Weil Freiheit nicht nur profan ist, darum gibt es auch in der Moderne Metaphysik.

Ein Hinweis auf den Philosophen Dieter Henrich.

Von Christian Modehn.

1.
Dieter Henrich ist einer der maßgeblichen Philosophen, zumal, wenn nach den Strukturen und Gründen des Selbstbewusstseins im Sinne Kants, Fichtes, Hegels gefragt wird. Diese Frage ist alles andere als „veraltet“. Sie ist vielleicht eine Provokation, angesichts der heutigen Herausforderungen der empirischen Psychologie, der Gehirnforschung, der künstlichen Intelligenz usw. Aber Formen und Inhalte der “klassischen” philosophischen Erkenntnisse zum geistigen Selbstbewusstsein des Menschen können als Voraussetzung gelten für die genannten aktuellen mehr empirischen Studien und Experimente zum Selbstbewusstsein.
In hohem Alter hat Henrich eine Autobiographie in der Form eines Interviews veröffentlicht. „Ins Denken ziehen“ ist der Titel. Das Buch wurde 2021 im C.H.Beck Verlag veröffentlicht.
Am 17.12. 2022 ist Dieter Henrich im Alter von 95 Jahren gestorben.

2.
Der Schwerpunkt der Philosophie Henrichs: Das Selbstbewusstsein des Geistes bzw. der Vernunft im Individuum, Subjekt, und die damit gegebene Kommunikation mit anderen. Die Analyse des Selbstbewusstseins führt notwendigerweise zur Frage nach einem alles Gründenden (Absoluten) und einem „letzten Halt“ im Leben.
Die LeserInnen können sich tatsächlich „ins philosophische Denken ziehen“ lassen, und zwar, wie bei Dieter Henrich üblich, auf sehr anspruchsvolle, hier aber gut nachvollziehbare Weise.

3.
Uns interessieren zwei Themen, die Henrich im Gespräch etwas ausführlicher darlegt:
Das erste Kapitel unserer Hinweise bezieht sich auf die Frage: Was ist eigentlich Philosophie, also eine „Philosophie der Philosophie“.
Das zweite Kapitel bezieht sich auf das Fragen nach dem Absoluten.

1. Kapitel: Hinweise zu einer Philosophie der Philosophie

4.
Was führte Dieter Henrich in die Philosophie? Dies ist eine Frage, deren Antwort wahrscheinlich für alle bedeutsam ist: Henrich schreibt: „Es kommt (in der Philosophie) darauf an, dass man, einmal aufgeschreckt, über sich selbst verwundert bleibt.“ (S. 272). Und weiter: Ohne einen „Bruch“ innerhalb bisheriger Lebensentwürfe, also ohne einen Abschied von bisherigen Denkgewohnheiten, gelangt man nicht ins Philosophieren. (vgl. S. 70).
5.
Unnötig zu sagen: Philosophie ist für Henrich durchaus eine Wissenschaft, er war viele Jahre Professor für Philosophie an verschiedenen Universitäten in Deutschland und auch in den USA.
Aber es ist überhaupt keine Frage: Philosophie ist für ihn eine besondere, von allen Wissenschaften verschiedene Wissenschaft: Sie befasst sich reflektierend – kritisch mit den bedrängenden Lebensfragen und Zweifeln, selbst wenn sie zu ausführlichen historischen Studien, etwa zu Kant und Fichte führt. Aber als Wissenschaft, die sich auch mit dem Wesen der Freiheit und den Grenzen der Erkenntnis des endlichen Menschen befasst, kann Philosophie nicht demonstrative Erkenntnisse oder unbezweifelbare, evidente Lehrsätze“ bieten (S. 24). „Man wird also der Wahrheit (nur) über das Abwägen von Alternativen und Ambivalenzen auf die angemessenste Weise nahe kommen“ (S. 213)
Es geht immer um „das Sich-Verstehen (des Menschen) gerade an Grenzen, wo es nur tastende Antworten geben kann, die in Erfahrungen und selbst erwogenem Wissen gestützt sein müssen“ (S. 44).
Der Philosoph, Dieter Henrich, äußert sich also nicht über etwas am Schreibtisch „Ausgedachtes“ (S. 18), sondern über etwas mit den eigenen reflektierten Lebenserfahrungen Verbundenes, sich im Dasein Aufdrängendes.
6
Henrich betont mehrfach, dass jeder Mensch philosophiert, weil er Geist, Vernunft, Selbstbewusstsein hat. Man muss das eigene gründliche und kritische Nachdenken aber nicht explizit Philosophieren nennen, um tatsächlich zu philosophieren. (Vgl. S. 265 und 268).
Schon in seinem Buch „Die Philosophie im Prozess der Kultur“ (2006) hat Henrich mehrfach gesagt: „Zu philosophieren ist Sache aller Menschen“ (S. 78). Erstaunlich auf S. 91: „Die Philosophie wird auch dem einfachen Menschen den Titel Philosoph nicht streitig machen, der Lebensweisheit verkörpert und auf seine Art auch mitzuteilen versteht“ (S. 93). „Man muss dem Faden nachdenken, der das eigene Leben zusammenhält. Insofern ist jeder Mensch genötigt und dazu nobilitiert, selbst zu philosophieren“ (S. 268 im Buch „Ins Denken ziehen“).
Philosophieren und Lebensgestaltung sind für Henrich zwar verbunden, aber er sieht sich als Philosoph nicht als Therapeut, sondern „eher als Hilfe, vielleicht als Beistand auf der Suche nach dem eigenen ganzen Verstehen“ (S. 272). Jedenfalls ist Philosophie für Henrich „keine Auskunftsagentur für schwierige Fragen“…
7.
Was leistet also Philosophie, die im tätigen Philosophieren ihren Grund und ihr Leben hat? Sie bringt Klarheit, mehrfach spricht Henrich von „Licht“. Ein wunderbares Wort, um die Leistung von Philosophie zu benennen…
Philosophieren leitet dazu an, Distanz zu gewinnen zur Übermacht der Objekt-Welt… und zu sich selbst. Sie klärt die oft ungenannten Hintergründe der kulturellen Produktionen auf…Philosophie als lebendiges Philosophieren ist also Ausdruck der Humanität. D.h.: „Es geht um die Empathie für die Möglichkeiten ebenso wie für die Schwächen der anderen – bei gleichzeitigem Wissen von der eigenen Schwäche und dem mühsam oder glückhaft gefundenen eigenen Weg“ (S. 75 „Ins Denken ziehen“).

2.Kapitel: Die Frage nach dem Gründenden, dem Absoluten, der Religion.

8.
Die Erkenntnis der „Subjektivität als Wissen von sich selbst“ führt immer auch auf die „Unverzichtbarkeit letzter Gedanken“, also zu „Gedanken, die ehedem unter dem Namen Metaphysik standen“ (S. 213). Dies ist die Grundevidenz Henrichs: „Es herrscht im menschlichen Wesen das Bedürfnis, sich im bewussten Leben auf ein Unbedingtes zu beziehen…“ (S. 269). „Wir müssen unsere Erkenntnis als endlich betrachten und zugleich den Gedanken hegen, dass etwas als wirklich zu denken sein muss, was nicht auf endliche Weise erkannt werden kann. Damit wird es legitim, Grenzgedanken zu entfalten. So macht es Sinn, das Unendliche auch überpersönlich zu verstehen…“
9.
Freiheit ist also immer ermöglichte Freiheit, Freiheit ist nicht aus einer „Selbstmacht des freien Subjekts“ initiiert“ (S. 17).
Das aber heißt: Wer sich mit dem bewussten Leben als Selbstbewusstsein befasst, „ kommt nicht umhin, die kulturelle Tatsache der Religionen verstehen zu wollen“ (S. 43). Wenn die philosophische Analyse der Freiheit zentral ist: Dann zeigt sich in der Entfaltung der Freiheit:„Freiheit ist nicht etwas rein Profanes. Sie hat wesentlich eine metaphysische Dimension“ (S. 23).
10..
Wenn Henrich von Religion spricht, dann meint er die von Kant beschriebene Religion, und die hat sich von Magie, Dogmenbindung, Kirchenhierarchie und Zauber befreit (vgl. S. 22, auch 24 und 32).
So ist die Bibel als ein literarisches Buch für den Philosophen durchaus inspirierend, aber die Bibel kann nicht als heiliges Buch gelten. Sie ist „kein kanonisches Buch“ (S. 30).
11.
Der Philosoph kann nicht die bestehende Kirchenfrömmigkeit stützen, er kann nur die Bedeutung des Transzendenten und Alles Gründenden aufzeigen. Für das Gebet als Form der Poesie hat Henrich durchaus Verständnis (S. 32), in der Vermutung, dass der über-persönliche erfahrene Lebensgrund, das Absolute durchaus „einer endlichen, menschlichen Zuwendung entsprechen“ kann (S. 32), wobei dieses Entsprechen als mögliches „Spreche“ (?) des Absoluten zwar angedeutet, aber nicht weiter erklärt wird.
12.
Das führt zu der Frage nach dem letzten (entscheidenden) Halt im Dasein. „Der für einen Menschen beste Halt beruht auf Implikationen von Erfahrungen, die für ihn unhintergehbar geworden sind“ (S. 18). Das heißt, entscheidend für einen letzten Halt im Leben ist das Erleben und Erkennen eines absoluten Grundes als der Ermöglichung von subjektiver Freiheit. Diese Verwiesenheit auf einen absoluten Grund kann durchaus zu einer persönlichen Religiosität führen, betont Henrich. Aber für ihn bleibt unzweifelhaft: „Philosophie kann als solche nicht in einen religiösen Kultus eintreten und sich in ihm erhalten. Sie wird immer auf Klarheit der Gedanken, Stimmigkeit und allseitige Abgewogenheit der Begründungen und vor allem auf verstehende Durchsicht des Lebens statt auf Erhebung, Erlösung oder Heiligung des Individuums hinausgehen“ (S. 43).

3. Kapitel: Biographisches

13.
Ist Henrichs Philosophie, so wie sie sich im Interview-Buch „Ins Denken ziehen“ zeigt, politisch? Sie enthält keine unmittelbare parteipolitische Aufforderung. Aber Henrich weiß, dass seine Reflexionen zur Freiheit des Menschen, vor allem die Erfahrung der „ermöglichten Freiheit (S. 17) „als eine Energie erfahren werden, die in eine große Befreiungs- und Aufklärungsbewegung münden kann“ (vgl. S. 17). Über den politischen Zustand der Bundesrepublik hat sich Dieter Henrich, nach eigenem Bekenntnis eher der SPD verbunden, mehrfach geäußert…(vgl. auch S. 202). Interessant sind auch die Hinweise Henrichs zu seiner Hochschätzung Berlins, wo er zu Beginn der 1960er Jahre an der FU lehrte und Diskussionen mit Philosophen der DDR führte. Interessant auch Hinweise zu Aufenthalten in Moskau. Als Präsident der Internationalen Hegel-Vereinigung setzte er sich im Zentrum des Kommunismus für ein offnes Verständnis Hegels ein.
14.
Diese Hinweise folgen den beiden eingangs genannten Fragen, klar ist, dass das Buch darüberhinaus viele Erkenntnisse vermittelt zu Henrichs Kindheit und Jugend, zu seiner liebevollen Verbundenheit mit seinen Eltern, zu seiner philosophischen „Laufbahn“ an den Universitäten, zur Einschätzung etwa seines wichtigen Lehrers Gadamers. Oder auch die Hinweise zu Heidegger sind interessant, etwa: „Mit dem Mann wirst du dich nie einlassen“ (S. 95).

4. Kapitel: Eine Summe:

15.
Dieter Henrich ist ein klassischer europäischer Philosoph, auch wenn er viel Interesse an analytischer Philosophie zumal in den USA hatte. Zu Themen der interkulturelle Philosophie veröffentlichte er meines Wissens nicht. Auch Fragen der Ethik entwickelte Henrich in dem Zusammenhang leider nicht.
Sein begründetes Eintreten für eine vernünftige Form metaphysischen Denkens verlangt viel Beachtung heute, wobei er als Protestant, wie er im Buch immer wieder betont (zumal im Zusammenhang seiner Tätigkeit in München an der LMU), eine große Nüchternheit gegenüber kirchlichem Überschwang und Dogmatismus hat: Die von Henrich entwickelt Metaphysik ist eine bescheidene Metaphysik, immer gebunden an die Erfahrungen des endlichen Menschen in dessen endlicher Freiheit. Henrichs metaphysische Überlegungen haben jedenfalls nichts religiöses, sie sind keine philosophische Religion. Aber sie können vielleicht gerade deswegen den modernen Menschen bewahren zu schnell zu behaupten, die Moderne sei nach-metaphysisch, also ohne Metaphysik zu verstehen. Diese Behauptung vieler hat Henrich begründet zurückgewiesen. „Ich werde im philosophischen Denken nicht glücklich, aber ich bin doch eher gesammelt als zerrissen.“ (S. 269).

