Mehr als ein großer Theologe: Der Peruaner Gustavo Gutiérrez ist verstorben.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 23.10.2024

1.
Gustavo Gutiérrez hat die Theologie, nicht nur die katholische, grundsätzlich aus den engen Bindungen an die kapitalistische (Un-) Ordnung befreien wollen: Die Armen, Ausgebeuteten, Hungernden und Verhungernden Millionen Menschen sollten nicht länger Caritas – Objekte der Betreuung und der milden Spenden sein: Die Armen sollten selbst für Gerechtigkeit kämpfen – mit Unterstützung eben der Theologen, der Befreiungstheologen. Eigentlich skandalös dies sagen: Die Armen sind wertvolle Personen, die ihre Lebenserfahrungen kulturell ausdrücken sollten, auch in kritischer religiöser Sprache. Es gibt keine Herrenmenschen! Die Armen sind also auch theologisch schöpferisch, sie haben vieles Neue zu sagen, und zwar allen Menschen, auch denen im reichen Teil der Welt mit ihren reichen Kirchen. Aber das sind Projekte.

In den Basisgemeinden haben die Armen ihre Stimme entdeckt und gefunden, sehr zum Leidwesen des Vatikans. Denn die Laien der Basisgemeinden wollten berechtigterweise auch ihre Eucharistie selbst feiern. Schrecklich in den Augen der Klerus – Kirche.

2.
Am 22. Oktober 2024 ist der „Gründer“, d.h. der Inspirator und Begleiter der Befreiungstheologien gestorben. Er erreichte das hohe Alter von 96 Jahren! Der Religionsphilosophische Salon Berlin hat mehrfach auf Gustavo Gutiérrez hingewiesen, besonders auf sein grundlegendes Buch„teologia de la liberacion“, 1971 veröffentlicht, in vielen Sprachen übersetzt, auf Deutsch „Theologie der Befreiung“. LINK

Dass dieses grundlegende Buch (1971!) auch Mängel hat, ist klar: Es fehlt da etwa die Auseinandersetzung mit der Volksreligion, es fehlen ausführliche Reflexionen über die Rechte der Frauen in Kirche, Staat und Gesellschaft. Aber das Buch “Theologie der Befreiung” war ein Durchbruch. Ich will das Wort “Zeitenwende” eher nicht verwenden.

3.
Gustavo Gutiérrez gehörte mit seinem ersten Buch „Theologie der Befreiung“ und den folgenden Publikationen zu einer Art kritischen Bewegung innerhalb der lateinamerikanischen katholischen Kirche, zu denen auch Bischöfe gehörten, wie Dom Helder Camara in Recife LINK , Brasilien; Bischof Pedro Casaldaliga in Brasilien LINK ; Bischof Leonidas Proano in Ecuador, Erzbischof Oscar Romero in El Salvador LINK usw… Aber diese Bischöfe, die sich auch politisch auf die Seite der Unterdrückten stellten, waren letztlich innerhalb des katholischen Kirchen – Systems marginalisiert. Reaktionäre Bischöfe, wie der höchst einflußreiche Kolumbianer Lopez Trujillo vom Opus Dei LINK (Lopez Trujillo war ein Freund des polnischen Papstes) sorgten für die Marginalisierung und Verfolgung der Befreiungstheologen und Befreiungsbischöfen. Auch der deutsche Kardinal Franz Hengsbach (Essen) war nachgewiesen ein expliziter Feind der Befreiungstheologie: Diese Zusammenhänge werden von ADVENIAT, dem Hilfswerk der deutschen Katholiken für Lateinamerika, bis jetzt nicht öffentlich aufgearbeitet. LINK Zur Zeit geht es im Bistum Essen um anderes: Der so fromme Opus – Dei Freund Erzbischof und Kardinal (auch er ein Liebling des polnischen Papstes!) Franz Hengsbach war auch Täter des sexuellen Missbrauchs…Diese Verbrechen sollen in einigen Monaten freigelegt worden.

4.
Jetzt gilt es zunächst, des Lebens Gustavo Gutierrez dankbar zu gedenken und vor allem seine Bücher zu lesen, die bekanntlich nicht dazu führten, dass sich etwa die deutsche katholische Kirche auf die Seite der Armen stellte und entsprechend Strukturen, Sprache, Gottesdienste usw. änderte. Gustavo Gutierrez hat Wegweisendes geschrieben, aber … in den reichen Kirchen hat sich in seinem Sinne fast nichts verändert, d.h. verbessert. Eigentlich eine Schande bei dem persönlichen Engagements Gutiérrez. Der Umgang mit den Armen Lateinamerikas erschöpft sich in Europa nach wie vor weithin aufs Spenden…

5.
Über das aktuelle Gedenken der Trauer bleiben Fragen, die in nächster Zeit hoffentlich zu mehr Klarheit führen:
Gustavo Gutiérrez ist als Priester des Erzbistums Lima, Peru, spät (2001) in den Dominikanerorden eingetreten. Man sollte diesen Schritt interpretieren: Es war eine Flucht in eine sich oft progressiv verhaltende katholische Ordensgemeinschaft, also eine Flucht vor den Belästigungen durch Bischöfe. Der Kardinal von Lima, Juan Luis Cipriani (Erbischof dort 1999–2019) war ja ein bekanntes reaktionäres Opus Dei Mitglied und eben ein heftiger Feind der Befreiungstheologie und seines Priesters Gustavo Gutierrez. Er hatte in Lima sein Studienzentrum.

6.
Es wird in dem Zusammenhang endlich genau zu untersuchen sein, welchen Einfluß das Opus Dei in der Diskreditierung und Verfolgung von Befreiungstheologen (und Befreiungsbischöfen) gespielt hat und noch heute spielt. Das wären doch einmal wichtige Untersuchungen an katholisch – theologischen Fakultäten. Leonardo Boff in Brasilien lebt noch, er hat schon vieles berichtet vom Umgang Kardinal Ratzingers mit ihm als Befreiungstheologen… Vielleicht hat er noch neue, bislang unbekannte Dokumente?

7.
Nicht nur das Opus die hat die Befreiungstheologen zu zerstören versucht, auch die hierzulande wenig bekannte reaktionär katholische Organisation Sodalicium muss erwähnt werden: Deren Priester und Laien haben vor allem im Süden Perus alle Ansätze eines authentisch katholisch-indigenen Glaubens der Aymara und Quetchua zerstört. Eine wahre Leidensgeschichte. Jetzt wurden führende Leute dieser katholisch – reaktionären (aber politisch einflußreichen) Organisation des sexuellen Missbrauchs angeklagt… Das ist der Skandal: Jahre lang hat der Vatikan zugesehen, wie diese Leute des Sodalicium kirchliches Leben in Südperu stören und zerstören; jetzt erst merken die Herren in Rom, was das für ein Club ist! Der jetzige Erzbischof von Lima schlägt sogar ein Verbot dieses Sodalicium vor. Dabei ist diese Organisation aus Laien und Priestern nur eine von vielen neuen, sich oft charismatisch nennenden reaktionär- katholischen Gemeinschaften in Lateinamerika. Wer wird darüber investigativ arbeiten, wir sind gespannt. Zu den aktuellen Entwicklungen von Sodalicium: LINK

8.
Genauso gespannt sind wir, wann wirklich einmal die von Kardinal Gerhard Ludwig Müller so viel und so oft beschworene Freundschaft mit Gustavo Gutiérrez analysiert wird. Für viele ist es geradezu unvorstellbar, dass der Befreiungstheologe Gutiérrez mit einem doch immer schon sehr konservativen Kardinal befreundet sein könnte. LINK und LINK. Aber vielleicht hat Kardinal Müller seinen „Freund“ Gustavo Gutiérrez – aus welchen Gründen auch immer – vor schlimmer vatikanischer Verfolgung bewahrt? Wir sind gespannt, ob da jemals mehr Klarheit möglich ist und diese dann auch publiziert wird.

Ergänzung am 25. Oktober 2024:

8 a.
Kardinal Gerhard Ludwig Müller hat nach dem Tod von Gustavo Gutiérrez noch einmal am 24.10.2024 in einem Interview mit KNA zur Befreiungstheologie Stellung genommen: Dabei fällt auf, dass er die Befreiungstheologie von Gutiérrez „als eigentliche Befreiungstheologie“ hervorhebt und abhebt von anderen, die er als „marxistisch angehaucht im Sinne des ideologischen Progressismus“ deutet. Konkrete Namen nennt er nicht, es ist der übliche diffuse Vorwurf…

8 b.
Und Kardinal Müller ist „treuherzig” genug zu erklären, dass er „die“
Befreiungstheologie – also die in seiner Sicht vom Marxismus noch unbefleckte Befreiungstheologie von Gutiérrez – schätzt, weil er selbst die ziemlich alte katholische Soziallehre so liebt. Und weil diese alte Soziallehre der Befreiungstheologie von Gutiérrez offenbar entspricht…“Mich persönlich, der ich in der großen Tradition der europäischen Theologie gebildet bin, hat die Theologie der Befreiung Gustavos angesprochen, da ich als Mainzer von Jugend an auch mit Bischof Ketteler, dem Mitbegründer der katholischen Soziallehre, vertraut gewesen bin“ (KNA).
Der von Kardinal Müller, dem stolzen Mainzer, bewunderte Bischof Ketterer lebte von 1811 – 1877, er fiel durch antisemitische Äußerungen auf. Und auch durch die explizite Ablehnung von Sozialismus und sogar Liberalismus.

8 c.
Kardinal Müller hofft also, dass die aus Europa stammende katholische Soziallehre in Lateinamerika eine Hilfe sein könnte zur Überwindung der Armut, Ausbeutung und Unterdrückung der Massen.…
Befreiungstheologen hingegen gilt die alte katholische europäische Soziallehre als „ein abstraktes Lehrgebäude“, „das die wechselnden historischen Umstände nicht in ausreichender Weise berücksichtigt“, wie es der Jesuit Prof. Scannone (Argentinien) formulierte.
Die Katholische Soziallehre soll imSinne Müllers gelten, gerade weil sie nicht revolutionär ist, gerade weil sie nicht an einen Umsturz des Kapitalismus denkt, sie will nur das bestehende System korrigieren und für einen gewissen „Ausgleich“ sorgen.Diese katholische Soziallehre ist sozusagen grundsätzlich frei von den zentralen Vorschlägen von Karl Marx. Und dies glaubt Müller bei Gutiérrez zu finden.

8 d.
Es ist der alte Vorwurf, der auch vom „Arbeitskreis Kirche und Befreiung“ schon vor 50 Jahren formuliert wurde: Diese Gruppe von 20 Theologen und Soziologen traf sich zum ersten Mal am 12. und 13. Oktober 1973 in der katholischen Akademie Wolfsburg in Mülheim auf Initiative von Essens Bischof Franz Hengsbach als Chef des Hilfswerkes Adveniat und dem schon erwähnten reaktionären Feind der Befreiungstheologie Bischof Alfonso Lopez Trujillo, damals noch vor seiner päpstlich geförderten Karriere als Weihbischof von Bogota, Kolumbien. Diese Tagung in Mülheim fand 5 Monate nach der Tagung „Theologie der Befreiung“ in der Hochschule SVD St. Augustin bei Bonn statt, die ich entscheidend organisiert hatte und die viel Respekt und Sympathie für die lateinamerikanische Befreiungstheologie zeigte. (Siehe Nr. 9).

