Eine “multireligiöse Kirche”

Größer als der Gott Calvins
Eine holländische Pfarrerin gründet eine interreligiöse Gemeinde für »Patchwork-Religiöse« und Menschen auf der Suche

Von Christian Modehn, ein Beitrag für PUBLIK FORUM am 27. August 2010.

Ich bin Christ, praktiziere Zen-Meditation und schätze die buddhistische Spiritualität. Mein Freund ist liberaler Jude, aber auch eng verbunden mit der muslimischen Sufi-Tradition.« Solche Bekenntnisse hört man jetzt immer öfter. Wenn Menschen nicht mehr einer Religionsgemeinschaft folgen, sondern verschiedene spirituelle Traditionen zu einer neuen Einheit verbinden, spricht man von »Patchwork-Religiosität«. Ob dabei dann wirklich Patchwork, zu Deutsch: Flickwerk, entsteht oder eine harmonische Neuschöpfung, hängt von der religiösen Sensibilität der Person ab.

»Genau diesen Menschen will ich ein Angebot der Vertiefung und Begegnung machen«, sagt die holländische Theologin Joan Elkerbout. »Ich lade sie ein, eine Gemeinde zu bilden.« Die 40-Jährige hat selbst erfahren, dass der protestantische Glaube ihrer Familie nicht genügte, um entscheidende Lebensfragen zu beantworten. »Welche meditative Praxis haben denn zum Beispiel Protestanten?«, fragt die Pfarrerstochter. »Und ist Gott, das Geheimnis des Lebens, nicht größer als der Gott Calvins?«

Zunächst hat Joan Elkerbout Sozialarbeit studiert. Sie gründete ein erfolgreiches Beratungszentrum zur Abwehr aggressiven Verhaltens in Schule und Familie. Aber dann zog es sie doch zurück zu ihrem ursprünglichen Interesse an der Religion: In den USA lernte sie im Rahmen des Interfaith Movement die Mystiker der großen Religionen kennen. Die Bewegung für den interreligiösen Dialog unterhält dort inzwischen eine Reihe von Meditationszentren, Treffpunkten und Ausbildungsstätten. Dort wird auch ein neuer Typ von Pfarrerinnen und Pfarrern ausgebildet: Die Studierenden werden mit den großen Religionen vertraut gemacht und lernen, Gottesdienste mit Elementen aus verschiedenen Traditionen zu feiern. Die künftigen Pfarrer werden unterwiesen, neue Riten zu gestalten mit Menschen unterschiedlicher Spiritualität.

Im vergangenen Jahr wurde auch Joan Elkerbout zur »Interfaith«-Pfarrerin ordiniert. »Das war für mich ein wunderbares Ereignis: Die große neugotische Riverside Church in New York war überfüllt, dort haben auch Martin Luther King und Nelson Mandela schon gepredigt.« Die Feier ihrer Ordination wurde von Vertretern aller großen Weltreligionen begleitet. Auch die afrikanischen Religionen waren dabei, niemand sollte ausgeschlossen sein: »Denn uns geht es darum, das Gemeinsame und Verbindende aller spirituellen Traditionen freizulegen und zu fördern.«

Ihrer holländischen Gemeinschaft hat Joan Elkerbout den Namen Renais-Sense-Movement gegeben – ein anspruchsvoller Titel. Es geht um eine Art Wiedergeburt der Toleranz, um eine religiöse »Renaissance«. »Sense« steht für die Suche nach einem neuen Sinn der vielen Weisheitstraditionen. In ihren Gottesdiensten trägt Elkerbout Texte aus verschiedenen heiligen Schriften vor. »Dann schweigen und meditieren wir gemeinsam. Wir haben Rituale mit Licht und in der Natur, wir bieten sakralen Tanz. Es geht einzig darum, dem gemeinsamen Lebensgrund nahe zu kommen, den viele Gott nennen.«