5. Kapitel: Zum Titel dieses Hinweises:

Der Titel ist eine Kurzfassung eines Zitates von Henrich:
„Die Freiheit ist nicht etwas rein Profanes. Sie hat wesentlich eine metaphysische Dimension. Auch darum kann die Moderne gar nicht als nachmetaphysisch definiert werden“ (Seite 23 in „Ins Denken ziehen“). Damit setzt sich Dieter Henrich entschieden von Jürgen Habermas und Ernst Tugendhaft ab (vgl. S. 213).

6. Kapitel: Grenzen und Kritik der Reflexionen Henrichs:

Auf die Grenzen der Philosophie des Selbstbewusstseins von Dieter Henrich soll kurz hingewiesen werden: Das Subjekt, der einzelne Mensch, das “Ich”, steht am Beginn und im Mittelpunkt der Reflexionen Henrichs. Das liegt nahe, wenn man sich auf Kant, Fichte und Hegel konzentriert.

Aber es muss über Henrichs Studien zum Selbstbewusstsein hinaus gefragt werden: Ist langfristig, als Wirkungsgeschichte und Rezeptionsgeschichte, diese Konzentration auf das Ich zu einer Ideologie geworden? Einer Ideologie, die als Liberalismus (Schutz des einzelnen, des Ich, des Ego) ihr gutes Recht einst hatte als Kampf gegen Formen des Despotismus im Staat. Die aber dann in den letzten Jahrzehnten zum Neoliberalismus entartete, als der rücksichtslosen Herrschaftsform der Superreichen Egos. Sie setzen sich mit aller Gewalt im Kapitalismus heute durch und pflegen äußerst “selbstbewusst”, gegen die humanen Grundsätze der (auch ökologischen) Gerechtigkeit, ihren Profit. Die Gier der neoliberalen Super-Egos könnte elementar gebremst und begrenzt werden, wenn sich diese Herren auf die Endlichkeit ihres eigenen Lebens und Denkens besinnen könnten. Und durch die Erkenntnis, dass sie ihren Luxus nur durch die Arbeitsleistung anderer, oftmals Ausgebeuteter, haben… Aber das zu erwarten ist wohl nicht mehr als eine ferne Hoffnung auf die Wirkkraft philosophischer Reflexionen. Man sollte also eher von einer faktischen, einer politischen Niederlage der Vernunft sprechen. Aber Vernunft als Vernunft, als Geist, als philosophische Reflexion kann niemals und von niemandem ausgelöscht werden. Insofern bleibt uns die elementare Form der Philosophie des Selbstbewusstsein (durch Dieter Henrich gezeigt) doch erhalten…

Dieter Henrich: „Ins Denken ziehen. Eine philosophische Autobiographie“. Ein Gespräch mit Matthias Bormuth und Ulrich von Bülow. C.H.Beck Verlag, 2021.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

„Die Schlange war klug“: Eine richtige Interpretation der biblischen Mythologie zur Menschwerdung des Menschen.

Über ein neues Buch des Judaistikprofessors Peter Schäfer
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Der Untertitel zeigt die weite Perspektive: Peter Schäfer untersucht ziemlich umfassend „Antike Schöpfungsmythen und die Grundlagen des westlichen Denkens“. Er diskutiert also die Erzählungen vom Ursprung der Welt, wie sie altorientalische Epen oder die Lehren der Philosophen Platon, Aristoteles und Philon bieten. Die „Kosmotheologie“ Platons im Buch „Timaios“ findet Peter Schäfer „letztlich misslungen“ (S. 15) und bei Aristoteles sei ohnehin kein Schöpfungsmythos zu finden. So kann sich Schäfer in dem Buch doch vor allem auf sein Forschungsgebiet, die Judaistik, konzentrieren. Aber es ist keine Frage: Viele der „breiteren Kreise“ der LeserInnen, für die Schäfer ausdrücklich schreiben will, werden sich vor allem für die „kluge Schlange“ im biblischen Paradies interessieren und damit für ein neues, richtiges Verstehen der alttestamentlichen, der biblischen Mythen. Und da kann der Autor tatsächlich übliche, christliche Deutungen korrigieren. Peter Schäfer ist ein renommierter Judaist, er leitete als Katholik einige Jahre auch das Jüdische Museum in Berlin. Man kann nur hoffen, dass viele konservative Katholiken und Evangelikale die Erkenntnisse Peter Schäfers diskutieren und rezipieren. Denn viele sich fromm nennende Leute lehren immer noch, das „Essen vom Baum der Erkenntnis“ auf Einladung (Verführung) der Schlange führe nur zur bösen Autonomie des Menschen. Autonomie des Menschen (und des Christen) ist bekanntlich heute noch und schon wieder ein Kampfbegriff zumal in katholischen Kreisen. Diese Leute des 21. Jahrhunderts wollen überhaupt nicht autonom, nicht frei, sondern nur gehorsam den göttlichen und menschlichen Autoritäten (und ihren klerikalen Führern) sein. Anerkennung des Vorgegebenen, des angeblich Objektiven, der unwandelbaren Offenbarung, diese Bindung an das Starre zeichnet diese Leute aus. Sie sind also noch mittelalterlichen Denkweisen verpflichtet. Man sieht an diesen Hinweisen, wie wichtig das Buch von Peter Schäfer ist.

2.
Das Thema „Die kluge Schlange im Paradies“ ist alles andere als eine Spezialität einiger weniger Wissenschaftler! Die Frage nach dem Ursprung und Beginn der Welt und der Menschwerdung des Menschen bewegt viele, sie ist ein umfassendes Projekt der Naturwissenschaften, aber eben auch ein Thema, das aufgrund seiner bleibenden Erstaunlichkeit in die Welt der literarischen, philosophischen und religiösen Mythen führt. Diese bieten selbstverständlich keine wissenschaftliche Erklärung der „Welten-Schöpfung“, aber diese Mythen haben eine eigene Bedeutung auf spiritueller und religiöser Ebene.

3.
Die Hebräische Bibel, also das von Christen genannte Alte Testament, enthält zwei Erzählungen von der Erschaffung der Welt durch Gott. Beide Mythen untersucht Schäfer, der ältere Text wurde im 1. Jahrtausend (vor Chr.) verfasst, der zweite im biblischen Text Genesis an erster Stelle platzierte um 600 (vor Chr.). Es hätte interessant und hilfreich sein können, mehr vom Entstehungsort dieses Textes zu lesen, nämlich dem babylonischen Exil (568-538 vor Chr.): In dieser Situation der Niederlage, der Verzweiflung, war es offenbar für Israel ein religiöses Bedürfnis, literarisch von der Macht des einen Gottes als des Welten-Schöpfers zu erzählen…
Nur zwei Hinweise, die Schäfer ausführlich diskutiert: Der erste Schöpfungsbericht setzt offenbar voraus: Gott fand, als er dann die Welt schuf und ordnete, eine Art „Erd-Masse“ schon vor, ein tohu wabohu, ein totales Durcheinander. Da entstand die Frage der Gelehrten: Ist diese dort genannte unheimliche „Erd-Masse“ auch von diesem einen Gott Israels geschaffen, sozusagen vor seiner eigentlichen Schöpfungstat? Was bedeutet dann aber die alte theologische Überzeugung, Gott habe die Welt „aus dem Nichts“ erschaffen, also ohne jede „Vor-Gegebenheit“? Schon der mittelalterliche Bibelkommentator Raschi befasste sich mit der „Akzeptanz einer materiellen Vorwelt“, er sieht darin aber „die alleinige und unbegrenzte Schöpfungsmacht seines Gottes“ (S. 39). In den späteren rabbinischen Schriften wird diese Frage immer wieder diskutiert und es setzte sich die Überzeugung durch. „Auch die angeblich vorweltliche Materie wurde in all ihren Bestandteilen von Gott geschaffen“ (S. 323). Recht heftig äußert sich etwa Rabban Gamliel, ein jüdischer Patriarch (gestorben um 114), der „mit äußerster Schärfe“ die Leute verfluchte, so Schäfer wörtlich, die da lehrten: Gott habe einen „vorweltlichen Urstoff“ vor seiner eigentlichen Schöpfungstat vorgefunden! (S. 312). Auf diese Weise wird ausgeschlossen, als hätte es vor dem Welt erschaffenden Gott schon einen anderen Gott gegeben, einen Schöpfer dieser Masse des tohu wabuho…. Solche Meinungen hätten den strengen Monotheismus erheblich gestört, erstaunlich nur, dass auch in jüdischen Kreisen, etwa des 1. Jahrhunderts, von jüdischen Gelehrten Verfluchungen von Irrlehrern ausgesprochen wurden … mit dem Wunsch, „diese mögen „sofort tot umfallen“ (ebd.) Der strenge Monotheismus kann sich nur mit Gewalt durchsetzen…

4.
Wichtiger sind die Ausführungen Peter Schäfers zur viel besprochenen „Verführung des Menschen durch die Schlange“ im Paradies. Um die ausführlichen Erörterungen Schäfers zusammenzufassen: Das Essen vom Baum der Erkenntnis ist für jüdische Interpretationen nur die notwendige Voraussetzung, dass der Mensch zur Erkenntnis, also zur Vernunft kommt. Wäre der Mensch gehorsam immer im Paradies geblieben, wäre er nie ein freier, selbstbewusster Mensch geworden. Es war in der Deutung dieses Mythos ohnehin nicht die Bestimmung des Menschen, unsterblich zu sein, wäre er denn im Paradies gehorsam geblieben. Nur weil der Mensch Gottes Verbot übertritt, „kann er in die reale Welt entlassen werden“ (S. 56). Also: Die Schlange war sehr klug, als sie die Menschen zum Ungehorsam verführte. Das geht soweit, dass Schäfer betont: „Das bedeutet im Klartext, dass „Gottes Drohung eine leere Drohung war“ (S.55). Gott meint es offenbar im Paradies gar nicht so ernst mit seinen Geboten, könnte man dann in dieser Mythologie weiter denken…

5.
Natürlich gehört zum Thema auch eine Diskussion der christlichen Erbsünden-Lehre. Da bietet Peter Schäfer nicht viel Neues. Adam kann „keineswegs für die Fehler aller anderen Generationen verantwortlich gemacht werden“ (S. 22). „Von einer Erbsünde kann bei Paulus keine Rede sein“ (S. 342). Wieder einmal analysiert ein Wissenschaftler die falsche Übersetzung eines zentralen Verses des Römerbriefes des Apostels Paulus (5, Kap., Vers 12). Augustinus meinte aus dem Text herauslesen zu können: Paulus lehre, dass alle Menschen in Adam gesündigt hätten, dass also förmlich in seiner Figur die ganze Menschheit zur Sünderin geworden sei. (S. 349). Dabei meint Paulus: Seit Adam betrifft der Tod alle Menschen, WEIL alle sündigen, WEIL alle Menschen Sünder (aber eben nicht Erbsünder) sind.
DieAugustinische Erbsünden-Lehre (treffender ist Erbsünden – Ideologie) hat etwa der Philosoph Kurt Flasch vor vielen Jahren schon sehr ausführlich kritisiert, leider erwähnt Peter Schäfer die Studien von Kurt Flasch nicht. Auch Schäfer betont: Paulus habe in keiner Weise die Überzeugung vertreten, die noch von der katholischen Kirche gelehrt wird: Dass in der Zeugung eines jeden Menschen diese Sünde weitergegeben wird. Diese Erbsünden-Ideologie hat ein Ziel: Es soll die Universalität der Notwendigkeit der Taufe aller Menschen (!) gelehrt werden, der Taufe, die zur Mitgliedschaft in der Kirche führt, aber dieses Sakrament kann unter normalen Bedingungen eigentlich nur der Klerus spenden. So wird durch die Erbsündenlehre des Augustinus auch die Unersetzlichkeit des Klerus zementiert. Darauf weist Schäfer nicht hin.

6.
Die Kritik an der Erbsündenlehre des Augustinus führt Schäfer dann auch zu Kant, der sich als einer der ersten explizit gegen diese offizielle kirchliche Lehre wandte. Und dann folgt zum Schluss eine sehr lesenswerte Kritik des heute noch/wieder ständig zitierten Nazi-Ideologen und Antisemiten Carl Schmitt. Auch für ihn ist die kirchlich offizielle Erbsündenlehre ein Argument, um wegen der behaupteten allgemeine Verderbtheit der Menschen den autoritären Staat, das Freund-Feind-Denken und den Krieg zu verteidigen (vgl. S.381).

7.
Ich hätte mir nach dieser vielfach anregenden Studie ein Schlusswort gewünscht, woher die dauerhafte Kraft und populäre Macht der biblischen Mythen herrührt. Und dann hätte man auch Stellung nehmen können, warum angesichts der Problematik des Monotheismus immer mehr Leute für einen Polytheismus als sympathische, freundliche, wenn nicht gar demokratische Haltung (etwa Odo Marquard) eintreten.

8.
Und man nimmt als Nicht – Judaist mit einem gewissen Erstaunen zur Kenntnis, dass die rabbinischen Lehrer im 5. Jahrhundert (nach Chr.) betonen: Dieses Land Israel gehört dem Volk Israel „und es wird denen weggenommen, die seiner sich so sicher fühlen“, also damals den Christen, es war ihr „heiliges Land“ … und heute? Diese frühe Behauptung gewissermaßen „nationalistischer” Art wird von Peter Schäfer nicht weiter entwickelt. Er referiert nur die Rabbinen: „Dieses Land gehört letztlich nur Gott, und Gott nimmt es, von wem er will, und gibt es, wem er will, im Auf und Ab der Geschichte. Doch eines bleibt klar: Am Ende gehört das Land dem Volk Israel“ (S. 297). Peter Schäfer schreibt diese Sätze als Interpretation der alten rabbinischen Welt. Er verschweigt, dass dieses Denken auch heute die Politik im Staat Israel bestimmt, man denke jetzt (November 2022) an die Koalition der Rechtsextremen unter dem ebenfalls sehr rechten Netanyahu. Und man muss wohl die Frage stellen dürfen: Ist diese uralte, aber offenbar noch sehr bestimmende rabbinische Interpretation vom „jüdischen Land nur für die Juden“ Ausdruck einer gefährlichen fundamentalistischen Bibel-Interpretation? Sie ist heute nicht nur für eine vernünftige Theologie, sondern auch politisch, friedenspolitisch, obsolet geworden!

Peter Schäfer, „Die Schlange war klug. Antike Schöpfungsmythen und die Grundlagen des westlichen Denkens“. C.H.Beck Verlag, München, 2022, 448 Seiten, 34,00 €. Das Buch enthält 16 prächtige farbige Bildtafeln, sie bieten einen Einblick in die Geschichte der Ikonographie der Schöpfungsmythen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Katholizismus und Aufklärung: „Verdammtes Licht“!

Das neue Buch des Kirchenhistorikers Hubert Wolf
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Der Titel des neuen Buches von Hubert Wolf (katholischer Theologe und Professor für Kirchengeschichte in Münster) ist gut gewählt – und provokativ: „Verdammtes Licht“, so möchte man zusammenfassen, sagten so viele Päpste, Prälaten und Theologen, die sich von der Philosophie und der Lebenseinstellung der Aufklärung abwandten und diese bekämpften: Diese Führer der katholischen Kirche glaubten, selbst über viel Licht, angeblich göttliches Licht, zu verfügen, um die böse Welt, die sündigen Menschen und die immer heilige Kirche zu führen. Was brauchten die Männer Gottes da noch „weltliches“ Licht, das Licht der Aufklärung? Das Licht, das die moderne Zeit auszeichnet, das Licht, das Hell und Dunkel zeigt, mit der Verpflichtung an jeden Menschen: Denke selber nach, folge nicht blind irgendwelchen Autoritäten. Dass dieses Licht missbraucht wurde, ist klar.
2.
Die Abwehr der Aufklärung durch die römische Kirche, die Abwehr dieses „verdammten Lichtes“ (wie der Aufklärer Christoph Martin Wieland sagte), spürt man bis heute: Man denke an die Zurückhaltung des Klerus, der Bischöfe, der Päpste, den sehr umfassenden, international „verbreiteten“ sexuellen Missbrauch im Klerus zu sehen, wahr-zunehmen und die Betroffenen den staatlichen (!) Richtern zu übergeben. „Bloß nicht zu viel Licht in der Öffentlichkeit, das schädigt das Ansehen der Institution Kirche“, dachten und denken diese Kirchenführer.

In diesem hier nur angedeuteten Zusammenhang, so denkt man, können die 10 Studien stehen, die der Kirchenhistoriker zwischen 2005 und 2016 vorgetragen bzw. publiziert hat. Aber es handelt sich dabei um kirchenhistorische Studien mit einer eher speziellen Thematik, vielleicht doch nur für Fachkollegen interessant: Man denke an die Studien in dem Buch über die Bedeutung des Zentrum – Politikers Ludwig Windhorst oder an die Rolle von Matthias Erzberger und seinen damals sehr ernst gemeinten Vorschlag, den Vatikan als Sitz des Papstes und seines Staates entweder nach Liechtenstein oder nach Mallorca zu verlegen. War dieser Vorschlag Ausdruck von Aufklärung? Auch die Studien über die Enzykliken Pius XI. gegen die Nazis sind wohl in dieser Ausführlichkeit eher für Fachkreise relevant.
3.
So weckt also der Titel „Verdammtes Licht“ mit dem Untertitel „Der Katholizismus und die Aufklärung“ viel zu umfassendere Erwartungen, zumal für philosophisch Interessierte: Denn das Thema Aufklärung ist nun einmal explizit ein philosophisches und philosophiehistorisches Thema. Davon ist nur im 9. Beitrag des Buches etwas ausführlicher die Rede. Von der Unterdrückung des Lichtes der Aufklärung im sexuellen Missbrauch durch Priester ist keine Rede. Darüber hat Hubert Wolf auch in seinem ebenfalls neuen Buch ZÖLIBAT geschrieben…
4
So muss man also als Leser eher im Hintergrund der Texte etwas suchen, wo sich denn diese angekündigten Spuren von Licht, verstanden als kritischer Aufklärung, finden. Leitend ist für den renommierten Kirchenhistoriker Wolf freilich die richtige Erkenntnis:“ Es gab eine Abscheu der Päpste vor der Moderne“ (S. 198). Und sehr treffend als Forschungshorizont die aus liberal-protestantischen Theologien seit langem bekannte Erkenntnis: “Die katholische Kirche ist nicht von Jesus Christus gegründet worden. Auch wenn sie sich auf ihn zurückführt, geht ihre institutionelle Gestalt nicht auf ihn zurück…“ (S. 12 f.) Diese Erkenntnis hilft dem Kirchenhistoriker, kleine, versteckte Spuren der Entwicklung der Lehre, auch der Dogmen, im Laufe der Geschichte zu finden. So kann Hubert Wolf durchaus von einer Pluralität der Katholizismen sprechen. D.h. es gab immer auch liberalere Strömungen. Marginal waren sie, das wird so deutlich nicht gesagt!. Wie lange diese liberalen Strömungen Bestand hatten vor der Verfolgung der Konservativen und Reaktionären, wird nicht so deutlich gezeigt von Hubert Wolf. Man hat manchmal den Eindruck, der Autor will unbedingt das Moderne im Katholizismus doch noch – apologetisch? – freilegen.
5.
Wo also gab es denn einige Licht-Spuren der Aufklärung im Katholizismus: Bei dieser Frage muss man bedenken, wie eng die Themen sind, die Wolf hier wählt. Da wird man eben nicht fündig zu Voltaire oder Kant und deren Beziehungen zur institutionalisierten Religion und Kirche. Nein, da geht es nur um innerkirchliche Fachthemen, etwa zur Gestalt des angeblich oder tatsächlich sehr braun nazigefärbten Bischof Hudal im Vatikan. Vielleicht hat er doch die Ideologie der Nazis deutlicher gesehen als angenommen? Und waren die Bischöfe nicht doch etwas aufgeschlossener, als sie nur mit Widerwillen und aus finanziellen Gründen die Priesterausbildung in den kirchlichen Anstalten, Priesterseminar genannt, organisierten! Und nicht die künftigen Priester an Universitäten studieren ließen? Und sind nicht, so fragt Wolf, in den Dokumenten des 2.Vatikanischen Konzils gewisse Durchbrüche zur Akzeptanz der Aufklärung zu erkennen, etwa in der großzügigen Anerkennung des Menschenrechtes auf Religionsfreiheit, im Jahr 1964! Dass der Vatikan-Staat bis jetzt nicht die Erklärung der Menschenrechte unterzeichnet hat, wird meines Erachtens in dem Buch nicht erwähnt. So viel Licht hatte doch das 2. Vatikanische Konzil auch nicht!
6.
Vieles ist und bleibt eben auch „verdammt“ dunkel und mysteriös, in der jetzigen katholischen Kirche. Etwa der Teufelsglaube, den Papst Franziskus immer noch predigt, die Beliebtheit der Exorzisten, die Abwehr von Frauen als Priesterinnen, die Zurückweisung einer umfassend synodalen, also demokratischen (aufgeklärten!) Kirche und so weiter. Von all dem ist in dem Buch keine ausführliche Rede.
7.
Darum noch einmal: Ehrlicher wäre für das Buch der Titel: „10 Fachstudien über einige Aspekte der katholischen Kirchengeschichte vor allem im 19. und 20. Jahrhundert“. Und als Untertitel: „Vermischt mit einigen grundsätzlichen Thesen zur Notwendigkeit der Kirchenreform“.

Hubert Wolf, Verdammtes Licht. Der Katholizismus und die Aufklärung
C. H. Beck, München 2019, 314 S. 29,95 €

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin