Jesus als Mann. Aber: Christus als Witwer, als gay, als Frau?

Was die Phantasie mit dem armen Mann aus Nazareth so alles macht.
Anläßlich des Buches „Christus (m/w/d)“ von Anselm Schubert

Von Christian Modehn am 15.9.2024

1.
Welche seltenen Themen suchen sich Theologieprofessoren, wie viel Zeit widmen sie Problemen, die en vogue sind? Etwa der Frage: Wie männlich war Jesus von Nazareth, und zu welchem Mann wurde Christus gemacht, welches andere Geschlecht könnte er gehabt haben? Ein Freund sagte mir: Das sind Themen, die nicht von sehr dringender Relevanz sind, wenn man nur an die aktuellen Debatten der zerrissenen Gesellschaft und der verfeindeten Staaten denkt, an die Klima – Katastrophen, die Sehnsucht nach heilender Transzendenz und nach Sinn, nach Respekt, vielleicht auch noch nach einer Kirche, die ihre veralteten Dogmen endlich beiseite legt und die Klerusherrschaft abschafft…
Aber Anselm Schubert zeigt, mit welcher Phantasie Fromme und weniger Fromme sich auf das Thema „Christus (m/w/d)“ schon seit dem 2. Jahrhundert mit der Wucht aller ihrer Phantasie eingelassen haben. Auch die christliche Religion lebt von Phantasie, Projektion, man könnte manchmal auch sagen vom frommen Wahn derer, die sich Christen nennen.

2.
Dies nur als Einstimmung auf die Lektüre des Buches „Christus (m/w/d)“, mit dem Untertitel „Eine Geschlechtergeschichte“. Die Studie (396 Seiten, davon 117 Seiten wissenschaftliche Anmerkungen Literaturhinweise) hat der protestantische Erlanger Kirchenhistoriker Prof. Anselm Schubert nach Jahre langem Studium verfasst. Erschienen ist das Buch im C.H. Beck Verlag, 2024. Ganz zum Schluss, im „Dank“ bei seinen Helfern für diese ungewöhnliche Studie, schreibt Professor Anselm Schubert: „Dieses Buch ist über eine lange Reihe von Jahren entstanden“ (S. 277). Wohl wahr, man glaubt es sofort, so viele Quellen und Literaturverweise zu diesem bislang kaum bearbeiteten Thema wird man so leicht nicht mehr finden.

3.
Das Buch ist in gewisser Hinsicht eine Meisterleistung, eine Meisterleistung des Fleißes und der Energie, die absonderlichsten Fragen zur Männlichkeit “Christi“ bzw. „Jesu Christi“ zu erforschen: Wer hat sich schon einmal mit Themen befasst wie: „Der mystische Bräutigam“ (S.85), „Die Trinitarische Weiblichkeit“ (S.78), „Der geschlechtslose Erlöser“ (S. 66), „Die Seitenwunde Jesu als Uterus und Vagina“ (S.113 ff.). Wie sonderbar interessiert, darf man sagen: verrückt, waren viele kirchlich Fromme damals…Sie hatten keine Scheu zu sagen: „Die Brüste Christi stillen mit Milch“ (S. 105). Auch sehr „erbauend“: „Jesus als Witwer“ (S. 217) oder inspirierend der „Polygame Jesus der Mormonen“ (S. 221). Natürlich darf bei dem Thema nicht der schwule Jesus (S. 229) fehlen. Bibelfeste LeserInnen erinnern sich daran, dass Johannes, offenbar der Jüngste in der 12-Apostel-Schar, oft an der Brust Jesu, „des Herrn“, ruhte bei gemeinsamem Speisen. Eine Idee, die viele tausend Künstler begeisterte: Man beachte, dass Hans Schäufelin in seinem Abendmahlsgemälde (1515) diesen Jüngling Johannes sogar auf den Schoß Jesu setzte. War das etwa ein heimlicher Ausdruck von Pädophilie? Da entsteht – nebenbei – die Frage: Hat die „Pädophilie“ im zölibatären Klerus vielleicht eine ihrer Wurzeln in pädophil deutbaren Gemälden, Ikonen, die allüberall in katholischen Räumen zu finden sind? Ich kam auf diese Idee, als ich in der sehr geräumigen Sakristei einer Kathedrale in Spanien, also dort, wo sich die Priester für den „heiligen Dienst“ ankleiden und auskleiden, eine Fülle von nackten männlichen Putten und nackten heiligen (?) Knaben entdeckte… Eine gute Inspiration für die Priester vor dem „heiligen Opfer“, der Messe…

4.
Das Buch des Kirchenhistorikers Anselm Schubert bietet Einsichten und Einblicke in eine schier unerschöpfliche Materialfülle zu allen nur denkbaren Fragen zur Männlichkeit, zur Sexualität, Diversität, Weiblichkeit und Homosexualität von Christus.
Anselm Schubert verteidigt in einem Interview mit „Christ und Welt/Die Zeit“ vom 12.9.2024, Seite 15, seine mühevolle Kleinarbeit: Bestimmte Menschen und Gruppen hätten halt ein „ein Bedürfnis gehabt, sich mit Christus auf ihre Weise zu identifizieren. Jede und jeder sucht sich immer auch etwas Eigenes in Christus.“ Jedem und jeder sein, ihr Christus also. Ob es allerdings theologisch normative Grenzen dieses Bedürfnisses der Christus-Frommen geben sollte, wird nicht erörtert.

5.
Religiöse Phantasie gibt es auch heute: Vielleicht kommt jemand auf die hübsche Idee angesichts der Raumfahrt heute, Christus als den ersten Raumfahrer zu verehren, angesichts seiner biblisch besprochenen und als heiliges Fest gestalteten „Himmelfahrt“. Vielleicht wird der Weltraumfahrer Christus bei seinem Aufstieg sogar von seiner unbefleckten Mutter Maria begleitet, die laut katholischem Dogma auch eine „Aufnahme in den Himmel“ post mortem (z. T. staatliches Fest am 15. August) kennt und erfahren sein dürfte. Man sieht an diesen Beispielen, wie religiöse Traditionen zu Phantastereien und zu Wahn verführen können. Noch eine Idee: Über den leiblichen Vater Jesu von Nazareth, den „heiligen Joseph“, wird im Neuen Testament fast nichts aussagt, dennoch oder gerade deswegen entwickelte sich allmählich eine eigene ausgebreitete Josephs – Forschung, die „Josephologie“, mit einem Schwerpunkt in Montréal. LINK. https://www.saint-joseph.org/fr/

6.
Anselm Schubert hat sich vorgenommen, so wörtlich, „den letzten blinden Fleck“, also das bisher total Vernachlässigte in der Jesus/Christus – Forschung, auszubreiten und hervorzuheben, also die Frage nach der geschlechtlichen Identität und sexuellen Orientierung Christi (S. 21). Trotz dieser Materialfülle habe ich den Eindruck, dass eine tiefere theologische und historisch fundierte Reflexion hilfreich gewesen wäre: Etwa eine Antwort auf die Frage: Warum kamen denn vor allem die Mystiker und die Mystikerinnen im Mittelalter auf diese so absonderliche Ideen…Hatten sie nichts Besseres zu denken und zu tun? Schämten sie sich vielleicht sogar über ihre – in unserer heutigen Sicht ! – hoch merkwürdigen Ideen, Phantasien, Projektionen und sogar abartigen Themen? Wer sich durch diese von Schubert ausgebreiteten historischen Details förmlich lesend durchgeboxt hat, sagt sich am Schluss: Wie konnte sich eine ungebremste, sich religiös nennende Phantasie über die Sexualitäten Christi da nur in dieser christlichen Kirche breit machen. Waren die sonst so strengen Bischöfe und Päpste ausnahmsweise mal großzügig, weil sie dachten: Hauptsache die Leute sind fromm?

7.
Freilich: Das Hauptproblem für Theologen, nicht nur angesichts dieser Studie, muss genannt werden: Im Neuen Testament, das ist die entscheidende Hauptquelle aller auf Jesus bezogenen Studien ist, wird Jesus von Nazareth eindeutig als Mann beschrieben: Er wurde als Knabe nach jüdischem Gesetz beschnitten. Und er ist als Mann identifiziert worden im Prozess, der zu seiner Hinrichtung führte; an seinem Kreuz hoch oben wurde der Titel „König der Juden“ von den Römern angebracht und nicht etwa „Königin der Juden“.
Und trotz dieser evidenten Männlichkeit Jesu explodierte förmlich die fromme Phantasie einige Jahrzehnte nach Jesu Tod. In den Gemälden zur Geburt Jesu wird dieser Neugeborne als Junge gezeigt, und dazu schreibt Schubert: „Aber er war für viele Christinnen und Christen eben manchmal doch ein Mädchen, ein Androgyn oder etwas, das sich in den Kategorien menschlicher Geschlechtsidentitäten schlicht nicht fassen ließ“ (S. 22). Mit anderen Worten: Die Künstler (und die Literaten und die Theologen) nahmen sich ab dem 3. Jahrhundert die Freiheit, um auch der Kultur der Umgebung zu entsprechen, Christus als Mädchen oder als Androgyn oder, wie Schubert befremdlich schreibt, „als ETWAS“ (sachlich?,CM) darzustellen, das aus den Geschlechtsidentitäten herausfällt…
Aus Jesus wurde dann, wie Schubert zeigt, die göttliche „Weisheit“, er wurde als „androgyn“ usw. gedeutet, und das bis ins 18. Jahrhundert hinein. Dann aber wurde Christus vor allem in harter Gegenüberstellung gedeutet: Man lehrte: Der Mensch ist eben nur männlich ODER nur weiblich, so hieß die rabiate allgemeine Norm. Erst die feministische Philosophie und Theologie hat diese schlichte und falsche Definition der Identitäten aufgehoben. Sehr viele Christen und Kirchenführer halten aber diese veralteten Identitäten für absolut gültig, auch jetzt noch.

8.
Über die gelebte Sexualität Jesu von Nazareth wird im Neuen Testament nichts, aber auch gar nichts berichtet. Genauso wie nichts explizit über den Humor Jesu gesagt wird oder über seine ja durchaus denkbaren körperlichen Krankheiten, etwa wegen des vielen Wanderns in glühender Hitze usw. Dass er leibhaftiger Mensch war, wird nur in seiner Vorliebe fürs Essen und fürs Trinken guten Weines angedeutet. Vielleicht ist diese Vorliebe damals schon typisch männlich? Die Menschlichkeit des Mannes Jesus von Nazareth wird also im Neuen Testament auf ein Minimum an „Informationen“ reduziert. Die Geschichten, Mythen, von der Geburt Jesu und seiner Kindheit, wurden, kurz und bündig, erst spät in die Evangelien aufgenommen.

9.
Jesus als der religiöse Mensch, als der Prediger, als Kritiker bestehender jüdischer Religion, wird immer im Neuen Testament auch als der keusche, enthaltsame Mann dargestellt. Was wäre denn auch passiert, wenn Jesus als Mann Kinder gezeugt hätte, wie hätte die Kirche diese Jesus- Kinder bewerten müssen? Unvorstellbar, dass nach Jesu Tod seine Söhne als dann kirchlich zu deutende Gottessöhne herumlaufen und sich so systematisch eine Art Gottessohn – Geschlecht auf Erden etabliert! Undenkbar eine solche dann entstehende Dynastie der „Gott – Menschen“ und Erlöser…
Mit anderen Worten: So klug waren die ersten Christen schon: Jesus durfte also gar keine gelebte Sexualität haben! Anselm Schubert sagt in einem Interview für katholisch.de am 21.8.2024: „Eine Ehe Jesu wird nirgends in der Bibel erwähnt – und dem wäre sicher so gewesen, wenn er eine geführt hätte. Den Zölibat halte also auch ich für die wahrscheinlichere Variante.“ Wichtiger ist: Jesus durfte in kirchlicher Sicht überhaupt keine Ehe führen und schon gar nicht – wie und mit wem auch immer – Kinder zeugen.
PS: Die Gottessöhne und – töchter entstanden aber dann auf andere Weise doch, indem die Kirche lehrte: Jeder Christ (wenn nicht sogar jeder Mensch) ist mit dem heiligen Geist ausgestattet, als Gottes Sohn und Tochter… Solche tiefer gehenden Überlegungen vermisse ich im Buch von Anselm Schubert.

10.
With zu übersehen ist für die sexuelle Enthaltsamkeit Jesu von Nazareth etwas anderes, das meines Erachtens von Anselm Schubert nicht ausführlich herausgearbeitet wird. Denn es ist allgemein anerkannte Tatsache: Jesus von Nazareth war vom alsbaldigen Ende aller Zeiten überzeugt, und mit diesem Ende wird das Gottesreich Wirklichkeit (vgl. Matthäus 10,23 oder Markus 9,1 und 13,30. „Jesu Naherwartung (des ankommenden Reiches Gottes) ist das alles entscheidende Element: Es prägt Jesu Verhalten und Tun“, so der katholische Theologe Prof. Hermann Baum in seinem Buch „Die Verfremdung Jesu“, erschienen im katholischen Patmos Verlag, 2006, dort S. 35). Vor allem Paulus zeigt in seinen Briefen, etwa im 1. Thessalonicher – Brief aus dem Jahr 51: Wenn das Ende der Welt bevorsteht, dann sind alle Fragen nach einer möglichen Ehe, Sexualität, Frauen – oder Männer-Freundschaften usw. völlig zweitrangig.
Die Erwartung Jesu vom alsbald bevorstehenden Ende der Welt und dem Beginn des Reiches Gottes ist wohl der entscheidende Schlüssel für das Desinteresse Jesu von Nazareth selbst, sich irgendwie sexuell aktiv zu betätigen oder seine sexuelle Identität hervorzutun. Jesus war demnach de facto bloß ein Mann, ein jüdischer Mann, und das ist alles, was historisch zu sagen ist.

11.
Die ersten Christen hätten ja auch sagen können: Jesus von Nazareth war ein Mann, also evident ein jüdischer Mann. Und dann hätten sie in ihrer beliebten theologischen Deduktion sagen können: Unser christlicher Gott wird also („inkarniert“ sich!) ein jüdischer Mann. Und damit, dem kirchlichen Dogma entsprechend, wird auch die zweite Person in der göttlichen Trinität, Jesus – Christus, jüdisch, also Teil der jüdischen Gemeinschaft. Das heißt: Der christliche Gott des kirchlichen Dogmas wird also Jude. Damit werden natürlich zwei Weltbilder miteinander verschränkt, das jüdische (Gott als handelnder, liebender, zorniger Gott) und das griechische Weltbild der Trinität bzw. eines philosophischen Gottes: Dieser überlässt die Menschen und die Welt nach der Schöpfung sich selbst…
Trotzdem, dieser ketzerische Gedanke „Der trinitarische Gott wird jüdisch“ drängt sich spekulativ auf, nachdem man sich durch diese Fülle von Phantasien und frommem Wahn zur Männlichkeit, Weiblichkeit, Homosexualität, Diversität Christi in diesem Buch durchgeboxt hat. Ein ungeheuerlicher Gedanke, gewiss, der bisher nicht diskutiert wurde.

12.
Bei diesem Faktum zum jüdischen Mann (und Propheten) Jesus von Nazareth könnte eigentlich die Studie von Anselm Schubert wirklich enden. Aber das Haupt – Problem aller christlichen Theologie ist bekanntlich: Für Christen (also für Glaubende schon wenige Jahre nach Jesu Tod und seiner geglaubten Auferstehung) ist Jesus von Nazareth immer der Christus, der Erlöser. Jesus ist eben nicht Christus, und Christus ist nicht Jesus, obwohl dies immer behauptet wird.
Spätestens seit dem 3. Jahrhundert wird Jesus im Dogma zum Gottessohn erklärt bzw. dann seit dem 4.Jahrhundert zu einer „Person“ der göttlichen Trinität. Diese göttlich – menschliche Christus – Gestalt wurde von der frühen Kirche und ihren Theologen nur konstruiert, also „gemacht“ (vom heiligen Geist natürlich, sagen die Dogmatiker…), um den armen, sehr begrenzten Jesus von Nazareth sozusagen für alle Menschen und immer, außerhalb des Judentums, bedeutend und „erlösend“ zu machen. Und mit dieser „Umwidmung“ dieses kulturell – religiös begrenzten jüdischen Jesus zu einem universalen Christus werden alle geistigen Türen der Phantasie und des frommen Wahns geöffnet, um sich auch mit dem Sexualleben dieses Christus (nicht mehr dieses Jesus!) zu befassen, wie es in Nr. 3 unseres Hinweises in der hier gebotenen Kürze angedeutet wurde. Mit der „Umwidmung“ Jesu zum universalen, allen Kulturen und Sprachen zugänglichen Christus wurde es möglich, dass jeder und jede sich so seine phantastischen Gedanken über diesen seinen Christus machen konnte. Der Glaube ist ja immer individuell, keine Frage! Aber meiner Meinung nach haben die frommen MystikerInnen im Mittelalter doch allzu stark ihr erotisches Ego in ihre Glaubensergüsse und Christus – Bindungen einfließen lassen. Also, ein sehr sehr weites Feld frommer bzw. esoterischer und literarischer, künstlerischer und theologischer Spekulationen wird eröffnet.

13.
Das Buch von Anselm Schubert wird zu weiteren theologischen und kulturwissenschaftlichen und sicher auch spekulativen Forschungen zur Sexualität „Christi“ führen. Schubert macht in seinem Buch auf die Themen weiterer Diskussionen aufmerksam: „Geschlecht galt in der Antike (auch zur Zeit Jesu) eher als moralische und intellektuelle Eigenschaft, nicht als körperliche. Man ging von einer einzigen menschlichen Geschlechtlichkeit aus, die sich auf einer Skala bewegte zwischen weiblich und männlich, wobei das Männliche höherwertig galt…“ (Die Zeit, 12.9.204, Seite 15.)

Anselm Schubert, „Christus (m/w/d). Eine Geschlechtergeschichte.“ C.H.Beck Verlag München , 2024, 396 Seiten, 32€.

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