8 e.
Im Vorwort des ersten Tagungsberichtes des Studienkreises „Kirche und Befreiung“ schreiben die beiden genannten Initiatoren: „Solche Theologie der Befreiung gerät leicht in die Gefahr, aus dem eigentlichen Kirchlichen herauszufallen ….“ (S. 8). Der Hintergrund ist: Es gibt für diese Herren der Kirche eine authentische, d.h echte und im Sinne des Papstes ungefährliche katholische Befreiungstheologie. Kardinal Müller glaubt auch offenbar daran. Aber er hat wohl nicht die heftige Kritik des höchst einflußreichen kolumbianischen Bischofs (und späterem Kardinals in Rom) Lopez Trujillo gelesen. Dieser hat nämlich in seiner Abrechnung mit den von ihm so titulierten „marxistischen Befreiungstheologen“ (Girardi, Comblin, Blanquart…) eben auch Gustavo Gutierrez angegriffen, und zwar schon 1975, als das Buch „Kirche und Befreiung“ erschien. Auf Seite 69 heißt es von Bischof/Kardinal Lopez Trujillo: „Verschiedene Kapitel des bedeutenden Werkes von Gustavo Gutiérrez (er meint das wichtige Buch „teologia de la liberacion“ von 1971) sind völlig durchdrungen vom Einfluß der Marxisten Girardi und Blanquart. Diese Kapitel stimmen genau mit ihren diskutiertesten und problematischsten Ausführungen überein, was Gutiérrez auch gar nicht verhehlen will.“ Auch an anderen Stellen wird Bischof/Kardinal Lopez Trujillo zum heftigen Kritiker von Gutierrez (etwa S. 10), dort findet er diese Worte von Gustavo Gutiérrez geradezu unerträglich: „ Sich in die Perspektive des Reiches Gottes stellen, heißt, am Kampf um die Befreiung der von anderen Menschen Unterdrückten teilzunehmen. Dies haben viele Christen zu leben begonnen als sie sich in dem lateinamerikanischen Revolutionsprozess engagierten“.

8 f.
Mit anderen Worten: Kardinal Müller ignoriert offenbar die Gutiérrez` kritischen Äußerungen seines „Mitbruders“ Kardinal Lopez Trujillo.
Oder ist Müller dann doch ein Verteidiger zumindest der ganzen (!) Befreiungstheologie im Sinne von Gustavo Gutiérrez. Unwahrscheinlich ist dies. Wir meinen: Es handelt sich bei Müller um eine Irreführung der Öffentlichkeit, um die Aufgeschlossenheit des heftigen Dogmatikers Kardinal Müller plausibel zu machen. Fürstin Gloria von Thurn und Taxis, die große konservativ treu – katholische Freundin Müllers , wird es ihm glauben. Wir glauben diese Müller Reden nicht.
Denn Müller möge bitte sagen und genau zeigen, welche Vorlesungen vom Inhalt her (!) er in den Priesterseminaren Perus einst gehalten hat: Hat er Kapitalismus – kritische, vielleicht gar Marx – freundliche Texte von Gutiérrez verwendet oder doch die uralte deutsche Dogmatik. Diese Frage zu klären ist mühsam, wenn nicht angesichts der Machtverhältnisse unmöglich. Gutiérrez schweigt jetzt. Eine Chance für Müller, sich als Gutiérrez – Freund weiter zu schmücken. Wer wird diese Anmaßung ein Problem, wenn nicht einen Skandal nennen? Gibt es noch Journalisten und katholische Theologen, die dies in einer investigativer Recherche noch beweisen können und noch wollen und noch dürfen???

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

9.

Nur nebenbei:

Zusammen mit einigen Mitstreitern hatte ich im Frühjahr 1973 in der Phil.Theol. Hochschule St. Augustin SVD (bei Bonn) die erste Tagung in Deutschland zur Befreiungstheologie organisiert: Über die Tagung hatte ich in der theologischen Zeitschrift ORIENTIERUNG in Zürich im Juni 1973 berichtet: Orientierung, Nr. 12 30. Juni 1973, LINK

Im Juli 1975 veröffentlichte ich dann meinen Vortrag zu Grundlegendem der Befreiungstheologie als Broschüre: “Der Gott, der befreit”. Kyrios – Verlag, Freising.

Und 1977 habe ich zusammen mit Karl Rahner SJ und Hans Zwiefelhofer SJ den Sammel -Band “Befreiende Theologie” bei Kohlhammer herausgegeben…usw…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon.de

 

 

 

 

Wer aus der Kirche austritt, könnte eine neue Gemeinde gründen…

Ziemlich rebellische Vorschläge des katholischen Theologen Thomas Laufmöller unter dem Titel „Aufruhr“ (ein Buch aus dem Herder – Verlag)

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.

Europa erlebt einen tiefgreifenden kirchlichen und religiösen Umbruch, man möchte sagen: eine spirituelle Zeitenwende. Viele tausend Christen kündigen seit Jahren schon ihre Mitgliedschaft in den Kirchen. Sie „treten aus“, wie man so sagt. Aber: Wo treten sie hin? D.h.: Treten sie irgendwann wieder in eine religiösen Gemeinschaft ein? Sind sie seit dem Kirchenaustritts (oder vielleicht schon davor?) „bloß“ Atheisten, Skeptiker, Agnostiker, Nihilisten usw.? Etliche Religionssoziologen meinen: Viele „Ausgetretene“ bleiben oft auch spirituell interessierte Menschen. Religionsphilosophen können diese These grundsätzlich bestätigen: Es gibt vielleicht so etwas wie unsichtbare Religionen und Spiritualität bei allen Menschen…

2.

Bislang sind katholische Theologen in Deutschland nicht dadurch aufgefallen, dass sie den „Ausgetretenen“ (um diesen Begriff zu verwenden) explizit sagten: Sucht doch euch die eigene Spiritualität in neuen Gemeinschaften! Organisiert euch neu in Gesprächskreisen, Gemeinden. Ihr lebt doch immer noch spirituell, befreit von der Leitung der Hierarchie, befreit von vielen kaum nachvollziehbaren katholischen Traditionen (Zölibat, Papst-Amt usw., um nur katholische Beispiele zu nennen). Und ihr seid befreit von vielen nicht nachvollziehbaren, belastenden und verstörenden Dogmen, wie der Erbsünde. Die ewig wiederholten Glaubensbekenntnisse des 4. und 5. Jahrhunderts versteht doch kein kritischer Mensch der Gegenwart.“

3.

Soweit und so diffenziert geht der katholische Theologe Thomas Laufmöller in seinem Buch „Aufruhr!“ nicht, seinen Aufruf zur Aufruhr könnte man so zusammen fassen: „Ihr ausgetretenen Katholiken gründet doch eure neuen Gemeinden, zum Beispiel kleine Hausgemeinden, Treffpunkte, Gesprächskreise und entdeckt die schlichten gemeinsamen spirituellen Feiern von Brot und Wein, dabei kann man sich der Worte Jesu von Nazareth erinnern…“. Laufmöller schreibt: „Ich möchte als Seelsorger mithelfen und unterstützen, dass die lebenserfüllende Botschaft Jesu nicht durch die institutionellen Strukturen der Kirche gebremst, vielleicht sogar erstickt wird.“ (S. 187). Gleich am Anfang schreibt er: „Ich möchte, dass wir weiter nach unseren Wegen des Glaubens suchen, dass wir den Glauben in Gemeinschaft leben.“ (S. 12). Thomas Laufmöller gestaltet auch als „entlassener“ bzw. „ausgetretener“ Priester neue (!) Formen von Gottesdiensten, von „Messen“ spricht er nicht: „ Ich bin also ein gutes Beispiel dafür, dass sich auch in unserer Zeit etwas Neues rund um den christlichen Glauben aufbauen lässt. Inzwischen treffen wir uns einmal im Monat zum Gottesdienst, und es kommen viele Menschen.“ (S. 176).

4.

Das ist die „zentrale Message“ des sonst eher biographischen Buches von Thomas Laufmöller. Wie gesagt, mit dem sehr anspruchsvollen Titel „Aufruhr!“ Tatsächlich: Der katholische Theologe deutet seinen Vorschlag zur Gründung neuer Gemeinschaften und Gemeinden als Aufruhr, also als Aufstand und Rebellion. Aber Aufruhr gegen wen? Gegen die etablierte Kirchenhierarchie. Und Aufruhr wozu denn eigentlich? Es geht Laufmöller leidenschaftlich um die Gestaltung neuer elementar – christlich orientierter Gemeinden bzw. Gemeinschaften. Sie möchte der katholische Theologe als Wiederbelebung der Urkirche verstehen , also jener immer wieder idealisierten kleinen bescheidenen Gemeinden, in denen angeblich „alle alles gemeinsam“ hatten, wie es in der „Apostelgeschichte“ (Apg., 2,44) heißt. Der Ursprung also als Utopie gelten: Laufmöller plädiert in gewisser Weise für einen „Rebellion nach hinten“, in eine idealisierte urkirchliche Vergangenheit des 1. bis 3. Jahrhunderts, „vor Kaiser Konstantin“ und seiner Staatskirche.

5.

Auf dieses Thema „Gemeindegründung sozusagen „von unten“, „ohne bischöfliche Kontrolle“, laufen die Ausführungen auf 192 Seiten hinaus. Lang und breit berichtet der katholische Theologe auch von der Beendigung seines Priesteramtes im Bistum Münster im Jahr 2023, das er viele Jahre gern und offenbar mit großer Zustimmung der Gemeinden ausübte… Bis ihn eben sein zuständiger Bischof Genn von Münster, bürokratischen Üblichkeiten folgend, versetzen wollte: Mit anderen Worten: Pfarrer Laufmöller sollte aus seiner weithin anerkannten Gemeindearbeit in eine andere „vertrieben“ werden. Dagegen regte sich der Widerstand der Laien, vergeblich, bei den bekannten amtlichen katholischen Strukturen. Pfarrer Laufmöller trat aus dem Priesteramt aus und „löste sich von der Institution Kirche“ (S. 183, Details auch S.90 f.)

6.
Seit einem Jahr also ist Thomas Laufmöller freier Gestalter von Hochzeits-, Segnungs – und Trauerfeiern, er ist sozusagen privater Seelsorger und privater theologischer Referent . Siehe etwa die website Thomas Laufmöllers: https://www.thomas-laufmoeller.de
7.
Der Gedanke ist schon interessant: Sollen doch die „Ausgetretenen“, wenn sie denn wollen, aus eigener Initiative neue Formen eigener, persönlicher Spiritualität in Gemeinden, Gemeinschaften, Gruppen usw. entwickeln. Die Frage, ob „die“ „Ausgetretenen“ das noch wollen, lassen wir hier beiseite. Wenn das Projekt aber gelingt. Dann sollten politische Reflexionen in diesen neuen Gemeinden eine Rolle spielen, genauso wie die Sensibilität für Fragen des seelischen Wohlbefindens. Und: Wer käme als kompetente ModeratorIN für diese Gruppen in Frage? Braucht man später dann auch Organisationen, braucht man Vernetzungen der neuen Gemeinden? Entsteht dann doch wieder eine neue Art (säkularer ?) Kirche? Fragen über Fragen, die es aber verdienen, mit Religionssoziologen und aufgeschlossenen Theologen weiter diskutiert zu werden. Vor allem: Ist die Idee, die „Ausgetretenen“ zu einem eher diffusen Modell „Urkirche“einzuladen, wirklich hilfreich? Heute geht es letztlich um die Rettung der Welt, um die gute Zukunft der Menschheit, etwas großspurig formuliert. Also konkret um die Eingrenzung der Klimakatastrophe, um den Widerstand gegen den zunehmenden Faschismus, um nur zwei globale Herausforderungen zu nennen. Das ist nicht nur ein politisches Thema im engeren Sinn, es hat auch spirituelle Dimensionen, etwa wenn es um geistige Widerstandsreserven der Demokraten geht. Deswegen müssen sich alle Menschen stärker verbinden und verbünden als Gemeinschaften des demokratischen Widerstands. Allein demokratische Gemeinschaften, demokratische Gruppen, demokratische NGOs, demokratische Parteien können wirksam sein in dieser individualistischen Gesellschaft mit den zu Konsumenten reduzierten Personen.
8.
Trotzdem: Das genannte zentrale Thema Thomas Laufmöllers verdient Beachtung der Theologen, Philosophen, Soziologen und hoffentlich auch der Bischöfe. Denn die Zeit der alten etablierten Kirchen als Systeme und Machtstrukturen ist – in Europa – definitiv vorbei. Es geht heute um eine neue überkonfessionelle, den Dialog liebende Spiritualität in diesem nun zunehmend kirchenfernen und kirchenfreien Europa.

Thomas Laufmöller, „Aufruhr! Warum wir eine neue Urkirche brauchen“. Herder Verlag 2024, 191 Seiten, 20 €.

Copyright: Christian Modehn, religionsphilosophischer-salon.de

 

 

Kamala Harris – ihre Spiritualität.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 18.10.2024

1.

Schon im November 2020 hat der Religionsphilosophische Salon Berlin einen viel beachteten Hinweis zur Spiritualität von Kamala Harris publiziert.
Aus aktuellem Anlass erscheint dieser Hinweis, leicht gekürzt, noch einmal am 18.10.2024.
Im Mittelpunkt steht: Kamala Harris ist mit der Baptistengemeinde unter Leitung von Pastor Amos Brown in San Francisco, als ihrem „spirituellen Ort, eng verbunden – aber sie lebt als multireligiöse Christin.
2.

Die Mutter von Kamala Harris, Shyamala Gopalan Harris, 1938 – 2009, stammt aus Indien (Chennai, Madras), sie war eine gläubige Frau gemäß hinduistischer Spiritualität – auch als sie in den USA lebte…und für die Menschenrechte kämpfte. Während ihrer Reisen in Indien nahm Kamala Harris an Riten in hinduistischen Tempeln teil.
Der Vater Donald Harris stammt aus Jamaica und war mit der Baptistenkirche verbunden.
Der Ehemann von Kamala Harris, Dougles Emhoff, lebt eine moderne Form jüdischer Spiritualität, und sie bekennt:„Mit Douglas teile ich die Traditionen und Feiern des Judentums“, das sagte sie die Tageszeitung La Croix, Paris.

3.
In San Francisco ist Kamala Harris seit langem eng verbunden mit der Bapistengemeinde von Pastor Amos C. Brown. Er sagte über Kamala Harris in der Zeitschrift „Sojourners“: „In meiner Sicht verkörpert sie einen Satz aus dem Jakobus-Brief des Neuen Testaments, dort heißt es: „Ein Glaube ohne Taten und Werke ist tot“ (Jak. 2,26). Ein erstaunliches, sehr treffendes Wort eines berühmten US-Theologen und Kämpfers für die Menschenrechte, ist doch der Jakobus Brief von Martin Luther aufs heftigste kritisiert und abgewiesen worden, gerade weil im Jakobus Brief das TUN so extrem betont wird als Weg der Erlösung.

4.
Kamala Harris bestätigt die Aussage ihres Pastors: „Ich habe schon in der Jugend in der Baptistenkirche von Oakland damals gelernt: Den Glauben haben bedeutet: Er ist eine Aktion. Wir müssen ihn leben und in Taten verleiblichen“. Im Pressedienst „Protestinter“ sagte Kamala Harris: „Der Gott, an den ich glaube, ist der Gott der Liebe. Er will, dass wir den anderen dienen und im Namen derer sprechen, die weder reich noch mächtig sind. Dabei ist das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ganz zentral für mich“. Kamala Harris geht soweit, sich öffentlich auch zum privaten Gebet zu bekennen, „um Kraft und Schutz zu erbitten, gute Entscheidungen zu treffen“… LINK

5.

Kamala Harris lebt außerhalb rigider religiöser Identitäten. Eine gute Voraussetzung sein, um ein Land, das ideologische Barrieren und religiöse Eindeutigkeiten über alles pflegt, etwas mehr zu versöhnen, d.h. zur Vernunft zu bringen, Vernunft ist bekanntlich etwas den Menschen Gemeinsames und Allgemeines. Nur die allgemeine menschliche Vernunft, verbunden mit Empathie, kann eine Demokratie aufbauen. Und es ist keine Frage: Dieser korrupte Mr.Trump hat die demokratischen Werte zerstört und die Lügen als fast allgemeine Unkultur etabliert. Die Versöhnung der Menschen in den USA ist eine dringendste Aufgabe. Auch die Kirchen sind innerlich politisch zerrissen. Die katholischen Bischöfe werden immer konservativer, gegen die Partei der Demokraten, die Priester ebenso. Wo sind die neutralen Vermittler, die Mediatoren?

6.

Unser Beitrag über die Spiritualität von Kamala Harris, November 2020!  LINK

Copyright: Christian Modehn, religionsphilosophischer-salon.de
Dieser Hinweis verdankt einige Information der Tageszeitung La Croix, vom 9.11.2020.

Buchmesse 2024: Wo sind die Ketzer Italiens?

Über das Thema Religionen und Kirchen auf der Buchmesse in Frankfurt.

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Die Buchmesse in Frankfurt am Main 2024: ITALIEN ist „Ehren-Gast“.

2.
Der Religionsphilosophische Salon Berlin erinnert auch 2024 an ein Thema, das auf der Frankfurter Buchmesse meist keine große Bedeutung hat und eher wenig Beachtung findet: Es sind die Religionen und Kirchen und Philosophien. Dabei geht es uns gerade am Beispiel Italiens nicht um die dort übliche massenhafte Produktion frommer Traktate und Broschüren, sondern um Hinweise zu kritischen Aspekten des religiösen Lebens dort.
Nebenbei: In vergangenen Jahren hatten wir schon Hinweise gebracht: Zu 2017 Frankreich  LINK und LINK zu Georgien 2018 und Link 2011 zu Island.

3.
2024 konzentrieren wir uns anläßlich des Ehrengastes Italien auf eine zahlenmäßig kleine, aber geistig und politisch bedeutende progressive protestantische Kirche. Sie ist für uns ein Kontrast Programm zum allgegenwärtigen, auch politisch noch machtvollen Katholizismus in Italien. Diese protestantische Kirche hat den Namen „Waldenser – Kirche“. Und dieser Titel passt gut zum Motto des „Ehrengastes“ der Buchmesse 2024: „Verwurzelt in der Zukunft“. Die Waldenser – Kirche ist tatsächlich stark verwurzelt in der Geschichte Italiens und sie hat auch richtige, d.h. den Menschenrechten entsprechende  politische Perspektiven für die Zukunft dieses nicht nur in Nord und Süd geteilten Landes. Die Bindung dieser Kirche an die Menschenrechte ist für andere Kirchen inspirierend unter den Bedingungen der von Neofaschisten bestimmten Regierung Melonis.

Unsere Hinweise verstehen sich wie immer als Einladungen, als Impulse an die LeserInnen, selbst weiter zu forschen.

4.
Der Name Waldenser bezieht sich auf den mittelalterlichen Katholiken Petrus Valdes, er stammte aus Lyon (Frankreich), war ein Laie, kein Kleriker, aber er war ein kirchenkritischer Prediger und ein leidenschaftlicher Freund der Armen in dergleichen Kleriker – Kirche. Die Bibel wollte er selber lesen und deuten, etliche katholische Lehren lehnte er ab, wie den Glauben an ein Fegefeuer oder die Heiligenverehrung. Mit ihm bildete sich die “Bewegung der Armen von Lyon“. Sie konnte sich in Zeiten der Verfolgung durch die Inquisition in die westlichen Bergtäler Norditaliens (Piemont) zurückziehen.
Um 1210 ist Petrus Valdes gestorben. Die Waldenserkirche hat als ketzerische Vereinigung (ketzerisch in der Sicht der Päpste) trotz aller Anfeindungen und Verfolgungen durch die Päpste und die weltlichen Herrschaften überlebt. Eigentlich ist dies eine Sensation. Sie zählt heute etwa 40.000 Mitglieder in Italien, auch in Lateinamerika und sogar in Deutschland gibt es Waldenser – Gemeinden. LINK Deutsche Waldenservereinigung.
In Italien haben sich die Waldenser mit einer anderen protestantischen Kirche, den Methodisten, zusammengeschlossen.
Nebenbei: Papst Franziskus hat in einem Schreiben die Waldenser um Vergebung gebeten für die Verfolgung durch die katholische Kirche. LINK.

5.
Die Waldenser Kirche in Italien ist heute eine moderne, NICHT – fundamentalistische protestantische Kirche, die Bibellektüre folgt den historisch – kritischen wissenschaftlichen Grundsätzen und Frauen sind als Pfarrerinnen willkommenem, um nur zwei Beispiele zu nennen. Die ewigen Probleme der Katholiken haben Waldenser also nicht.
Und diese Kirche ist wegen ihres sozialen Engagements zugunsten behinderter Menschen und vor allem zugunsten der Flüchtlinge sehr beliebt. Ein Beispiel: Nur 70 Prozent der katholischen Italiener wollen ihre so genannte Kultur – und Religions-Steuer, das sind 0,8 Prozent der Steuerschuld, der dominanten katholischen Kirche überlassen. Viele weisen diese Steuer sozialen Projekten des Staates zu oder eben auch der Waldenserkirche: Obwohl weniger als 0,1 Prozent der Italiener Mitglieder dieser Kirche sind, entscheiden sich fast 3 Prozent aller steuerpflichtigen Italiener, diese Steuerschuld den Waldensern zu überweisen! Ein Zeichen für das gute Renomée dieser Kirche, die sehr genau und mit großer Transparenz dokumentiert, was mit dem Steuergeld geschieht: Viel Geld geht an Projekte zur Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten oder an die Prävention und Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt… „Die Arbeit der Projektbewertung ist schwierig und komplex, und wir versuchen, das Prinzip zu respektieren, das auf die Emanzipation der Menschen, auf die Verteidigung der Schwächsten und die Entwicklung der Völker blickt, soziale Veränderungen mit der gebührenden Aufmerksamkeit für den Nächsten und ohne Vorurteile“, heißt es in einer Publikation der Waldenser. LINK

Intermezzo: Zum Selbstverständnis der Waldenser Kirche, veröffentlich am 19.5.2024: Der kritische Geist zugunsten der Demokratie: “Gewissensfreiheit ist eine weitere Säule der Waldenskirche. Dieses Prinzip bestätigt, dass jeder Einzelne in der Lage sein muss, seinem Gewissen in Fragen des Glaubens und der Moral zu folgen, ohne äußere Zwang oder Zumutungen. Dieser Ansatz hat die Waldensische Kirche dazu veranlasst, historisch das Recht auf Religionsfreiheit zu verteidigen und sich jeder Form von Autoritarismus und Intoleranz zu widersetzen.
Gleichheit ist ein Wert, der alle Aktivitäten der Waldenskirche durchdringt. Alle Mitglieder der Gemeinschaft, unabhängig von Geschlecht, Alter, ethnischer Herkunft oder sozialem Status, gelten vor Gott als gleich. Dieses Prinzip spiegelt sich auch in der Struktur der Waldensischen Kirche wider, die auf demokratische und partizipative Weise organisiert ist, mit Ratschlägen und Synoden, in der alle Gläubigen ihre Meinung äußern und zu Entscheidungen beitragen können.
Schließlich ist die Aufnahme ein Kernwert für die Waldenserkirche. Die Waldenser-Gemeinde setzt sich dafür ein, für alle ohne Diskriminierung willkommen zu sein. Dieses Engagement zeigt sich auch in den zahlreichen sozialen und humanitären Initiativen der Waldenser-Kirche, die darauf abzielen, die Schwächsten zu unterstützen und Ungerechtigkeit zu bekämpfen. (Quelle. LINK ) 

6.
Ausdruck für die theologische ökumenische Offenheit der Waldenser ist auch deren theologische Fakultät in Rom: Sie ist offen für Studenten aller Konfessionen und auch für Interessenten, die keiner Kirche angehören, wie es in einer Publikation der Fakultät heißt. LINK
In diesen Zusammenhang gehört auch ein Hinweis auf eine ökumenische Monatszeitschrift: CONFRONTI ist der Titel, einst gehörte der bekannte ehemalige Benediktiner Abt und Theologe Giovanni Franzoni (1928 – 2017) zur Chefreaktion. Franzoni ist auch als Autor zahlreicher (politischer) Bücher bekannt geworden: Aber es ist bezeichnend, dass die Theologen der Waldenser Kirche mit einem vom Papst abgesetzten katholischen Abt zusammenarbeitete. I LINK.

7.
Offen für die Rechte der Homosexuellen eintreten und die Gleichberechtigung praktisch leben: Dies ist ein weiteres typisches Kennzeichen der Waldenser. Der Journalist und Italien -Experte Thomas Migge sagte im Deutschlandfunk 2011: „Bereits im Jahr 2010 hatten die italienischen Waldenser auf ihrer Synode die Möglichkeit der kirchlichen Eheschließung für homosexuelle Paare einstimmig beschlossen. Aber erst Ende Juni 2011 wurde dieser Beschluss in die Tat umgesetzt. Eine Entscheidung, die vom Vatikan in Rom wie ein Schlag ins Gesicht empfunden wurde. So hieß es nach dem Trauungsakt von Homosexuellen in einer Waldenser Kirche in Mailand inoffiziell aus dem Vatikan, dass nach so einem Schritt an eine Vertiefung der Beziehungen zwischen beiden Kirchen im ökumenischen Sinn vorerst nicht zu denken sei.“ LINK.

8.
Die Waldenser sind nach wie vor ein Stachel im Fleisch des italienischen Katholizismus: Diese Kirche verliert ständig und sytematisch an Mitgliedern, vor allem unter jungen Leuten und Frauen: Im Jahr 2018 waren 73 % der Italiener Mitglieder der katholischen Kirche, im Jahr 1981 waren es noch 93%. Der Katholizismus ist zwar nicht mehr offizielle Staatsreligion, aber er ist die „Religion des italienischen Kulturerbes“, etwa mit Religionsunterricht auch in staatlichen Schulen und dem obligatorischen Kreuz in staatlichen Gebäuden. LINK

9.
Der Katholizismus in Italien setzt nach wie vor auf die Pflege der so genannten Volksfrömmigkeit: Also auf Wallfahrten (man denke etwa an den Marienwallfahrtsort Loreto in den Marken, dort kann das Haus besichtigt werden, in dem die Jungfrau Maria als Mädchen angeblich lebte.) Oder man denke an die Verehrung des heiligen Scharlatans, des Paters Pio, LINK  oder an die Verehrung des Heiligen Gennaro und seine mysteriöse Blutkapsel in Neapel. Diese Mischung aus Aberglaube und diffusem Volkskatholizismus gilt offenbar immer noch als eine starke Stütze für die zerrissene italienische Gesellschaft. Heilen kann dieser religiöse Wahn diese kranke Gesellschaft (Mafia!) nicht.
Unter diesen Bedingungen haben die Waldenser als eine nüchterne, aufgeklärte, man könnte sagen vernünftige Kirche nur wenige Chancen, eine breite Reform- Bewegung zu werden…

10.
In Italien gab es immer schon Abweichler vom offiziellen Katholizismus, eigentlich müßen Historiker und Religionswissenschaftler eine italienische Ketzergeschichte schreiben, wobei es immer die Herrscher und die Päpste waren, die Menschen als Ketzer definieren. Aber sie waren oft klüger und wertblickender als das meist erstarrte System des Katholizismus.

11.
Vom fast vergessenen Theologen und Augustiner-Mönch Arnaldo de Brescia (1090- 1155) wäre im Zusammenhang der Ketzerei zu sprechen, an die theologisch radikalen Franziskaner – Spiritualen wäre zu erinnern, genauso an die Tatsache, dass Franziskus von Assisi eigentlich eine radikale Armuts-Bewegung als Glaubensgemeinschaft gründen wollte. Dann aber hat er sich der Macht des Papstes beugen müssen und einen „normalen, korrekten Orden“ entstehen lassen. Zur Rettung dieser machtvollen Klerus – Machtkirche… Neapel wurde später für kurze Zeit ein Zentrum reformatorischer Ideen, auch Venedig war zeitweise ein Zufluchtsort für Protestanten. Weil die kirchliche Zensur in Italien so heftig war, konnten Luthers Schriften in Italien kaum verbreitet werden. Bartolomeo Fonzie hat als erster Luthers Traktat „An den christlichen Adel“ ins Italienische übersetzt. Die wenigen Lutheraner wurden verfolgt, der Humanist Antonio Bruccioli (1498- 1566) übersetzte die Bibel ins Italienische, wurde deswegen von den Päpsten verfolgt… er lebte unter Hausarrest und starb in großer Armut.
Später machten radikale italienische Reformatoren von sich reden, wie Girolamo Zanchi (der später in Neustadt an der Weinstraße predigte), vor allem Lelio und Fausto Sozzini (1539 – 1604) sind auch nach wie vor wichtig und in Deutschland leider kaum bekannt oder sie werden verteufelt wegen „dogmatischer Abweichungen“ etwa von den großen Konzilien des 4. Jahrhunderts. Aber die Sozzinis waren theologisch hochgebildete Theologen und sehr gut begründete Überwinder des üblichen Dogmas der göttlichen „Dreifaltigkeit“ (Trinität). Fausto Sozzini konnte in das damals liberale Polen fliehen und dort Gemeinden aufbauen, die der „Polnischen Brüder“. Aber auch sie hatten letztlich dort kein Lebensrecht, einige „polnische Brüder“ flüchteten nach Holland und traten später in Kontakt mit den dortigen liberal – theologischen Remonstranten.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Alle Menschen sind Masken (?) Über James Ensor

Wenn sich ein Künstler als Christus (ohne Maske!) wahrnimmt.

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Wir sehen und betrachten James Ensor, seine Gemälde und Zeichnungen: Der Anlass: Vor 75 Jahren ( am 19. November 1949) ist der belgische Künstler, Autor eines vielfältigen und provozierenden Werkes, in seiner Heimatstadt Ostende gestorben. Geboren wurde er dort am 13. April 1860.
Als Einführung in sein Werk und Erläuterung zu seinem Leben empfehlen wir „Ensor“ von Ulrike Becks-Malorny, Taschen Verlag, 2016.

2.
Oostende, sein Heimatstadt, bietet ENDOR – Ausstellungen in der „Maison de James Ensor“  LINK 
genauso auch weitere bedeutende Ausstellungen in Antwerpen, etwa im „Musée Royal des Beaux -Arts d Anvers“ LINK.
Das Museum in Anvers/Antwerpen verfügt über die wichtigste Sammlung von Ensor Werken weltweit.

3.
Ensor hat furchtbar gelitten unter der Ignoranz seiner Mitbürger gegenüber seiner Kunst. Am schlimmsten war für ihn die heftige Verachtung der Kunstkritiker.
Uns interessieren hier nur einige wichtige Aspekte im Werk Ensors. Ein Eindruck vom Gesamtwerk: „Ensors Vorliebe für die Phantasie wird in eine groteske und beklemmende Bilderwelt übersetzt. Der Künstler jongliert gleichzeitig mit erheiternden und höllischen Schöpfungen, gemäß den Erfahrungen unser sehr verrückten Träume,“ heißt es in einer Publikation des KMSKA Museums in Antwerpen.

4.
Gemälde philosophisch zu verstehen: Darum geht es uns. Voraussetzung ist das geduldige Betrachten der Bilder und Zeichnungen usw., genauso das Fragen nach der zentralen „Botschaft“, die bedeutend sein könnte für das Selbstverständnis der Menschen – auch heute. Philosophische Bildbetrachtungen kommen nicht ohne kunsthistorische Kenntnisse aus: Aber philosophische Deutungen gehen darüber hinaus, sie verstehen Gemälde als Ausdruck von unterschiedlichen Lebenserfahrungen, dabei werden sie provozieren und zu Gesprächen anstoßen. Aber das ist ja der Sinn philosophischer Bild-Betrachtungen.

5. Masken
James Ensor ist der Maler der Masken, der Künstler, der Menschen vorwiegend als Masken darstellt. Und zwar als Massenmenschen, die sich in den verrücktesten Masken verstecken. Menschen, wenn sie als Masse oder als Gruppe auftreten, benötigen Masken. Das berühmte und durchaus als ein „Hauptwerk“ geltende Gemälde „Der Einzug Christi in Brüssel im Jahre 1889“ ist dafür der beste Hinweis. Davon später.
Ensor der Menschen als Masken versteht und darstellt. Diese Option hat auch biographische Gründe: Ensor lebt als Kind und Jugendlicher bei seiner Mutter in Ostende, sie bietet in ihrem Geschäft viele Masken an und kann sie durchaus verkaufen, sie sind begehrt, zumal in Zeiten des berühmten Karnevals, eines herausragenden Ereignisses im Leben der Menschen von Ostende und der weiten Umgebung. „Ensor entwirft in seinen Bildern ein ganzes Universum verschiedener Masken…Dabei wendet er Gestaltungsweisen an, die auch die Karikaturisten benutzen: Übertreibung, Verkürzung, Verzerrung. Bei Ensor schlägt sich dies in einer Vielfalt der abstrusesten Physiognomien nieder…“(Ulrike Becks – Malorny, S. 58). So sehr also die Maskenwelt des Karnevals eine Rolle spielt für Ensors Interesse an Masken: Ihm geht es aber um Grundsätzliches und Aktuelles: Der Mensch ist Maske.
Darum ist nicht die Darstellungsform der vielen bunten Masken – Menschen in ihrer grellen farblichen Gestaltung entscheidend: Philosophisch wird erst die Erkenntnis: Menschen sind für Ensor nichts als Träger von Masken. Der Kunst -Historiker Wieland Schmied schreibt: „Hinter den Masken wird kein Leben gelebt; die Masken selbst sind die Wesen, mit denen es Ensor zu tun hat, niemand verbirgt sich hinter ihnen, hinter den Masken ist kein Gesicht“. (Wieland Schmied: „Zweihundert Jahre phantastische Malerei“, Band 1, DTV 1980, S. 217. ).

6.
Mit seiner Kunst kann Ensor seine persönliche Wut auf die ihm bekannten Maskenträger seiner Heimatstadt Ostende hinausschreien. „Die Masken gefielen mir auch, weil sie das Publikum verletzten, das mich so schlecht aufgenommen hat“, schreibt Ensor Anfang 1895, berichtet Wieland Schmied (s. 219). „Die Masken zeigen das Gefühl, an das Ensor die gefühllosen Menschen erinnern wollte“ (dort S. 221). In einer Publikation des KMSKA in Antwerpen heißt es. „Im Verlauf des 19. Jahrhunderts arbeiten viele Künstler zum Thema Masken, wie Munch oder Nolde. Aber bei ihnen bilden die Masken vor allem ein dekoratives Element oder sie sind ein Mittel, um mysteriöses Weise die Identität einer Person zu verstecken. Bei Ensor hingegen enthüllen die Masken im Gegenteil die tiefe Natur des Menschen. Und genau da geht Ensor neue, eigene Wege“. (Übersetzung: CM).

7. Christus
Ensor hat mehrfach in seinem Werk die Christus – Gestalt dargestellt, was erstaunlich ist, verstand er sich doch eher als Atheist denn als „Christus – Gläubigen“. Dennoch zeigt Ensor eine gewisse Wertschätzung Christi: In seinen Zeichnungen von 1885 tritt Christus immer in Verbindung mit dem dominierenden Licht auf. Von Christus geht strahlende Helligkeit aus, etwa in „Christus stillt den Sturm“ von 1891. Das Licht könnte als die entscheidende religiöse, sozusagen vor- konfessionelle Dimension im Werk Ensors verstanden werden.“ Das Licht gewinnt für Ensor religiöse Dimension. Seine Entdeckung ist für den Künstler eine Art `Erlösungserfahrung`“, schreibt Horst Schwebel in „Christus in der Kunst des 20. Jahrhunderts“, Freiburg 1893, S. 15-16.

Bekannt und geradezu berühmt ist wie schon erwähnt „Der Einzug Christi in Brüssel im Jahre 1889“, ein gewaltiges Werk, Öl auf Leinwand,: 252 cm mal 430 cm. Christus in der Mitte des Werkes, auf einem Esel reitend und die Menschen segnend, ist umgeben von einer wirklich massenhaften Masse von Menschen, alle sind sie Maskenträger, Christus zeigt seine Identität!Christi Gesicht erinnert stark an Ensor selbst, der sich – wie so häufig – in der Christus – Gestalt, in Christi Leidensweg, aber auch dem späteren Triumph der Auferstehung, wiederfindet und in ihm repräsentiert sieht. Es ist also der Christus – Ensor der da in Brüssel einzieht… Man wird das riesige Gemälde – auch in dem genannten Buch von Ulrike Becks – Malorny – lange Zeit betrachten, dabei auf die Transparente des dargestellten Spektakels („Vive la Sociale“) achten…
Auch in dem Gemälde „Ecce Homo“ von 1891 stellt sich Ensor als leidender Christus dar, umgeben von seinen Widersachern, den Kunstkritikern Fétis und Sulzberger. Aber der anklagende Blick zeigt einen gar nicht bescheidenen „Christus – Ensor“, er weiß, dass er der Siegreiche einst sein wird. Über den „späten Ruhm“ Ensors berichtet Ulrike Becks – Malorny auf S. 85ff.

8. Masken und Philosophen

Von Ensors Masken ausgehend kann man sich weiter die Frage aufwerfen: Wie sind Philosophen mit dem Thema Masken umgegangen? Hier kann nur auf Friedrich Nietzsche und Michel Foucault kurz hingewiesen werden.

8.1. Friedrich Nietzsche
Die Frage war für Nietzsche leitend: Warum verstellen sich Menschen, setzen sich Masken auf, leben also schließlich auch als Maske? Das wurde für Nietzsche wichtig, seit er sich mit dem „Problem des Schauspielers“ befasste. Bei Wagner hatte Nietzsche „den Hang zum Schauspielern“ entdeckt, diesen Hang „kannte er nur allzu gut an sich selbst“ („Nietzsche Handbuch“, 2000, Seite 318, Beitrag von Ingo Christians). Die Figur des Schauspielres ist bei Nietzsche also „negativ aufgeladen“ (ders. S.319). Positiver sieht Nietzsche die Vielgestaltigkeit des Menschen, weil für ihn jeder Mensch „mehrere Personen ist, die jeweils einzelne Qualitäten zusammenfassen und betonen (heute könnte man hierfür den Begriff de sozialen Rolle ins Spiel bringen); Maske ist damit für Nietzsche ein Ausdruck für die Vielgestaltigkeit und Komplexität des Menschen“ (ebd.). Schwierig wird es, wenn man die Erkenntnis ernst nimmt: Ist die Gesellschaft ausschließlich von Masken-Trägern bestimmt, gibt es dann noch „authentisches Leben“ und „authentische Äußerungen“ der einzelnen, also auch authentische und wahre sprachliche Äußerungen. Wenn alle Menschen als Maskenträger verstanden werden, verschwindet dann die Idee der Wahrheit für den einzelnen als Masken – Mensch Sprechenden? Und wie können die vom Masken- Mensch vorgebrachten Wort – Beiträge von anderen angesehen werden, sind sie nur Ausdruck einer bestimmten Wahrheit des Masken – Menschen zu einer bestimmten Zweit mit einer bestimmten Maske? Wie sind gegenteilige Äußerungen von dem selben Maskenträger zu späterer Zeit aber mit anderer Maske, zu verstehen. Man kann den Eindruck haben: Werden Menschen erst einmal prinzipiell als Masken ( – Träger) identifiziert, schwinden für alle gültige Wahrheit – Kriterien. Bei Nietzsche müsste man dann von dessen Definition der Wahrheit als einer „Funktion des Willens zur Macht“ sprechen…(zu Nietzsche siehe auch: Corinna Schubert, „Masken denken – in Masken denken“, Bielefeld, 2020).

8.2. Michel Foucault
Das Wort Maske spielt im Werk Michel Foucaults eine große Rolle. In seinem Buch „Dits et écrits I“, Gallimard S. 448 antwortet Foucault auf die Frage, was er als Philosoph als Einsicht der Psychologie wichtig fände: „Die erste Vorsichtsmaßregel (als Dozent) wäre, dass ich mir eine sehr perfekte Maske kaufen würde, die sehr weit entfernt ist von meiner normalen Physiognomie. So dass mich meine Schüler nicht erkennen. Ich würde versuchen, wie Antony Perkins in dem Film „Psychose“, auch eine ganz andere Stimme anzuwenden…“ Dabei hat Foucault das Ziel: Er will als Autor ganz hinter seinem Werk zurücktreten. Der Autor ist nicht wichtig, er trägt eine Maske, um nicht identifiziert zu werden. Das Werk zählt nicht der Autor. Kein Foucault Klischee, keine „begriffliche Einordnung“ seiner Arbeit soll als vereinzeltes Urteil gelten. Foucault will sich nicht „identifizieren“ (lassen) und verbirgt sich, versteckt sich, mit Masken. Er will kein (klassischer) Philosoph(ie-Professor) sein, aber ein philosophisch um die Wahrheit kämpfender vielseitiger Denker, also anders als die anderen und nicht zu identifizieren mit einigen Schlagworten…
(Siehe den Aufsatz „Le philosophe masqué“ von Jean Zoungrana, Philosophe, in “Le Portique“, 7/2001).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon.de

Dantes Poesie: Hilfreich, heilsam, erlösend.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 6.10.2024 aus Anlass des neuen Buches von Fabio Stassi!

Pünktlich zur Frankfurter Buchmesse 2024: Etwas Neues über Dante!

1.
Dantes Poesie hat heilende Kraft, betont der Schriftsteller Fabio Stassi: Dante Alighieri (geb. 1265 in Florenz – gestorben 1321 in Ravenna) als inspirierenden, hilfreichen Dichter – Therapeuten entdecken: ein anspruchsvolles Unternehmen. Fabio Stassi, Autor zahlreicher Romane wie „Die Seele aller Zufälle“, arbeitet auch als Bibliothekar an der römischen Staats – Universität La Sapienza.

2.
Dante war ein mittelalterlicher, ein frommer, ein theologisch gebildeter, immer Papst-kritischer Mensch. Die Lektüre seiner Werke zeigt ihn als einen Dichter von HEUTE, meint Stassi, nicht nur, weil seine Texte körperliche wie seelische Leiden heilen bzw. wenigstens lindern, aber auch weil sie die zerrütteten politischen Verhältnisse freilegen. „Die Göttliche Komödie“ Dantes ist „ein Schrei nach radikaler Reform“, schreibt auch der Philosoph Kurt Flasch (Fußnote 1). Ergänzend zu Stassi sollte man wohl auch meinen: Dantes „Göttliche Komödie“ hält die Sehnsucht nach dem Himmel, dem Paradies Gottes – trotz oder wegen der Hölle – offen. Das war Dantes religiöse Überzeugung, ob man sie heute als „bloß mittelalterlich“ bewerten sollte und bewerten darf, ist die Frage.

3.
Zur Frankfurter Buchmesse 2024 mit dem Gastland Italien wird also eine herausfordernde These publiziert: „Wer sich auf die Poesie Dantes einlässt, wird ein neuer Mensch.“ Die „heilbringende Poesie“, so Fabio Stassi, kann die Vorstellung von religiöser Erlösung fördern! Stassis Bibliotherapie hat nun also höchste Ansprüche. Die noch etwas etwas bescheidenere Bibliotherapie, der Roman „Die Seele aller Zufälle“,  ist 2018 in Italien erschienen. Zur Bibliotherapie: LINK.

4.
Fabio Stassis leider etwas zu kurzer neuer, sehr persönlicher Essay erscheint auf Deutsch unter dem Titel: „Ich, ja ich werd` Sorge tragen für dich“, erschienen in der Edition Converso, Karlsruhe. LINK. Übersetzt man den italienischen Titel dann heißt das Buch: „Und ein schöner Vers heilt mich von allem Übel.“
Den Essay hat Stassi anläßlich eines Dante – Festival 2021 in Rom (auf dem Gelände der Basilica di Massenzio) verfasst.

5.
Dante selbst kennt seelische Qualen (den Verlust von Beatrice, seiner hoch verehrten Freundin) und er weiß aus eigener Erfahrung, was körperliche Leiden (Herzkrankheiten) an Unlust am Leben erzeugen. Aber Dante hat die Kraft, in seiner Poesie über das eigene Leiden hinauszuschauen, hinaus zu leben, möchte man sagen und die LeserInnen gerade deswegen zu trösten.

6.
Stassi bezieht sich in seinem Essay auf die Hauptwerke Dantes. Berühmt ist sein großes und großartiges Werk „Divina Comedia“ (1319), auf Deutsch „Göttliche Komödie“. Es liegen in deutscher Sprache fünfzig Übersetzungen des ganzen Werkes und siebenundzwanzig Teilübersetzungen vor. Das philosophische und politische Hauptwerk Dante „Über die Monarchie“ (1313) wird leider von Stasi nicht berücksichtigt.

7.
In der „Divina Comedia“ beschreibt Dante seinen eigenen Weg zum Paradies, er führt durch die Hölle und „Vorhölle“. Die Schilderung der Qualen der von Gott Bestraften und Verurteilten ist außergewöhnlich heftig und für die Leser anstrengend, schockierend: Aber Dante empfindet Mitleid für die Verdammten, betont Stassi (S. 17). Die Begegnung mit den Höllen Bewohnern soll wohl bei den LeserInnen eine heilsame Warnung haben, etwa: „Folgt nicht dem Lebensmodell der Übeltäter.“ Ob diese Warnung vor der Hölle auch heute noch wirksam ist, sei dahingestellt. Mit dem Glauben an einen Gott als den Weltenherrscher ist auch der Glaube an einen Gott als gerechten Richter aller Menschen verloren gegangen. Man hat den Eindruck: Verbrecher selbst aus so genannten christlichen Kulturen Europas (Putin nennt sich orthodoxer Christ, Hitler blieb sein ganzes Leben Mitglied der katholischen Kirche, General Franco war erz-katholisch usw.) haben offenbar überhaupt keine Angst vor einem ewigen Aufenthalt in der Hölle. Sonst würden sie sich anders verhalten. Dies nur das Rande, sozusagen als Fortführung der Gedanken Fabio Stassis.

8.
Dantes Poesie hat selbst in höchster Not, unter heftigster Lebensbedrohung, geradezu eine spirituelle Kraft. Stassi erinnert, dass der Schriftsteller Primo Levi im KZ Auschwitz einige Verse Dantes präsent hat und dadurch einen Mitgefangenen Italienisch lehrt…Stassi erinnert auch an den großen russischen Dante – Kenner Ossip Mandelstamm, er hatte noch in den Todes – Lagern Stalins einige Verse Dantes als eine Art letzten Trost im Gedächtnis.

9.
Dantes Poesie und Dichtung kann, wie er selbst in einem Brief schreibt, „die Lebendigen in diesem Leben (durch die Poesie) aus dem Zustand des Elends herausführen und zum Glück leiten“ (vgl. S. 79). Stassis Therapie durch Poesie hat politische Konsequenzen. Er nennt die Schmerzen seines Landes, „das seit Jahrhunderten unter den immer gleichen Übeln leidet: Jeder Aspekt des Nationalcharakters wird von Dante untersucht, Servilismus, Schmeichelei, Neigung zu Trägheit, Hochmut, abgründige Obsession der Fleischeslust“ (S. 60). Und Dante sagt im Blick auf seine Landsleute: „Die blinde Habgier hat euch ganz verhext! Ihr seid ja wie das Nuckelkind, das verhungert, aber die Amme wegstößt ( Paradies XXX, 139, zit. S 61 bei Stassi).

1o.
Sehr verständlich, wenn Stassi seinen Essay in einer gewissen Trauer und Melancholie beschließt: „Wenn die Dichter und die Schriftsteller und die anderen Bannerträger der Vernunft die Stimme verlieren, sind es die Diktatoren, die sie wiederfinden.“ (S 77)

11.
Mit Interesse werden die LeserInnen auch das Nachwort des Schweizers Autors und hervorragenden Dante – Spezialisten Ralph Dutli lesen (S. 107 ff.): “Die tiefste Hölle ist bekanntlich bei Dante kein übereifriges Heizungsunternehmen, sondern eine gigantische Kühltruhe.“ (S. 113). Vor allem Dutlis Hinweis auf den russischen Dante-Kenner Ossip Mandelstam ist wichtig: „In sein eigenes, anti-stalinistische Pamphlet, die `Vierte Prosa` von 1929/30, führte Mandelstamm gleichsam als Signal ein Dante Zitat ein, den Anfangsvers von Dantes Inferno – `Mitten auf unserer Lebensreise` – und Mandelstam bezeichnete damit seinen Eintritt in die Hölle der dreißiger Jahre unter Stalin… und die Beschwörung des Kannibalismus (bei Dante) ist bei Mandelstam eine Anspielung auf die ihre Kinder essenden Bauern während der von Stalin angeordneten Hungerkatastrophe des Holodomor (`Tötung durch Hunger`) 1931-1933 in der Ukraine“ (S. 120f.).

12.
Ich wünschte mir, dass Stassi bald erklärt, wie denn die Beziehungen der von ihm hoch gelobten hilfreichen Poesie zu den bekanntermaßen auch hilfreichen Weisheits – Sprüchen der griechischen Philosophie (Stoa, Epikur, Neoplatonismus) sind oder die Beziehungen zu den Weisheitssprüchen des Alten Testaments, dort etwa das Buch „Jesus Sirach“. Stassi lässt sich von seiner Überzeugung leiten: „Allein die Poesie, das sei nochmals betont, kann mehr als die Philosophie, mehr als die Religion und jedwede andere Disziplin den Menschen zur Heilung, zur Glückseligkeit und so letztendlich zur Gesundheit führen“ (S. 42). Zweifellos eine sehr steile These, wobei da noch zu fragen wäre, ob Glückseligkeit (“letztendlich”, nur?) Gesundheit ist.

13.
Ich suche in dem zweifellos kurzen Essay auch Hinweise auf die heftigste und allzu berechtigte Papstkritik, die Dante in den Kapiteln über die Hölle in der „Göttlichen Komödie“ äußert (und auch in dem schon erwähnten Buch „Über die Monarchie“). Man denke also an Dantes Verurteilung der in jeder Hinsicht unwürdigen und korrupten Päpste zu seiner Lebenszeit, also an Bonifaz VIII., Clemens V. oder Johannes XXII.

14.
Und weiter, um die Bibliotherapie Stassis im Sinne Dante weiter zu konkretisieren: Wäre es nicht auch eine Art Therapie, wenn Katholiken angesichts der vielen verbrecherischen Päpste aus der katholischen Kirche austreten und einfach sagen: Es reicht mir! Gibt es also einen heilsamen, befreienden Kirchenaustritt aufgrund von Dante Lektüren  auch heute?

15.
Irritierend bleibt, dass die Päpste des 20. Jahrhunderts bis hin zu Papst Franziskus voller Lob und beinahe überschwänglich auf Dante (den Papst – Feind) und sein Werk hinweisen. Papst Franziskus urteilt in seinem ausführlichen Dante – Text vom 25.3.2021 sehr milde und objektiv wohl auch falsch, wenn er schreibt: „Dante würde in einigen (sic) Bereichen der Kirche Verfallserscheinungen anprangern…“ Dabei war Dante DER mittelalterliche Kirchen – und Papstkritiker überhaupt! Und dies, obwohl – oder weil – alle seine Sehnsucht dem Himmel galt, dem Glanz des Ewigen, des Lichtes, dem Paradies, …vielleicht auch bloß der umfassend humanen Weltordnung? Siehe Fußnote 3: Papst Paul VI. über Dante!)

Fußnote 1:
Kurt Flasch, Kampfplätze der Philosophie“, Frankfurt M.-2008, S 184).

Fußnote 2:
Papst Franziskus über Dante zum 700. Todestag 202P: LINK. https://www.vatican.va/content/francesco/de/apost_letters/documents/papa-francesco-lettera-ap_20210325_centenario-dante.html

Fußnote 3:
Papst Paul VI. sagte über Dante manchmal in erstaunlicher Nähe zu Fabio Stassis These: »Die Göttliche Komödie ist von ihrer Zielsetzung her in erster Linie praktisch und transformativ. Sie will nicht bloß poetisch schön und moralisch gut sein, sondern sie möchte den Menschen radikal verändern und ihn von der Unordnung zur Weisheit, von der Sünde zur Heiligkeit, vom Elend zum Glück, von der furchterregenden Vision der Hölle zur selig machenden Schau des Paradieses geleiten«. (Papst Paul VI. In seinem Apostolischen Schreiben „altisssimi cantus“, 1966.)
………………
ZUM BUCH: Fabio Stassi,“ Ich, ja ich werd‘ Sorge tragen für dich. Kurze Abhandlung über Dante, die Dichtung und den Schmerz“ .
Aus dem Italienischen von Monika Lustig. Mit einem Nachwort von Ralph Dutli. 128 Seiten.
Verlag: Edition CONVERSO, Karlsruhe. 22,00 €

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon.de

Der schöne Schein von katholischer Modernität und die dunkle Realität heute.

Was man über die Entwicklungen im Katholizismus jetzt wissen sollte. Einige Fakten.
Hinweise von Christian Modehn.

1. “Klerikalismus ist Sünde” sagt der Papst.
Papst Franziskus ist wahrscheinlich der erste Papst, der den Klerikalismus aufs heftigste öffentlich kritisiert und explizit verurteilt. Der Papst ist als oberster Kleriker („heiliger Vater“) über die Verhaltensweisen und Ideologien der heute lebenden Kleriker, also der Priester in der römisch-katholischen Kirche, total empört. In seiner wohl Biographie zu nennenden Veröffentlichung mit den Titel „Leben. Meine Geschichte in der Geschichte“ (2024, ein in mehreren Sprachen herausgegebenes Buch, auf Deutsch bei HarperCollins) sagt Papst Franziskus: „Klerikalismus ist eine wahre Krankheit, eine Pest, Klerikalismus ist Sünde, eine Perversion, Klerikalismus habe die Macht, die Kirche zu zerstören usw…“ (die Belege auf den Seiten 256-257). Und dann auch dieses: „Klerikalismus ist das Gegenteil von Synodalität“, so auf Seite 257. Und der Leser denkt Ende September 2024 daran, dass ab 2. Oktober 2024 wieder die Weltsynode in Rom tagen wird: Und alle wissen schon jetzt: Synode im eigentlichen Sinne ist diese Veranstaltung nicht: Die Kleriker sind die große Mehrheit der Teilnehmer; Mehrheits-Entscheidungen der Synodalen haben keine Bedeutung, alle Entscheidungen der Synodalen müssen vom Papst gutheißen oder verworfen werden. Und der Anteil der Frauen unter den Synodalen ist sehr gering. Dabei sind mindestens eine halbe Milliarde der Katholiken weltweit Frauen! 45 Frauen unter den 368 Synodalen sind stimmberechtigt., berichtet katholisch.de am 1.10.2024. Anne Soupa, eine französische Historikerin und Theologin über die uralte Angst des Klerus vor den Frauen, diese Angst gilt auch für den Papst und seine Synode: LINK  Das Thema Diakonat für Frauen hat der Kleriker, Papst Franziskus, ausgeschlossen. Und die Presse ist bei den Synoden-Debatten nicht zugelassen. Von umfassender Demokratie ist auf der Weltsynode keine Spur. Der Klerikalismus, verstanden auch als päpstliche Allmacht, besteht also auch wie vor weiter. Was sollen dann aber diese Verbal – Attacke des Papstes gegen den Klerikalismus? Nur eine von anderen, schnell daher gesagten emotionalen päpstlichen Ausrutschern oder Launen? Wahrscheinlich ist das so.

2. Keine Analyse des “perversen Klerikalismus”.
Man beachte: Die Verurteilung des Klerikalismus, als, so wörtlich, Perversion, als Sünde, als Zerstörung der Kirche, als Pest usw. wird vom Papst nur kurz als Empörung ausgesprochen, sie wird von ihm nicht tiefer analysiert, geschweige denn überhaupt präzise definiert. Man könnte also den Eindruck haben: Der Papst äußert seine Klerikalismus – Empörung, um noch etwas Beifall in katholischen – progressiven Kreisen zu erhalten: Diese Gruppen sind ja bekanntlich mit sehr gutem Grund antiklerikal. Und diese sollen sich nun über einen verbal antiklerikalen Papst freuen…
Nebenbei: Es ist durchaus zum Schmunzeln, dass die Klerikalismus – Attacken des Papstes in einer Epoche stattfinden, in der die aus Europa selbst stammenden Kleriker de facto, also für alle nachweisbar, zu einer aussterbenden Berufs – Gruppe gehören. Der viel besprochene „enorme Priestermangel“ (und die Vergreisung des Klerus) in Europa kann nur noch durch den Import von vielen tausend Klerikern aus Afrika, Indien, den Philippinen, aus Polen auch noch vorläufig noch etwas ausgeglichen werden. Aber der Klerikalismus besteht auch mit wenigen Priestern fort.

3.
Schon im Jahr 2014 hatte Papst Franziskus in seiner Ansprache vor den Kardinälen den Klerikalismus aufs heftigste kritisiert und die in päpstlicher Sicht irregeleiteten Kardinäle und Bischöfe am päpstlichen Hof eigentlich verurteilt….LINK

4.
Aber entscheidend ist: Die heftigste Zurückweisung des Klerikalismus durch den Papst hat für ihn selbst und seine Theologie kaum praktische Konsequenzen. Der Papst könnte bei der Allmacht seines Amtes das unsägliche Zölibatsgesetz für Kleriker sofort abschaffen. Das wäre kirchenrechtlich möglich. Der Papst ahnt doch hoffentlich: Das Zölibatsgesetz, die Verpflichtung der Priester, sich ohne erotische – sexuelle Liebesbeziehung irgendwie „keusch“, vielleicht a- sexuell, vielleicht zunehmend homosexuell, durchs klerikale Leben zu schlagen, ist fraglos ein Grund fürs Entstehen des krankhaften, vom Papst pervers genannten Klerikalismus. Und der Klerikalismus zeigt sich in der Öffentlichkeit als neurotische Herrschaft, als Allmachtsgefühl, als Überzeugung von heiliger Auserwähltheit, als neurotischer Zwang, eigene, auffallende Priestergewänder (Talare etc.) in der Öffentlichkeit zu tragen… Man lese das Buch von Eugen Drewermann „Kleriker“ erneut!

5. Papst Franziskus hält gegen alle theologische Erkenntnis am Zölibat fest.
Selbstverständlich gibt es in dieser verrückt gewordenen Welt voller Rassismus und Rechtsextremismus und Ignoranz der Klimakatastrophe etc. philosophische dringendere Themen. Aber Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie also Religionskritik muss sich um dieses Thema kümmern. Einen kritischen Journalismus, also einen, der sich mit Kirchenfragen als Investigativer Journalismus befasst, gibt es bekanntlich nicht. Wir erinnern also an dieses Thema, weil der Papst aus seinem offenbar innersten Zorn auf den Klerikalismus heute keine wirksamen, praktischen Konsequenzen zieht.
2014 sagte er noch auf einer Pressekonferenz, „weil der Zölibat kein Dogma ist, ist die Tür (zur Aufhebung des Zölibates ) Immer offen“. Aber schon 2019 lehnte der Papst dann die Forderung der so genannten „Amazons – Synode“ im Vatikan ab, verheiratete Männer als Priester wenigstens für den Amazonas- Bereich zuzulassen. Und 2023 sagte er dem argentinischen Publikation „Perfil“: „Ich bin noch nicht bereit, das Zölibatsgesetz zu überprüfen“. In einem Brief an französische Seminaristen vom 1. 12. 2023 zeigte Papst Franziskus auch noch seine Bindung an eine fundamentalistische Bibelauslegung, als er behauptete: „Der Priester ist zölibatär, weil Jesus es war, ganz einfach.“ LINK
Und auch auf der Weltsynode, die am 2.Oktober 2024 in Rom beginnen wird, hat der Papst, nach wie vor allmächtig, das Zölibatsgesetz NICHT als Thema auf die Tagesordnung gesetzt. Und die synodalen Schäfchen folgen brav der päpstlichen Verfügung…

6. Nur Kleriker leiten die Kirche.
Papst Franziskus setzt also (trotz der vielen tausend Missbrauchs-Verbrechen durch den Klerus) das von ihm so verhasste klerikale System in aller Form fort, zum Schaden der ganzen Kirche und … auch der Gesellschaft: Denn neurotische Priester, möglicherweise pädosexuelle Täter, sind nun einmal keine guten Seelsorger… in schwierigen Zeiten zumal.
Sicherlich, es gibt einige päpstliche kosmetische Reförmchen: Zum Beispiel: Einige Frauen arbeiten jetzt in päpstlichen Behörden, einige Frauen arbeiten sozusagen als Notlösung in bischöflichen Bürokratien, Ordinariate genannt; einige wenige Frauen sind TeilnehmerInnen der Weltsynode im Oktober 2024. Im ganzen aber bleibt es dabei: Papst Franziskus unternimmt nichts Grundlegendes gegen die Macht des Klerus, die Leitung der Kirche bleibt absolut Kleriker-, also Männer Sache.

7. Katholische Kirche ist stolz, nicht demokratisch zu sein.
Und die katholische Kirchenführung betont jetzt erneut, wie stolz sie ist, keine Demokratie zu sein, keine demokratische Strukturen etc. zu haben und bei dem Ausschluss der Frauen vom Priester auch die universal geltenden Menschenrechte zu missachten. … Und all das sagt die Kirchenführung ungeniert, zu einer Zeit, in der in den wenigen noch verbliebenen Demokratien dann die Demokratie von Rechtsextremen abgeschafft werden wird.
Noch einmal: Die katholische Kirche tut so, als würde sie mit diesen Synoden einen modernen und demokratischen Anschein wecken. Die Realität ist anders: Papst Franziskus negierte in seinem Buch „Leben“ (Verlag HarperCollins 2024, Seite 64) jegliche Hoffnung auf eine demokratisch – katholische Kirche: „Die Kirche ist doch, wie ich häufig genug sage, kein Parlament!“

8. Fundamentalistische Theologie des Papstes
Aber der angeklagte, aber auch wie bestehende Klerikalismus zeigt seine Macht auch in seinen Weisungen zur spirituellen Praxis der Glaubenden, der Laien und der „einfachen Priester“. Und dieser Einfluß klerikaler Theologie, also meist fundamentalistischer Theologie. Siehe dazu die Bibelauslegung des Papstes, siehe dazu u.a jetzt wieder das Insistieren auf die absolute biologische Fixierung auf die zwei von Gott angeblich auf immer fest gelegten Geschlechter, so der Papst am 28.9. 2024 in Löwen, Belgien. Und von dieser fundamentalistischen Rede des Papstes hat sich die katholische Universität Löwen, Belgien, distanziert! LINK
Es geht also um die Vorherrschaft klerikaler Theologie und klerikaler Spiritualität heute. Der Papst unternimmt nichts, um abergläubische Praktiken der Frömmigkeit und Spiritualität zu unterbinden. Im Gegenteil, er unterstützt diese Formen abergläubischer Spiritualität sogar noch.
Zur theologischen Erinnerung: Religiöse Praktiken können nicht nur nach inner-religiösen oder inner-theologischen Kriterien beurteilt werden, sondern vor allem nach universell allgemeinen Grundsätzen der Vernunft. Diese selbstkritische Vernunft hat ihren Ausdruck in den universell gelten Menschenrechten. Deswegen ist die Kategorie „Aberglaube“ im religiösen Bereich auch in der katholischen Kirche berechtigt und notwendig. Das heißt: Ein vernünftiger Mensch kann nicht zulassen, dass die Religionen und Kirchen und Päpste etc. heute ausschließlich selbst definieren, was Religion, Glaube, Spiritualität ist.

9. Ablass wird propagiert: Von Martin Luther nichts gelernt.
Alte, theologisch längst obsolete Praktiken werden wieder propagiert: Das Jahr 2025 wird in der katholischen Kirche als „Heiliges Jahr“ gefeiert. Und das bedeutet: Etwa 25 Millionen Pilger werden in Rom erwartet. Sie werden zweifellos die leeren Kassen des Vatikans füllen: Denn der „heilige Stuhl“ hat ein Haushaltsdefizit von ca.80 Millionen Euro, wie der Papst vor dem Kardinalskollegium betonte, so wurde am am 20.9. 2024 berichtet.

Auch der Ablass wird wieder im heiligen Jahr besonders gewährt! Der Ablass ist keineswegs in den „Verließen“ des Vatikans verschwunden nach Luthers Kritik, nein, er wird nach wie vor offiziell propagiert. LINK.

10. An den Teufel glauben!
Der Glaube an den Teufel wird nach wie vor offiziell vom Papst gefördert und unterstützt: Am 25.9.2024 belehrte Papst Franziskus in seiner wöchentlichen Generalaudienz: „Der Teufel existiert, er verführt die Menschen dazu, seine Existenz abzulehnen.“
Der Exorzismus als katholischer Ritus, Menschen aus der Macht des Teufels zu befreien, wird nach wie vor von Priestern praktiziert, auch wenn die Kirchenführung jetzt, so der Papst in seiner Ansprache am 25.9.2024, etwas vorsichtiger vorgehe bei der rituellen Vertreibung des Teufels…
Auch dies: Exorzismus – Kurse finden an der Universität „Regina Apostolorum“ in Rom (unter der Leitung des höchst umstrittenen katholischen Ordens „Legionäre Christi) seit vielen Jahren regelmäßig statt. „Nach Schätzungen von Geistlichen sind allein in Italien rund 400 Exorzisten tätig.“ LINK
Wer etwa die Websites französischer Bistümer studiert, findet immer wieder den Hinweis auf die zuständigen Exorzisten. Etwa für das Erzbistum Paris LINK https://dioceseparis.fr/service-de-l-exorcisme.html. Oder ein Beitrag aus „Le Monde“ 2021: LINK

11. Die Kleriker sind absolut wichtig, weil nur sie die Messe zelebrieren dürfen!
Die absolute Vorrangstellung des Klerus in der Katholischen Kirche wird nach wie vor auch in der Spiritualität und der Glaubenslehre zementiert. Die Priester stehen an erster Stelle, weil nur sie die heilige Messe zelebrieren dürfen. Diese Messe wird als das absolut Höchste innerhalb der katholischen Spiritualität propagiert. Ohne Priester keine Messe, ohne Messe keine wahre Spiritualität. Wenn Priester fehlen, müssen „halt eben“ die überflüssigen Kirchengebäude geschlossen und verkauft werden. Das ist jetzt Praxis in Europa. Natürlich verlassen sehr viele Millionen nachdenkliche Menschen in Europa diese Kirche, so dass auch deswegen die Gebäude überflüssig werden…
Die ursprüngliche, biblische Mahlfeier der Gemeinde als Gedenken an Jesus von Nazareth wurde durch den Klerus zu einer kultischen Opferhandlung (zur Messe) umgewidmet, dieser kultischen Opferhandlung kann nur der geweihte Priester (ein Mann natürlich) vorstehen. (Vgl. den Beitrag des Theologen Helmut Jaschke „Das Eucharistieverständnis der katholischen Kirche ist überholt“ in Publik-Forum 17/2024, Seite 38.)

12. “Ich betete zur Mutter Gottes”.
Der Marien – Kult ist in der heutigen katholischen Kirche, Stand September 2024, kaum zu bremsen:
Papst Franziskus ist intensivster Verehrer der Jungfrau Maria. Seit jungen Jahren verehrt er besonders die wundertätige Jungfrau Maria mit dem Titel „Maria Knotenlöserin“: Der Papst sagt: „Ich hab mich Maria ganz hingegeben und gespürt, wie sie mir geholfen hat, alle meine Knoten zu lösen. ….Die Hingabe an die Mutter Gottes muss klar, schön, rein und schlicht sein, Maria und ihr Sohn (in dieser Reihenfolge, sic CM) müssen immer an erster Stelle stehen“, so in dem Buch des Papstes mit dem Titel „Leben“, Verlag HarperCollins. Seite 123. Dort war er auch sehr ehrlich: „Ich betete zur Mutter Gottes“ (Seite 73).

13. Maria erscheint auf Erden
Die überschwängliche Verehrung Mariens im Wallfahrtsort Medjugorje in Bosnien wird jetzt vom Papst anerkannt, selbst wenn er es verbietet, die monatlichen Äußerungen der dort aus dem Himmel hereinschwebenden Maria als Offenbarungen zu deuten. Quelle. Die Übernatürlichkeit, also Echtheit der Erscheinungen Marias auf bosnischem Boden, wird also vom Papst nicht bestätigt, so weit ist man theologisch schon gekommen. Um die vielen tausend Medjugorje – Pilger nicht zu brüskieren, drückt der Papst dann doch ein insgesamt positives Urteil über den Wallfahrtsort und die Botschaften Mariens dort aus: Insgesamt sei dieser Ort der Auftritte Mariens in Medjugorje „ein Schatz“ für die Frommen, den es zu pflegen gilt.
LINK
Die website katholisch.de nennt weitere Orte der Erscheinungen Mariens und angeblicher Wunder. „Zu nennen sind Trevignano bei Rom, Brescia und Como in der Lombardei, Kalabrien im Südwesten Italiens, gefolgt vom spanischen Wallfahrtsort Chandavila.“ LINK

14. Blutwunder als Spiritualität moderner Menschen.
Neben der höchst lebendigen Marien-Verehrung ist der so genannte mysteriöse, nicht mystische (!) Volksglaube vor allem in Italien, Spanien, Portugal, Lateinamerika sehr lebendig. Diese Frommen wollen das Göttliche oder ihren Gott und ihre Heiligen wirklich greifen, sehen, spüren, riechen…Bekannt ist die Vorliebe der Neapolitaner für das Blutwunder des heiligen Januarius (San Gennaro). Das Blut befindet sich in einer Ampulle, es darf sich aber erst verflüssigen nach einem zu Ehren des Heiligen gefeierten Messe. Aber im September 2024 war das Blut bereits vor der Messe verflüssigt, und das gilt als ein böses Omen. Aber der kompetente Blutwunder – Spezialist, der Erzbischof, beruhigte die nervösen und furchtsamen Frommen. Der katholische Aberglaube erzeugt Angst: Denn das Ausbleiben des Blutwunders wird in Verbindung gebracht mit den (bevorstehenden ?) vulkanischen Aktivitäten in der Nähe Neapels…

15.  Ein heilihger Scharlatan
Offiziell propagiert und fördert nach wie vor der Klerus auch eine exzessive Heiligen – und Reliquien- Verehrung. Über den Kapuziner-Pater Pio, den Scharlatan mit den Wundmalen Jesu an den Händen, wurde oft berichtet: Er ruht in einem Glassarg in San Giovanni Rotondo. Papst Franziskus holte die Kapuziner – Mumie in seinem Glassarg sogar in den Petersdom nach Rom. LINK

16. Das heilige Herz  auf Reisen.
Nicht weniger interessant ist die aktuelle Verehrung des jungen Heiligen Carlo Acutis (1991-2006), dessen Leiche im offenen Sarkophag in Assisi ausgestellt wird. Dem toten Körper hat man allerdings das jugendliche Herz entnommen (nicht für mögliche Transplantation), sondern: Die Kirche schickte dieses heilige konservierte Herz im Jahr 2024 auf Pilgerfahrt quer durch Europa. Selbst Katholiken fanden diese Rundreise eines Herzens geschmacklos. Um das Herz des jungen Toten wurde das Bekenntnis Carlo Acutis angebracht: „Die Eucharistie ist meine Autobahn zum Himmel“.

Nachtrag am 26.10.2024: Ende Oktober 2024 hat Papst Franziskus erneut eine Enzyklika veröffentlicht, ausgerechnet, um die Verehrung des Herzens Jesu zu fördern! Veröffentlicht zu einem Moment, als im Vatikan dreihundert Katholiken aus aller Welr, vor allem Kleriker, über die “Synodalität” der katholischen Kirche, also deren schwacher, möglicher Modernität und Demokratie, debattieren. Gibt es für Papst Franziskus wirklich kein dringenderes Thema für die bedrohte Menschheit von heute? Offenbar nicht.

Das Herz Jesu ist Gegenstand einer Frömmigkeit, die seit dem 19. Jahrhundert vor allem entleiblicht ist und nur das Herz Jesu bedenkt und pflegt, wenn nicht beweint, und gerade nicht umfassend dessen ganzes irdisches schwieriges, aber befreiendes Leben betrachtet. Es sind die  neuen geistlichen Gemeinschaften, wie die sehr konservative Bewegung “Emmanuel” in Paray-Le-Monial, die heute den Herz – Jesu – Kult fördern … für eine kleine Gruppe sehr frommer, sehr antimoderner Katholiken. Aber denen entspricht die Enzyklika.

17. Psychiater vermeiden im Apostolischen Palast
Papst Franziskus hasst also den perversen, sündigen Klerikalismus. Aber er hasst offenbar nicht die Kleriker. Aber er persönlich will doch Vorbild sein und lehnt klerikale Bevorzugung ab, das darf nicht vergessen werden. Er findet das für Päpste übliche Leben in den Palästen des Vatikans unerträglich. Entsprechend äußerte er sich in seiner Biographie mit dem Titel „Leben“ (2024): „Hätte ich mich nach der Papstwahl entschieden, in die Päpstliche Wohnung des apostolischen Palastes zu ziehen, dann hätte ich vermutlich über kurz oder lang einen Psychiater gebraucht“ (S. 221). Zur Erinnerung: Papst Benedikt XVI. hat mit seinem Sekretär Erzbischof Georg Gänswein in diesem apostolischen Palast offenbar recht gern gewohnt, Papst Johannes Paul II. übrigens auch…Waren diese geistlichen Herrschaften während all der Jahre des isolierten Wohnens im Apostolischen Palast beim Psychiater?

18.
Weitere Beispiele für den Klerikalismus und für den damit zusammenhängenden Aberglauben in der katholischen Kirche heute können die LeserInnen aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen einbringen. Wir brechen diese religionskritischen Hinweise hier erst einmal ab.

19.
Mit dem Fortbestehen des Klerikalismus und damit der Kleriker als einem herausgehobenem, besonderen exklusiven Stand begibt sich die katholische Kirche weiterhin ins Getto.
Und damit zusammenhängend: Mit der ungebrochenen Förderung populärer Frömmigkeit und veralteter Theologien wird diese Gettobildung weiter gefördert.

20.
Wenn gelegentlich der Anschein erweckt wird, wie jetzt durch die „Weltsynode“ im Oktober 2024, die katholische Kirche suche den Anschluß an die demokratische Moderne, sie habe die Absicht, mit einfacher, nachvollziehbarer Glaubens -Lehre auch kritisch denkende Menschen religiös zu interessieren: Dann sollte man wissen: Es handelt sich immer nur um Reförmchen des Klerus, also um leichte Veränderungen der klerikal bestimmten Kulissenlandschaft. Erst wenn es keinen herausgehobenen Klerus – Stand mehr gibt, wird diese Kirche menschenfreundlicher, frauenfreundlicher vor allem, sagen wir es: Erst dann wird diese Kirche modern und vernünftig werden und den Weisungen des armen Propheten Jesus von Nazareth entsprechend leben.

21. Dieser Hinweis  bezieht sich nur auf die römisch – katholische Kirche. Ähnliche Studien sollten zu den orthodoxen Kirchen unternommen werden oder natürlich auch zu den fundamentalistischen evangelikalen Kirchen und den Pfingstkirchen.
Wenn man sich nur das weite bunte Feld der christlichen Kirchen ansieht, und von kritischen Beobachtungen zum Islam oder zum Judentum absieht, dann muss man sagen: Das „Christentum“ ist heute ganz überwiegend noch anti-modern, anti-demokratisch, anti-feministisch bestimmt. Und man fragt sich: Wie sinnlos ist eigentlich die kritische theologische Wissenschaft, wenn die Herren der Kirchen gar nicht die Erkenntnisse der theologischen Wissenschaften respektieren. Man sollte dieses Verhalten Dummheit nennen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin