Weiter denken: Wer ist mein Nächster? Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb, Berlin

Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb, Humboldt Universität Berlin.

Wer ist mein Nächster?

Diese Frage gehört ja auch zentral zur religiösen Tradition des Christentums. Sie setzt offenbar voraus, dass wir im Alltag oft gar nicht wissen und spüren, wer denn mein Nächster ist. Deswegen klingt diese Frage heute beinahe so, wo denn die Fidschi-Inseln liegen? Was verbirgt sich hinter diesem offensichtlichen Zweifeln, wer denn mein Nächster ist?

Wie wir uns im Alltag verhalten, hängt enorm davon ab, wie wir uns selbst im Umgang mit anderen erfahren. Und da scheint es mir doch so zu sein, dass wir uns in erster Linie als Konkurrenten wahrnehmen. Das fängt schon in der Schule an. Erfolgreich müssen wir sein und das heißt, besser als andere. Dann bekommst du die Stelle und nicht der andere, dann machst du das Rennen und nicht die andere, dann gehörst du zu den Siegern und die anderen sind die Verlierer.

Es wird oft gesagt, die Zeit der großen Erzählungen sei vorbei. Doch das stimmt nicht, man sucht sie nur an der falschen Stelle. Sie werden nicht mehr von den Religionen oder den Lebensphilosophien verbreitet, sondern von der Ökonomie. Und die kennt keine Nächsten, sondern nur Wettbewerber um Aufträge und Arbeitsplätze. Und das weltweit. Im Zuge der Globalisierung konkurrieren alle um Aufmerksamkeit und Platzvorteile, Menschen und Staaten, Religionen und  Kulturen.

Wehe, es kommt mir einer zu nahe! Das kann nur gefährlich werden. Dagegen muss ich mich zur Wehr setzen. In der globalen Kapital- und Marktgesellschaft gibt es keine Nächsten, keine solchen jedenfalls, denen ich zutraue, dass sie mir Gutes tun wollen oder mit denen ich zum gemeinsamen Vorteil kooperieren könnte. Allenfalls von oben herab, aus der Position der Stärke, wenn andere mein Mitleid erregen, erinnere ich mich möglicherweise an das ethisch-religiöse Gebot der Nächstenliebe. Aber zur Liebe führt das nicht, allenfalls zur herablassenden Geste eines Almosens.

Kann es ein Gespür für den Nächsten erst dann geben, wenn ich mir selbst nahe bin? Aber wie kann ich mich als „einmaliges Wesen“ lieben lernen?

Dass ich einen anderen Menschen wertschätze, ja, vielleicht sogar ihm gegenüber Liebe und Zuneigung zu empfinde, dahin kommt es nur, wenn ich mich selbst angenommen fühle, akzeptiert, anerkannt als der, der ich bin. Nächstenliebe setzt Selbstliebe voraus, eine Einsicht, die sich der jüdisch-christlichen Religionsüberlieferung verdankt („Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, ein Wort Jesu, das dieser bereits der hebräischen Bibel entnommen hatte). Selbstliebe, innere Festigkeit macht nicht nur zur Nächstenliebe fähig, sondern verwirklicht sie auch. Denn dann begegne ich dem anderen auf Augenhöhe, als meinem Partner, meiner Partnerin. Dann fällt der Konkurrenzdruck ab. Dann suche ich die Kooperation, den gemeinsamen Vorteil in der Gemeinschaft mit anderen (mein Traum: in der großen Menschengemeinschaft aller Völker, Nationen, Kulturen und Religionen).

Und wie lerne ich mich selbst zu lieben? Indem ich achtsam werde auf die Liebe, die mir seit jeher, mit meinen ersten Atemzügen schon, durch andere zuteil geworden ist und zuteilwird.

Wenn wir nicht gerade als Eremiten leben, sind wir ja ständig und täglich von vielen Menschen umgeben. Wie kann ich unter all den vielen (m)einen Nächsten erleben, ihm nahe kommen?

Diese Frage hat man Jesus schon gestellt: „Wer ist denn nun mein Nächster?“ Daraufhin erzählte Jesus das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Der Samariter war der, der im Unterschied zu anderen nicht an dem unter die Räuber Gefallenen vorbeiging, sondern ihm aufhalf. Wer ist mein Nächster? Jesu Antwort: Das liegt nicht objektiv fest. Darüber sind keine allgemeinen Aussagen zu machen. Das entscheidet die Situation. In dieser Geschichte wurde dem unter die Räuber gefallenen derjenige zum Nächsten, der, wie Jesus sagte, „die Barmherzigkeit an ihm tat“.

“Den” Nächsten gibt es nicht. Zum mir Nächsten wird der, dem ich begegne, weil unsere Blicke sich treffen, weil er meine Hilfe braucht, weil wir etwas gemeinsam unternehmen, weil sich durch diese anderen mein eigenes Leben mit Inhalt füllt.

Wir Menschen sind elementar aufeinander angewiesen. Wenn wir das im Umgang miteinander spüren und uns entsprechend verhalten, dann geschieht es bereits, dass wir uns mehr und mehr zu Nächsten werden. Manchmal so sehr, dass wir von Liebe zueinander sprechen.

Die Fragen stellte Christian Modehn

Copyright: Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin.