Willkommen im Religions-Philosophischen Salon Berlin

Der Religionsphilosophische Salon Berlin. Einige Hinweise von Christian Modehn und Hartmut Wiebus am 3.2.2025.

1.
Der Religionsphilosophische Salon Berlin ist seit 2007 eine Initiative von Christian Johannes Modehn und Hartmut Wiebus. (Biographische Hinweise: Fußnote 1.)
 Übliche, also öffentliche Salon – Veranstaltungen fanden monatlich von 2007 – 2020 statt. Jetzt gestaltet wir philosophisch – theologische Gespräche in kleinerem Kreis. Regelmäßig werden neue Beiträge als Hinweise zur philosophischen und theologischen Debatte auf unserer Website publiziert, bis jetzt sind es 1.650 Beiträge, Hinweise genannt, Stand 3.3.2025.

2.
 Titel und „Sache“ eines „(religions-)philosophischen Salons“ sind alles andere als verstaubt. Das Interesse an philosophischen Gesprächen und Debatten in überschaubarem Kreis, in angenehmer Atmosphäre eines Salons, ist evident. Das gilt, selbst wenn viele Interessierte betonten, „Philosophie“ sei schwierig. Das ist sie vielleicht, nicht aber Philosophieren: Es ist Lebenselement eines jeden.
In unserem religionsphilosophischen Salon wird das möglichst eigenständige Philosophieren (kritische Nach – Denken) geübt.
Philosophische Religionskritik gehört elementar zur Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie. Philosophische Religionskritik kann zeigen, welche Form einer vernünftigen Religion bzw. Spiritualität heute zur Lebensgestaltung gehören kann.

3.
 Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie gibt es nur im Plural, die (Religions-)Philosophien in Afrika, Asien und Lateinamerika dürfen nicht länger als „zweitrangig“ behandelt werden. In welcher Weise Religion dort zum „Opium“ wird angesichts des Elends so vieler Menschen, ist eine relevante Frage, auch angesichts der Zunahme von christlichem und muslimischem Fundamentalisten. Dringend ist die Frage: Inwieweit ist philosophisches Denken Europas eng mit dem kolonialen Denken verbunden?

4. 
In unseren Gesprächen wird oft erkannt: Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phien bieten in ihren vielfältigen Entwürfen unterschiedliche Hinweise zur Fähigkeit der Menschen, ihre engen Grenzen zu überschreiten und sich dem im Denken zu nähern, was die Tradition Gott oder Transzendenz nennt.

5.
 Uns ist es wichtig uns zu zeigen, dass Menschen im philosophischen Bedenken ihrer tieferen Lebenserfahrungen das Endliche überschreiten und das Göttliche, das Transzendente, erreichen können. Das Göttliche als das Gründende und Ewige zeigt sich dabei im Denken als bereits anwesend und dieses denkende Transzendieren ermöglichend. Die auf das Wesentliche reduzierte Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie von Kant gilt uns als wichtige Inspiration für eine heutige vernünftige (!) christliche Spiritualität.

6.
 Insofern ist Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie auch eine subjektive Form der Lebensgestaltung, d.h. eine bestimmte Weise zu denken und zu handeln.
Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie kennt keine Dogmen, sicher ist nur das eine Dogma: Umfassend selbstkritisch zu denken und alle Grenzen zu prüfen, in die wir uns selbst einsperren oder in die wir durch andere, etwa durch politische Propaganda, durch Konsum und Werbung im Neoliberalismus, eingeschlossen werden. Der Widerspruch und der Kampf gegen alle Formen des Rechtsradikalismus (AFD, FPÖ, Le Pen, usw.) und Antisemitismus muss zum Mittelpunkt nicht nur unserer, sondern der philosophischen Arbeit insgesamt werden. Es gilt, die Demokratie zu retten.

7.
 Die „Entdeckungsreisen“ der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phien können angestoßen werden durch explizit philosophische Texte, aber auch durch Poesie und Literatur, Kunst und Musik, durch eine Phänomenologie des alltäglichen Lebens, durch die politische Analyse der vielfachen Formen von Unterdrückung, Rassismus, Fundamentalismus, Kapitalismus. Mit anderen Worten: Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie findet eigentlich immer – oft umthematisch – in allen Lebensbereichen statt.

8.
 Wo hat unser religionsphilosophischer Salon seinen „materiellen“ Ort? Als Treffpunkt, als Raum, eignet sich nicht nur eine große Wohnung oder der Nebenraum eines Cafés, sondern auch eine Kunst – Galerie. In den vergangenen 7 Jahren fanden wir in der Galerie „Fantom“ in Charlottenburg freundliche Aufnahme. Zuvor in verschiedenen Cafés. Kirchliche Räume, Gemeinderäume etwa, sind für uns keine offenen und vor allem keine öffentlichen Räume.

9. 
In unserem religionsphilosophischen Salon sind selbstverständlich Menschen aller Kulturen, aller Weltanschauungen und Philosophien und Religionen willkommen. Unser Salon ist insofern hoffentlich ein praktisches Exempel, dass es in einer Metropole – wie Berlin – Orte geben kann, die auch immer vorhandenen „Gettos“ überwinden.

10.
 Darum haben wir in jedem Jahr im Sommer Tagesausflüge gestaltet, mit jeweils 10 – 12 TeilnehmerInnen: Etwa nach Erkner (Gerhart Hauptmann Haus), Karlshorst (das deutsch-russische Museum), Jüterbog als Ort der Reformation, das ehem. Kloster Chorin, Frohnau (Buddhistisches Haus), das Dorf Lübars… Außerdem gestalteten wir kleine Feiern in privatem Rahmen anlässlich von Weihnachten. Auch ein Kreis, der sich mehrfach schon traf, um Gedichte zu lesen und zu meditieren, hat sich aus dem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon entwickelt. Aber alle diese Initiativen waren (und sind wohl) mühsam, u.a. auch deswegen, weil letztlich die ganze Organisation von den beiden Initiatoren – ehrenamtlich selbstverständlich – geleistet wurde und wird. Das ist der Preis für eine völlige Unabhängigkeit.

11.
 Anlässlich der „Welttage der Philosophie“, in jedem Jahr im November von der UNESCO vorgeschlagen, haben wir größere Veranstaltungen mit über 60 TeilnehmerInnen im Berliner AFRIKA Haus gestaltet, etwa mit dem Theologen Prof. Wilhelm Gräb, dem Theologen Michael Bongardt. Der Berliner Philosoph Jürgen Große hat in unserem Salon über Emil Cioran gesprochen, der Philosoph Peter Bieri diskutierte im Salon über sein Buch „Wie wollen wir leben?“, die Politologin Barbara Muraca stellte ihr Buch „Gut leben“ vor, Thomas Fatheuer von der Heinrich – Böll- Stiftung vertiefte das Thema; der evangelische Pfarrer Edgar Dusdal (Karlshorst) berichtete über seine Erfahrungen in der DDR; der Theologe der niederländischen Kirche der Remonstranten, Prof. Johan Goud (Den Haag), war zweimal bei uns zur Diskussion, öfter dabei waren Dik Mook und Margriet Dijkmans-van Gunst aus Amsterdam…

12.
 Es ist uns leider deutlich, dass innerhalb der philosophischen Studiengänge an Hochschulen und Universitäten nicht im entferntesten daran gedacht wird, auch das Berufsbild eines Leiters, einer Leiterin besser „Inspiratorin“ philosophischer Salons zu entwickeln. Damit PhilosophInnen freilich ,als Salonnières arbeiten können, müsste die Kulturpolitik entsprechend handeln. Aber die interessiert sich offenbar absolut vor allem für die so genannte Hochkultur der Oper und der Theater, nicht aber für eine Form der „Basis-Philosophie“ als Möglichkeit, vor Ort unter den vielfältigen Menschen tiefere Kommunikation zu ermöglichen.
Eigentlich bräuchte es etwa in Berlin in jedem Stadtbezirk mindestens einen philosophischen Salon, besser noch ein philosophisches „Haus“ mit öffentlich zugänglicher kleiner Fach – Bibliothek , Lesezimmer, Meditations- Denk-Raum und Tee/ Kaffee-Stube.Viele leerstehenden Kirchen könnten entsprechend umgestaltet werden. Dass dort auch philosophisch – literarische Debatten oder Diskussionen zu Grundfragen der Politik, der Kunst und Musik und Spiritualität stattfinden können, ist keine Frage.

13.
 Die Bilanz: Einige wenige Interessenten außerhalb von Berlin haben die Idee des religionsphilosophischen Salons aufgegriffen. Aber wir können nicht sagen, dass etwa im kirchlichen Bereich, evangelisch wie katholisch, die Idee des freien und undogmatischen und offenen Salon-Gesprächs aufgegriffen und realisiert wurde.
Je mehr Christen aus den Kirchen austreten, um so ängstlicher und dogmatischer werden die Kirchen(führer), also auch ihre Pfarrer usw. Der Weg der Kirche in ein kulturelles Getto scheint vorgezeichnet zu sein, zumindest für die katholische Kirche. Tatsächlich haben sich über all die Jahre unserer Arbeit sehr sehr wenige “Vertreter” der großen Kirchen für unsere Initiative überhaupt interessiert. Wir haben diese Ignoranz auch als Freiheit erlebt.

14.
 Hinweis zu unseren Themen:
Eine Übersicht unserer Themen im Salon von Februar 2020 bis 2015 finden Sie hier. Die Themen von 2009 bis 2015 werden demnächst dokumentiert. Die religionsphilosophischen und religionskritischen Hinweise von Christian Modehn, publiziert auf der Website www.religionsphilosophischer-salon.de, wurden bisher mehr als 2.300.000 „angeklickt“, was immer das inhaltlich auch bedeuten mag. (Stand 3.2.2025).

15.
 Unser letztes öffentliches Salongespräch vor der Corona – Pandemie fand am Freitag, den 14.Februar 2020 , wie immer um 19 Uhr, statt, über das Thema: “Das Kalte Herz”. Mehr als ein Märchen (von Wilhelm Hauff). „Das kalte Herz“ offenbart die “imperiale Lebensweise”. 22 TeilnehmerInnen waren dabei. Leider mussten wir – wie öfter schon – acht Interessierten absagen, weil der Raum eben klein ist und nur eine überschaubare Gruppe eine Gesprächssituation ermöglicht. Aber das große Interesse, ohne jede öffentliche Werbung, allein im Internet, und ohne jede Finanzierung von außen, ist immer wieder bemerkenswert. Für einige vertiefende Hinweise zur imperialen Lebensweise: Beachten Sie diesen LINK.

Wir haben unsere philosophischen, religionsphilosophischen und theologischen Gespräche im Salon als Ausdruck der Spiritualität der freisinnigen protestantischen Remonstranten – Kirche (in Holland) verstanden. Dabei haben wir, ebenfalls der offenen, freisinnigen Theologie der Remonstranten entsprechend, keine Werbung für diese protestantische Kirche “betrieben”.

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Dieser Hinweis vom 7.2.2023 wurde am 3.2.2025 überarbeitet.

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FUßNOTE 1: 
Gründer und Initiatoren des „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“:

Christian Modehn,  1948 in Berlin (Ost) – Friedrichshagen geboren, nach dem Abitur am Goethe – Gymnasium in Berlin – Wilmersdorf, Studium der katholischen Theologie (Staatsexamen nach 6 Jahren Studium in München, St. Augustin bei Bonn und der Philosophie (Magister Artium in München, über Hegel). Christian Modehn arbeitet seit 1973 immer als freier Journalist über die Themen Religionen, Kirchen und Philosophien, für Fernseh- und Radiosender der ARD, sowie früher auch für die Zeitschrift PUBLIK – FORUM: LINK, sowie auch für “Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt” (Hamburg), “Informations Catholiques Internationales” (Paris), “de bazuin” (Utrecht)  usw.. Zur Information über einige Hörfunksendungen und Fernsehdokumentationen und zu einigen Buchpublikationen klicken Sie  hier.

Hartmut Wiebus, 1944 in Seehausen/Altmark geboren, hat in Berlin (F.U.) Pädagogik (Diplomarbeit über Erich Fromm) und Psychologie studiert, und vor allem als evangelischer Klinikseelsorger gearbeitet. Er hat u.a. viele unserer Themen angeregt und immer als Moderator die Gespräche begleitet.

Copyright: Christian Modehn und Hartmut Wiebus. Religionsphilosophischer Salon Berlin

Jesus der Mensch: Der Weisheitslehrer.

Die Alternative zu der üblichen Behauptung: „Jesus ist Gott“
Ein Hinweis von Christian Modehn am 12.7.2025

1.
Dieser Beitrag macht einen ziemlich provozierenden Vorschlag: Jesus von Nazareth sollte wieder als ein Lehrer der Weisheit wahrgenommen werden und nicht als ein Gott, wie dies jetzt – angesichts des Jubiläums des Konzils von Nizäa („1.700 Jahre Konzil von Nizäa) – laut und breit von allen Kirchenführern behauptet wird.
Damit wird in unserem Beitrag zugleich betont: Jesus von Nazareth ist ein Lehrer einer Weisheit, die universell, für alle Menschen wichtig, hilfreich und orientierend sein kann. Und dieser Jesus von Nazareth ist aus den Gesetzen und Regeln seiner ursprünglichen jüdischen Religion, seiner „Volksreligion“, hinausgewachsen. Deswegen konnte er universell geltende Einsichten und Lebensweisheiten formulieren.

2.
Unser Thema kann also vielleicht ein angeblich ewig gültiges dogmatisches Gerüste ins Wanken bringen. Denn es ist ein Unterschied, ob Jesus als Gott liturgisch verehrt, in Bittgebeten angefleht, als Wundertäter erwartet wird… oder ob er als Weisheitslehrer dringend dazu ermuntert, für Gerechtigkeit, Solidarität, Frieden, Nächstenliebe praktisch, im Handeln, einzutreten, in diesen ver – rückten politischen Verhältnissen. Denn um Menschlichkeit geht es Jesus von Nazareth, nicht um Religion, die oft genug nur als Opium des Volkes oder als Vitamin für die Herrschenden missbrauch wird.
Wie alle Beiträge des “Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin” ist auch dieser Essay ein Hinweis… der in überschaubarer Länge zum Nachdenken und Weiterfragen ermuntert.

3.
Jesus von Nazareth „nur“ als Menschen wahrzunehmen, widerspricht der offiziellen, sich selbst rechtgläubig nennenden Kirchen – Dogmatik der großen christlichen Konfessionen. „Jesus als Gott“ und dann auch als „Person“ der Trinität zu bewerten ist eine, auch von politischen Herrschern durchgesetzte Konstruktion des 4. Jahrhunderts. Und die war schon damals hoch umstritten, sie ist überholt, das wissen Theologen, zumal, wenn sie heute an das faktische Glaubensbewusstsein der noch „praktizierenden“ Christen denken. Jesus als Gott: Diese Vorstellung hat zudem zu Kampf und Ausrottung anderer Religionen (vor allem der Juden und der Muslime und der kolonisierten „Heiden“ und vieler Skeptiker und Humanisten) geführt.

4.
Die ersten Zeichnungen und Bilder Jesu von Nazareth sind in den Priscilla-Katakomben in Rom zu finden, sie wurden in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts dort gemalt. Sie zeigen Jesus in der Gestalt eines Hirten, eines jungen Mannes, der ein Schäfchen auf seinen Schultern trägt. Bezeichnenderweise malten die ersten Christen Jesus in seiner Passion am Kreuz erst im 5. Jahrhundert. Wenn Jesus also zuallererst als „der gute Hirte“ dargestellt und verehrt wurde, dann wird damit auch die Bedeutung des Gleichnisses Jesu im Lukas-Evangelium (15,3-7) vom „guten Hirten“ anschaulich. Und dieses Bild eines menschenfreundlichen Jesus wird als Lebensorientierung empfohlen, auch angesichts des Todes, denn die Katakomben waren unterirdische Friedhöfe. (Fußnote 1)

5.
Diese Wandmalerei erinnert daran, dass Jesus von Nazareth seine Lehre, seine Weisheit und Botschaft in vielen schlichten Gleichnissen verbreitet hat. Bezeichnenderweise sind es ausschließlich weltliche Ereignisse und Erfahrungen, die Jesus dabei (in der Überlieferung der Evangelisten) in den Mittelpunkt stellt. Der international bekannte protestantische Bibelwissenschaftler Prof. Daniel Marguerat (Universität Lausanne) betont in seiner Studie „Vie et destin de Jesus de Nazareth“ (Fußnote 2): „Das Alte Testament präsentiert sehr wenige Gleichnisse. Und auch die von Rabbinen erzählten Gleichnisse sind nicht vor 70 n.Chr. entstanden. Was aber bei Jesus überrascht: Nicht weniger als 43 Gleichnisse werden Jesus in den Evangelien zugeschrieben. Das ist enorm.“ (S. 135). Ein Gleichnis, wie es Jesus erzählt, „schafft einen neuen Blick auf die Realität“ (S. 139). Mehr noch: „Das Gleichnis macht das Reich Gottes sichtbar“ (S. 143), das Reich Gottes als Ideal der Gerechtigkeit und des Friedens ist Mittelpunkt der Lehre Jesu: „Das Gleichnis Jesu gestaltet förmlich das Reich Gottes, das nicht in einem Jenseits oder in einer Zukunft sich befindet, sondern es entwickelt sich wie eine Übertreibung in der Ordnung des Alltags.“ (S. 148).

6.
Wenn die zentralen Gleichnisse Jesu so weltlich, so allgemein – menschlich sind: Wie interpretiert der Jude Jesus dann die Thora? Was unterscheidet seine Interpretation von der offiziellen jüdischen Lehre?
Der Historiker und Exeget Daniel Marguerat nennt treffende Beispiele, sie machen die Distanz Jesu von Nazareth zum Judentum seiner Zeit deutlich. (S. 162 ff.):
Jesus heilt am Sabbat, und er stützt sich dabei auf übliche, alltägliche Lebenserfahrungen seiner Zuhörer: Etwa: Als Jesus einen Mann mit einer verdorrten Hand heilt, begründet er sein Verhalten: „Wer von euch wird, wenn ihm am Sabbat sein Schaf in eine Grube fällt, es nicht sofort wieder herausziehen? Um wieviel mehr ist ein Mensch wert als ein Schaf?“ Maguerat schreibt: „Also heilt Jesus den Kranken auch am Sabbat.“ (Matthäus, 12,12.)
Die Liebe zum Nächsten und die Liebe zu Gott sind gleich viel wert (Markus, 12, 28 f.) „Es gibt keine Hierarchie zwischen den beiden Weisungen, den Nächsten und Gott zu lieben.“Und weiter: „Die Nächstenliebe ohne jede Einschränkung ist der Liebe Gott gegenüber gleichwertig, und das kann man nirgendwo anders lesen als in den Lehren Jesu“ (S. 163).
Jesu Lehre über das Reine und Unreine verändert die üblichen Vorstellungen im Judentum: Nicht der Kontakt mit einem für unrein gehaltenen Menschen ist unrein und religiös verboten, sondern das falsche Bewusstsein der sich für rein haltenden religiösen Menschen, wenn sie „Unreine“ ausgrenzen. Es geht Jesus um eine neue, eine inklusive, weite Gemeinschaft über die religiösen Gesetze hinaus „(S. 172). Zusammenfassend sagt Daniel Marguerat: „Ich zeige evident die Originalität der von Jesus praktizierten Positionen: Ebenso in seinem Verstehen des Reiches Gottes wie in seiner Interpretation der Thora.“ ( S. 174). „Das unergründliche göttliche Mitgefühl für die Menschen duldet in Jesu Augen keinen Kompromiss, besonders dann, wenn man sich auf das jüdische Gesetz stützt, um sich von den Bedürfnissen des anderen Menschen zu distanzieren. Weder der Sabbat, noch die Sorge um kultische Reinheit, noch die Heiligkeit Israels dürfen in Jesu Lehre dem Kommen des Reiches Gottes widerstehen.“ (S. 178).

7.
Im Unterschied zu den Gebeten seiner Zeitgenossen, ist das Gebet Jesu einfach und nüchtern: Selbst wenn Jesus vom Reich Gottes spricht, nennt er Gott niemals „König“. Jesus gebraucht nur einen Titel für Gott: Er ist „Vater“, auf Aramäisch nannte Jesus ihn „Abba“, „Papa“. Gott ist nicht der ferne Herrscher und Richter, sondern nur erfüllt von Mitleid und Güte und Großzügigkeit. Diesem Gott, dem Vater, „Papa“, gilt es radikal Vertrauen zu schenken. Im „Vater Unser“, DEM Gebet Jesu, fordert Jesus die Frommen auf, in ihren Bitten vor allem um eine Verbesserung des Lebens in der Welt zu beten. Von religiösen Kult und seinen Gesetzen ist keine Rede.

8.
In welcher Weise war Jesus also Jude? Diese provozierende Frage wird unseres Erachtens eher selten in christlich – theologischen Kreisen gestellt… Ausgangspunkt für diese Frage muss sein: „Jesus hat in Galiläa gelebt, vor allem dort gewirkt und gepredigt. Und erst am Ende seines Lebens ist er nach Judäa, nach Jerusalem, gezogen, „das geistige wie religiös-politische Zentrum des Judentums“, betont der katholische Theologe Prof. em. Hermann Baum (Uni Köln) in seinem Buch „Die Verfremdung Jesu und die Begründung kirchlicher Macht“ (Fußnote 3).
Galiläa ist anders als Judäa! Das ist entscheidend, um das besondere Profil Jesu von Nazareth zu verstehen: Zu Galiläa gehörten weite Teile des Sees von Genezareth. „Ein für die damalige Zeit gut ausgebautes Straßennetz erlaubte rege Handelsbeziehungen und führte damit auch zu einer offeneren Geisteshaltung der Bevölkerung.“ (S. 23). „Die Galiläer hatten den Ruf, rebellisch zu sein und zu aufrührerischen Ideen zu neigen. Hier traten in besonders auffälliger Zahl weise Männer (Chassidim) auf, die als Wanderprediger und Wunderheiler wirkten, Jesus war einer von ihnen“ (ebd.). Hermann Baum erwähnt dann das besondere Sendungsbewusstsein Jesu: Er war „aggressiv gegen die religiöse Führungsschicht (Pharisäer und Schriftgelehrte)“, er hatte „ein ambivalentes Verhalten gegenüber dem jüdischen Gesetz“ (S. 34).

9.
Als Jesus in Jerusalem ankam, besuchte er den Tempel … und distanzierte sich aufs heftigste vom Tempelkult. (Markus 11,15-18). Dabei steht gar nicht die viel besprochene Vertreibung der gierigen Händler aus dem Tempel im Mittelpunkt. Wichtiger ist, dass Jesus den Vorhof des Tempels als solchen kritisiert  – über seine Verurteilung der Händler dort hinaus – und damit die Struktur des Tempels überhaupt: im Vorhof hielten sich die Händler auf, und nur bis dorthin durften auch die Heiden den Tempel betreten: Dieser Bereich war wie eine Art Schleuse, betont Daniel Marguerat (S. 246): Weiter in den Tempel eintreten durften nur die Juden. Wer als Nicht – Jude diesen reservierten jüdischen Bezirke betrat, sollte mit dem Tode bestraft werden, so war es auf speziellen Schildern, Tafeln, vermerkt. „Die Aktion Jesu im Tempel versuchte tatsächlich, sicher symbolisch, diese Prozedur zu blockieren mit der sich die gläubigen Juden von der unreinen Welt der Heiden abgrenzten“ ( S. 247). Jesus lehrt hingegen: „Gott ist erreichbar für alle, ohne Diskriminierung.“ (Ebd.) Dieses Handeln Jesu empörte die hohen Priester und Schriftgelehrten … und sie beschlossen, Jesus, den Rebellen und Gesetzesbrecher, den Römern zu übergeben.

10.
In theologischen Publikationen der letzten Jahre wird die besondere Form des Judentums Jesu von Nazareth, durchaus mutig und zugespitzt formuliert, von Religionswissenschaftlern und Theologen, die dabei eher einen Essay, einen Denkanstoß, vorlegen, so etwa Alfons Rosenberg: Der Autor, Künstler und Religionswissenschaftler (1902-1985), hat kurz vor seinem Tod den Essay „Jesus der Mensch. Ein Fragment“ verfasst( Fußnote 4). Er will darin den „originalen Jesus“ in seiner Sicht vorstellen (S. 8). Alfons Rosenberg ist vom Judentum zum Christentum konvertiert. Seitdem ist für ihn die Erkenntnis entscheidend: Jesus ist zwar in Galiläa als Jude großgeworden, er ist also ein „Jude von Herkunft“ (S. 30). Jesus hat aber wie alle religiös authentischen Menschen auch eine religiöse und theologische „Entwicklung“ (S. 26) erlebt und ist dabei, so wörtlich, „über das Judentum hinausgewachsen“ (S.36 )und aus dem Judentum „hinausgeschritten“ (ebd.). Unter dieser Voraussetzung kann Rosenberg betonen: Jesus ist „eine Verkörperung der Fülle des Menschseins“ (S. 17). Er ist nicht mehr an seine Volksreligion und ihre Vorschriften gebunden, sondern an universeller menschlicher Weisheit interessiert. Alfons Rosenberg schreibt sehr pointiert, Jesus habe mit der „Zwangsherrschaft der Thora gebrochen“ (S. 34).
Die Frage bleibt: Aber warum haben die Autoren des Neuen Testamentes so viele Zitate aus der hebräischen Bibel auf Jesus bezogen? Die Antwort von Alfons Rosenberg: Die Evangelisten standen förmlich nach Jesu grausamen Tod unter Schock und wollten das Unerhörte der für sie wichtigen Jesusbotschaft abmildern, indem sie „diese Botschaft mit den Schriften des AT versöhnen wollten“. Sie haben Jesu Verkündigung deswegen als eine Fortsetzung der Thora propagiert. Und Alfons Rosenberg meint: Dadurch haben „die Jünger und danach die Evangelisten die freie und unabhängige Verkündigung Jesu gleichsam rejudaisiert.“ (S. 47).

11.
In seinem Essay „Quo vadis? – Das Christentum am Scheideweg zur Moderne“ entdeckt der Theologe im Dominikanerorden Dr. Richard Glöckner, Jesus von Nazareth als Weisheitslehrer. Er will die aus neuplatonischen Zeiten stammende Verehrung Jesu als des Gottes-Sohnes zurückzustellen. Und Jesus als `den` Juden einfach und undifferenziert zu bekennen, findet auch Richard Glöckner zu oberflächlich. Glöckner schreibt: Jesus lebte im Kulturraum Galiläas, „in einer religiösen Atmosphäre, die insgesamt eher heidnisch – hellenistischem und jüdisch – heterodoxem Habitus entspricht“, also anders als die orthodoxe religiöse Welt in Jerusalem. „Jesu Sprache ist durchsetzt mit Bezügen auf die Natur seiner galileischen Umwelt.“ ( S. 140)… „Gottes Fürsorge für die Menschen belegt Jesus mit Hinweisen auf den überfließenden Reichtum des Lebens in der Natur… Jesus spricht hier außerhalb der üblichen jüdisch – heilgeschichtlichen Traditionen und Vorstellungen“ (S. 144). Für ihn sind in seiner Ethik (und seinem Lebensstil) nicht „irgendwelche religiösen (jüdischen) Gebote“ zentral. Sondern: „Was für Jesus allein zählt, ist ein Handeln gemäß allgemein gültiger, menschlicher Anforderungen“ (S. 147). Deswegen betont auch Richard Glöckner: Jesus von Nazareth ist über „das“ Judentum seiner Volksreligion  „hinausgewachsen“.
Und das hat Konsequenzen: „Die Umkehr (also die Bekehrung des Menschen) im Sinne Jesu erweist sich in der Befolgung allgemein gültiger Regeln menschlichen Zusammenlebens: Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit und Gewaltlosigkeit“ (S. 142).
Glöckner muss eingestehen: „Diese Ansätze sind von der Kirche nicht aufgenommen und weiterentwickelt worden“ (S. 144). Denn: Jesus wurde zum Gott erklärt…Siehe die Konzilien von Nizäa und Konstantinopel im 4. Jahrhundert, LINK .

12.

Unser Thema führt weiter die Frage zu vertiefen: Welche Bedeutung hat das Judentum für Jesus von Nazareth? Und: Welche Bedeutung hat das Alte Testament – auch heute – für die Kirchen? An diese schwierigen Fragen hat sich der protestantische Theologe Professor Notger Slenczka von der Humboldt Universität Berlin gewagt. Sein Forschungs-Thema hat im Hintergrund die Arbeiten des großen protestantischen Theologen Adolph von Harnack in dem Buch „Das Wesen des Christentums“, 1899.
Notger Slenczka hat also 2013 den Aufsatz (36 Seiten) über „Die Kirche und das Kalte Testament“ veröffentlicht. (Fußnote 6). Die entscheidende Erkenntnis: Das „Alte Testament“ ist ein Zeugnis der Religion des Jüdischen Volkes, sozusagen Ausdruck der jüdischen Volksreligion. Slenczka schreibt: „Das Alte Testament ist also die Identität stiftende Urkunde einer anderen (gegenüber dem Christentum anderen) Religionsgemeinschaft. Dieses Bewusstsein der Unterscheidung von Kirche und Judentum als zweier Religionsgemeinschaften hat sich – jedenfalls in der abendländischen Christenheit – durchgesetzt und auch in der Deutung des Verhältnisses der Urchristenheit zum zeitgenössischen Judentum niedergeschlagen. Damit wird aber das Alte Testament zu einem Dokument einer Religionsgemeinschaft, die mit der Kirche nicht identisch ist.“ Und weiter: „Im Alten Testament wird es für den Christen schwierig, das alttestamentliche Gottesverhältnis als Ausdruck des Gottesverhältnisses zu lesen und zu verstehen, das ein christlich-religiöses Bewusstsein ausspricht und das der Christ in den Texten des NT wieder erkennen und begründet sehen kann.“
Wir deuten den Beitrag Slenczkas so: Damit wird das Alte Testament nicht etwa degradiert, es wird nur als eigenständiges Buch der jüdischen Volksreligion anerkannt, das als solches ja auch Impulse für ein humanes Leben der Menschheit bietet. Aber die universell gedachten Lehren des Weisheitslehrers Jesus von Nazareth sind insgesamt von weiter reichendem Anspruch. Und es ist problematisch, wenn nicht sogar übergriffig vonseiten der Christen, wenn sie bis heute die Kirche als „das NEUE VOLK GOTTES“ definieren und damit sagen: das “Alte Volk Gottes” (fast das einstige, ehemalige Volk Gottes) sind die Juden. Das Neue Volk Gottes wurde lange Zeit als das wahre Volk Gottes (die christliche Rede: „Das wahre Israel“) definiert, und das durchaus mit antisemitischem Unterton. Wenn die Kirchen die jüdische Religion als eine wertvolle, aber andere Religion anerkennen, kann vielleicht etwas mehr Friede eintreten im Umgang der Christen mit den Juden. Christen und Kirchen können Juden förmlich „in Ruhe lassen“ und als die „anderen“ respektieren und achten, weil Christen und Kirchen nicht mehr religiös mit dem Judentum absolut verklammert sind und als „Besserwisser“ des Alten Testaments auftreten müssen. Und dabei die Juden als die „störrischen“ Interpreten ihrer Bibel verachten müssen.

13.
Aber wie zu erwarten: Vom dem durchaus konstruktiven Aufsatz Notger Slenczkas haben sich etliche seiner Kollegen an der Fakultät der Humboldt – Universität am 15.4.2015 öffentlich (!) distanziert, genauso wie es auch die „Gesellschaft für christliche jüdische Zusammenarbeit“ pflichtbewusst tun musste. Diese Damen und Herren wollen offenbar nicht sehen, dass nichts Antisemitisches in den Erkenntnissen Slenczkas enthalten ist: Im Gegenteil: Seine Gedanken können, wie gesagt, die Kirchen befreien, von allen übergriffigen und anmaßenden kirchlichen Interpretationen des Alten Testaments, die ja bekanntlich jüdische Theologen sehr stören. Es interessant, dass die jüdische Theologin Prof. Hanna Liss (Heidelberg) in dem Zusammenhang betonte: „Ich finde es verwunderlich, dass die These von Slenczka eine solche Aufregung unter den Christen verursacht haben“ (Fußnote 7).

14.
Es zeigt die Bedeutung unseres Themas zu zeigen, dass selbstverständlich einige Philosophen Jesus als Weisheitslehrer gewürdigt haben und würdigen. Immanuel Kant etwa. Vor allem seine Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ von 1793, ist wichtig. (Fußnote 8). Wenn Kant vom Ursprung des Christentums spricht (B 190), dann bezeichnet er das Christentum „als eine völlige Verlassung“, also als einen Austritt aus dem Judentum. Kant sieht das Christentum auf einem neuen Prinzip gegründet, es bewirkt, so betont er, eine gänzliche Revolution in Glaubensdingen“ (B 190). Jesus als „der Lehrer des Evangeliums“ (B 191) setzt sich vom jüdischen Gesetzes-Glauben ab, Kant nennt ihn„Fronglauben“ (ebd., also „unterdrückenden Glauben). Jesus der Weisheitslehrer lehrt aber eine Religion, „die sich in jedem Menschen in seiner Vernunft offenbaren kann.“ (B 193 und B 255).
Jesu Weisheitslehre ist “allen Menschen durch ihre eigene Vernunft fasslich und überzeugend“. Dieser universelle Aspekt ist für Kant entscheidend. Jesus lehrt keine Religion, in der äußerlich zu erfüllende Gesetze wichtig sind, sondern eine Religion, die einzig ein moralisch gutes Leben (also in der Praxis!) fordert. (B 254). Der Hintergrund ist: Jesus ist der Lehrer der Bergpredigt: Kant betont: Jesus verwandelt dort Rache in Duldsamkeit, Haß auf Feinde in Wohltätigkeit (B 241). Und das absolute Zentrum seiner Weisheitslehre ist die Ermahnung: „Liebe Gott als den Gesetzgeber aller Pflichten (B 242), und: „Liebe jeden Menschen wie dich selbst.“ Sehr viel mehr muss eine allgemeine Vernunftreligion nicht herausstellen. Selbstverständlich haben die Kirchen diese Einsicht Kants bekämpft…

15.
Der polnische Philosoph Leszek Kolakowski hat noch als Sozialist in Polen, also vor seinem Exil in London und seinem dann starken Interesse am Christentum, Jesus von Nazareth als Weisheitslehrer vorgestellt, Kolakowski hielt 1965 den Vortrag mit dem Titel „Jesus Christus – Prophet und Reformator“. (Fußnote 9). Es ist nicht zu übersehen, dass außerhalb der dogmatischen Kirchen, im unabhängigen Denken von Philosophen, Jesus als Weisheitslehrer und „nur“ als Mensch viel Beachtung und Respekt findet. Jesus „nur“ als Weisheitslehrer oder als „Prophet und Reformator“ zu deuten: So können Menschen Orientierung, Trost und Zuversicht finden. Und zwar mit reflektierten Gründen, nicht mit Behauptungen etwa aus der Mythologie. Menschen können also in dem Menschen Jesus von Nazareth genau das wahrnehmen, was die dogmatischen Kirchen immer als “Effekt“ der Erlösung durch den Gott Jesus Christus hinstellen. Nämlich Befreiung von Egoismus, Eintreten für Gerechtigkeit, Nächstenliebe…

16.
Der aus Israel stammende Philosoph Omri Boehm ist deutlich von Kant inspiriert. Er folgt dessen Spuren und weist nachdrücklich darauf hin: Nicht die Religion mit ihren Gesetzen, auch nicht der religiös verehrte Gott, stehen für die Menschen der monotheistischen Religionen an der obersten Spitze des Respekts, sondern die universell geltende Idee der Gerechtigkeit. In seinem grundlegenden Buch „Radikaler Universalismus“ (Fußnote 10) bezieht sich Omri Boehm auf das eigenständige Verhalten Abrahams seinem fordernden und offenbar zerstörerischen Gott gegenüber: Im Mythos von Sodom und Gomorrah tritt Abraham für die Rettung einiger gerechter Menschen dort ein, um der „Gerechtigkeit Gottes willen“, der auch ER, Gott, unterstellt ist!
Und auch der Mythos, als Gott Abraham die Tötung seines Sohnes Isaac befiehlt, wird von Boehm ungewöhnlich interpretiert: Denn nicht wegen des in letzter Minute eingreifenden Engels wird die Ermordung Isaacs verhindert, sondern durch Abrahams eigene freie Entscheidung, er entdeckt nämlich das Lamm als Alternative zur Opferung seines Sohnes. Abraham handelt frei, aber ungehorsam Gott gegenüber. Gott steht unter dem universellen Prinzip der Gerechtigkeit. Gott muss sogar gerecht sein, um dem Anspruch, Gott zu sein, zu entsprechen (S. 54): „Abrahams Punkt ist, dass eine universalistische Moral nur über der Gottheit stehen kann“ (ebd). Aufgrund der universellen Gerechtigkeit (die ausnahmslos ALLEN Menschen immer gilt) ist es richtig „Gottes Autorität zu widersprechen“ (ebd.). Hier wird sozusagen die Kritik Jesu an der etablierten jüdischen Religion, ihrer Gesetze und Gebote, schon in der Abrahamas-Geschichte entdeckt.

17.
Ich erwähne nur noch den aus heutiger Sicht etwas unholfenen, aber beim Publikum damals äußerst erfolgreichen Essay des Religionswissenschaftlers Ernest Renan mit dem Titel „Vie de Jesus“ von 1863. Darin wird Jesus „entsakralisiert“, von seiner Gottheit befreit und auf eher romantische und geradezu leidenschaftliche Weise als großartiger Mensch den Menschen nahegebracht.
Ich erwähne weiter, viele werden es nicht für möglich halten, ausgerechnet Friedrich Nietzsche in dem Zusammenhang! Nietzsche, zweifellos ein äußerst heftiger Kritiker des Christentums, hielt allerdings viel von Jesus von Nazareth: Für Nietzsche „gab es nur einen Christen, und der starb am Kreuz“, so im „Antichrist“ §39. Nietzsche meint, man muss „Jesus als das wärmste Herz denken“, so in “Menschliches -Allzumenschliches“ §475. „ Jesus war ein freier Geist, denn er machte sich aus allem Festen nichts“, „Antichrist“ § 32. Jesu Botschaft lautet für Nietzsche: „Das wahre Leben, das ewige Leben, ist gefunden – es wird nicht verheißen, es ist da, es ist in euch: Das Leben in der Liebe, in der Liebe ohne Abzug und Ausschluss, ohne Distanz.“ ( Antichrist, § 29).
Das Interesse an Jesus von Nazareth „nur“ als Menschen bei kirchenkritischen Philosophen, Literaten und Künstlern wäre eine ausgebreitete Studie wert, sie könnte zeigen: Trotz der dogmatischen kirchlichen Verherrlichung Jesu als eines Gottes gibt es einen breiten Strom von Menschen, die Jesus „nur“ als Menschen einer universell interessanten Weisheitslehre verstehen. Auch die Vielfalt der Weisheitslehrer und die Bedeutung Jesu unter ihnen wäre ein eigenes Thema.

18.
Zu einigen heutige Theologen, die sich mit Mühe und oft auch auch mutig für Jesus als den Menschen und Weisheitslehrer einsetzen: Sie haben also vor allem ihre Mühe, in Jesus von Nazareth den Jesus Christus als den Gott bzw. Gottessohn bzw. als die zweite Person der göttlichen Dreifaltigkeit öffentlich zu verteidigen. Es ist also keine Frage, dass sich etwa prominente katholische Theologen als von der Kirche abhängige und von der Kirchenleitung kontrollierte Professoren der kirchlichen Dogmatik schwertun, heute den Menschen zu erklären, wie und warum denn Jesus von Nazareth nun Gott sein soll. An den prominenten katholischen Theologen Karl Rahner ist in dem Zusammenhang zu erinnern: In einem seiner vielen Beiträge zur Lehre von Jesus Christus („Christologie“ genannt) unter dem Titel „Ich glaube an Jesus Christus“ (Fußnote 11) bemüht sich Rahner in höchsten Sphären der Reflexion und Spekulation um eine schwierige Nuancierung, wenn er schreibt: „Jesus IST Gott: Diese Aussage `IST` hat einen Sinn, wie er sonst nirgends (!) in der Sprache vorkommt… Im normalen Sprachgebrauch setzt ein solches IST eine Identität.“ Und dann bemüht sich Rahner weiter, das Besondere dieser exklusiven Identität verständlich zu machen: Wir zitieren die ersten Sätze: „Hier aber ist das IST nur Einheit in bleibender Unterschiedenheit der geeinten Wirklichkeiten Gottes und der Menschen“ …usw. Nach einer langen und hoch komplizierten weiteren Reflexion muss Rahner dann aber zum Schluss zugestehen: „Vielleicht ist dies alles sehr abstrakt und mühsam…nur schwer in Begriffe zu übersetzen, zumal dies mit der Tiefe der Unsagbarkeit Gottes erfüllt ist.“ (S. 47.) Die „Tiefe der Unsagbarkeit Gottes“ trotzdem genau aussagen zu wollen, erscheint dann doch gewagt… Aber so muss nun die klassische katholische Dogmatik ablaufen, mit dem Ergebnis: Sie weiß zu viel Gott (siehe etwa das Trinitätsdogma oder da Erbsündendogma!) Und die Theologen und dogmatischen Prediger wissen auch,, dass ihre Gläubigen das Hochspekulative auch nicht verstehen, aber immer treu beteuern: „Ja ja, das glauben wir auch…“
In anderen Aufsätzen zeigt sich Rahner hingegen grundlegend nachvollziehbarer: Da ist er ganz der „anthropologische Theologe“, der in alltäglichen Lebenserfahrungen die Anwesenheit Gottes wahrnimmt, also dabei den aus dem Alltag stammenden Lehren des Weisheitslehrers Jesus von Nazareth sehr nahe kommt. Das ethisch gute Leben also ist für Rahner – Jesus folgend – der wahre Dienst an Gott: Nächstenliebe und Gottesliebe als Einheit zu verstehen ist das Zentrum des Glaubens. Rahner schreibt: „Es geht im Leben nur darum, das eine zu tun: Gott und den Nächsten zu lieben, und wir können Gott nicht anders lieben, als dass wir ihn in unserem Nächsten lieben. Dort, wo wir das tun, haben wir dann wirklich das Gesetz erfüllt (!) … Nur wenn wir begreifen, dass es eine wirklich letzte Einheit zwischen Gottes – und Nächstenliebe gibt, verstehen wir eigentlich, was das Christentum ist, und welche göttlich EINFACHE SACHE DAS CHRISTENTUM IST.“ (Hervorhebungen von C.M., Fußnote 12).

19.
Jesus als Lehrer der Weisheit – dieser Hinweis berührt nicht etwa ein bloß marginales Thema im ganzen der Theologien und der Kirchen. Nur wenn Jesus als Mensch und als universell inspirierender Lehrer von Weisheit wahrgenommen wird, als Mensch und nicht als Gott, können sich die Kirchen befreien z.B. von ihrer erstarrten Sprache ihrer Liturgien und Gottesdienste, sie können sich vor allem befreien von der bis heute üblichen, aber geradezu pervers erscheinenden Erlösungslehre: Sie behauptet: Gott hebt das durch die Erbsünde entstandene Unheil der Menschen und der Welt dadurch auf, dass er seinen eigenen Sohn (Christus, den Logos) in die Welt sendet: Und dieser Christus muss sich aufopfern, so will es Gott -„Vater“, und Jesus stirbt qualvoll am Kreuz, den „Erlösungstod“, wie es im offiziellen Katechismus der „Katholischen Kirche“ § 571, vor allem § 601 heißt…
Und dann, so muss man angesichts dieser mittelalterlichen, aber bis heute gültigen Erlösungslehre (man lese nur einmal die üblichen Kirchen-Lieder zum Karfreitag!) fragen: Ist denn die Welt und sind sie Menschen nach dieser grausamen „Theologie“ erlöst, ist nach dem qualvollen Tod von Gottes Sohn Christus alles wieder heil auf dieser Welt? Eine Antwort darauf verschweigen die Kirchen gern, die Antwort kann aber nur heißen: Nein, natürlich nicht! Denn nur die irgendwie unsichtbare, aber bloß behauptete Macht der Erbsünde ist irgendwie vernichtet, aber nur unter der Voraussetzung, die Menschen lassen sich taufen. Dann ist also – nicht spürbar, nicht wahrnehmbar – das Erbsünden – Unheil verschwunden, nicht aber die Fähigkeit der Menschen, weiterhin wie immer Böses zu tun, also zu sündigen. Der qualvolle Tod des Gottessohnes hat also nur eine nicht wahrnehmbare, nur behauptete, daher geredete Wirkung. Die mit Christus als Gottes – Sohn operierende Theologie erscheint nur wie ein ideologisches Konstrukt.
Darum noch einmal: Wird hingegen Jesus als Weisheitslehrer, „nur“ als Mensch wahrgenommen, kann er als inspirierende Person, als Vorbild vielleicht, für eine humane Lebensgestaltung respektiert und anerkannt werden: Dabei zählen dann Argumente und Einsichten, und nicht eher mysteriöse Behauptungen.

20.
Unser Thema beschäftigt selbstverständlich auch Menschen, die sich außerhalb Europas, etwa in Lateinamerika und seiner Befreiungstheologie, mit Jesus befassen. Von der Befreiungstheologie inspiriert hat der schweizerische katholische Theologe Dr. Urs Eigenmann einen ausführlichen Essay publiziert mit dem Titel „Das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit als himmlischer Kern des Irdischen“ (Fußnote 13).
Die Jesus Gemeinde der ersten zwei Jahrhunderte war in der Sicht Eigenmanns eine „nicht-religiöse Reich-Gottes-Bewegung“ (S. 154), sie war ein besonderer Humanismus, den Eigenmann etwas kompliziert einen „pauperozentrischer Humanismus“ nennt, d.h. einen Humanismus, in dem die Entwicklung der Menschenwürde der Armen und Unterdrückten vorrangig im Mittelpunkt steht. Diese Einsicht sollte sich heute durchsetzen: Jesus von Nazareth als der Initiator dieser humanistischen Bewegung: .„Jesus bezeugte also das Reich Gottes als säkular-universale, egalitär-solidarische Vision gesellschaftlichen Zusammenlebens“ (S.143). „Das letzte Kriterium zur Beurteilung eines menschlichen Lebens ist für Jesus nicht etwa das religiöse Bekenntnis dieser Person, auch nicht ihr liturgischer Vollzug …Vielmehr ist das einzige Kriterium eine solidarisch-heilend-befreiende Praxis“ (S. 145-146). Dieser Humanismus zugunsten der Armen „kann als himmlischer Kern des Irdischen bezeichnet werden.“ ( S. 150). Das Christentum als eine humanistisch fundierte religiöse Bewegung: Das ist ein weitreiches Thema. Ob es in den Kirchen noch wahrgenommen wird in ihrer dogmatischen Erstarrung? Sehr zweifelhaft, eher aussichtslos. Trotzdem kann man das Thema ja mal formulieren…

21.

Das große, seit Jahrhunderten bestehende Problem der Verkündigung der kirchlichen Dogmen in außereuropäischen Kulturen kann in diesem Beitrag  gar nicht angesprochen werden! Es geht um die Frage: Welche Bedeutung hat die Kenntnis und Übernahme des Alten Testaments und seiner durchaus objektiv vorhandenen verstörenden Ideologien (Gewalt, Rache, Umgang mit Heiden usw…) für Menschen etwa am Amazonas oder in Indien oder in Japan: Müssen Menschen, die dort Christen werden wollen, die Bücher des Alten Testaments kennen und an deren Inhalt auch als Teil ihres Glaubens annehmen? Die vernünftige Antwort kann unseren Überlegungen folgend nur Nein heißen. Die “Inkulturation” des Christentums in nicht-europäische Kulturen (“Mission” genannt, auch ein höchst problematischer Begriff im Blick auf die Kolonialismuskritik) ist ohnehin schon schwierig genug. Angesichts der heutigen Situation der Welt und aller ihrer vielfältigen Katastrophen ist es auch für Menschen im globalen Süden einzig hilfreich, Jesus als Lehrer einer humanen Weisheit vorzustellen oder seine Weisheit ins Gespräch der dortigen Kulturen zu bringen. Aber TheologInnen, für die die Bindung der Kirche an das ganze Alte Testament ungebrochen wesentlich und als unaufgebbar betrachtet wird, ist die genannte Großzügigkeit des Beiseitelegens vieler alttestamentlicher Bücher für Menschen am Amazonas etc. eher skandalös. Die Judaistin und evangelisch – reformierte Theologin Kathy Ehrensperger sagt in dem genannten Beitrag in der Herder Korrespondenz lapidar: “Die jüdische Komponente halte ich allerdings für so relevant, dass wir sie auch beim Transfer (“kirchliche Mission” ist gemeint, CM) in andere kulturelle Kontexte nicht vernachlässigen dürfen” (a.a.O, siehe Fußnote 6A). Na dann müssen Christen am Amazonas z.B. oder in Neu Delhi zunächst doch erst einmal mit der jüdischen Religionsgeschichte (Altes Testament) vertraut gemacht werden, bevor sie etwas Hilfreiches und sehr Elementares und Menschenliches vom Weisheitslehrer Jesus von Nazareth hören…Es wurde in der “Missionswissenschaft” meines Wissens nie empirisch untersucht, was denn Menschen außereuropäischer Kulturen vom Alten Testament tatsächlich verstanden haben und wichtig – hilfreich fanden? Natürlich werden Missioanre sagen, die Mythen der Hebräischen Bibel regen doch auch die mythologische Phantasie der Völker in Ghana oder Kongo an… Der große protestantische Theologe Adolph von Harnack hat schon recht, wenn er sagte: Wichtig und interessant für Christen sind Psalmen und prophetische Reden im Alten Testament.

22.
Wir plädieren für eine radikale Wende zum Menschlichen, zum Humanen, zum Menschen in den Kirchen und damit für die Zurückstellung der klerikalen, nur religiösen , nur liturgischen Kirchenwelt. Um die allseitige Förderung der Menschen, der Armen zumal, geht es, weil ihre Würde überall in Gefahr ist und die Politik in die Hände der Diktatoren gerät.
Und dieses humane Projekt wird nur gelingen, wenn das Zentrum der Kirchenlehre, und dies ist „Jesus ist Gott“, korrigiert wird, aufgehoben wird, zugunsten von: Jesus ist „nur“ Mensch und als Mensch ein Lehrer der Weisheit. Dass mit dieser begründeten, immer wieder geäußerten Forderung  fast das ganze Gebäude der Kirchenlehren umgestaltet, wenn nicht abgerissen werden muss, ist zweifelsfrei. Die Kirchen in Europa nehmen zwar Abschied von der „alten Volkskirche“, zu einer schrumpfenden Minderheitenkirche. Will die Kirche nicht zur Sekte werden, muss sie auch entschieden Abschied nehmen von der überzogenen, falschen Formel „Jesus ist Gott“.  Nein: Jesus ist ein Mensch. Und deswegen ist seine Weisheit inspirierend für Menschen, auch für Christenmenschen, die, wenn sie wollen, wie Jesus seinen Gott auch ihren Gott als ihren „Vater” bekennen und hoffentlich als solchen auch erleben.

23.
Uns hat bei unserer Reflexion ein Wort des katholischen niederländischen Theologen Edward Schillebeeckx inspiriert: „Wir müssen vernünftig Glaubende sein! Der Fundamentalismus in den Religionen, auch im Christentum, führt zum Obskurantismus, also zur geistigen Verwirrung“. (Fussnote 14).

……

FUßNOTEN:

1: Johann Hinrich Claussen, „Gottesbilder. Eine Geschichte der christlichen Kunst.“ C.H.Beck Verlag, München, 2024, S. 36 ff.

2. Daniel Marguerat, „Vie et destin de Jesus de Nazareth“, Editions du Seuil, Paris, 2019. Die Übersetzungen sind von Christian Modehn, die Seitenangaben beziehen sich auf dieses Buch. Das Buch ist auch auf Deutsch erreichbar:

3. Hermann Baum, „Die Verfremdung Jesu und die Begründung kirchlicher Macht“, Düsseldorf 2006, zit. S. 36.

4. Alfons Rosenberg „Jesus der Mensch. Ein Fragment“ (Kösel -Verlag, 1986). Dass Alfons Rosenberg nicht mit Alfred Rosenberg verwechselt werden darf, bedarf eigentlich keines Hinweises.

5. Richard Glöckner, „Quo vadis? – Das Christentum am Scheideweg zur Moderne“ Lit Verlag, Münster 2023, 170 Seiten.

6. Notger Slenczka: „Die Kirche und das Alte Testament“. In: Elisabeth Gräb-Schmidt (Hrsg.): Das Alte Testament in der Theologie. Leipzig 2013, S. 83–119.

6 A: Kathy Ehrensperger, Judaistin und Ev. reformierte Theologin  an der Uni Basel,  sagt in der “Herder – Korrespondenz spezial” mit dem Titel “Jesus gegen Christus”,2025, S. 7:” Ein goßes Hindernis war der Anspruch der Kirche, Israel zu sein. Damit wurde Israel als das Volk Gottes in seiner unangetasteten Würde und Identität nicht wahrgenimmen. Das Christentum hat versucht, die Identität des Judentums zu übernehmen und dann so getan, als hätten die Juden ihre Identität damit verloren. Dieser Identitätsklau wurde erst in den letzten Jahrzehnten überhaupt wahrgenommen”:

7. Quelle: https://www.evangelisch.de/inhalte/122863/13-07-2015/die-debatte-slenczka-disputation-konstruktiv-bis-heiter

8. Immanuel Kant, „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, Hamburg 2003.
Zitiert wird nach der 2. Auflage zur Zeit von Kant, den Seitenzahlen ist deswegen ein B vorangestellt.

9. Leszek Kolakowski, „Jesus Christus – Prophet und Reformer“ in: “Marxisten und die Sache Jesu“, München 1974, dort S. 67- 84.

10. Omri Boehm, „Radikaler Universalismus“, Berlin 2022. dort S. 54.

11. Das Buch Karl Rainers ist im Benziger Verlag, 1968, erschienen dort Seite 40.

12.Karl Rahner, „Die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe“, In: „Karl Rahner Lesebuch“ hg. von Albert Raffelt, Freiburg, 2014, dort S. 408 ff.

13. Urs Eigenmann, „Das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit als himmlischer Kern des Irdischen. Das Christentum als pauperzentrischer Humanismus der Praxis“ in: „Der himmlische Kern des Irdischen“, Exodus Verlag, 2. Aufl. 2025, S. 117 – 230.

14. Zit. in „Edward Schillebeeckx im Gespräch“, Edition Exodus, Luzern, 1994, Seite 149.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Warum klagen Juden, Christen und Muslime ihren Gott heute nicht an: Wegen der übelsten Zustände auf dieser Welt.

Die 26. der „Unerhörten Fragen“

Von Christian Modehn am 6.7.2025

Einst gehörte die Anklage Gottes durch die Frommen im Judentum (Hiob) und im Islam (Attar) selbstverständlich zur Spiritualität. Christen liebten es allerdings nicht so sehr, Gott anzuklagen und gegen ihn zu protestieren. Denn Er galt ihnen als „Gott der Liebe“. Über ihre Ignoranz (Hass im Antisemitismus, Kolonialismus etc.) gegenüber dem Gott der Liebe verloren die allermeisten Christen keine Tränen und keine Worte, geschweige denn formulierten sie Anklage-Gebete. Solche Gebete fehlen bis heute in christlichen Kreisen!

Wenn Juden, Christen, Muslime und ihre „Führer“ tatsächlich noch an ihren lebendig-handelnden Gott glauben, dann sollten sie doch Anklage erheben, also ihren Gott beschuldigen: „Wo bist du denn?“ Gibt es den Gott des „Bundes mit den Menschen“ etwa nicht mehr? Kümmert Er sich nicht mehr um seine Geschöpfe?

Von solchen Anklagen gegen Gott ist heute nichts zu vernehmen. Sind die Frommen mit einem fernen, untätigen Gott sogar zufrieden? Mit dem “Gott” Netanjahus und seiner super“frommen“, aber rechtsextremen Minister? Oder ist die Hamas mit ihrem genauso heftigen Allah einverstanden?

Unsere Vermutung: Vielleicht glauben die Frommen und ihre „Führer“ längst nicht mehr an einen fürsorglich handelnden, einen liebenden Gott. ER ist entschwunden. Gott handelt nicht mehr, und wird wegen seines Nicht-Handelns auch gar nicht mehr angeklagt.

Die Theologie des “Bundes Gottes mit den Menschen” ist tot, existiert nur auf den Papieren der Theologen, die Ideologen geworden sind. Es herrscht der Nihilismus?

Und was die Christen angeht: Einige Katholiken zumal klagen jetzt zurecht, allerdings völlig erfolglos ,die bürokratischen, undemokratischen Strukturen der Kirche an. Kirchen-Anklage ersetzt die Gottes-Anklage. Diese Kirchen-Anklage ist sowieso einfacher und in den Medien wirksamer und theologisch auch nicht so schwierig wie die Gottes-Anklage.

Nebenbei: Der Autor dieses Hinweises hat eine andere Antwort auf diese “unerhörte Frage Nr. 26”. Hier soll nur der Abschied von der Gottes-Anklage in dogmatischen Kreisen der etablierten Religionen religionswissenschaftlich, sozusagen von außen betrachtet, dokumentiert werden. Und als Wende in der religiösen Szene der Gegenwart gedeutet werden! Gott ist angesichts der politischen, ökologischen, sozialen Katastrophen der Gegenwart, von Menschen gemacht, nicht mehr relevant. Man beklagt Seine Abwesenheit schon gar nicht mehr.

PS:
Zur Einstimmung bitte lesen: Psalm 88 „Klage eines Kranken und Einsamen“.

Und zur Vertiefung bitte lesen: Das wichtige Buch von Navid Kermani, „Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und die metaphysische Revolte“, Becksche Reihe, München, 2011, 335 Seiten, 14, 95€.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Amsterdam 750 Jahre: Einst kirchlich, heute etwas spirituell und vor allem gottlos?

Amsterdam wird  750 Jahre alt. Und die Kirchen – bleiben sie jung?

Ein Hinweis von Christian Modehn am 4. Juli 2025

Ein Vorwort:
Über die aktuelle kirchliche und religiöse Situation in Amsterdam sollte auch in Deutschland gesprochen werden. Weil dort sichtbar wird, deutlicher als anderswo in West-Europa, wie umfassend und radikal der “religiöse Umbruch” dort ist, er wird „Säkularisierung“ allgemein und oberflächlich genannt. Kirchliche Traditionen sind in Amsterdam durch etliche große Kirchengebäude noch sichtbar. Aber die Zahl derer, die sich in Amsterdam mit dem Christentum „verwandt fühlen“, wie die offizielle Studie von „Onderzoek en Statistik“ (O&S, Amsterdam) die Kirchenbindung nennt, muss marginal genannt werden: Christen aller Konfessionen zusammengenommen bilden im Jahr 2022 den statistischen Wert von 11 Prozent der Bevölketrung, 13 Prozent nennen sich Muslime, 64 Prozent bekennen, ungläubig zu sein; auch Juden, Buddhisten und Hinduisten werden in der Statistik als kleine Minderheit genannt. 9 Prozent aller irgendwie religiösen Amsterdamer nehmen regelmäßig an Gottesdiensten teil, im Jahr 2018 waren es noch 12 Prozent. Quelle: Seite 145 f. in der Studie: Siehe Fußnote 1.

Hier können die Entwicklungen der vielfältigen Orte kirchlichen oder religiösen Lebens in Amsterdam nicht umfassend analysiert oder umfassend theologisch kommentiert werden. Es kommt uns darauf an, wesentliche Entwicklungen des kirchlichen Lebens in Amsterdam zur Kenntnis zu nehmen. Der Anlass für diesen Hinweis:

1.
Amsterdam feiert – schon seit Ende Oktober 2024 – ein großes Jubiläum: “750 Jahre Amsterdam.” Im Jahr 1275 wurde die Stadt zum ersten Mal in einer Urkunde erwähnt… Seit mehr als 700 Jahren ist dann auch der christliche Glaube, sind die Kirchen, in Amsterdam präsent. Aber diese Präsenz wird von Jahr zu Jahr seit dem 20. Jahrhundert schwächer: Bei der letzten Zählung 2022 waren noch 11 Prozent der Amsterdamer Bevölkerung mit einer Kirche verbunden. Etwa 6 Prozent der Amsterdamer nennen sich katholisch, etwa 3 Prozent protestantisch und 2 Prozent evangelikal-pfingstlerisch. Um diese Auskunft zu erhalten muss man in dem städtischen Büro für Statistik „O&S“ nachfragen: Wie viele der heute ca. 935.000 Einwohner sind noch mit einer Kirche verbunden, oder, wie die Niederländer noch vorsichtiger sagen, noch „verwandt fühlen“ mit „godsdienst of levensbeschouwing“, also mit einer Religion oder einer Lebensanschauung, Weltanschauung, „Sich-Verwandt fühlen“: Dies ist eine gewiss interessante, die Beziehung zur Kirche aber eher milde ausdrückende Definition von „Zugehörigkeit“ oder „Mitgliedschaft“… Nebenbei: In Berlin sind es im Jahr 2024 noch 18 Prozent der Einwohner, die sich als Kirchenmitglieder bekennen.

2.
Bedeutende alte Kirchengebäude sind im Zentrum Amsterdams (dem „Grachtengürtel“) zu besichtigen, etwa die “Oude Kerk”: Im Jahr 1325 wurde an dieser Stelle die erste steinerne Kirche errichtet, heute werden dort sonntags regelmäßig protestantische Gottesdienste gefeiert: Und dies ist Ausdruck der kirchlichen Situation in Amsterdam: Die “Oude Kerk” ist tatsächlich bereits ein Museum und eine Konzerthalle, die kleine christliche Gemeinde mietet für ihre Gottesdienste das Gebäude. Oder: Die “Nieuwe Kerk” am Dam (1408 errichtet) ist aber auch ehemaliges “Gotteshaus”, sie ist eines der bekanntesten Kulturzentren der Stadt. Auch die Portugiesische Synagoge (eingeweiht 1675) und die benachbarte „Große Synagoge“ (1825) finden viel Aufmerksamkeit.

3.
Die Protestantische Kirche Amsterdams verfügt noch über 19 Gemeinden und Kirchengebäude LINK , das zentrale Kirchenbüro berichtet regelmäßig über kirchliche Veranstaltungen – auch aus Anlass des Jubiläums. Die katholische Kirche hat in Amsterdam noch 17 Pfarreien, von denen 7 für „fremdsprachige“ Katholiken bestimmt sind. Viele einstige selbständige kaholische Pfarreien wurden zu Großpfarreien zusammengefügt, wie überall in Europa, wo der Mangel an zölibatären Priestern das Gemeindeleben bestimmt, d.h. reduziert. Für die Freikirchen, Pfingstkirchen gibt es keine Gesamtübersicht der Gemeindezentren, oft sind es eher bescheidene Räume, etwa ehemalige Garagen in eher ärmeren Gegenden. Die Spaltung zwischen Reichen und Armen gilt auch unter Christen in Amsterdam. In diesen Freikirchen treffen sich vor allem Menschen aus Surinam, den Antillen, aus Afrika usw. Das heißt: Die traditionellen einst großen Konfessionen bestimmen nach wie vor das offizielle, man möchte sagen, touristische Bild in der Stadt. Viele Kirchengebäude, errichtet seit dem 20. Jahrhundert, wurden seit ca. 1970 abgerissen. Einige alte Kirchengebäude blieben erhalten und wecken so den falschen Eindruck, es gebe noch viele “aktive, “echte” Kirchen: So etwa sind diese Kirchen ehemalige Gotteshäuser: Einige Beispiele: Die Oosterkerk, die Posthoorn-Kerk, die Oude Lutherse Kerk, die Zuiderkerk, die Amstelkerk; die katholische St. Ignatiuskerk wurde in die Fatih-Mosee umgewandelt, die Kirche am Vondelpark ist seit langem ein Ort u.a. für opulentes Feiern. Siehe dazu die bunte Website: LINK:  Lesenswert ist in dem wichtigen Zusammenhang noch immer die Dokumentation “Herbestemming van Kerken” , Siehe Fußnote 3.

4.
Das „O&S“ Büro der Stadt Amsterdam nennt auch Zahlen zur geschichtlichen Entwicklung: Für das Jahr 2022, aktuellere Zahlen liegen noch nicht vor, also gilt: „11 Prozent der Amsterdamer fühlen sich mit dem Christentum verwandt. Im Jahr 2006 waren es 21 Prozent.“ Innerhalb von 15 Jahren hat sich die Zahl der Kirchenmitglieder halbiert. Im Jahr 1869, als offenbar zum ersten Mal nach der Konfession der Amsterdamer gefragt wurde: Da nannten sich tatsächlich 100 Prozent der Amsterdamer Kirchenmitglieder, im Jahr 1947 waren es noch 55 Prozent, 1971 waren es 46 Prozent, im Jahr 2012 38 Prozent.

Der relativ beachtliche, aber sehr kleine Anteil derer, die sich heute noch katholisch nennen, ist durch die Anwesenheit von Lateinamerikanern, Spaniern und Portugiesen bedingt. Aber die Teilnahme an der Messe ist wie in ganz Holland minimal. Und es sind meist sehr alte niederländische und etwas jüngere asiatische und afrikanische Priester, die noch für die regelmäßige Messfeier in den Kirchen sorgen. Ein interessantes Beispiel: In der „Onze Lieve Vrouwekerk“ finden katholische Messen unter Leitung spanischer Opus Dei Priester (!) und zu anderen Zeiten auch Liturgien der Syrisch-orthodoxen Kirche statt, eine interessante ökumenische Melange zumal fürs Opus Dei: Die finanzielle Not (bedingt durch die sehr wenigen Katholiken) lehrt also auch die extrem konservative katholische Organisation Opus Dei, die Ökumene zu praktizieren. Auch die Russisch-orthodoxe Kirche hat eine ehemalige katholische Kirche „übernommen“ LINK . Auf diese Gemeinde an der Lijnbaangracht hinzuweisen ist deswegen wichtig, weil die Popen dort sehr früh schon zu heftigen Kritikern des Angriffskrieges Putins und seines „orthodoxen“ Ideologen Patriarch Kyrill von Moskau waren. LINK

5.
Für die ökumenische Bewegung der Kirchen ist Amsterdam wichtig:
Am 23. August 1948 wurde dort der „Ökumenische Weltrat der Kirchen“ (Zentrale in Genf) gegründet. Ökumene gehört zu Amsterdam! Und Ökumene ist vielleicht ein christlicher Aspekt des viel besprochenen niederländischen Humanismus… Die (protestantische) Theologie spielt heute in Amsterdam noch eine große Rolle, sie wird an der „Schule für Religion und Theologie“ an der Vrije Universiteit gelehrt. LINK
Neben vielen speziellen Forschungszentren ist auch das „Arminius – Institut“ der ziemlich außergewöhnlichen freisinnigen Remonstranten – Kirche dort angesiedelt, LINK
Diese Fakultät ist eine erstaunliche theologische Leistung in einem – der Konfessions- Statistik nach – gar nicht so Kirchen – und Theologie affinen Milieu.

6.
Die Entwicklung der Verbundenheit mit den Kirchen in Amsterdam wie in den Niederlanden insgesamt ist sehr komplex und kann hier nur kurz skizziert werden:
Die Gesellschaft war bis ca. 1965 in verschiedene „Säulen“, nebeneinander lebend, gespalten: Die „Säulen“ hatten den Titel reformiert, katholisch, liberal, sozialdemokratisch: Sie boten ihren Mitgliedern von der Geburt über die Schule und die konfessionell selbstverständlich nicht-gemischte Ehe … bis zum Begräbnis auf einem katholischen Friedhof ein Leben in der auch kulturellen und konfessionellen Abgeschlossenheit der jeweiligen Gruppe.
Mitte der neunzehnhundertsechziger Jahre zerbrach dieses System. Es begann auch in Amsterdam die durchaus leidenschaftliche Zeit der praktisch gelebten Ökumene: In der Katholischen Kirche der Niederlande gab es nach dem 2. Vatikanischen Konzil einen radikalen Aufbruch der Reformer, nicht nur das Zölibatsgesetz ignorierten viele Priester, sie setzten sich für die Abendmahlsgemeinschaft mit Protestanten ein in Gemeinden, die sich oft von der Kontrolle der Bischöfe befreit hatten. Es wurden also ökumenische Gemeinden, „Basisgemeinden“ und „kritische Gemeinden“ gegründet, die sich außerhalb der institutionellen konfessionellen Strukturen ziemlich mutig und rebellisch gestalteten. Ich nenne hier nur die bis heute lebendige „Dominikus Gemeinde“, LINK. , die ökumenische Basis – Gemeinde „de Duif“,  die „Ekklesia“ inspiriert von dem bekannten Theologen und Poeten Huub Oosterhuis (1933-2023. LINK . Und zu seinem Werk: LINK

Der Autor dieses kleinen Hinweises hat als Journalist die kirchliche Entwicklung Amsterdams seit ca. 1976 regelmäßig beobachtet. Etliche der damals durchaus wegweisenden ökumenischen Initiativen sind verschwunden, wie etwa das Theologencafé, ein wöchentlicher Treffpunkt, eine Art theologischer Salon für Pfarrer und Pastoren aus wirklich allen verschiedenen Konfessionen! Auch die sozial engagierten Wohngemeinschaft der Orden mussten – wegen Personalmangel – aufgegeben werden, etwa die Wohngemeinschaft der Kapuziner oder das Kloster der Augustinerinnen im Rotlicht-Viertel oder das Franziskanerkloster in der Moses und Aaron Kirche usw. Immerhin: Die Gemeinde speziell für “Drogengebraucher” gibt es bis heute. LINK.  Eine evangelische Initiative mitten im Rotlicht – Viertel ist seit vielen Jahren die Kommunität „Oude Zijds 100“, ein offenes Haus für Menschen, die Hilfe und Unterstützung brauchen gerade im Umfeld dieses Milieus, auch diese Initiative hat die Krise der Kirchen in Amsterdam überstanden, einige wenige Basisinitiativen leben vielleicht länger als offizielle Kirchen-Zentren. LINK
Die große Kirche „Moses en Aaron“ am Waterlooplein wird jetzt als „Kirche der Barmherzigkeit” von der internationalen katholischen Laien – Gemeinschaft „San Egidio“ geleitet…

Der viel besprochene „Niedergang” der katholischen Kirche Amsterdams ist sicher entscheidend auch durch die Starrheit und Sturheit des römischen Systems, der zentralistischen vatikanischen Leitung und durch die Abwehr alles Demokratischen durch die Kirche unter den Päpsten der letzten Jahre, vor allem Johannes Paul II., bedingt. Der international anerkannte katholische Theologe Edward Schillebeeckx (Nijmegen) erklärte im NRC Handelsblad am 20. November 1999: „Der Papst (Johannes Paul II.) ist ein Alleinherrscher, er beschließt alles selbst. Das ist eine verkehrte `Betriebsleitung`. Er versammelt lauter Ja – Sager um sich“ . Und bezogen auf die autoritäre Durchsetzung konservativster Bischöfe in Holland sagt Schillbeeckx: „Jetzt kommt alle Weisheit aus Rom und die Leute imn Holland laufen aus der Kirche weg“.

Es ist aber auch entscheidend: Die traditionelle dogmatische Lehre der Kirche, die Formeln und Floskeln im Gottesdienst auch vieler protestantischer Kirchen, sorgen dafür, dass die kritischen, nachdenklichen jüngeren Menschen die Gemeinden verlassen. Dieser Aspekt der verstörenden dogmatischen Kirchenwelt in ihrer veralteten Sprache, ihrer oft rigiden Motal etc. wird viel zu selten als Hauptgrund genannt für den Abschied so vieler von den Kirchen! Davon sprechen Theologen viel zu selten! 

Amsterdam ist übrigens die einzige Hauptstadt Europas, die der extrem reiselustige polnische Papst nie besucht hat, er wusste sicher warum: Dort gab es damals eine explizite Rom – Ablehnung auch unter vielen Katholiken. Öffentlichen Ärger wollte er sich also ersparen… Die progressiven Katholiken wurden von der Kirchenführung so lange und so heftig ausgegrenzt, bis sie keine Kraft zum Widerstand mehr hatten. Ein Trauerspiel: Rom macht eine Kirche kaputt  etwa durch die Bischofsernennungen reaktionärer Bischöfe (Simonis, Gijsen, Kardinal Eijk etc…) Dieser Aspekt wird von katholischen Autoren in Deutschland, die sich heute noch über Hollands Katholizismus äußern, oft gern „ausgeblendet“. Tatsache ist: Keine katholische Teilkirche wurde von Rom und den Reaktionären weltweit so diffamiert und kaputt gemacht, wie die niederländische Katholische Kirche in den Jahren 1970-1985. Immer ging es um die Demokratie, einen der höchsten Werte niederländischer Kultur, aber einen der größten Unwerte fürs Innenleben des Katholismus bis heute…

7.
Über 60 Prozent der Amsterdamer nennen sich jetzt unreligiös oder ungläubig. Und ihre Zahl steigt von Jahr zu Jahr. Die offizielle Statistik von „O&S“ kann als soziologische Studie für diese Entwicklung keine Antwort geben. Die Theologen und Religionswissenschaftler sind sich uneins: Etliche meinen zurecht, dass auch die sich ungläubig nennenden Menschen eine persönliche Spiritualität bewahren und pflegen, dass sie an „etwas Größeres“ glauben. LINK .
Für diese undogmatisch Suchenden und Fragenden kann die Gemeinde der protestantischen Remonstranten – Kirche in Amsterdam ein Ort des Gesprächs und der Meditation sein. LINK . Zur Solidarität dieser Gemeinde mit den Menschen in Gaza:  LINK

8.
Zur Stadt Amsterdam als der viel gepriesenen “Stadt der Toleranz” (mit einer vergleichsweise schwachen Präsenz der rechtsextreme Partei PVV von Herrn Wilders)  passt es gut, dass dort explizit humanistische Kirchen (wie die Remonstranten) und auch säkulare – humanistische Organisationen (Humanistisch Verbond) aktiv sind. Bekanntlich war die Remonstrantenkirche dort im Jahr 1986 weltweit die erste christliche Kirche, die Paare des gleichen Geschlechts im Gottesdienst mitten in der Kirche segnete, ob sie nun Mitglieder der Remonstranten sind oder nicht. Bei allem Stolz auf die humanistischen Traditionen auch gegenüber Flüchtlingen (Descartes…) einst: Erst seit wenigen Jahren wird  die Verbindung der Kirchen mit der kolonialistischen Herrschaft und Unterdrückung durch die Niederlande freigelegt. Zu einer neuen Publikation zum Thema niederländische Kirchen und Sklaverei: LINK.
Eine ebenfalls humanistische, aber eher agnostisch – atheistische Glaubensgemeinschaft nennt sich „Vrije Gemeente“: Einst hatte sie in der Nähe des Leidseplein (heute das „Paradiso“) ihre Kirche, seit einigen Jahren hat man sich in einer Villa in der Nähe des Rembrandt Museums niedergelassen und bietet spirituelle und philosophische Gespräche und Vorträge an. An der „Universität von Amsterdam“ hat Prof. Wouter Hanegraaff ein einmaliges Institut zur „Erforschung hermetischer und esoterischer Philosophie“ eingerichtet, wichtig in einer Stadt, in der es zahlreiche esoterische Zentren und Buchhandlungen gibt. Ob es heute einen Dialog gibt zwischen christlich/kirchlich Glaubenden und esoterisch/New Age Glaubenden gibt, ist eine offene Frage. Das theologische Zentrum des Franziskaner-Ordens „La Verna“ in Amsterdam bemühte sich einst um einen solchen Dialog, es musste leider wegen Personalmangel geschlossen werden. Und in den 1970-1980 Jahren bemühte sich der Benediktiner Dom Kees Tholens (1913 – 2011) – er lebte als Stadtmönch im Begijn-Hof – intensiv um Gespräche mit den damals sehr stark esoterisch oder auch buddhistisch Interessierten. Zu Kees Tholens siehe meinen Beitrag „Die Kirchen schließen und die Religion lebt auf“ von 1993. Fußnote 2.

9.
Die wenigen verbliebenen Kirchengemeinden hätten eigentlich große Aufgaben, die über das unmittelbar Religiöse hinausgehen, aber dicht an den Weisungen des Weisheitslehrers Jesus von Nazareth liegen: Vorausgesetzt, die Kirchengemenden sind offen und tolerant. Es wäre also die wichtige Aufgabe, für das seelische Wohlbefinden der Menschen in der Stadt einen Beitrag zu leisten. Die Studie von „O&S“ sagt unter Nr. 14: „ Das Glücksgefühl, das Vertrauen in die Zukunft und die Zufriedenheit mit der Regierung haben abgenommen. Junge Menschen haben oft psychische Beschwerden. Dazu kommt belastende Einsamkeit stets öfter vor und öfter als auf Landesebene.“ (Übersetzung CM).

10.
Auch angesichts der Altersstruktur in den Kirchen-Gemeinden ist es absehbar, dass sich in etwa 20 Jahren der Anteil der sich Christen nennenden Amsterdamer so um die 3 Prozent bewegen wird. Die noch verbliebenen Kirchengebäude werden dann schon wegen finanzieller Knappheit der Gemeinden nicht mehr  als kirchliche Gebäude zu bewahren sein. Die schönen Gebäude werden verkauft und umgewandelt, aber die Kirchengemeinde mietet noch gelegentlich ihre ehemalige Kirche für ihre Gottesdienste, siehe die Erfahrungen in der “Oude Kerk”. Vielleicht wird es dann aber da und dort noch kleine Kapellen und christliche spirituelle Zentren in umgewandelten Läden und Geschäften  – vielleicht Krypten – geben, falls selbst diese bei den exzessiven Preisen für Wohnungen und Läden im neoliberalen, kapitalistischen Amsterdam noch bezahlbar sind.

Fußnote 1:
„Staat_van_de_stad“ Onderzoek en Statistiek (O&S), Gemeente Amsterdam
www.onderzoek.amsterdam.nl
redactie.os@amsterdam.nl
Eindredactie: Ellen Lindeman, m.m.v. Lotje Cohen en Jeroen Slot.

Fußnote 2:
„Die Kirchen schließen und die Religion lebt auf. Beobachtungen in Amsterdam“. In: „Götter auf der Durchreise“, hg. von Hans W. Dannowski, Michael Göpfert u.a., E.B. Verlag, 1993, dort Seite 40 bis 54. Dieser Beitrag, zu Beginn der neunziger Jahre verfasst, weist u.a. auf den Benediktinerabt Kees Tholens im Begijnhof hin. Ein Zitat von Abt Tholens: „Die Kirche sollte wie eine weise Mutter sein, die ihre Kinder gehen lässt. Stattdessen umgibt sie sie mit allerlei Reichtümern und hält sie mit Regeln und Verboten klein. Auf diese Weise wirkt sie wie eine Art Kindergarten für Erwachsene, auf diese Weise werden die Menschen nicht erwachsen, auf diese Weise können sie kein umfassenderes Bewusstsein erlangen.“ (Der niederländische Text von Kees Tholens: „De kerk zou moeten zijn als een wijze moeder die haar kinderen loslaat. Maar in plaats daarvan omgeeft ze hen met allerlei rijke dingen en houdt hen klein met regels en verboden. Zo lijkt ze op een soort kinderkamer voor volwassenen, zo groeien de mensen niet uit, zo kunnen ze geen ruimer bewustzijn binnengaan.“ Quelle: https://www.ghardeman.nl/cit/citthole.htm)

Fußnote 3: “Herbestimmung van Kerken.” (Neue Funktionen von Kirchengebäuden), auch mit zahlreichen Fotos, herausgegeben vom Rijksdienst voor de Monumentensorg, Zeist, 11 Seiten, 1995.

1999 wurde von Christian Modehn das 30 Minuten – Feature, der Film  “Unter dem Himmel von Amsterdam”, im Ersten Programm (WDR) gesendet. 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

 

Exzentrisch, asketisch, spirituell: Zum 100. Todestag des Komponisten Erik Satie am 1. Juli 2025

Ein Hinweis von Christian Modehn am 28.6.2025

1.
An Erik Satie (17.5.1866 – 1.7.1925) erinnern: Den Musiker und Komponisten, den Menschen, den so viele für skurril und rätselhaft hielten und halten, der aber auch so viele begeistert mit seiner Musik …. des minimalen Klangs, der irritierenden Einfachheit, der Mißachtung üblicher musikalischer Regeln. Satie zeigt sich immer wieder als eigenständiger, Ungewohntes und Ungehörtes schaffender Komponist, er ist keiner „Schule“ verpflichtet und verzichtet auf brillante oder schillernde musikalische Effekte… darüber ist viel geschrieben worden. Wir zitieren nur den einen Satz: „Die aufscheinende Skepsis Saties gegenüber etablierten Vorstellungen vom musikalischen Kunstwerk hat spätere Künstler bis hin zu John Cage nachhaltig beeinflusst.“ Zitat siehe: LINK.

2.
Wir wollen auf den Esoteriker hinweisen, und dazu gehört auch: an den eher unbekannten Kirchengründer Eric Satie erinnern. Zunächst in enger Verbindung mit den esoterischen „Rosenkreuzern“ suchte Satie seinen eigenen Weg: Er verließt diese Gemeinschaft und gründete 1893 seine eigene Kirche und gab ihr den etwas schwierigen und durchaus mysteriös klingenden Titel: „Église Métropolitaine d’Art de Jésus Conducteur“, „Metropolenkirche der Kunst von Jesus dem Lenker“. Kirchen zu gründen war in Frankreich keine Seltenheit: Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler wollten sich vom herrschenden dogmatischen und weithin monarchistisch gesinnten Katholizismus absetzen und gründeten eigene Kirchen-Gemeinschaften. Satie zeigt sich also nicht nur in seinen Kompositionen, auch in seiner Kirchen-Gründung und seiner Messe als mutiger, Konventionen sprengender Individualist. Siehe auch Fußnote 1.

3.
Es gehört zum exzentrischen Charakter Erik Saties, dass er das einzige Mitglied seiner Kirche blieb und wohl auch bleiben wollte; er gab zwar sein Gemeindeblatt heraus, aber er fand keine Mitglieder und wollte wahrscheinlich auch keine um sich sehen in seinem Haus, der „Kirchenzentrale“ in Arcueil bei Paris. Aktuelles Foto: LINK.

4.
In diesem spirituellen Erleben komponierte er um 1895 eine von ihm selbst so bezeichnete „Messe der Armen“, weil er sich selbst als Asket, als Künstler „am Rande“ verstand. Satie hatte offenbar für sich selbst ein Gelübde der Armut ausgesprochen, einer Armut, die er selbst in seinem Lebensstil zeigte.
Mit der ihm vertrauten mondänen Welt von Montmartre und ihren Vergnügungen hatte er offenbar gebrochen. Olivier Messiaen hat diese Messe zuerst aufgeführt. Sie enthält von den üblichen Gebeten (den „Ordinarien“) der römisch – katholischen Messe lediglich das Kyrie, hingegen aber auch Gebete, etwa speziell „für die Reisenden und die Seeleute in Todesgefahr“ und zum Schluß auch ein „Gebet für meine Seele“. Diese Satie – Messe hat den Untertitel, offenbar an Gott adressiert: „Intende Votis supplicum“, „Sei bedacht auf das Flehen des Gebetes.“

5.
Die spirituelle Prägung Eric Saties könnte uns inspirieren, seine Musik, seine Klaviermusik, etwa die „Gnossiennes“ auch als Ausdruck einer ungewöhnlichen, nicht – dogmatischen Frömmigkeit zu hören und zu verstehen. Und musikalisch ins Meditieren zu kommen.

Fußnote 1: LINK

Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon

Neuzelle: Das Kloster und das reaktionäre “Mutterkloster” Heiligenkreuz bei Wien: Die Kriminalpolizei ermittelt

Ein Hinweis von Christian Modehn am 20.6.2025

1.

Das Kloster der Zisterzienser Mönche in Neuzelle, im Land Brandenburg bei Eisenhüttenstadt, ist abhängig von seinem “Mutterkloster” Heiligenkreuz bei Wien: Nun ermittelt dort die Kriminalpolizei, und auch der Vatikan schickt spätestens im Herbst den Erzabt der Benedikter aus Rom zur Kontrolle und Überprüfung des “Innenlebens” im dortigen Kloster und der dortigen Hochschule, die bekanntlich sehr konservative Theologie lehrt mit zunehmendem Erfolg bei jungen, konservativen  Studenten, auch dies ist Ausdruck für den Zustand der katholischen Kirche im deutschsprachigen Raum. LINK:

2.

Die katholische Webseite kath.de hat am 7.5.2025 einen Bericht über den Zisterzienser Mönch des Stiftes Heiligenkreuz bei Wien, Pater Edmund Waldstein, veröffentlicht: Die Universität Innsbruck lehnt die von Pater Waldstein gewünschte Habilitation an der Fakultät ab: Der Grund: Pater Waldstein sei tief im rechtsextremen Milieu verwurzelt. kath.de schreibt u.a.: „Die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Innsbruck hat sich von dem Heiligenkreuzer Zisterzienserpater und Theologen Edmund Waldstein distanziert und ihm nahegelegt, auf die geplante Einreichung seiner Habilitationsarbeit zu verzichten. Das bestätigte der Dekan der Fakultät, Wilhelm Guggenberger, der österreichischen Presseagentur Kathpress. Als Begründung führte Guggenberger Medienberichte an, die Waldstein in die Nähe von rechtskonservativen und reaktionären Netzwerken gerückt hatten. Man habe sich bereits im vergangenen Jahr nach einem kritischen Bericht in der österreichischen Wochenzeitung “Falter” mit Waldstein zusammengesetzt. Nach einer “nur halbherzigen Distanzierung” von den Vorwürfen und weiteren Berichten auf dem Internetportal “Feinschwarz” und in der Wochenzeitung “Die Furche” sei nun das Maß voll gewesen.
Konkret soll es laut Kathpress um den Vorwurf gehen, Waldstein, der an der Hochschule Heiligenkreuz und an der Katholischen Hochschule ITI in Trumau lehrt, sei so etwas wie eine Gallionsfigur des “Neo-Integralismus” mit Verbindungen bis in die obersten Kreise der US-Politik um Vizepräsident J.D. Vance.

Über  Pater Waldstein: LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

„Das Reich Gottes ist säkular, weltlich“

Befreiung von der imperialen christlichen Religion, fordert der katholische Theologe Urs Eigenmann.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 16.6.2025

1.
Immer wieder und auch jetzt geht die öffentliche Debatte um Kaiser Konstantin und das von ihm inszenierte Konzil von Nizäa (325): Damals wurde die Kirche zu einer imperialen Macht, zur Staatskirche, zur Religionsgemeinschaft, die sich bis heute noch weithin glanzvoll als Klerus-Kirche entwickelt…
Diese Erkenntnis ist bekannt, sie wird nun radikal unterstützt und erweitert in einer Studie des Katholischen Theologen Urs Eigenmann „Das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit…“ FUßNOTE 1. (Die Seitenangaben beziehen sich auf dieses Buch).

Urs Eigenmann, Jahrgang 1946, ist durch zahlreiche theologische Publikationen bekannt geworden, er war „Wort zum Sonntag“ Sprecher im Schweizer Fernsehen, hatte als katholischer Gemeinde-Pfarrer gearbeitet, hatte Lehraufträge für praktische Theologie usw. Es ist die Auseinandersetzung mit den lateinamerikanischen Befreiungstheologien, die ihb „radikalisiert“ hat.

2.
Der Schweizer Theologe Urs Eigenmann zeigt sich in seinem genannten Essay als ein radikaler Theologe: Die Jesus Bewegung der ersten zwei Jahrhunderte war eine „nicht-religiöse Reich-Gottes-Bewegung“ (154), in Eigenmanns Formulierung: Ein besonderer Humanismus, nämlich ein „pauperozentrischer Humanismus“, d.h. ein Humanismus, in dem die Entwicklung der Menschenwürde der Armen und Unterdrückten ganz im Mittelpunkt stand. Jesus von Nazareth ist also der Initiator dieser humanistischen Bewegung. Denn die alles entscheidenden humanen „Werte“ Jesu sind zusammengefasst im Ideal des Reiches Gottes, und das ist immer auch ein politisches Projekt: Friede, Gerechtigkeit, Respekt, Liebe. „Jesus bezeugte also das Reich Gottes als säkular-universale, egalitär-solidarische Vision gesellschaftlichen Zusammenlebens“ (143). Dieser Humanismus zugunsten der Armen „kann als himmlischer Kern des Irdischen bezeichnet werden.“ (150).
Inmitten des „Irdischen“ gibt es also etwas „Himmlisches“ (Göttliches), so dass die Behauptung Eigenmanns von einer „nicht religiösen Reich-Gottes-Bewegung“ (154) problematisch, wenn nicht widersprüchlich ist. Wie soll man auch explizit von Reich Gottes (Gottes!) sprechen, ohne dabei das Wort „religiös“ zu gebrauchen?

3.
Eigenmann geht noch weiter: Himmlisches soll seiner Meinung nach auf Erden gelten und dadurch das zusammenleben auf Erden „himmlisch“ machen. Dagegen wurden immer wieder Argumente vorgebracht: Hybris sei diese Vorstellung, unmenschlich deren Realisierung (etwa im Kommunismus). Urs Eigenmann hält dem ein Statement des Soziologen und Befreiungstheologen Franz Hinkelammers (1931-2023, gestorben in Costa Rica) entgegen: „Wer den Himmel auf Erden nicht will, der schafft die Hölle auf Erden. Wir leben die Hölle. Sie ist von denen geschaffen, die all diejenigen denunzieren, die aufgebrochen sind, den Himmel auf Erden zu schaffen“ (also das Reich Gottes und seine Werte umfassend politisch zu verwirklichen, CM). (145).

4.
Es gibt für Eigenmann seit 1.700 Jahren eine tiefgreifende Kirchenspaltung: Mit der Herrschaft Kaiser Konstantins hörte die Kirche auf, die biblischen Weisungen des Reiches Gottes als ihren entscheidenden Mittelpunkt zu verstehen und zu gestalten: So pauschal denkt Eigenmann. Nur einige radikale christliche Minderheiten hielten an der absoluten Geltung des Reich Gottes – Gedanken fest, etwa der frühe Franz von Assisi und seine Armutsbewegung, die Waldenser… Die Kirchengeschichte wird also weithin zur Geschichte der Ignoranz gegenüber den politischen Idealen des Reiches Gottes…
Letztlich ist für Eigenmann also nur das Christentum vor Kaiser Konstantin authentisch, authentisch im Sinne von „jesuanisch“ (215). Danach sei das Christentum, also die Kirche, so wörtlich, „verkehrt, imperial-kolonisierend“ geworden (ebd.). Seit 1.700 Jahren stehen sich also die vorherrschende imperiale Kirche und die Minderheit der „Reich-Gottes-Humanisten“ gegenüber. Gesiegt hat politisch wie religiös und kirchlich: das Imperium. Und heute hat das Imperium einen Namen: Kapitalismus. Und das Denken von Karl Marx könnte auch heute Impulse bieten, etwas näher dem Reich Gottes zu kommen, meint Eigenmann.

5.Kritische Hinweise zu Eigenmanns Thesen: 
Urs Eigenmann geht in seiner richtigen Hochschätzung des Reiches Gottes als der alles entscheidenden Botschaft und Praxis Jesu von Nazareth so weit zu betonen, „dass das biblische Reich Gottes selbst eine säkulare Größe ohne Elemente einer traditionellen Religion darstellt.“ (214). Eigenmann ist mit der lateinamerikanischen Befreiungstheologie sehr verbunden, aber jener Theologie der Befreiung, die nicht von der offiziellen Glaubenskongregation in Rom als moderat gelobt wird.
Aber: Auch die radikalen, an der Basis der Armen lebenden Befreiungstheologen feiern Gottesdienste, lesen die Bibel, beten, sie sind als Basisgemeinden also auch rituell geprägt und dadurch religiös: Das heißt: Ohne religiöse Elemente kommt offenbar auch die humanistische säkulare Reich – Gottes – Bewegung im Sinne Eigenmanns nicht aus.

6.
Kritisch zu sehen ist auch Eigenmanns Deutung des Prozesses und der Verurteilung Jesu: Für ihn sind ausschließlich die Vertreter des Römischen Imperiums in Israel damals verantwortlich für Jesu Hinrichtung. Dass führende jüdische Kreise Jesus von Nazareth verurteilten und ihn dann den römischen Behörden zur Hinrichtung übergaben, wird von Eigenmann verschwiegen. Diese Zusammenarbeit von jüdischer Elite (im Sanhedrin) und römischer Besetzung ist für historisch -kritisch arbeitende Bibelwissenschaftler evident und alles andere als Ausdruck von Antisemitismus. Nebenbei: Das so genannte Alte Testament enthält so unterschiedliche Bücher mit so widersprüchlichen, durchaus unangenehmen Aussagen (wie im Buch der Könige), dass man sich im Umgang mit „DEM“ biblischen Denken durch Eigenmann etwas mehr Differenzierung wünschen würde.

7.
Bedauerlich ist Eigenmanns radikale Ablehnung aller Philosophie im Christentum, sie wird für die Herrschaft des imperialen Denkens der Kirche verantwortlich gemacht. Dass die philosophisch gebildeten Theologen der ersten zwei Jahrhunderte (und danach) bemüht waren, den christlichen Glauben (also doch wohl auch den Glauben an das Reich Gottes) in die Kultur der Griechen (der „Heiden“) zu inkulturieren, also in deren Kultur zu verwurzeln, wird von Eigenmann bestritten: „Die Übernahme griechischer Philosophie durch die christliche Theologie als Inkulturation zu bezeichnen, ist irreführend. Es handelt sich vielmehr um DE- oder ENTkulturation biblischen Denkens durch den hegemonial gewordenen gewordenen kategorialen Rahmen griechischer Philosophie“ (174). Die griechische Philosophie habe also „das“ biblische Denken verfälscht: ABER: Es gab gar nicht, wie schon gesagt, damals wie heute „das“ biblische Denken! Es herrschte eine konkurrierende Vielfalt der theologischen jüdischen Schulen … auch zur Zeit Jesu.

8.
Und vor allem: Unter welchen Bedingungen hätte denn die Jesus – Gemeinde (nennen wir sie Christen, Kirche) bestehen können, wenn sie nur biblisch, d.j.jüdisch – auf welche Art von jüdisch auch immer- geblieben wäre? Die Inkulturation der Jesus Bewegung ins griechische Denken wie später auch ins germanische oder japanisch oder auch ins chinesische Denken usw… ist also eine Notwendigkeit gewesen fürs Überleben der Jesus-Gemeinde. Und das gelingt NICHT ohne vermittelnde philosophische, vernünftige Reflexion. Sie ist der Maßstab im theologischen Streit damals wie heute.

9.
Die Frage bleibt: Wie hätte eine richtige Inkulturation der Jesus Bewegung geschehen können? Die Ausbildung der Klerus – Hierarchie ist das Problem. Hätte die nun machtvolle Klerus – Hierarchie in einer Staatskirche auch trotz der Inkulturation in die griechische Lebenswelt und Philosophie vermieden werden können? Urs Eigenmann glaubt nicht daran. Und es fällt uns schwer, ihm da zu widersprechen. Und man möchte in dem Zusammenhang von einer gewissen Tragik sprechen: Die humane, die „säkulare“ Jesusbewegung ist als Kirchenorganisation kaum realisierbar. Denn die Macht der religiösen „Gewohnheit“ ist trotz aller Säkularisierung groß: Viele Menschen klammern sich an Religion als Verzauberung, als Weg ins Außerirdische, als Glauben an Wunder, als Verzücktsein in der barocken Welt voller Weihrauchwolken oder als „mystischer“ Heilig – Abend – Gottesdienst… Soll man von dieser Religiosität die Menschen heilen, sie davon befreien? Soll man also in dem Sinne den Abschied von der Religion, diesen Kirchen fördern? Ist der säkulare Humanismus in seiner Nüchternheit und Rationalität ein Ersatz fürs klassisch Religiöse, auch traditionell Kirchliche? Darauf gibt Eigenmann keine Antwort.

10.
Aber vielleicht lebt die humane und säkulare Jesusbewegung im Sinne Eigenmanns heute gerade da, wo man sie eher nicht vermutet: In vielen humanen NGOs, „Ärzte ohne Grenzen“, “Amnesty International“, OXFAM usw… Und viele humane NGOs sind nebenbei gesagt auch kirchlichen Ursprungs, Brot für die Welt, Misereor: Sind diese Hilfswerke etwa „imperiale“ Hilfswerke im Sinne Eigenmanns? Vielleicht sollte eine neue Ekklesiologie (Kirchenlehre) in Zusammenhang mit diesen weltlichen Gruppen entstehen, ohne ihnen dabei etwas Religiöses oder Christliches „überzustülpen“…

FUßNOTE 1:
„Der himmlische Kern des Irdischen“, das Buch ist erschienen: Edition Exodus, Edition it-Kompass, 2025, der Beitrag Eigenmanns S. 117 bis 230.

COPYRIGHT: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Die Theologie Augustins überwinden.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 10.6.2025.

Wir haben mit der Wahl eines Augustiners (“Sohn des heiligen Augustinus”, Selbstbezeichnung Leo XIV.) zum Papst eher Schlimmes befürchtet: Dies ist die ständige Bezugnahme auf den heiligen Augustinus, er lebte im 4. und 5. Jahrhundert. Ein moderner Heiliger? Garantiert nicht. Lassen wir ihn ruhen.  Aber leider bestätigt sich diese unsere Prognose der Augustinus Zitiererei durch den Papst  fast ständig: Den Kandidaten für Priesteramt (“Seminaristen”) empfahl Leo XIV., sich an Sprüche Augustins  zu halten und vor allem den Zölibat hochzuschätzen. Mit etwas Anstrengung sei der Zölibat doch zu leben, sagte er den 20 -25 Jahre jungen Männern, darf man das theologisch und psychologisch naiv nennen? Natürlich. LINK:

Und auch die am 25. 6. versammelten Bischöfen ermahnte er, “Vorbild” zu sein. LINK

Immer wieder wird Augustin zitiert von Papst Leo XIV.: Der Journalist und Vatikan – Spezialist der angesehenen katholischen Tageszeitung LA CROIX (Paris), Mikael Corre,  schreibt am 14.6.2025 zusammenfassend über die Form der Argumente von Papst Leo XIV.: Er hielt einen Vortrag für Priester, Mikale Corre berichtet.: Leo XIV. beendet sein Statement für die Priester, indem er den heiligen Augustinus zitiert, wie er es in fast allen seinen Ansprachen tut: Papst Leo zitierte also Augustin: “Liebt diese Kirche, bleibt in dieser Kirche, seid diese Kirche. Liebt den Guten Hirten, den sehr schönen Gatten (sic), der keine Person täuscht und nur will, dass keine Person untergeht…” (Le 12 juin, Léon XIV terminait son adresse aux prêtres en citant saint Augustin (Sermons 138, 10), comme il le fait dans presque tous ses discours. « Aimez cette Église, restez dans cette Église, soyez cette Église. Aimez le bon Pasteur, l’Époux très beau, qui ne trompe personne et ne veut que personne ne périsse…”). LINK

Wie soll theologisch diese offenbar vom Papst geteilte Priesterspiritualität aus dem 4. Jahrhundert bewertet werden? In jedem Fall ist sie nicht auf der Höhe der Theologie von heute… Nach einer Abschaffung des sinnlosen Zölibatsgesetzes klingen seine Worte jedenfalls  nicht…Wir haben unsere Meinung schon früher mitgeteilt: Zu den “Progressivsten” zählen die dem Denken des heiligen Augustin verpflichteten Theologen, also auch die Augustiner, bekanntermaßen nicht. Wegweisende moderne Theologen gehören eher anderen Orden an. Ob auch der Augustiner Papst Leo XIV. zu den eher behutsamen, durchaus das übliche Katholische unbedingt bewahrenden, auf Ausgleich und “Einheit” bedachten Augustinern gehört, ist wahrscheinlich…

Nebenbei: Kann ein Papst dieser Kirche überhaupt progressiv sein? Erst dann, wenn er selbst das Papsttum abschafft. Das könnte zumal ein Papst, dessen Mitbruder im Augustinerorden Martin Luther ist! Aber von Martin Luther hat Leo XIV. bisher nicht einmal gesprochen…

Ein Vorwort zu unserem Hinweis, einer “Provokation”: 
Heute sollten sich Christen und TheologInnen mit der Theologie des Augustinus befassen, um die Grenzen und Begrenztheiten des Theologen Augustin zu erkennen und sich auch von den Verirrungen seiner Theologie zu befreien. Augustinus mag ja einige allgemeine humane Weisheiten etwa in seinen „Confessiones“ geschrieben und etwa über die Zeit treffend philosophiert haben: Aber einzelne populäre Weisheiten wie: „Unruhig ist unser Herz, bis ruht in dir o Gott“ (das heißt: „Ruhe gibt es auf Erden nicht, auch nicht durch die Philosophie, auch nicht durch den Glauben“) bestimmen nicht das Gesamtwerk.
Dabei sind wir uns der Allmacht der Theologie Augustins bis heute bewusst, etwa auch im offiziellen „Katechismus der Katholischen Kirche“ (Vatikanstadt 1993): Dort wird Augustinus in 88 Paragraphen zitiert, häufiger als Thomas von Aquin… Nebenbei: Aus dem 20.Jahrhundert wird niemand zitiert, aus dem 19. Jahrhundert nur der Pfarrer von Ars, der zwar heiliggesprochen wurde, aber theologisch völlig ungebildet war, betonen Historiker. Der Pfarrer von Ars, Johannes Vianney, wird im Katechismus zitiert: „Der Priester setzt auf Erden das Erlösungswerk fort“…, § 1589.

Zu Augustins Aussagen über “die Frauen” siehe FUßNOTE 2.

 

Unsere Thesen:

1.
Augustinus und seine Theologie wird zweifellos im Mittelpunkt der theologischen Debatten und spirituellen Interessen der nächsten Monate und Jahre stehen: Auch eine „augustinische Bücherflut“ ist wahrscheinlich… Papst Leo XIV. ist Mitglied des Augustinerordens (OSA), er hat von Anfang an als Papst betont „Ich bin ein Sohn des heiligen Augustinus“, er spricht immer wieder in seinen Ansprachen von einigen allgemeinen Aspekten der Theologie Augustins. Und der Papst setzt sich sogar gelegentlich, im allgemeinen verbleibend, von ungewöhnlichen theologischen Aussagen Augustins ab (Fußnote 1).

2.
Es ist also Zeit, etwas näher das theologische Profil von Augustinus außerhalb von wohlwollenden Zitaten kritisch zu betrachten. Angesichts des nur riesig zu nennenden Umfangs der Schriften des Augustinus können hier selbstverständlich nur einige „Grundlinien“ seines Werkes kritisch erwähnt werden, eines Denkens, das durchaus Entwicklungen vorweist, und diese Entwicklung führt weg von großer Offenheit in jungen Jahren hin zur Strenge und Militanz im Alter als Bischof.

3.
Kurt Flasch, Philosophiehistoriker und Philosoph, Spezialist für mittelalterliches Denken, ist ein international geschätzter Kenner der Werke des Augustinus. Kurt Flaschs Studien sind deswegen wichtig, weil sie nicht kirchengebunden sind, die bekanntlich oft der „enormen Größe und Bedeutung des heiligen Augustinus“ erliegen und nur nebenbei die Grenzen seines Denkens freilegen.

4.
Kurt Flasch bietet in einigen Kapiteln seines Buch „Warum ich kein Christ bin“ aus dem Jahr 2013 ( C.H.Beck Verlag) zentrale Erkenntnisse zu wichtigen theologischen Aussagen Augustins: Die Seitenzahlen in den Zitaten hier beziehen sich auf dieses Buch. Auf die große Augustinus – Studie Kurt Flaschs „Augustin. Einführung in sein Denken“, 487 Seiten (Reclam Verlag, 1980) kommen wir später zurück, um die eher knappen Ausführungen Flaschs von 2013 zu bestätigen.

5. Zum Umgang mit der Bibel:
Augustin will in seinem Buch „De consensu evangelistorum“ („Über den Konsens der Evangelisten“) eine Harmonie der Aussagen der vier Evangelisten herausstellen. „Augustin sah die Autorität der Glaubenszeugen bedroht, wenn sie nicht mit EINER Zunge sprachen. Seine Argumentation illustriert als ihr Gegenteil die historisch – kritische Methode der Bibelauslegung.“ (S. 53). „An einer kulturell – historischen Einordnung des Bibeltextes hatte er kein Interesse.“ (Ebd.). „Augustinus konnte kein Hebräisch und kaum Griechisch verstehen“ (ebd.), er glaubte mit den Übersetzungen der Bibel ins Lateinische die Bibel kompetent auslegen zu können…

6.
Augustin war als neu-platonischer Philosoph an rationalen Begründungen des Glaubens interessiert. Aber als Begründungen, sich auf den Glauben einzulassen, waren ihm dann doch äußerliche Fakten wichtig: Etwa: Die Missionserfolge der Kirche wurden gerühmt, auch die Wunder Jesu seien ein Grund zu glauben; und die regelmäßige Abfolge der Bischöfe seit Petrus sei hoch zu respektieren. Und vor allem: „Allein seine, Augustins Kirche sei die katholische, denn selbst Häretiker nennen sie so“ (S. 64).

7.
Platon spielte in der geistigen Entwicklung Augustins eine entscheidende Rolle. Augustin lehrte: „Der Glaube an die zeitliche Offenbarung (in Jesus) ermögliche die rein geistige Einsicht. Diese bestehe in der platonisierenden Erkenntnis Gottes als dem einzig beständigen Glück der Seele“ (S. 92f.)
Wesentliches der Philosophie Platons stimme mit dem christlichen Glauben überein, meinte Augustin. Das können Christen aber erst erkennen, wenn sie von der Gnade Gottes angeleitet werden.
„Wenn die großen griechischen Philosophen noch lebten, würden sie Christen sein. Sie bräuchten an ihren Lehren nur wenige Worte zu ändern“, so fasst Kurt Flasch Augustins Überzeugung zusammen (S. 93).
Augustin übernahm also den „platonisch-universalen Theismus“ (S. 93). Platons Begriff von Gott als dem „höchsten Gut“ setzte sich dann in der Kirche durch, ebenso die platonische Überzeugung, „sinnliches Vergnügen sei der Bestimmung der Seele fürs Jenseits unterzuordnen. (S. 94). „Augustins Neu – Platonismus konzentrierte sich darauf, die Seele durch asketisches Leben zum jenseitigen Dauerglück beim rein geistigen Gott zu führen.“ (S. 94).

8.
Die radikale Lehre von der Gnade, die Gott gewährt, ist seit 396/397 für Augustin entscheidend: „Für ihn endeten nicht mehr nur alle Ungetauften im ewigen Höllenfeuer, sondern auch die Mehrheit der Christen“ (S. 87).

9.
Auf die verheerende Erbsündenlehre Augustins, haben wir schon oft hingewiesen. LINK. Mit seiner Erbsündenlehre hat Augustin das christliche Denken vergiftet und Sexualität letztlich als „Übertragungsweg“ der Erbsünde deklariert.
Kurt Flasch schreibt: „Augustinus machte aus dem Apfelbiss, den der Jesus der Evangelien nie erwähnt hatte, den Sündenfall der gesamten Menschheit und den Beginn der Teufelsherrschaft auf Erden“ (S. 196). „Augustin dachte die Erbsünde als die durch geschlechtliche Vermehrung übertragene Fortdauer der Ursünde im Paradies. Augustin ERFAND die Erbsünde, die in der Theologie vor ihm nur ein Erbschaden war, nun als wahre Schuld, als wirkliche Sünde, die auch den Neugeborenen anhafte…“ (S. 197).
Die Konsequenz: „Im Denken Augustins kommen selbst alle Getauften nicht mehr in den Himmel.“ (S. 197) Erlösung heißt dann: Der von den Sünden der Menschen erzürnte Gott (Vater) „kann allein besänftigt werden durch die Tötung seines eigenen Sohnes, des Gottesohnes, am Kreuz“ (S. 198.) Diese abstoßende Vorstellung von einem Gott, der seinen Sohn in den Tod schickt als Erlösung der Menschen wird heute noch theologisch gelehrt, hat sich aber heute de facto wohl erledigt: Gebildete Christen glauben das einfach nicht mehr…
Aber Augustinus sagt: „Wenn Gott wollte, würden alle gerettet. Aber Gott will es nicht seit Adams Sünde; er rettet aus der Masse der Sünder nur, wen er retten will. Also geht die überwiegende Mehrheit für immer verloren“ (S. 208). An dieser Stelle muss an das Fortleben dieser theologischen Ideologie etwa im Denken des Reformators Calvins erinnert werden…

10.
Kritische Hinweise zu einigen zentralen theologischen Aussagen Augustins bietet keineswegs nur Kurt Flasch. Man muss nur die ausführliche Biographie des Historikers Peter Brown (Oxford) „Augustinus von Hippo“ lesen (auf Deutsch erschienen 1982): Auch Peter Brown beschreibt den schwierigen Charakter Augustins, seine Strenge als Bischof im Kampf gegen die große Glaubensgemeinschaft der Donatisten, seinen leidenschaftlichen, polemischen Kampf gegen Andersdenkende insgesamt. Sein Kampf galt auch kompetentem gebildeten Bischöfen wie Julian von Eclanum: Er lehnte die Erbsündenlehre Augustins ab und wurde von ihm verfolgt… Die Erbsündenlehre Augustins, die Julian von Eclanum zurecht ablehnt, beschreibt Peter Browns: „Da der Geschlechtstrieb für Augustin eine permanente Strafe war, wurde er als permanente Neigung, als triebhafte Spannung dargestellt, der man widerstehen konnte, die jedoch in Tätigkeit blieb, selbst wenn sie unterdrückt wurde“ (S. 340). Und weiter: „Der Gott des Augustinus war ein Gott, der eine Kollektivstrafe für die Sünde eines Mannes (Adam) verhängt hatte“. Die Lehre des 1. Timotheus Briefes im Neuen Testament: „Gott will, dass ALLE Menschen gerettet werden“ (1 Tim. 2,4) bemühte sich „Augustin wegzuerklären… (S. 351), also beiseite zu lassen, zu ignorieren. Und angesichts der theologischen Lehren des „liberalen“, auf die Kraft der menschlichen Freiheit setzenden Theologen Pelagius wollte er seine katholische Gemeinde wie in eine Festung einsperren, um sie vor den Angriffen des Irrlehrers zu schützen.“(S. 352). Über Pelagius contra August hat Kurt Flasch in seiner Studie „Augustin. Einführung in sein Denken“ ausführlich geschrieben (S. 176 ff.): “Als der Bischof von Rom, Zosimus, den Theologen Pelagius rehabilitierte, intrigierte Augustin solange beim kaiserlichen Hof in Ravenna, bis der Kaiser intervenierte…“ Deswegen wurde Pelagius aus Rom verbannt…“ (S. 178) und seine Anhänger auf Betreiben Augustins verfolgt. Augustin gelang es mit Bestechungen die Pelagius – Freunde einzuschränken, „gegen die verbleibenden Anhänger des Pelagius mobilisierte Augustin die Staatsgewalt“ (S. 179).

11.
Man mag auch im Buch von Peter Brown einzelne Zitate und Sentenzen finden, die einen sympathischen Augustinus zeigen: Aber im ganzen war er als Bischof ein sehr polemischer Theologe in den aufgewühlten Zeiten des 4. und 5. Jahrhunderts. Und es mag ja sein, dass seine Weisungen, also seine „Regel“ zum Zusammenleben der Priester (die so genannte Ordensregel) nach wie vor allgemein gehaltene, durchaus noch inspirierende Vorschläge enthalten, aber was bleibt denn sonst noch?
Nebenbei: Dass Augustinus von seiner Herkunft her ein Afrikaner ist, wird meines Wissens oft übersehen oder vergessen. Vielleicht wäre dieser „afrikanische Augustinus“ nicht nur eine Herausforderung für die Augustinerorden (es gibt ja mehrere), etwa indem sie ihre Klöster in Europa für Flüchtlinge aus Afrika öffnen und – wie die Jesuiten – einen „Flüchtlingsdienst“ einrichten…

12.
Henri Marrou, ein „klassischer“ Augustinus- Kenner und durchaus Augustinus – Freund, schreibt über die enorme Bedeutung Augustins in den Kirchen im 17. Jahrhundert: „Er erfüllt das ganze Jahrhundert, alle zitieren, benutzen und kommentieren ihn… es wird schließlich eine Besessenheit daraus: Man wagt nicht mehr, Vorbehalt und Kritik zu äußern, der heilige Augustinus hat immer und überall recht.“ (in Rowohlts Monographie „Augustinus“ von Henri Marrou, 1984, S. 147).

13.
Hinweise von Kurt Flasch aus einem Buch „Augustin. Einführung in sein Denken“, Reclam, 1980:
Im 17. Kapitel seiner Studie spricht Flasch vom „Zwiespalt Augustins“ (S. 403 ff.). Augustin sieht „das Böse gerade bei den `guten` Taten (S. 404). „Er bestand darauf, das Höllenfeuer sei körperliches Feuer“ (S. 419). „Solche Sätze gaben dem Kirchenglauben der westlichen Christenheit eine Buchstäblichkeit und Enge, die ihn mit der (philosophischen) Aufklärung in Konflikt brachte (S. 419). Und auch dies: „Die Gewohnheiten der Gruppe (bestimmter Christen) sollte das Sprechen einzelner normieren. Vielleicht hat Augustin an keiner anderen Stelle seinen Bruch mit dem antiken Ideal freier Rede härter und folgenreicher ausgesprochen als an dieser Stelle“ ( S. 420). „Der Militärdienst wurde bei ihm unbedenklich. Augustin konnte christliches Leben und Militärdienst erbaulich in Parallele setzen“(S. 422).

14.
Papst Leo XIV. beschwört als Augustiner seit Beginn seiner Regierung ständig den Wert der EINHEIT unter den Gläubigen. Der Papst meint, Einheit sei DIE zentrale Forderung Augustins für die Kirche auch heute. Wer sich allerdings genauer anschaut, wie im einzelnen Augustin als Bischof für die Einheit unter den vielfältigen Christen in Nordafrika damals sorgte (von der großen kirchlichen Bewegung der Donatisten war schon die Rede) und seiner katholischen Kirche auch mit Druck und Zwang zum Sieg verhalf, der hat seine Zweifel an der Relevanz der augustinischen Einheits-Idee. Sie passt angesichts der Pluralität der Kulturen und Theologien nicht mehr in unsere Zeit.

15.
Die Idee einer theologischen Einheit unter den eineinhalb Milliarden Katholiken heute ist ohnehin sehr problematisch. Denn die Vielfalt der Glaubensüberzeugungen und moralischen Vorstellungen ist unter den 1,5 Milliarden Katholiken heute so unterschiedlich, dass von einer Einheit keine Rede sein kann, Einheit im Sinne von: “Wir Katholiken glauben alle das Gleiche und haben die gleichen theologischen Prinzipien etwa zur Rolle der Frauen oder der Homosexuellen in der Kirche“ . Und eine solche Einheit „Alle glauben das Gleiche und sprechen in gleichen Formeln vom Glauben“ ist nicht nur faktisch unmöglich, sondern auch theologisch nicht wünschenswert und angesichts der Vielfalt der Kulturen auch sinnlos.

16.
Über die Bedeutung der Einheitsvorstellung beim Augustiner Papst Leo XIV. wird in Zukunft noch viel debattiert und kritisiert werden, hoffentlich.

Fußnote 1:
Es ist aber beachtlich, dass der Augustinus – begeisterte Papst Leo XIV. schon am 18.Mai 2025 in seiner ersten großen, wichtigen Predigt zur Amtseinführung betonte: “Es geht niemals darum, andere durch Zwang, religiöse Propaganda oder Machtmittel zu vereinnahmen, sondern immer und ausschließlich darum, so zu lieben, wie Jesus es getan hat.“ Und der Augustiner Papst Leo XIV. machte diese Aussage noch deutlicher: „Wir sind gerufen, allen Menschen die Liebe Gottes zu bringen, damit jene Einheit Wirklichkeit wird, die die Unterschiede nicht aufhebt, sondern die persönliche Geschichte jedes Einzelnen und die soziale und religiöse Kultur jedes Volkes zur Geltung bringt.“ Das sind hoffentlich programmatische, man möchte beinahe sagen: anti – augustinische Worte. LINK https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2025-05/wortlaut-predigt-von-leo-xiv-zur-amtseinfuhrung.html
Der Augustiner Papst Leo XIV. widerspricht der höchst problematischen Weisung des Bischofs Augustinus, man solle die unwilligen Menschen auch zwingen, den Glauben anzunehmen… Augustinus bezieht sich dabei auf das Gleichnis Jesu vom großen Gastmahl (Lukas14,23). Dieses Wort Jesu ist eine Einladung fremder Gäste zu einem Festmahl, es hat aber nichts mit zwanghafter Einfügung von Ketzern in die katholische Kirche zu tun, wie Augustinus dieses Jesuswort umdeutete. Augustinus versteht es als „Aufforderung zur Gewaltanwendung und er verwendet es neben anderen Argumenten als Beleg zur Billigung von Gewaltmaßnahmen gegen Häretiker. Das von Augustinus als dem erstem, doch nicht häufig verwendete Zitat hatte für die Ketzerbekämpfung in Mittelalter und Neuzeit verheerende Wirkung.“ LINK:

Fußnote 2:

Augustins Aussagen über Frauen:

“Ist Augustin auf eine gleichrangige Bewertung beider Geschlechter bedacht, so ändert sich das Bild bei der Frage nach dem Zweck der Erschaffung eines weiblichen Partners für Adam und den daraus folgenden spezifischen Aufgaben der Frau. Augustin: „Erschaffen wurde die Frau also für den Mann, aus dem Mann, mit ihrem Geschlecht, ihrer Formung und der Verschiedenheit ihrer Organe, die das Kennzeichen der Frau sind.“ Die Hilfsfunktion der Frau erfüllt sich ausschließlich in ihrer Rolle als Mutter. Die Frage nach möglichen Alternativen für die Rolle der Frau stellt Augustin sichtlich vor ein Rätsel: „Wenn die Frau nicht dem Manne zur Hilfeleistung, um Kinder hervorzubringen, gemacht worden ist, zu welcher Hilfe ist sie dann gemacht worden?“ Der Gedanke, Mann und Frau könnten durch freundschaftliche Beziehungen miteinander verbunden sein, erscheint Augustin als abwegig, schließlich birgt der Umgang mit Frauen stets die Gefahr der Erotisierung in sich, welche die Reinheit des freundschaftlichen Umgangs trüben könnte. Zudem implizierte der antike Freundschaftsgedanke die Freundschaft unter Gleichen, die allein die notwendige Einheit und Verbundenheit zu erbringen vermag.

Ihre anthropologische Bestimmung als Gehilfin des Mannes verpflichtet die Frau in der ehelichen Beziehung zu spezifischen Pflichten und Wesenszügen. Augustin entwirft das Sittenbild einer christlichen Ehefrau mit den wesentlichen Tugenden des Gehorsams und der Sittsamkeit im Rahmen ihrer Aufgabe als treusorgende Mutter der aus der Ehe entsprungenen Kinder.

Augustin beschränkt die Möglichkeiten weiblicher Selbstverwirklichung wie seine christlichen Zeitgenossen auf die Ehe, die Witwenschaft und die Jungfräulichkeit, wobei er stets die Superiorität der Jungfräulichkeit hervorhebt. Paradebeispiel für die Vollendung des „züchtig-frommen Frauentypus“ ist Maria, da sie sowohl das Ideal der Jungfräulichkeit als auch das der Ehefrau und Mutter in Reinform repräsentiert. An ihr wird auch die androzentrische Perspektive des frühchristlichen Frauenbildes deutlich, denn Maria erscheint nie als eigenständige Persönlichkeit, sondern stets nur in ihrer Beziehung zu einem männlichen Partner: Sie ist die jungfräuliche Mutter, die Braut Christi und die folgsame Gattin Josefs, und ihre Aufgaben beschränken sich auf ihre dienende mütterliche Funktion.

Sexuelle Enthaltsamkeit ist für Augustin aber nur dann von moralischer Bedeutung, wenn sie in dem höheren sittlichen Zweck der exklusiven Bindung an Gott und der Abwendung von allem Weltlichen gründet. Selbst eine mehrfach verheiratete christliche Frau ist für Augustin besser als eine jungfräuliche Häretikerin, da die spirituelle Virginität auch ohne die des Körpers realisierbar ist und umgekehrt.

Allerdings gibt der Autor Kiesel zu bedenken, dass Augustins Frauenbild auf dem Boden einer asketisch geprägten eschatologischen Naherwartung entstanden ist und demzufolge alle irdischen Beziehungen unter dem Aspekt der Vorläufigkeit und Zweitrangigkeit zu betrachten sind.”

Quelle: https://www.information-philosophie.de/augustinus-frauenbild.html.

SIEHE AUCH UNSEREN BEITRAG “AUGUSTIN EIN RIGIDER THEOLOGE der spätantiken Welt. veröffentlicht am 26.5.2025: LINK 

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