Ein Hinweis auf den Philosophen Dieter Henrich.
Von Christian Modehn.
1.
Dieter Henrich ist einer der maßgeblichen Philosophen, zumal, wenn nach den Strukturen und Gründen des Selbstbewusstseins im Sinne Kants, Fichtes, Hegels gefragt wird. Diese Frage ist alles andere als „veraltet“. Sie ist vielleicht eine Provokation, angesichts der heutigen Herausforderungen der empirischen Psychologie, der Gehirnforschung, der künstlichen Intelligenz usw. Aber Formen und Inhalte der “klassischen” philosophischen Erkenntnisse zum geistigen Selbstbewusstsein des Menschen können als Voraussetzung gelten für die genannten aktuellen mehr empirischen Studien und Experimente zum Selbstbewusstsein.
In hohem Alter hat Henrich eine Autobiographie in der Form eines Interviews veröffentlicht. „Ins Denken ziehen“ ist der Titel. Das Buch wurde 2021 im C.H.Beck Verlag veröffentlicht.
Am 17.12. 2022 ist Dieter Henrich im Alter von 95 Jahren gestorben.
2.
Der Schwerpunkt der Philosophie Henrichs: Das Selbstbewusstsein des Geistes bzw. der Vernunft im Individuum, Subjekt, und die damit gegebene Kommunikation mit anderen. Die Analyse des Selbstbewusstseins führt notwendigerweise zur Frage nach einem alles Gründenden (Absoluten) und einem „letzten Halt“ im Leben.
Die LeserInnen können sich tatsächlich „ins philosophische Denken ziehen“ lassen, und zwar, wie bei Dieter Henrich üblich, auf sehr anspruchsvolle, hier aber gut nachvollziehbare Weise.
3.
Uns interessieren zwei Themen, die Henrich im Gespräch etwas ausführlicher darlegt:
Das erste Kapitel unserer Hinweise bezieht sich auf die Frage: Was ist eigentlich Philosophie, also eine „Philosophie der Philosophie“.
Das zweite Kapitel bezieht sich auf das Fragen nach dem Absoluten.
1. Kapitel: Hinweise zu einer Philosophie der Philosophie
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Was führte Dieter Henrich in die Philosophie? Dies ist eine Frage, deren Antwort wahrscheinlich für alle bedeutsam ist: Henrich schreibt: „Es kommt (in der Philosophie) darauf an, dass man, einmal aufgeschreckt, über sich selbst verwundert bleibt.“ (S. 272). Und weiter: Ohne einen „Bruch“ innerhalb bisheriger Lebensentwürfe, also ohne einen Abschied von bisherigen Denkgewohnheiten, gelangt man nicht ins Philosophieren. (vgl. S. 70).
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Unnötig zu sagen: Philosophie ist für Henrich durchaus eine Wissenschaft, er war viele Jahre Professor für Philosophie an verschiedenen Universitäten in Deutschland und auch in den USA.
Aber es ist überhaupt keine Frage: Philosophie ist für ihn eine besondere, von allen Wissenschaften verschiedene Wissenschaft: Sie befasst sich reflektierend – kritisch mit den bedrängenden Lebensfragen und Zweifeln, selbst wenn sie zu ausführlichen historischen Studien, etwa zu Kant und Fichte führt. Aber als Wissenschaft, die sich auch mit dem Wesen der Freiheit und den Grenzen der Erkenntnis des endlichen Menschen befasst, kann Philosophie nicht demonstrative Erkenntnisse oder unbezweifelbare, evidente Lehrsätze“ bieten (S. 24). „Man wird also der Wahrheit (nur) über das Abwägen von Alternativen und Ambivalenzen auf die angemessenste Weise nahe kommen“ (S. 213)
Es geht immer um „das Sich-Verstehen (des Menschen) gerade an Grenzen, wo es nur tastende Antworten geben kann, die in Erfahrungen und selbst erwogenem Wissen gestützt sein müssen“ (S. 44).
Der Philosoph, Dieter Henrich, äußert sich also nicht über etwas am Schreibtisch „Ausgedachtes“ (S. 18), sondern über etwas mit den eigenen reflektierten Lebenserfahrungen Verbundenes, sich im Dasein Aufdrängendes.
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Henrich betont mehrfach, dass jeder Mensch philosophiert, weil er Geist, Vernunft, Selbstbewusstsein hat. Man muss das eigene gründliche und kritische Nachdenken aber nicht explizit Philosophieren nennen, um tatsächlich zu philosophieren. (Vgl. S. 265 und 268).
Schon in seinem Buch „Die Philosophie im Prozess der Kultur“ (2006) hat Henrich mehrfach gesagt: „Zu philosophieren ist Sache aller Menschen“ (S. 78). Erstaunlich auf S. 91: „Die Philosophie wird auch dem einfachen Menschen den Titel Philosoph nicht streitig machen, der Lebensweisheit verkörpert und auf seine Art auch mitzuteilen versteht“ (S. 93). „Man muss dem Faden nachdenken, der das eigene Leben zusammenhält. Insofern ist jeder Mensch genötigt und dazu nobilitiert, selbst zu philosophieren“ (S. 268 im Buch „Ins Denken ziehen“).
Philosophieren und Lebensgestaltung sind für Henrich zwar verbunden, aber er sieht sich als Philosoph nicht als Therapeut, sondern „eher als Hilfe, vielleicht als Beistand auf der Suche nach dem eigenen ganzen Verstehen“ (S. 272). Jedenfalls ist Philosophie für Henrich „keine Auskunftsagentur für schwierige Fragen“…
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Was leistet also Philosophie, die im tätigen Philosophieren ihren Grund und ihr Leben hat? Sie bringt Klarheit, mehrfach spricht Henrich von „Licht“. Ein wunderbares Wort, um die Leistung von Philosophie zu benennen…
Philosophieren leitet dazu an, Distanz zu gewinnen zur Übermacht der Objekt-Welt… und zu sich selbst. Sie klärt die oft ungenannten Hintergründe der kulturellen Produktionen auf…Philosophie als lebendiges Philosophieren ist also Ausdruck der Humanität. D.h.: „Es geht um die Empathie für die Möglichkeiten ebenso wie für die Schwächen der anderen – bei gleichzeitigem Wissen von der eigenen Schwäche und dem mühsam oder glückhaft gefundenen eigenen Weg“ (S. 75 „Ins Denken ziehen“).
2.Kapitel: Die Frage nach dem Gründenden, dem Absoluten, der Religion.
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Die Erkenntnis der „Subjektivität als Wissen von sich selbst“ führt immer auch auf die „Unverzichtbarkeit letzter Gedanken“, also zu „Gedanken, die ehedem unter dem Namen Metaphysik standen“ (S. 213). Dies ist die Grundevidenz Henrichs: „Es herrscht im menschlichen Wesen das Bedürfnis, sich im bewussten Leben auf ein Unbedingtes zu beziehen…“ (S. 269). „Wir müssen unsere Erkenntnis als endlich betrachten und zugleich den Gedanken hegen, dass etwas als wirklich zu denken sein muss, was nicht auf endliche Weise erkannt werden kann. Damit wird es legitim, Grenzgedanken zu entfalten. So macht es Sinn, das Unendliche auch überpersönlich zu verstehen…“
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Freiheit ist also immer ermöglichte Freiheit, Freiheit ist nicht aus einer „Selbstmacht des freien Subjekts“ initiiert“ (S. 17).
Das aber heißt: Wer sich mit dem bewussten Leben als Selbstbewusstsein befasst, „ kommt nicht umhin, die kulturelle Tatsache der Religionen verstehen zu wollen“ (S. 43). Wenn die philosophische Analyse der Freiheit zentral ist: Dann zeigt sich in der Entfaltung der Freiheit:„Freiheit ist nicht etwas rein Profanes. Sie hat wesentlich eine metaphysische Dimension“ (S. 23).
10..
Wenn Henrich von Religion spricht, dann meint er die von Kant beschriebene Religion, und die hat sich von Magie, Dogmenbindung, Kirchenhierarchie und Zauber befreit (vgl. S. 22, auch 24 und 32).
So ist die Bibel als ein literarisches Buch für den Philosophen durchaus inspirierend, aber die Bibel kann nicht als heiliges Buch gelten. Sie ist „kein kanonisches Buch“ (S. 30).
11.
Der Philosoph kann nicht die bestehende Kirchenfrömmigkeit stützen, er kann nur die Bedeutung des Transzendenten und Alles Gründenden aufzeigen. Für das Gebet als Form der Poesie hat Henrich durchaus Verständnis (S. 32), in der Vermutung, dass der über-persönliche erfahrene Lebensgrund, das Absolute durchaus „einer endlichen, menschlichen Zuwendung entsprechen“ kann (S. 32), wobei dieses Entsprechen als mögliches „Spreche“ (?) des Absoluten zwar angedeutet, aber nicht weiter erklärt wird.
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Das führt zu der Frage nach dem letzten (entscheidenden) Halt im Dasein. „Der für einen Menschen beste Halt beruht auf Implikationen von Erfahrungen, die für ihn unhintergehbar geworden sind“ (S. 18). Das heißt, entscheidend für einen letzten Halt im Leben ist das Erleben und Erkennen eines absoluten Grundes als der Ermöglichung von subjektiver Freiheit. Diese Verwiesenheit auf einen absoluten Grund kann durchaus zu einer persönlichen Religiosität führen, betont Henrich. Aber für ihn bleibt unzweifelhaft: „Philosophie kann als solche nicht in einen religiösen Kultus eintreten und sich in ihm erhalten. Sie wird immer auf Klarheit der Gedanken, Stimmigkeit und allseitige Abgewogenheit der Begründungen und vor allem auf verstehende Durchsicht des Lebens statt auf Erhebung, Erlösung oder Heiligung des Individuums hinausgehen“ (S. 43).
3. Kapitel: Biographisches
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Ist Henrichs Philosophie, so wie sie sich im Interview-Buch „Ins Denken ziehen“ zeigt, politisch? Sie enthält keine unmittelbare parteipolitische Aufforderung. Aber Henrich weiß, dass seine Reflexionen zur Freiheit des Menschen, vor allem die Erfahrung der „ermöglichten Freiheit (S. 17) „als eine Energie erfahren werden, die in eine große Befreiungs- und Aufklärungsbewegung münden kann“ (vgl. S. 17). Über den politischen Zustand der Bundesrepublik hat sich Dieter Henrich, nach eigenem Bekenntnis eher der SPD verbunden, mehrfach geäußert…(vgl. auch S. 202). Interessant sind auch die Hinweise Henrichs zu seiner Hochschätzung Berlins, wo er zu Beginn der 1960er Jahre an der FU lehrte und Diskussionen mit Philosophen der DDR führte. Interessant auch Hinweise zu Aufenthalten in Moskau. Als Präsident der Internationalen Hegel-Vereinigung setzte er sich im Zentrum des Kommunismus für ein offnes Verständnis Hegels ein.
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Diese Hinweise folgen den beiden eingangs genannten Fragen, klar ist, dass das Buch darüberhinaus viele Erkenntnisse vermittelt zu Henrichs Kindheit und Jugend, zu seiner liebevollen Verbundenheit mit seinen Eltern, zu seiner philosophischen „Laufbahn“ an den Universitäten, zur Einschätzung etwa seines wichtigen Lehrers Gadamers. Oder auch die Hinweise zu Heidegger sind interessant, etwa: „Mit dem Mann wirst du dich nie einlassen“ (S. 95).
4. Kapitel: Eine Summe:
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Dieter Henrich ist ein klassischer europäischer Philosoph, auch wenn er viel Interesse an analytischer Philosophie zumal in den USA hatte. Zu Themen der interkulturelle Philosophie veröffentlichte er meines Wissens nicht. Auch Fragen der Ethik entwickelte Henrich in dem Zusammenhang leider nicht.
Sein begründetes Eintreten für eine vernünftige Form metaphysischen Denkens verlangt viel Beachtung heute, wobei er als Protestant, wie er im Buch immer wieder betont (zumal im Zusammenhang seiner Tätigkeit in München an der LMU), eine große Nüchternheit gegenüber kirchlichem Überschwang und Dogmatismus hat: Die von Henrich entwickelt Metaphysik ist eine bescheidene Metaphysik, immer gebunden an die Erfahrungen des endlichen Menschen in dessen endlicher Freiheit. Henrichs metaphysische Überlegungen haben jedenfalls nichts religiöses, sie sind keine philosophische Religion. Aber sie können vielleicht gerade deswegen den modernen Menschen bewahren zu schnell zu behaupten, die Moderne sei nach-metaphysisch, also ohne Metaphysik zu verstehen. Diese Behauptung vieler hat Henrich begründet zurückgewiesen. „Ich werde im philosophischen Denken nicht glücklich, aber ich bin doch eher gesammelt als zerrissen.“ (S. 269).
5. Kapitel: Zum Titel dieses Hinweises:
Der Titel ist eine Kurzfassung eines Zitates von Henrich:
„Die Freiheit ist nicht etwas rein Profanes. Sie hat wesentlich eine metaphysische Dimension. Auch darum kann die Moderne gar nicht als nachmetaphysisch definiert werden“ (Seite 23 in „Ins Denken ziehen“). Damit setzt sich Dieter Henrich entschieden von Jürgen Habermas und Ernst Tugendhaft ab (vgl. S. 213).
6. Kapitel: Grenzen und Kritik der Reflexionen Henrichs:
Auf die Grenzen der Philosophie des Selbstbewusstseins von Dieter Henrich soll kurz hingewiesen werden: Das Subjekt, der einzelne Mensch, das “Ich”, steht am Beginn und im Mittelpunkt der Reflexionen Henrichs. Das liegt nahe, wenn man sich auf Kant, Fichte und Hegel konzentriert.
Aber es muss über Henrichs Studien zum Selbstbewusstsein hinaus gefragt werden: Ist langfristig, als Wirkungsgeschichte und Rezeptionsgeschichte, diese Konzentration auf das Ich zu einer Ideologie geworden? Einer Ideologie, die als Liberalismus (Schutz des einzelnen, des Ich, des Ego) ihr gutes Recht einst hatte als Kampf gegen Formen des Despotismus im Staat. Die aber dann in den letzten Jahrzehnten zum Neoliberalismus entartete, als der rücksichtslosen Herrschaftsform der Superreichen Egos. Sie setzen sich mit aller Gewalt im Kapitalismus heute durch und pflegen äußerst “selbstbewusst”, gegen die humanen Grundsätze der (auch ökologischen) Gerechtigkeit, ihren Profit. Die Gier der neoliberalen Super-Egos könnte elementar gebremst und begrenzt werden, wenn sich diese Herren auf die Endlichkeit ihres eigenen Lebens und Denkens besinnen könnten. Und durch die Erkenntnis, dass sie ihren Luxus nur durch die Arbeitsleistung anderer, oftmals Ausgebeuteter, haben… Aber das zu erwarten ist wohl nicht mehr als eine ferne Hoffnung auf die Wirkkraft philosophischer Reflexionen. Man sollte also eher von einer faktischen, einer politischen Niederlage der Vernunft sprechen. Aber Vernunft als Vernunft, als Geist, als philosophische Reflexion kann niemals und von niemandem ausgelöscht werden. Insofern bleibt uns die elementare Form der Philosophie des Selbstbewusstsein (durch Dieter Henrich gezeigt) doch erhalten…
Dieter Henrich: „Ins Denken ziehen. Eine philosophische Autobiographie“. Ein Gespräch mit Matthias Bormuth und Ulrich von Bülow. C.H.Beck Verlag, 2021.
Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin