosophischen Kriterien den Unterschied zu zeigen zwischen einer allgemein menschlichen, also einer sich in der Vernunft offenbarenden Religion und einer bloß behaupteten, sich geoffenbart nennenden Religionslehre, die aus frühen Zeiten stammt und mit zahllosen Dogmen ausgestattet ist.

6.
Diese „Religionsschrift“ enthält vier Kapitel. Wir beschäftigen uns hier mit dem vierten Kapitel, „Viertes Stück“ von Kant genannt, mit dem Titel: „Vom Dienst und Afterdienst unter der Herrschaft des guten Prinzips, oder: Von Religion und Pfaffentum“.
Das zu Kants Zeiten offenbar übliche Wort „Afterdienst“ bedeutet in dem Zusammenhang: Eine Form des Aberglaubens, der phantasierten Frömmigkeit, um Gott zu gefallen und Gott wie einen netten Partner zu Gunsten der Menschen zum Handeln zu bewegen…Kant selbst übersetzt diesen heute seltsamen Begriff Afterdienst mit „Superstition“, also Aberglaube (S. 232).

7.
Entscheidend ist die Unterscheidung Kants: Es gibt faktisch eine Vernunftreligion und eine durch eine Offenbarung („heiliges Buch“) organisierte, kirchliche Religion des Christentums.

8.
Diese kirchliche Religion beruht auf Satzungen, Dogmen, Vorschriften, die von bestimmten Menschen gemacht werden als Interpreten der göttlichen Offenbarung, die sich in der Bibel ausdrückt. Diese Kirchen werden von „gebietenden hohen Beamten geleitet“, wie Kant ausdrücklich sagt, (S. 222), offenbar auch in Erinnerung an die Repressionen, die Kant durch hohe kirchliche Beamte in Preußen erfahren hat. Selbst wenn diese gebietenden hohen Beamten im Protestantismus noch etwas moderater erscheinen mögen als die katholischen Kirchenbeamten (Kleriker): Auch die protestantischen Kirchenbeamten verstehen sich, so Kant, als „alleinige berufene Ausleger der heiligen Schriften“. Sie deuten die Schrift nur im Gehorsam zum offiziellen Kirchenglauben und verleugnen dabei „die reine Vernunftreligion“. Sie „berauben“ dabei diese Vernunftreligion ihrer Würde. Denn die Vernunft sollte in der Sicht Kants „die höchste Auslegerin der heiligen Schrift“ sein (S. 222). Diese Funktion ignorieren die fundamentalistischen Bibel-Enthusiasten… Denn alle Menschen als Vernunftwesen haben Anteil an der allgemein-menschlichen Vernunftreligion, die deswegen versteckt und implizit auch in den Kirchen-Religionen steckt, aber die Kirchen unterdrücken diesen Vernunftaspekt. Darum ist die kirchlich verfasste Religion kein „Dienst“ an den Menschen, sondern eine, so wörtlich, „Beherrschung“ (S. 222). Kant spricht von „Fronglauben“ (etwa S. 253), also einem erzwungenen, leidvoll zu lebenden Glauben.

9.
Die kirchliche Religion beruft sich auf Jesus als den Sohn Gottes. Kant hingegen interessiert sich nur für den Menschen Jesus als einen Lehrer: In Kants Sicht lebt und verkündete Jesus eine einfache, eine vernünftige Religion. Im Sinne Kants also eine Religion, die in der vernünftigen Moral gelebt wird (S. 225) und dort ihren absoluten Mittelpunkt hat.
Jesus zeigte als menschlicher „Lehrer“, dass die Religion „in uns“ ist, also in der Vernunft, der Seele und vor allem im Gewissen der Menschen ihren Ort hat. „Zuerst will Jesus, dass nicht die Beobachtung äußerer bürgerlicher oder nur Kirchenpflichten den Menschen Gott wohlgefällig machen könne, sondern allein die reine moralische Herzensgesinnung“ (S. 214).

10.
Die Gemeinde, die Kirche, machte aus dieser einfachen Jesus-Religion dann eine „statuarische Religion“, wie Kant sagt, also eine von Statuten und Dogmen geprägte Kirche. Die Glaubenden im Sinne der Kirche sollen bestimmte historisch entstandene Kirchen-Lehren glauben, Lehren, „die außer uns Menschen“ (S. 225) sind, d.h. einen fremden und befremdlichen, unfreien und nicht eigenen, inneren Charakter haben.

11.
Den Kirchenglauben, „den statuarischen Kirchenglauben“ der Dogmen verurteilt Kants scharf: „Diesen statuarischen Glauben nun wesentlich für den Dienst Gottes überhaupt zu halten und ihn zur obersten Bedingung des göttlichen Wohlgefallens am Menschen zu machen , ist ein Religionswahn“ (S. 226).
Dieser Dogmenreligion folgend werden dann vom Klerus wundersame Dinge behauptet: Etwa werden Wunder propagiert und für göttlich gehalten, es entsteht die Bereitschaft, Gott durch eigenen Verzicht und Opfer eine Freude zu machen, ihn wohlgestimmt zu halten, es wird das Bedürfnis nach Feierlichkeiten und der Hochschätzung des Klerus erzeugt…für Kant sind das Aktivitäten, die vom wahren Gottesbezug ablenken und einem Leben gemäß Gottes einfachen Weisungen der Liebe widersprechen.

12.
Für den Vernunftglauben im Sinne Kants geht es ausschließlich um die tatsächlich praktizierte Nächstenliebe und die Liebe zur göttlichen Idee. Diesen einfachen Grundsatz der Vernunftreligion hält Kant für evident, dieser Glaube ist in sich selbst klar und unabweisbar für jeden Menschen, immer und überall. Dabei folgt Kant seiner Interpretation des Lehrers Jesu von Nazareth: „Jesus fasst alle Pflichten in einer allgemeinen Regel zusammen: Liebe Gott als den Gesetzgeber aller Pflichten über alles und liebe einen jeden Menschen so wie dich selbst, das bedeutet: befördere ihr Wohl aus unmittelbarem, nicht von eigennützigen Triebfedern abgeleiteten Wohlwollen“ (S. 216).
Wer dem ethischen kategorischen Imperativ entspricht, kann sich nicht egoistisch zurückziehen, er kann nicht passiv bleiben, sondern soll sich tätig für die anderen einsetzen. Diese Vernunftglaube führt also auch zum politischen Handeln.

13.
„Es gibt nur eine Religion des guten Lebenswandels“ (S. 236). Diese Religion, die als humane ethische Praxis, dem Kategorischen Imperativ verpflichtet, ist eine universale Menschheits – Religion, sie ist das eigentliche Ziel aller Entwicklung der sich auf Offenbarungen und Kirchenglauben beziehenden Religionen: Die universale Religion des guten Lebenswandels wird sich, so hofft Kant, eines Tages durchsetzen.

14.
Die Menschen, die der Religion des guten Lebenswandels bereits entsprechen und in aller Welt leben, bilden für Kant eine „unsichtbare Kirche“. Es sind Menschen, die Kant die „Wohldenkenden“ nennt (S. 238). Sie folgen einzig dem Gewissen als der „sich selbst richtenden moralischen Urteilskraft“ (S. 251). Der wahre Gottesdienst ist also die dem Gewissensurteil entsprechende gute Tat, gelebt in guter Gesinnung. Eine solche Entscheidung stärkt den Menschen … und weckt die Hoffnung auf eine Unsterblichkeit der Seele.

15.
Ganz anders die faktische existierende (Staats)Kirche mit ihren Pfarren und Kirchengebäuden: Kant meint: Durch kirchlichen Kultus dieser real existierenden Kirche kann sich der Mensch nicht in das gewünschte wahre Verhältnis zu Gott bringen. Teilnahme an den Gottesdiensten in den Kirchen hat aber nur Sinn als Stärkung des Gemeinschaftsgefühls der Glaubenden, sie fördert die Erbauung des einzelnen (S. 268). Und Gebete sind keine Mittel, Gnade bei Gott zu finden. Im persönlichen Gebet drückt der Mensch für sich selbst, als Bestärkung auf seinem Weg, nur seinen Wunsch aus: „Gott in allem Tun und Lassen wohlgefällig zu sein“ (S. 264), dabei soll Gott nicht beeinflusst werden, sondern nur die eigene ethische Gesinnung Stärke und Bekräftigung finden.

Andachtsübungen und Liturgien bewirken also nicht das ethisch gute und das heißt religiös wertvolle Leben. Die Frommen machen sich alle etwas vor. Und der Klerus der europäischen Kirchen ist für Kant so viel wert wie die Priester und Weisen in den Volks-Religionen. “Etwa der europäische Prälat, der sowohl über die Kirche als auch über den Staat herrscht, unterscheidet sich nicht von einem Schamanen bei den Tongusen”, (offenbar ein Südseestamm, meinte wohl Kant). So fasst Manfred Kühn einen Aspekt von Kants Kirchenkritik zusammen. (Manfred Kühn, “Kant. Eine Biographie”, München 2004, S. 430.)

16.
Kants Plädoyer für die unsichtbare Kirche der philosophisch evidenten Vernunftreligion ist durchaus zeitgemäß: Die Vernunftreligion ist eigentlich schon jetzt ein Glaube, der in allen Kulturen und natürlich auch außer – christlichen Religionen lebendig ist. Kant spricht auch kurz vom Judentum, vom Hinduismus und von den „Mohammedanern“, deren Glaubenszentrum sieht er – im Blick auf die Geschichte – vor allem in der aus dem Glauben entspringenden „Unterjochung anderer Völker“ (S. 248, Fußnote).

17.
Kant hat den Kirchenglauben von einer philosophischen Sicht aus heftig kritisiert, aber nicht bekämpft. Er sah durchaus, dass einzelne Menschen sich im Vollzug der Kirchen-Religion doch eines Tages der humanen Vernunft-Religion annähern können. Bisher ist diese Erwartung Kants nicht umfassend in Erfüllung gegangen.

18.
Die Theologinnen der offiziellen, institutionalisierten Ökumene der christlichen Kirchen pflegen nicht die philosophische Kritik einzelner Kirchen, sie sind offenbar heilfroh, dass möglichst viele noch so seltsame pfingstlerische und evangelikale Glaubensformen unter dem Dach der Ökumene sich versammeln.
So bleibt der Gesamteindruck: Die Christenheit besteht heute entweder – zahlenmäßig zunehmend – aus fundamentalistisch geprägten Evangelikalen und Pfingstlern oder aus dem dogmatisch nach wie vor erstarrten Katholizismus und der Orthodoxie.
Wer heute noch im Sinne der Kirchen glaubt, will möglichst wenig kritisch reflektierte Vernunft in seiner Glaubenshaltung gelten lassen. Sonst dürfte kein Katholik den Bischof von Rom einen „heiligen (!) Vater“ nennen und sich den Entscheidungen und Lehren dieses absoluten Monarchen in einem undemokratischen System beugen, mit der bekannten Abweisung umfassender Frauenrechte etc.
In dieser Haltung sind dann die Kirchen und ihre Mitglieder nur ein Spiegel der allgemeinen Unvernunft, die heute so oft das politische, ökologische, soziale Leben der Welt bestimmt. Die Zahl der demokratischen Rechtsstaaten ist bekanntlich heute – leider – verschwindend klein….
Kirchen, die die Vernunft hochschätzen und Dogmen abwehren, wie die niederländischen Remonstranten, sind leider nur eine sehr kleine Minderheit.

19.
Mit seiner „Religionsschrift“ von 1793 zeigt Kant nicht nur, dass er eine Art zeitlos inspirierendes Werk geschrieben hat. Er beweist auch, dass er alles andere als ein Vernichter des Gottes-Glaubens ist, als den ihn so viele Kritiker verurteilten und aus Unkenntnis noch heute ablehnen.

20.
Kant sollte als eine Möglichkeit der „Rettung“ des Wesentlichen des christlichen Glaubens in der Moderne wahrgenommen werden. Wenn der christliche Glaube nicht wesentlich wird – im Sinne Kants z.B., also reduziert auf einige ganz wenige Erkenntnisse und Weisheiten, wird er – zunächst in Europa und Amerika, später dann weltweit, wenn alle Menschen gebildet sind – keine Zukunft haben. Damit würde aber die evidente Erkenntnis einer göttlichen Wirklichkeit und der Liebe (Nächsten- Fernsten- und Selbst- Liebe) als der entscheidenden humanen Praxis an Relevanz verlieren.

21.

Dieser Hinweis zeigt erneut: Kant tritt auf seine Weise für eine kritische Metaphysik ein. Es gibt für ihn Gedanken, die in der Vernunft selbst ihren Ursprung haben, das sind die Gedanken: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit der Seele. “Mit ihnen überschreitet die Vernunft die Grenzen möglicher Erkenntnis (in der Kantschen Definition von Erkenntnis, C.M.), nicht aber notwendig auch die Grenzen des Sagbaren und gewiss nicht die Grenzen ihrer selbst” (Dieter Henrich, “Warum Metaphysik?” in: ders. “Bewusstes Leben”, Reclam 1999, S. 76). Es sind für Kant Überzeugungen und Gedanken, die vom Vernunftleben untrennbar sind. Diese genannten metaphysischen Gedanken beweisen zu wollen, lehnt Kant ab, “Beweisbarkeit (im mathematischen Sinne innerhalb der Philosophie, C.M.) ist für Kant gar kein zureichendes Kriterium für vernünftige Annehmbarkeit” (Dieter Henrich, S. 77).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.