Der christliche Glaube ist einfach und vernünftig. Die radikalen Vorschläge des Immanuel Kant.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 15.9.2023

Ein notwendiges Vorwort:
Kann ein religionskritisches Buch aus dem Jahr 1793 heute wichtig, weiterführend und hilfreich sein? Diese Frage wird in dem folgenden Hinweis diskutiert. Und, das soll jetzt schon gesagt werden, bejaht. Denn ohne eine radikale Vereinfachung der Lehren und Dogmen des Christentums, von Kant vorgeschlagen, bleiben die Kirchen fundamentalistische Vereinigungen naiver Frommer (Evangelikale, Pfingstler) oder sie bleiben erstarrte hierarchische Machtapparate des männlichen Klerus wie im Katholizismus und in der Orthodoxie.

In der Gegenwart behaupten sehr viele Kirchenführer, Theologen und etliche „Laien“, etwa im Katholizismus, die tiefgreifende Kirchenkrise sei nur eine Strukturkrise.
Aber es ist die Lehre, die Doktrin, die Dogmatik der Kirche selbst, die damals wie heute zumal die Kritischen, die Nachdenklichen aus der Kirche treibt.

Für Kant ist die christliche Religion etwas Einfaches: Sie entsteht in der Vernunft des Menschen selbst, ist also nicht auf äußere Offenbarungen und kirchliche Institutionen angewiesen. Sie ist die weltweite „unsichtbare Kirche“ der Menschen guten Willens, wie Kant sagt. Diese Vernunftreligion lehrt: Entscheidend ist einzig die Verbundenheit mit Gott sowie die absolute Hochschätzung der humanen ethischen Praxis, und das ist die Nächsten – Liebe und die (nicht – egoistische) Selbstliebe.

Ein einfaches Programm also, das aber alles andere als schlicht ist, es hätte Potential, das Zusammenleben der unterschiedlichen Menschen friedlicher und gerechter zu gestalten. Denn dass dogmatisch geprägte Kirchen heute (wie früher ständig) Kriegstreiber sind und die Nation als Gott verehren, sieht man aktuell an der russisch orthodoxen Kirche mit ihrem Putin-Ideologen und ehem. KGB Mann, dem Patriarchen Kyrill I. an der Spitze.

Ein einfacher Vernunftglaube im Sinne Kants könnte eine Inspiration sein: Für die aus den Kirchen „Ausgetretenen“ wie auch für die in den Kirchen noch Verbliebenen, also eine Anregung zu einer „anderen Spiritualität“.
Dass dieser Wunsch ein utopischer bleiben wird, liegt etwa an der Verbissenheit des römisch-katholischen Kirchensystem, das jedes der vielen Dogmen aus der langen Kirchengeschichte für unaufgebbar hält und verteidigt. Etwa wenn Papst und Bischöfe meinen: Besser ist es, hundertmal das Dogma der Erbsünde oder der Trinität zu drehen und zu wenden und dann aber das Dogma als solches zu behalten … als zu sagen: Wir legen Dogmen als verstörende Mythen jetzt beiseite und suchen andere, vernünftig argumentierende Erklärungen, etwa für das Übel in der Welt oder für einen Gott, der nur „berührt“, nicht aber umfassend („trinitarisch“) definiert werden kann…

Hinzu kommt als Problem, dass heute sehr viele kirchlich gebundene Menschen ihren Glauben für etwas Mysteriöses, Wunderbares, Außergewöhnliches, Gefühlvolles halten bis hin zum frommen Trallala ziemlich banaler Gesänge (viele Weihnachtslieder!) und einen einfachen rationalen Glauben als intellektuelle Überforderung abweisen. Religion ist für diese Menschen dann doch noch „Opium des Volkes“. Opium aber legt die Vernunft still und führt zur Halluzinationen. Aber diese Religion ist bequemer, als die rationale Vernunftreligion.
Eine Vernunftreligion weiß die religiös geprägten Kulturen als ästhetische Leistungen zu schätzen, Musik, Kathedralen, Gemälde usw… Sie schätzt diese kulturellen Formen religiösen Ausdrucks, ohne zu behaupten, sie seien der beste und einfachste Weg zur Gotteserfahrung.

Diese Probleme sind aber überhaupt kein Grund, auf die Darstellung einiger Grundideen der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie Immanuel Kants zu verzichten und nachvollziehbar zu erklären, denn die Lektüre seines Werkes ist durchaus sehr anspruchsvoll.

Die Zitate Kants im folgenden Text sind der Ausgabe „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ des Felix Meiner-Verlages, Hamburg 2003, entnommen, herausgegeben und mit einer Einleitung und Anmerkung versehen von Bettina Stangneth.

………Zum Text von Immanuel Kant……:

1.
Immanuel Kant hat sein Buch „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ 1793 in Königsberg veröffentlicht. Es wird oft nur „Religionsschrift“ genannt.

2.
Es geht Kant, der sich hier „philosophischer Religionsforscher“ nennt (S. 15), um die Frage: Wo sich „Gott als Idee“ im menschlichen Leben zeigt und in welcher Weise bzw. in welchen Strukturen sich Menschen auf Gott beziehen.

Der Ort, wo die Frage nach Gott auftaucht, ist für die Kant das vernünftige moralische Leben. „Diese Idee (Gott) geht aus der Moral hervor“, schreibt Kant gleich in der Vorrede der ersten Auflage, Seite 6. Die Gotteserfahrung und die „Kirchenfrage“ stellt sich also in der praktischen Philosophie, in der Ethik und nicht in der „theoretischen Philosophie“, wie der „Metaphysik“ als der „Disziplin“ theoretischer Philosophie.

3.
Dabei betont Kant im Vorwort zur 2. Auflage von 1794, dass sein Buch beim Leser nicht die Kenntnis seiner früheren großen Werke („Kritik der reinen Vernunft“, “Kritik der praktischen Vernunft“ usw.) voraussetzt. „Es bedarf, um diese Schrift zu verstehen, nur der (all)gemeinen Moral…“ (S. 16)

4.
Zur Geschichte dieses Buches hat die Philosophin Bettina Stangneth eine ausführliche Einleitung verfasst. Sie zeigt, unter welchen widrigen Bedingungen im damaligen Preußen Kant sein Buch veröffentlichte. Bettina Stangneth erinnert an das spinöse religiöse Denken König Friedrich Wilhelm II. (König von 1786 – 1797), der sich von spiritueller Schwärmerei nicht befreien konnte und entsprechende protestantische Pfarrer in seiner Umgebung förderte. Kant spricht deswegen in seiner Schrift von „Pfaffen“. Die „Religionsschrift“ zu publizieren war dann ein mutiger Entschluss. Kant schätzte es, in die große Öffentlichkeit – etwa durch Zeitschriftenbeiträge – zu treten. Seine “Religionsschrift“ wurde in den folgenden Jahren heftig diskutiert.

5.
Der Titel der Religionsschrift sollte in einer Umschreibung übersetzt werden: Es geht um die Leistung der philosophisch reflektierten Vernunft, der Religion (den Religionen, vornehmlich aber dem Christentum und seinen Kirchen) durch die kritische Vernunft gebotene Grenzen zu ziehen, um Religionen vor „Wahn“, wie Kant sagt, und Unsinn zu bewahren. Es geht also darum, mit entsprechenden vernünftigen philosophischen Kriterien den Unterschied zu zeigen zwischen einer allgemein menschlichen, also einer sich in der Vernunft offenbarenden Religion und einer bloß behaupteten, sich geoffenbart nennenden Religionslehre, die aus frühen Zeiten stammt und mit zahllosen Dogmen ausgestattet ist.

6.
Diese „Religionsschrift“ enthält vier Kapitel. Wir beschäftigen uns hier mit dem vierten Kapitel, „Viertes Stück“ von Kant genannt, mit dem Titel: „Vom Dienst und Afterdienst unter der Herrschaft des guten Prinzips, oder: Von Religion und Pfaffentum“.
Das zu Kants Zeiten offenbar übliche Wort „Afterdienst“ bedeutet in dem Zusammenhang: Eine Form des Aberglaubens, der phantasierten Frömmigkeit, um Gott zu gefallen und Gott wie einen netten Partner zu Gunsten der Menschen zum Handeln zu bewegen…Kant selbst übersetzt diesen heute seltsamen Begriff Afterdienst mit „Superstition“, also Aberglaube (S. 232).

7.
Entscheidend ist die Unterscheidung Kants: Es gibt faktisch eine Vernunftreligion und eine durch eine Offenbarung („heiliges Buch“) organisierte, kirchliche Religion des Christentums.

8.
Diese kirchliche Religion beruht auf Satzungen, Dogmen, Vorschriften, die von bestimmten Menschen gemacht werden als Interpreten der göttlichen Offenbarung, die sich in der Bibel ausdrückt. Diese Kirchen werden von „gebietenden hohen Beamten geleitet“, wie Kant ausdrücklich sagt, (S. 222), offenbar auch in Erinnerung an die Repressionen, die Kant durch hohe kirchliche Beamte in Preußen erfahren hat. Selbst wenn diese gebietenden hohen Beamten im Protestantismus noch etwas moderater erscheinen mögen als die katholischen Kirchenbeamten (Kleriker): Auch die protestantischen Kirchenbeamten verstehen sich, so Kant, als „alleinige berufene Ausleger der heiligen Schriften“. Sie deuten die Schrift nur im Gehorsam zum offiziellen Kirchenglauben und verleugnen dabei „die reine Vernunftreligion“. Sie „berauben“ dabei diese Vernunftreligion ihrer Würde. Denn die Vernunft sollte in der Sicht Kants „die höchste Auslegerin der heiligen Schrift“ sein (S. 222). Diese Funktion ignorieren die fundamentalistischen Bibel-Enthusiasten… Denn alle Menschen als Vernunftwesen haben Anteil an der allgemein-menschlichen Vernunftreligion, die deswegen versteckt und implizit auch in den Kirchen-Religionen steckt, aber die Kirchen unterdrücken diesen Vernunftaspekt. Darum ist die kirchlich verfasste Religion kein „Dienst“ an den Menschen, sondern eine, so wörtlich, „Beherrschung“ (S. 222). Kant spricht von „Fronglauben“ (etwa S. 253), also einem erzwungenen, leidvoll zu lebenden Glauben.

9.
Die kirchliche Religion beruft sich auf Jesus als den Sohn Gottes. Kant hingegen interessiert sich nur für den Menschen Jesus als einen Lehrer: In Kants Sicht lebt und verkündete Jesus eine einfache, eine vernünftige Religion. Im Sinne Kants also eine Religion, die in der vernünftigen Moral gelebt wird (S. 225) und dort ihren absoluten Mittelpunkt hat.
Jesus zeigte als menschlicher „Lehrer“, dass die Religion „in uns“ ist, also in der Vernunft, der Seele und vor allem im Gewissen der Menschen ihren Ort hat. „Zuerst will Jesus, dass nicht die Beobachtung äußerer bürgerlicher oder nur Kirchenpflichten den Menschen Gott wohlgefällig machen könne, sondern allein die reine moralische Herzensgesinnung“ (S. 214).

10.
Die Gemeinde, die Kirche, machte aus dieser einfachen Jesus-Religion dann eine „statuarische Religion“, wie Kant sagt, also eine von Statuten und Dogmen geprägte Kirche. Die Glaubenden im Sinne der Kirche sollen bestimmte historisch entstandene Kirchen-Lehren glauben, Lehren, „die außer uns Menschen“ (S. 225) sind, d.h. einen fremden und befremdlichen, unfreien und nicht eigenen, inneren Charakter haben.

11.
Den Kirchenglauben, „den statuarischen Kirchenglauben“ der Dogmen verurteilt Kants scharf: „Diesen statuarischen Glauben nun wesentlich für den Dienst Gottes überhaupt zu halten und ihn zur obersten Bedingung des göttlichen Wohlgefallens am Menschen zu machen , ist ein Religionswahn“ (S. 226).
Dieser Dogmenreligion folgend werden dann vom Klerus wundersame Dinge behauptet: Etwa werden Wunder propagiert und für göttlich gehalten, es entsteht die Bereitschaft, Gott durch eigenen Verzicht und Opfer eine Freude zu machen, ihn wohlgestimmt zu halten, es wird das Bedürfnis nach Feierlichkeiten und der Hochschätzung des Klerus erzeugt…für Kant sind das Aktivitäten, die vom wahren Gottesbezug ablenken und einem Leben gemäß Gottes einfachen Weisungen der Liebe widersprechen.

12.
Für den Vernunftglauben im Sinne Kants geht es ausschließlich um die tatsächlich praktizierte Nächstenliebe und die Liebe zur göttlichen Idee. Diesen einfachen Grundsatz der Vernunftreligion hält Kant für evident, dieser Glaube ist in sich selbst klar und unabweisbar für jeden Menschen, immer und überall. Dabei folgt Kant seiner Interpretation des Lehrers Jesu von Nazareth: „Jesus fasst alle Pflichten in einer allgemeinen Regel zusammen: Liebe Gott als den Gesetzgeber aller Pflichten über alles und liebe einen jeden Menschen so wie dich selbst, das bedeutet: befördere ihr Wohl aus unmittelbarem, nicht von eigennützigen Triebfedern abgeleiteten Wohlwollen“ (S. 216).
Wer dem ethischen kategorischen Imperativ entspricht, kann sich nicht egoistisch zurückziehen, er kann nicht passiv bleiben, sondern soll sich tätig für die anderen einsetzen. Diese Vernunftglaube führt also auch zum politischen Handeln.

13.
„Es gibt nur eine Religion des guten Lebenswandels“ (S. 236). Diese Religion, die als humane ethische Praxis, dem Kategorischen Imperativ verpflichtet, ist eine universale Menschheits – Religion, sie ist das eigentliche Ziel aller Entwicklung der sich auf Offenbarungen und Kirchenglauben beziehenden Religionen: Die universale Religion des guten Lebenswandels wird sich, so hofft Kant, eines Tages durchsetzen.

14.
Die Menschen, die der Religion des guten Lebenswandels bereits entsprechen und in aller Welt leben, bilden für Kant eine „unsichtbare Kirche“. Es sind Menschen, die Kant die „Wohldenkenden“ nennt (S. 238). Sie folgen einzig dem Gewissen als der „sich selbst richtenden moralischen Urteilskraft“ (S. 251). Der wahre Gottesdienst ist also die dem Gewissensurteil entsprechende gute Tat, gelebt in guter Gesinnung. Eine solche Entscheidung stärkt den Menschen … und weckt die Hoffnung auf eine Unsterblichkeit der Seele.

15.
Ganz anders die faktische existierende (Staats)Kirche mit ihren Pfarren und Kirchengebäuden: Kant meint: Durch kirchlichen Kultus dieser real existierenden Kirche kann sich der Mensch nicht in das gewünschte wahre Verhältnis zu Gott bringen. Teilnahme an den Gottesdiensten in den Kirchen hat aber nur Sinn als Stärkung des Gemeinschaftsgefühls der Glaubenden, sie fördert die Erbauung des einzelnen (S. 268). Und Gebete sind keine Mittel, Gnade bei Gott zu finden. Im persönlichen Gebet drückt der Mensch für sich selbst, als Bestärkung auf seinem Weg, nur seinen Wunsch aus: „Gott in allem Tun und Lassen wohlgefällig zu sein“ (S. 264), dabei soll Gott nicht beeinflusst werden, sondern nur die eigene ethische Gesinnung Stärke und Bekräftigung finden.

Andachtsübungen und Liturgien bewirken also nicht das ethisch gute und das heißt religiös wertvolle Leben. Die Frommen machen sich alle etwas vor. Und der Klerus der europäischen Kirchen ist für Kant so viel wert wie die Priester und Weisen in den Volks-Religionen. “Etwa der europäische Prälat, der sowohl über die Kirche als auch über den Staat herrscht, unterscheidet sich nicht von einem Schamanen bei den Tongusen”, (offenbar ein Südseestamm, meinte wohl Kant). So fasst Manfred Kühn einen Aspekt von Kants Kirchenkritik zusammen. (Manfred Kühn, “Kant. Eine Biographie”, München 2004, S. 430.)

16.
Kants Plädoyer für die unsichtbare Kirche der philosophisch evidenten Vernunftreligion ist durchaus zeitgemäß: Die Vernunftreligion ist eigentlich schon jetzt ein Glaube, der in allen Kulturen und natürlich auch außer – christlichen Religionen lebendig ist. Kant spricht auch kurz vom Judentum, vom Hinduismus und von den „Mohammedanern“, deren Glaubenszentrum sieht er – im Blick auf die Geschichte – vor allem in der aus dem Glauben entspringenden „Unterjochung anderer Völker“ (S. 248, Fußnote).

17.
Kant hat den Kirchenglauben von einer philosophischen Sicht aus heftig kritisiert, aber nicht bekämpft. Er sah durchaus, dass einzelne Menschen sich im Vollzug der Kirchen-Religion doch eines Tages der humanen Vernunft-Religion annähern können. Bisher ist diese Erwartung Kants nicht umfassend in Erfüllung gegangen.

18.
Die Theologinnen der offiziellen, institutionalisierten Ökumene der christlichen Kirchen pflegen nicht die philosophische Kritik einzelner Kirchen, sie sind offenbar heilfroh, dass möglichst viele noch so seltsame pfingstlerische und evangelikale Glaubensformen unter dem Dach der Ökumene sich versammeln.
So bleibt der Gesamteindruck: Die Christenheit besteht heute entweder – zahlenmäßig zunehmend – aus fundamentalistisch geprägten Evangelikalen und Pfingstlern oder aus dem dogmatisch nach wie vor erstarrten Katholizismus und der Orthodoxie.
Wer heute noch im Sinne der Kirchen glaubt, will möglichst wenig kritisch reflektierte Vernunft in seiner Glaubenshaltung gelten lassen. Sonst dürfte kein Katholik den Bischof von Rom einen „heiligen (!) Vater“ nennen und sich den Entscheidungen und Lehren dieses absoluten Monarchen in einem undemokratischen System beugen, mit der bekannten Abweisung umfassender Frauenrechte etc.
In dieser Haltung sind dann die Kirchen und ihre Mitglieder nur ein Spiegel der allgemeinen Unvernunft, die heute so oft das politische, ökologische, soziale Leben der Welt bestimmt. Die Zahl der demokratischen Rechtsstaaten ist bekanntlich heute – leider – verschwindend klein….
Kirchen, die die Vernunft hochschätzen und Dogmen abwehren, wie die niederländischen Remonstranten, sind leider nur eine sehr kleine Minderheit.

19.
Mit seiner „Religionsschrift“ von 1793 zeigt Kant nicht nur, dass er eine Art zeitlos inspirierendes Werk geschrieben hat. Er beweist auch, dass er alles andere als ein Vernichter des Gottes-Glaubens ist, als den ihn so viele Kritiker verurteilten und aus Unkenntnis noch heute ablehnen.

20.
Kant sollte als eine Möglichkeit der „Rettung“ des Wesentlichen des christlichen Glaubens in der Moderne wahrgenommen werden. Wenn der christliche Glaube nicht wesentlich wird – im Sinne Kants z.B., also reduziert auf einige ganz wenige Erkenntnisse und Weisheiten, wird er – zunächst in Europa und Amerika, später dann weltweit, wenn alle Menschen gebildet sind – keine Zukunft haben. Damit würde aber die evidente Erkenntnis einer göttlichen Wirklichkeit und der Liebe (Nächsten- Fernsten- und Selbst- Liebe) als der entscheidenden humanen Praxis an Relevanz verlieren.

21.

Dieser Hinweis zeigt erneut: Kant tritt auf seine Weise für eine kritische Metaphysik ein. Es gibt für ihn Gedanken, die in der Vernunft selbst ihren Ursprung haben, das sind die Gedanken: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit der Seele. “Mit ihnen überschreitet die Vernunft die Grenzen möglicher Erkenntnis (in der Kantschen Definition von Erkenntnis, C.M.), nicht aber notwendig auch die Grenzen des Sagbaren und gewiss nicht die Grenzen ihrer selbst” (Dieter Henrich, “Warum Metaphysik?” in: ders. “Bewusstes Leben”, Reclam 1999, S. 76). Es sind für Kant Überzeugungen und Gedanken, die vom Vernunftleben untrennbar sind. Diese genannten metaphysischen Gedanken beweisen zu wollen, lehnt Kant ab, “Beweisbarkeit (im mathematischen Sinne innerhalb der Philosophie, C.M.) ist für Kant gar kein zureichendes Kriterium für vernünftige Annehmbarkeit” (Dieter Henrich, S. 77).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Weil Freiheit nicht nur profan ist, darum gibt es auch in der Moderne Metaphysik.

Ein Hinweis auf den Philosophen Dieter Henrich.

Von Christian Modehn.

1.
Dieter Henrich ist einer der maßgeblichen Philosophen, zumal, wenn nach den Strukturen und Gründen des Selbstbewusstseins im Sinne Kants, Fichtes, Hegels gefragt wird. Diese Frage ist alles andere als „veraltet“. Sie ist vielleicht eine Provokation, angesichts der heutigen Herausforderungen der empirischen Psychologie, der Gehirnforschung, der künstlichen Intelligenz usw. Aber Formen und Inhalte der “klassischen” philosophischen Erkenntnisse zum geistigen Selbstbewusstsein des Menschen können als Voraussetzung gelten für die genannten aktuellen mehr empirischen Studien und Experimente zum Selbstbewusstsein.
In hohem Alter hat Henrich eine Autobiographie in der Form eines Interviews veröffentlicht. „Ins Denken ziehen“ ist der Titel. Das Buch wurde 2021 im C.H.Beck Verlag veröffentlicht.
Am 17.12. 2022 ist Dieter Henrich im Alter von 95 Jahren gestorben.

2.
Der Schwerpunkt der Philosophie Henrichs: Das Selbstbewusstsein des Geistes bzw. der Vernunft im Individuum, Subjekt, und die damit gegebene Kommunikation mit anderen. Die Analyse des Selbstbewusstseins führt notwendigerweise zur Frage nach einem alles Gründenden (Absoluten) und einem „letzten Halt“ im Leben.
Die LeserInnen können sich tatsächlich „ins philosophische Denken ziehen“ lassen, und zwar, wie bei Dieter Henrich üblich, auf sehr anspruchsvolle, hier aber gut nachvollziehbare Weise.

3.
Uns interessieren zwei Themen, die Henrich im Gespräch etwas ausführlicher darlegt:
Das erste Kapitel unserer Hinweise bezieht sich auf die Frage: Was ist eigentlich Philosophie, also eine „Philosophie der Philosophie“.
Das zweite Kapitel bezieht sich auf das Fragen nach dem Absoluten.

1. Kapitel: Hinweise zu einer Philosophie der Philosophie

4.
Was führte Dieter Henrich in die Philosophie? Dies ist eine Frage, deren Antwort wahrscheinlich für alle bedeutsam ist: Henrich schreibt: „Es kommt (in der Philosophie) darauf an, dass man, einmal aufgeschreckt, über sich selbst verwundert bleibt.“ (S. 272). Und weiter: Ohne einen „Bruch“ innerhalb bisheriger Lebensentwürfe, also ohne einen Abschied von bisherigen Denkgewohnheiten, gelangt man nicht ins Philosophieren. (vgl. S. 70).
5.
Unnötig zu sagen: Philosophie ist für Henrich durchaus eine Wissenschaft, er war viele Jahre Professor für Philosophie an verschiedenen Universitäten in Deutschland und auch in den USA.
Aber es ist überhaupt keine Frage: Philosophie ist für ihn eine besondere, von allen Wissenschaften verschiedene Wissenschaft: Sie befasst sich reflektierend – kritisch mit den bedrängenden Lebensfragen und Zweifeln, selbst wenn sie zu ausführlichen historischen Studien, etwa zu Kant und Fichte führt. Aber als Wissenschaft, die sich auch mit dem Wesen der Freiheit und den Grenzen der Erkenntnis des endlichen Menschen befasst, kann Philosophie nicht demonstrative Erkenntnisse oder unbezweifelbare, evidente Lehrsätze“ bieten (S. 24). „Man wird also der Wahrheit (nur) über das Abwägen von Alternativen und Ambivalenzen auf die angemessenste Weise nahe kommen“ (S. 213)
Es geht immer um „das Sich-Verstehen (des Menschen) gerade an Grenzen, wo es nur tastende Antworten geben kann, die in Erfahrungen und selbst erwogenem Wissen gestützt sein müssen“ (S. 44).
Der Philosoph, Dieter Henrich, äußert sich also nicht über etwas am Schreibtisch „Ausgedachtes“ (S. 18), sondern über etwas mit den eigenen reflektierten Lebenserfahrungen Verbundenes, sich im Dasein Aufdrängendes.
6
Henrich betont mehrfach, dass jeder Mensch philosophiert, weil er Geist, Vernunft, Selbstbewusstsein hat. Man muss das eigene gründliche und kritische Nachdenken aber nicht explizit Philosophieren nennen, um tatsächlich zu philosophieren. (Vgl. S. 265 und 268).
Schon in seinem Buch „Die Philosophie im Prozess der Kultur“ (2006) hat Henrich mehrfach gesagt: „Zu philosophieren ist Sache aller Menschen“ (S. 78). Erstaunlich auf S. 91: „Die Philosophie wird auch dem einfachen Menschen den Titel Philosoph nicht streitig machen, der Lebensweisheit verkörpert und auf seine Art auch mitzuteilen versteht“ (S. 93). „Man muss dem Faden nachdenken, der das eigene Leben zusammenhält. Insofern ist jeder Mensch genötigt und dazu nobilitiert, selbst zu philosophieren“ (S. 268 im Buch „Ins Denken ziehen“).
Philosophieren und Lebensgestaltung sind für Henrich zwar verbunden, aber er sieht sich als Philosoph nicht als Therapeut, sondern „eher als Hilfe, vielleicht als Beistand auf der Suche nach dem eigenen ganzen Verstehen“ (S. 272). Jedenfalls ist Philosophie für Henrich „keine Auskunftsagentur für schwierige Fragen“…
7.
Was leistet also Philosophie, die im tätigen Philosophieren ihren Grund und ihr Leben hat? Sie bringt Klarheit, mehrfach spricht Henrich von „Licht“. Ein wunderbares Wort, um die Leistung von Philosophie zu benennen…
Philosophieren leitet dazu an, Distanz zu gewinnen zur Übermacht der Objekt-Welt… und zu sich selbst. Sie klärt die oft ungenannten Hintergründe der kulturellen Produktionen auf…Philosophie als lebendiges Philosophieren ist also Ausdruck der Humanität. D.h.: „Es geht um die Empathie für die Möglichkeiten ebenso wie für die Schwächen der anderen – bei gleichzeitigem Wissen von der eigenen Schwäche und dem mühsam oder glückhaft gefundenen eigenen Weg“ (S. 75 „Ins Denken ziehen“).

2.Kapitel: Die Frage nach dem Gründenden, dem Absoluten, der Religion.

8.
Die Erkenntnis der „Subjektivität als Wissen von sich selbst“ führt immer auch auf die „Unverzichtbarkeit letzter Gedanken“, also zu „Gedanken, die ehedem unter dem Namen Metaphysik standen“ (S. 213). Dies ist die Grundevidenz Henrichs: „Es herrscht im menschlichen Wesen das Bedürfnis, sich im bewussten Leben auf ein Unbedingtes zu beziehen…“ (S. 269). „Wir müssen unsere Erkenntnis als endlich betrachten und zugleich den Gedanken hegen, dass etwas als wirklich zu denken sein muss, was nicht auf endliche Weise erkannt werden kann. Damit wird es legitim, Grenzgedanken zu entfalten. So macht es Sinn, das Unendliche auch überpersönlich zu verstehen…“
9.
Freiheit ist also immer ermöglichte Freiheit, Freiheit ist nicht aus einer „Selbstmacht des freien Subjekts“ initiiert“ (S. 17).
Das aber heißt: Wer sich mit dem bewussten Leben als Selbstbewusstsein befasst, „ kommt nicht umhin, die kulturelle Tatsache der Religionen verstehen zu wollen“ (S. 43). Wenn die philosophische Analyse der Freiheit zentral ist: Dann zeigt sich in der Entfaltung der Freiheit:„Freiheit ist nicht etwas rein Profanes. Sie hat wesentlich eine metaphysische Dimension“ (S. 23).
10..
Wenn Henrich von Religion spricht, dann meint er die von Kant beschriebene Religion, und die hat sich von Magie, Dogmenbindung, Kirchenhierarchie und Zauber befreit (vgl. S. 22, auch 24 und 32).
So ist die Bibel als ein literarisches Buch für den Philosophen durchaus inspirierend, aber die Bibel kann nicht als heiliges Buch gelten. Sie ist „kein kanonisches Buch“ (S. 30).
11.
Der Philosoph kann nicht die bestehende Kirchenfrömmigkeit stützen, er kann nur die Bedeutung des Transzendenten und Alles Gründenden aufzeigen. Für das Gebet als Form der Poesie hat Henrich durchaus Verständnis (S. 32), in der Vermutung, dass der über-persönliche erfahrene Lebensgrund, das Absolute durchaus „einer endlichen, menschlichen Zuwendung entsprechen“ kann (S. 32), wobei dieses Entsprechen als mögliches „Spreche“ (?) des Absoluten zwar angedeutet, aber nicht weiter erklärt wird.
12.
Das führt zu der Frage nach dem letzten (entscheidenden) Halt im Dasein. „Der für einen Menschen beste Halt beruht auf Implikationen von Erfahrungen, die für ihn unhintergehbar geworden sind“ (S. 18). Das heißt, entscheidend für einen letzten Halt im Leben ist das Erleben und Erkennen eines absoluten Grundes als der Ermöglichung von subjektiver Freiheit. Diese Verwiesenheit auf einen absoluten Grund kann durchaus zu einer persönlichen Religiosität führen, betont Henrich. Aber für ihn bleibt unzweifelhaft: „Philosophie kann als solche nicht in einen religiösen Kultus eintreten und sich in ihm erhalten. Sie wird immer auf Klarheit der Gedanken, Stimmigkeit und allseitige Abgewogenheit der Begründungen und vor allem auf verstehende Durchsicht des Lebens statt auf Erhebung, Erlösung oder Heiligung des Individuums hinausgehen“ (S. 43).

3. Kapitel: Biographisches

13.
Ist Henrichs Philosophie, so wie sie sich im Interview-Buch „Ins Denken ziehen“ zeigt, politisch? Sie enthält keine unmittelbare parteipolitische Aufforderung. Aber Henrich weiß, dass seine Reflexionen zur Freiheit des Menschen, vor allem die Erfahrung der „ermöglichten Freiheit (S. 17) „als eine Energie erfahren werden, die in eine große Befreiungs- und Aufklärungsbewegung münden kann“ (vgl. S. 17). Über den politischen Zustand der Bundesrepublik hat sich Dieter Henrich, nach eigenem Bekenntnis eher der SPD verbunden, mehrfach geäußert…(vgl. auch S. 202). Interessant sind auch die Hinweise Henrichs zu seiner Hochschätzung Berlins, wo er zu Beginn der 1960er Jahre an der FU lehrte und Diskussionen mit Philosophen der DDR führte. Interessant auch Hinweise zu Aufenthalten in Moskau. Als Präsident der Internationalen Hegel-Vereinigung setzte er sich im Zentrum des Kommunismus für ein offnes Verständnis Hegels ein.
14.
Diese Hinweise folgen den beiden eingangs genannten Fragen, klar ist, dass das Buch darüberhinaus viele Erkenntnisse vermittelt zu Henrichs Kindheit und Jugend, zu seiner liebevollen Verbundenheit mit seinen Eltern, zu seiner philosophischen „Laufbahn“ an den Universitäten, zur Einschätzung etwa seines wichtigen Lehrers Gadamers. Oder auch die Hinweise zu Heidegger sind interessant, etwa: „Mit dem Mann wirst du dich nie einlassen“ (S. 95).

4. Kapitel: Eine Summe:

15.
Dieter Henrich ist ein klassischer europäischer Philosoph, auch wenn er viel Interesse an analytischer Philosophie zumal in den USA hatte. Zu Themen der interkulturelle Philosophie veröffentlichte er meines Wissens nicht. Auch Fragen der Ethik entwickelte Henrich in dem Zusammenhang leider nicht.
Sein begründetes Eintreten für eine vernünftige Form metaphysischen Denkens verlangt viel Beachtung heute, wobei er als Protestant, wie er im Buch immer wieder betont (zumal im Zusammenhang seiner Tätigkeit in München an der LMU), eine große Nüchternheit gegenüber kirchlichem Überschwang und Dogmatismus hat: Die von Henrich entwickelt Metaphysik ist eine bescheidene Metaphysik, immer gebunden an die Erfahrungen des endlichen Menschen in dessen endlicher Freiheit. Henrichs metaphysische Überlegungen haben jedenfalls nichts religiöses, sie sind keine philosophische Religion. Aber sie können vielleicht gerade deswegen den modernen Menschen bewahren zu schnell zu behaupten, die Moderne sei nach-metaphysisch, also ohne Metaphysik zu verstehen. Diese Behauptung vieler hat Henrich begründet zurückgewiesen. „Ich werde im philosophischen Denken nicht glücklich, aber ich bin doch eher gesammelt als zerrissen.“ (S. 269).

5. Kapitel: Zum Titel dieses Hinweises:

Der Titel ist eine Kurzfassung eines Zitates von Henrich:
„Die Freiheit ist nicht etwas rein Profanes. Sie hat wesentlich eine metaphysische Dimension. Auch darum kann die Moderne gar nicht als nachmetaphysisch definiert werden“ (Seite 23 in „Ins Denken ziehen“). Damit setzt sich Dieter Henrich entschieden von Jürgen Habermas und Ernst Tugendhaft ab (vgl. S. 213).

6. Kapitel: Grenzen und Kritik der Reflexionen Henrichs:

Auf die Grenzen der Philosophie des Selbstbewusstseins von Dieter Henrich soll kurz hingewiesen werden: Das Subjekt, der einzelne Mensch, das “Ich”, steht am Beginn und im Mittelpunkt der Reflexionen Henrichs. Das liegt nahe, wenn man sich auf Kant, Fichte und Hegel konzentriert.

Aber es muss über Henrichs Studien zum Selbstbewusstsein hinaus gefragt werden: Ist langfristig, als Wirkungsgeschichte und Rezeptionsgeschichte, diese Konzentration auf das Ich zu einer Ideologie geworden? Einer Ideologie, die als Liberalismus (Schutz des einzelnen, des Ich, des Ego) ihr gutes Recht einst hatte als Kampf gegen Formen des Despotismus im Staat. Die aber dann in den letzten Jahrzehnten zum Neoliberalismus entartete, als der rücksichtslosen Herrschaftsform der Superreichen Egos. Sie setzen sich mit aller Gewalt im Kapitalismus heute durch und pflegen äußerst “selbstbewusst”, gegen die humanen Grundsätze der (auch ökologischen) Gerechtigkeit, ihren Profit. Die Gier der neoliberalen Super-Egos könnte elementar gebremst und begrenzt werden, wenn sich diese Herren auf die Endlichkeit ihres eigenen Lebens und Denkens besinnen könnten. Und durch die Erkenntnis, dass sie ihren Luxus nur durch die Arbeitsleistung anderer, oftmals Ausgebeuteter, haben… Aber das zu erwarten ist wohl nicht mehr als eine ferne Hoffnung auf die Wirkkraft philosophischer Reflexionen. Man sollte also eher von einer faktischen, einer politischen Niederlage der Vernunft sprechen. Aber Vernunft als Vernunft, als Geist, als philosophische Reflexion kann niemals und von niemandem ausgelöscht werden. Insofern bleibt uns die elementare Form der Philosophie des Selbstbewusstsein (durch Dieter Henrich gezeigt) doch erhalten…

Dieter Henrich: „Ins Denken ziehen. Eine philosophische Autobiographie“. Ein Gespräch mit Matthias Bormuth und Ulrich von Bülow. C.H.Beck Verlag, 2021.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Philosophie lebt von Erfahrungen der Evidenz, von „ursprünglichen Einsichten“.

Ein Hinweis auf einen zentralen Aspekt im Denken des Philosophen Dieter Henrich.
Von Christian Modehn.

1. Philosophie und Philosophieren
Philosophie und ihr lebendiges Geschehen als Philosophieren ist etwas Außergewöhnliches, kaum zu Definierendes, daran zu erinnern ist alles andere als banal. Philosophieren geschieht inmitten des Lebens und seiner Fragen, und manchmal werden maßgebenden Philosophen Einsichten förmlich „geschenkt“, sie zeigen sich dem Philosophen wie ein unerwartetes Ereignis. Auch darauf hat der Philosoph Dieter Henrich hingewiesen.

2. Dieter Henrich
Dieter Henrich ist einer der wichtigen Philosophen in Deutschland am 17. Dezember 2022 ist er kurz vor Vollendendung seines 96. Lebensjahres gestorben. Sein äußerst umfassendes philosophisches Werk wird inspirierend bleiben, zumal für die, die das Werk von Kant, Hegel und vor allem Fichte und Hölderlin lesen und studieren. Zu Dieter Henrich siehe auch wikipedia: LINK

3. „Ursprüngliche Einsichten“… Religiöse Einsichten….
Hier wird nur auf eine entscheidende Erkenntnis Dieter Henrichs hingewiesen, die sozusagen für „weite Kreise“ bedeutsam sein kann. Henrich hat es verstanden, seine Studien zur Geschichte der Philosophie mit lebensmäßig bedeutsamen Themen zu verbinden.
In seinem Buch „Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten“ (C.H.Beck Verlag, München, 2011) entwickelt Henrich ein bislang eher selten beachtetes Thema: Gibt es „Grundeinsichten“, also plötzlich sich zeigende Erkenntnisse und Evidenzen, von denen sich Philosophen in ihrem Denken und in ihrem Leben prägen und bestimmen lassen? Henrich berichtet im ersten Teil dieses zum Teil durchaus „allgemein zugänglichen“ Buches von „einer sich plötzlich eröffnenden Einsicht“ (S. 22), die sich „im Lebensgang von Philosophen“ zeigt. Diese unerwartete, nicht-„gemachte“ Einsicht will Henrich von den eher alltäglichen Einsichten, Entdeckungen usw. abgrenzen. Diese äußern sich etwa in dem Ruf „Ich hab es gefunden“, „Heureka“… Dabei handelt es sich um begrenzte, etwa aufs Technische bezogene Erfindungen.
Henrich aber meint Einsichten „von prägender Bedeutung für ein ganzes Leben“(S. 26), „in denen sich ein Blick in das Ganze der Wirklichkeit auftut“ (ebd.). Und der Philosoph vergleicht diese umfassenden Einsichten (sind es „Geschenke“, „Gaben“ ?) mit den Erlebnissen religiöser Offenbarungen. Diese knappen Hinweise (auf Seite 27) sind wichtig. Denn Henrich, kein Verteidiger des dogmatischen christlichen Glaubens, ermahnt förmlich atheistische Menschen, solche „außerordentlichen Erfahrungen und Einsichten“ religiöser Menschen nicht „für Priestermärchen und Symptome einer Psychose zu halten.“ Zu einer entsprechenden „außerordentlichen (ins Religiöse weisenden) Einsicht“ Ludwig Wittgensteins siehe den Hinweis unter Nr. 7.
Henrich zeigt dann an ungewöhnlichen Einsichten der Philosophen Descartes, Jacob Böhme, Kant, Nietzsche, die Bedeutung der „plötzlichen Grund-Einsicht“ in das Ganze der Wirklichkeit…Dass die Grundeinsicht Heideggers , das „Ereignis“ genannt, also als „Kehre“ (als der Abkehr vom Ansatz von „Sein und Zeit“, CM) eigene Probleme aufwirft, das weiß Henrich (Seite 59f.) Aber die Frage bleibt bei Henrich meines Erachtens offen, ob es etwa angesichts des unkontrollierbaren „gehorsamen“ Hörens auf den Spruch „des“ Seins beim späten Heidegger, auch allgemeine, normative Argumente zur Beurteilung eine Rolle spielen sollten. Mit anderen Worten: Ist jedes philosophische Evidenz-Erlebnis automatisch zu respektieren? Gibt es (auch politisch motivierte) vorgetäuschte Evidenzen etc.?

4. Fichtes ursprüngliche Einsicht
Hier soll nur auf Henrichs Beschreibung der zentralen Grunderfahrung des Philosophen Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) hingewiesen werden: Ihm galt schon sehr früh das besondere Interesse Henrichs. 1967 erschien als Broschüre sein wichtiger Text „Fichte ursprüngliche Einsicht“ (Verlag Vittorio Klostermann).
In dem Buch „Werke im Werden“ von 2011 spricht Henrich gleich am Anfang von Fichtes grundlegender Einsicht (S. 40-42). Sie bezieht sich auf etwas Elementares im geistigen Leben, auf das, was den Menschen als Menschen auszeichnet: das Selbstbewusstsein: Fichte setzt sich von Descartes ab; er sah in der „Reflexion“ des Subjekts auf sich selbst auch den Ursprung des Ich. Aus der Reflexion, so wird dort behauptet, entstehe das Ich als Selbstbewusstsein. Aber woher hat die Reflexion sozusagen ihre innere Kraft, ihre Wirksamkeit, fragt Fichte. „Denn Reflexion kann nur bedeuten, dass ein bereits vorhandenes Wissen (!) eigens ergriffen und damit ausdrücklich gemacht wird.“ (Fichtes ursprüngliche Einsicht, S. 12).
Henrich zeigt also in seinen Fichte-Studien, dass das menschliche Selbstbewusstsein vor aller Reflexion schon eine unmittelbare Kenntnis des Subjekts von sich selbst ist. Diese immer schon gegebene unmittelbare Kenntnis des Ich von sich selbst ermöglicht alles geistige Leben, d.h. auch auf die erkennende Reflexion des einzelnen auf sich selbst, auf seine geistige Struktur usw. Das ist für die Menschlichkeit des Menschen von entscheidender Bedeutung: Das Selbstbewusstsein ist etwas unmittelbar Gegebenes! Wer es verstehen will, fragt nach einer Art „Grund“ des Selbstbewusstseins, nach einem „Grund, der für alles Erkennen unausdenkbar ist. Nach Fichtes Lehre von 1798 manifestiert das Selbstbewusstsein das Gesetz der intelligiblen Welt, nach der Lehre von 1801 manifestiert es Gottes Leben“ ( „Fichtes ursprüngliche Einsicht“, S. 48).
Dieter Heinrich erinnert in „Werke im Werden“, dass diese Einsicht sozusagen eine Evidenz-Erfahrung Fichtes ist, ein Ereignis, ein Geschenk, eine Einsicht, auf die er seine Philosophie gründete. Fichtes Sohn, aber auch sein Enkel haben darüber berichtet. „Nach anhaltendem Meditieren und während Fichte am warmen Winterofen stand, sah er plötzlich, dass nur die im Ich gelegene Subjekt-Objektivität das höchste Prinzip der Philosophie sein könne“ (S. 40). Der Fichte Zeitgenosse, der Philosoph Henrik Steffens, geht in seiner Interpretation noch weiter:
„Wenn das Ich sich selbst erkennt, kann ein philosophisches Wissen gewonnen werden, das dieselbe Gewissheit hat wie das mathematische Wissen“ (Werke im Werden, S. 40). Ein anspruchsvoller Satz im Denken des 18. Jahrhunderts. Heute sind Philosophen mit Vergleichen zur Mathematik äußerst zurückhaltend.
Dieter Henrich hat im Laufe seines philosophischen Denkens die Frage „Was ist Selbstbewusstsein?“ stetig weiter vertieft.

5. Zu Wittgensteins „außerordentlicher Einsicht“
Ausgerechnet, möchte man sagen, habe Ludwig Wittgenstein „einen Moment außerordentlicher Einsicht“ (Henrich) bei einer Aufführung des Volksstücks „Die Kreuzelschreiber“ von Ludwig Anzengruber (verfasst 1872) erleben können. Damals habe Wittgenstein „zum ersten Mal die Möglichkeit einer Religion“ ahnen können (S. 45, „Werke im Werden“). Henrich beschreibt etwas ausführlicher den Zusammenhang des Erlebens, wichtig ist: Wittgenstein habe gespürt und dann gewusst:„Es kann dir nix geschehen“. Es war also das Wissen einer letzten Geborgenheit in dieser Welt (S. 46). Tatsächlich hat Wittgenstein vor allem auch in den Notizen, die unter dem Titel „Vermischte Bemerkungen“ (Werkausgabe Band 8, Suhrkamp) veröffentlicht wurden, ausführlicher über seine religiösen Einsichten, seine Stellung zum Christentum usw. geschrieben  LINK   1. . LINK 

6.
Haben alle Menschen  „ursprüngliche Einsichten“ ?
Dieter Henrich ist der Meinung, dass bestimmte Grundeinsichten oder „Schlüsselerfahrungen“ durchaus Alltagserfahrungen sein können, also letztlich Geschehnisse sind, die jedem Menschen widerfahren. Diese „Schlüsselerfahrungen“, die eine neue Sicht, einen neuen Weg, eine Alternative unvermittelt zeigen, können in einem Leben zahlreich sein, sie sind also vielfältiger als „neuen Grund legende ursprüngliche Einsichten“ von Philosophen. Obwohl auch diese ihre erste „ursprüngliche Einsicht“ manchmal immer wieder neu bedenken und neu formulieren, wie etwa Fichte in seinen verschiedenen „Wissenschaftslehren“. Was den Alltag vieler Menschen im Blick auf grundlegende Erfahrungen angeht, erinnert Henrich auch an „Gestaltpsychologen, die sich mit Problemlösungen, die nach vergeblichem Suchen plötzlich einfallen, in Experimenten beschäftigt haben“ (S. 22).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Tiefendimensionen im Leben erkennen

Das Philosophische Wort zur Woche…

…will aus immer neuen Perspektiven zum Nachdenken inspirieren. Diesmal weisen wir kurz („kurz“ bedeutet leider im philosophischen Sinn oft verkürzend) auf einige Gedanken des großen Philosophen Dieter Henrich hin.

Ausgangspunkt ist die Frage:
Was passiert im Denken, wenn sich das Denken auf das Selbst bezieht?

Erinnern wir uns an die philosophische Überzeugung, dass sich philosophisches Denken vor allem auf das Denken selbst bezieht, auf das, was da immer schon im Denken und im Selbstbewusstsein anwesend ist, anwesend als ungewusste Bedingung der Möglichkeit.

Dieter Henrich schreibt:
„Das Philosophieren weckt den Sinn für Hintergründe in dem, was als Lebensvollzug jeder Nachfrage ebenso unbedürftig wie unzugänglich zu sein scheint. Zusammen mit der Achtsamkeit auf Tiefendimensionen von Leben und Verstehen kann das Philosophieren die Bewusstheit in Beziehung auf das eigene Leben und dann auch die Distanz zu diesem Leben erhöhen. Solcher Selbstdistanz, die zum Humor und zu jeder Gelassenheit gehört, wird nicht selten das Prädikat zu- gestanden, =philosophisch= zu sein. Die Philosophie vermittelt dann aber auch den Sinn dafür, was in dem Grundmuster eines Entwurfs, dem ein Leben folgt, dessen Zusammenhalt und dessen Grenzen ausmacht. So dient die Philosophie der Selbstdiagnose und der Selbstkritik in Lebensfragen; sie kann aber auch die Sensibilität für die Bewegtheit des Lebens in anderen Menschen erhöhen“.

Dieter Henrich, Die Philosophie im Prozeß der Kultur. Frankfurt M., Suhrkamp, 2006, S. 93.