Als einen ihrer Inspiratoren nennt Elkerbout den katholischen Mönch Wayne Teasdale (1945-2004). Er war nicht nur mit dem Philosophen Ken Wilber gut bekannt, sondern auch mit dem verstorbenen Benediktinerpater Bede Griffith, der viele Jahre in einem Ashram in Indien lebte, ganz dem Dialog mit den Hindus hingegeben. »Teasdale, der auch mit dem Dalai Lama befreundet war und sich für das Parlament der Weltreligionen eingesetzt hat, lehrte uns, dass die Zukunft der Menschheit im Dialog liegt, nicht im Konfessionalismus.«

Das neuartige Angebot einer multireligiösen Gemeinde ist auch eine ganz eigene Antwort auf die gesellschaftliche Entwicklung in Holland. Über die Hälfte der Menschen dort gehört keiner Kirche an, gibt sich aber in Umfragen »als spirituell interessiert« zu erkennen. »Friede beginnt damit, sich auch der Weltanschauung des anderen zu öffnen, von ihm zu lernen«, sagt Elkerbout. »Nur so wird Fremdheit überwunden. Die Basis erleben wir schon jetzt in der Gemeinde: Sie heißt nicht Lehre und Dogma, sondern Mitgefühl und Liebe.«

Die ersten Gottesdienste der neuen interreligiösen Gemeinschaft fanden in den Kirchen der freisinnigen Protestanten, der Remonstranten, statt. Je stärker aber die Bewegung wächst, umso dringender werden wohl eigene »Tempel«. Die interreligiöse Gemeinde könnte ein wichtiges Angebot in einer Gesellschaft werden, die rechtslastigen Politikern und erklärten Muslim-Feinden wie Geert Wilders immer stärkeren Raum gibt. Das Klima von Hass und Vorurteil zu überwinden ist eine dringende Aufgabe, der sich die großen Kirchen Hollands bisher nicht gestellt haben.

Kontakt: www.renaissensemovement.nl

Jacques Gaillot: Ein neues Buch: “Die Freiheit wird euch wahr machen”.

Einer der wichtigsten Reformer der katholischen Kirche wird am 11. 9. 2010 75 Jahre alt. Aus diesem Anlaß erscheint das Buch:

Die Freiheit wird euch wahr machen. Ein Buch anlässlich des 75. Geburtstages von Jacques Gaillot. Hg. von Roland Breitenbach unter Mitarbeit von Katharina Haller, Zürich, und Christian Modehn, Berlin.
200 Seiten; 12 S. farbiger Bildteil.
Es kostet 18.80 – Die ISBN lautet: 978-3-926300-64-5.
Reimund Maier Verlag, Schweinfurth.

—–Ein Hinweis auf eine aktuelle Ra­dio­sen­dung über Jacques Gaillot:

Ein Text, der einer Sendung von Christian Modehn über Bischof Jacques Gaillot im Deutschlandfunk am 3. September 2010, um 9. 35 zugrunde lag.

Machtlos und frei
Bischof Jacques Gaillot wird 75 Jahre alt
Von Christian Modehn

1. SPR.: Berichterstatter
2. SPR.: Übersetzer

Moderationshinweis:
Er gilt weltweit als DIE Symbolfigur eines progressiven Katholizismus. Theologische Tabuthemen kennt er nicht, radikal sind seine Reformvorschläge. Aber jetzt will er dem Kirchenrecht Genüge tun: der französische Bischof Jacques Gaillot. In wenigen Tagen (am 11. September) wird er 75 Jahre. Und in diesem Alter müssen katholische Oberhirten in den Ruhestand treten. Einen Bischofspalast braucht Gaillot deswegen nicht zu verlassen, denn er lebt seit 15 Jahren in einem kleinen Zimmer des Klosters der „Väter vom Heiligen Geist“ im 5. Pariser Arrondissement: Hier hat er Zuflucht gefunden, als ihn der Papst im Januar 1995 wegen allzu radikaler Ansichten absetzte. Christian Modehn hat Bischof Gaillot über viele Jahre zu Interviews getroffen.

1. O TON:
2. SPR.:
Ich verwechsele die Kirche Christi nicht mit einer bestimmten Art, wie die Kirche heute funktioniert. Oder mit einer Institution, die nur auf die Disziplin achtet. Meine vorrangige Sorge gilt eigentlich nicht der Kirche, sondern dem Leben der Leute, dem modernen Leben; es geht um die Menschen, nicht um die Kirchendisziplin.

1. SPR.:
Bischof Jacques Gaillot in einem Interview, mitten in Paris, Anfang Februar 1995. Erst wenige Tagen zuvor wurde er vom Vatikan als Bischof von Evreux in der Normandie abgesetzt. Was waren seine „Untaten“? Er hatte seit 1982 in beständiger Regelmäßigkeit öffentlich und in aller undiplomatischen Deutlichkeit die Abschaffung des Zölibatsgesetzes gefordert; er trat für das Priestertum der Frauen ein; er verteidigte die rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen- Paaren, zudem hatte er Verständnis für die Abtreibung, den Gebrauch von Kondomen fand er als Schutz vor AIDS ganz normal. Ohne tief greifende Reformen habe die Kirche keine Zukunft, lautete sein immer wieder kehrendes Bekenntnis über all die Jahre bei seinen zahlreichen Auftritten in allen Fernseh- und Radiostationen Frankreichs. Für ihn waren sie eine günstige Gelegenheit, auch die Rechte der Ausländer einzuklagen und die Wohnungslosen und Obdachlosen entschieden zu verteidigen. Um Wehrdienstverweigerer kümmerte er sich genauso wie um Befreiungstheologen. Gaillot galt nicht nur als Kirchenrebell. Er war in seiner eher radikalen Position auch politisch höchst unbequem. Darum waren es „besorgte Katholiken“ wie auch konservative Politiker, die sich gemeinsam in Rom für die Absetzung Bischof Gaillots stark machten. Aber schon kurz nach seiner Absetzung war er gar nicht so unglücklich:

2. O TON:
2.SPR.:
Ich glaube, die Kirche hat mir einen Dienst erwiesen. Sie hat mich in eine Diözese ohne Grenzen hineingestoßen; sie hat mir, so würde ich sagen, erlaubt, dass ich mich befreie.

1. SPR.:
Der Ort der Befreiung hat für Gaillot einen Namen: Es ist der Wüstenort Partenia in Algerien, der nur noch als Titel eines längst untergegangenen Bistums existiert. Der Kirchenreformer Gaillot wurde also „Titularbischof von Partenia“. Er und seine Freunde machten dieses eher imaginäre Bistum zum Sammelpunkt von Menschen, die grundlegende Reformen in Kirche und Gesellschaft einklagen. Sofort wurde ein viel beachteter Internetaufritt geschaffen, der monatlich bis zu 800.000 Besucher aus aller Welt zählte. So entstanden neue Kontakte, Jacques Gaillot wurde zum reisenden „Wüstenbischof“, der nicht nur in ganz Europa, sondern noch in den abgelegenen Ecken des Amazonas oder im kanadischen Norden progressive Christen oder Verteidiger der Menschenrechte stärken wollte. Immer wenn er in Paris war, trat er öffentlich für die Belange der Flüchtlinge vor allem aus Nordafrika ein. Und er war bei Hausbesetzungen dabei, wenn Obdachlose ihr „Recht auf Wohnraum“ einklagten. Inmitten solcher Erfahrungen kam es immer wieder zu tieferen, geistlichen Gesprächen:

3. O TON
2. SPR.:
Es gibt Leute, die Jesus außerhalb der Kirchen entdecken als einen Menschen, der z.B. für die Frauen eingetreten ist oder für die Gleichheit der Menschen. Einst wurde das Evangelium durch die kirchliche Institution verbreitet. Heute ist Jesus nicht mehr in diese Grenzen eingebunden, das ist eine Chance für das Evangelium.

1. SPR.:
Gaillot möchte eine einfache, eine bescheidene und möglichst dogmenfreie Kirche fördern, eine Gemeinschaft, die vor allem in der praktischen Solidarität ihren Glauben bekennt. Die meisten Katholiken haben diese Haltung nicht verstanden, auch die französischen Bischöfe haben nur selten die Gemeinschaft mit ihrem radikalen Kollegen gesucht:

4. O TON
2. SPR::
Das letzte Mal zelebrierte ich eine Messe in der Kathedrale Notre Dame gemeinsam mit Bischöfen und Kardinälen anlässlich der Bestattung von Abbé Pierre im Jahr 2007. Tatsächlich habe ich wenig Verbindung mit der Hierarchie. Darüber bin ich nicht unglücklich, denn ich bin mit den Herzen vieler Leute verbunden.

1. SPR.:
Solange „Jacques“, wie ihn seine Freunde weltweit nennen, gesund bleibt, will er weiter Flüchtlinge, Ausländer und Obdachlose begleiten. Den Internetauftritt des virtuellen Bistums Partenia will er einstellen. Seinen Freunden überlässt er die Zukunft des inzwischen internationalen Netzwerkes:

5. O TON
2. SPR.:
Jacques Gaillot wird eines Tages nicht mehr da sein, dann muss wohl Partenia auch verschwinden oder aber: Partenia muss auf andere Art weitergehen: Man darf nicht zu viel festlegen, man muss die Freiheit walten lassen.

1. SPR.:
Aber auf diese Freiheit zu ungewöhnlichen Aktionen will Gaillot doch noch nicht ganz verzichten: So hat er erst vor einigen Wochen den traditionalistischen Abbé Philippe Laguérie getroffen, ausgerechnet jenen Priester, der in aller Schärfe damals aufs heftigste die Absetzung des progressiven Bischofs von Evreux forderte. Gespräche der Verständigung und Versöhnung nennt Gaillot solche ungewöhnlichen Begegnungen. An einen Rückzug aus der Öffentlichkeit denkt Jacques Gaillot auch als 75 Jähriger offenbar nicht.

Nur noch alte Theologen sind mutig

Der Religionsphilosophische Salon hat sich immer als Ort der Religionskritik verstanden. Philosophie ohne Kritik der (real existierenden) Religionen ist undenkbar, wobei unter “Religionen” auch alle Formen von “Vergötterungen” in der Gesellschaft verstanden werden.
Wir beobachten, dass in den etablierten Kirchen, vor allem im Katholizismus, ausschließlich noch pensionierte, sagen wir es ruhig: alte Theologen den Mut aufbringen, Klartext zu sprechen. Wer heute noch in den Kirchen beschäftigt ist, hat nur äußerst selten den Mut, fundamental Kritisches öffentlich zu sagen. Das ist der Karriere schädlich, Beispiele dafür gibt es en masse. Die Hierarchie straft jeden Abweichler. Sie hat selbst keinen Sinn mehr für “Clowns”, für spielerisches ungewohntes Denken, das hatte unter den Renaissancepäpsten und Barockbischöfen noch einen gewissen Platz.
Um so dringender ist es, regelmäßig kritische “Stimmen der Alten” zu dokumentieren. Mutig sind sie eigentlich nicht, aber lesenswert sind die Stellungnahmen allemal.

Der 82 jährige Jesuit Wolfgang Seibel, München, einst Chefredakteur der zu seinen Zeiten nicht gerade progressiven Zeitschrift Stimmen der Zeit, äußerte sich jetzt kritisch zum Papstkult der römischen Kirche:
“Ich halte den Papstkult, der heute in der katholischen Kirche betrieben wird, für eines der Grundübel der katholischen Kirche. Da muss man alles loben, was vom Papst kommt”. Pater Seibel sagte dies im Blick auf den von einigen Bischöfen erzwungenen Rücktritt des kirchenkritischen Leiters der katholischen Journalistenschule in München (ifp). Seibel sagte: “Die Haltung der Bischofskonferenz ist eng, kleinkariert, und wenig tolerant. Dort herrscht ein Klima, das offene Kritik und eigenstndige Meinungen nicht mehr zuläßt”.
Vgl. Süddeutsche Zeitung, 23. August 2010, Seite 13, aus einem Bericht von Matthias Drobinski.

Menschenrechte sind keine “exklusiv christlichen Werte”: Das “Wort zur Woche”

“Worte zum Sonntag” haben eine lange Tradition, sie pflegen die Erbaulichkeit, sind meist auf biblische Traditionen bezogen, wollen den Glauben wecken.
Die neue Serie “Das philosophisches Wort zur Woche” will nicht Erbaulichkeit, sondern Denken und Dialog, Kritik und Selbstkritik fördern. Es werden meist knappe Texte von Philosophen oder philosophierenden Wissenschaftlern vorgestellt, Texte, die hoffentlich provieren, zur positiven Verunsicherung führen.

Die Menschenrechte sind universal
“Die Behauptung, die Menschenrechte seien quasi kulturgenetisch im Abendland verankert, ist historisch unsinnig. Historisch entstanden sie zwar erstmals im Westen, entscheidend ist aber das in dieser Geschichte Erlernte. Dieses ist durchaus auch übersetzbar in andere Kontexte und Konflikte. Deshalb geht es weder darum, ein spezifisches Kulturgut des Westens zu verteidigen, noch darum, ein solches quasi als Implantat in fremde kulturelle Kontexte zu übertragen. So ist es auch schlichter Unsinn, die Menschenrechte als exklusiv christliche Werte zu verkaufen. Das kann nur, wer von der Kirchengeschichte, nämlich dem heftigen Widerstand der Kirche gegen die Menschenrechte nichts weiß. Den Ursprung der Menchenrechte bilden vielmehr geschichtliche Unrechtserfahrungen…es gibt keineswegs eine eherne Unvereinbarkeit dieser Werte aufgrund unterschiedlicher Kulturen. Es geht bei den Menschenrechten immer um mühsame, noch nicht abgeschlossene Lernprozesse, hinter denen als Triebkraft letztlich Unrechtserfahrungen stehen. Übrigens: Die Kenntnisse zu den Menschenrechten sind in Deutschland schlicht mangelhaft – selbst innerhalb der juristischen Zunft”.
Der Rechtsphilosoph Heiner Bielefeldt, in: Herder – Korrespondenz, Freiburg, 2004, Seite 558.

“Mit sich selbst zu Rate gehen”: Philosophische Praxis

„Mit sich selbst zu Rate gehen“: Philosophische Praxis

Philosophie ist niemals nur eine Sache der Universitäten (oder, wie in Frankreich, der Schulen) gewesen. Aber erst in den letzten 30 – 40 Jahren lebt das Philosophieren und damit die Philosophie wieder deutlicher an der „Basis“. Diesen wichtigen Prozess begleiten und unterstützen vor allem philosophische Praktiker. Der Religionsphilosophische Salon bietet ein Interview mit Dr. Thomas Polednitschek, er ist philosophischer Praktiker in Münster. Im August 2010 hat er an der „10. Internationalen Konferenz Philosophischer Praktiker“ teilgenommen.

Welches Thema stand diesmal im Mittelpunkt?

Im Mittelpunkt der diesjährigen Konferenz im niederländischen Leusden stand das Thema “Erfahrung”. Philosophische Praktiker aus verschiedenen europäischen Ländern, aus den USA, aus Lateinamerika, Afrika und aus Korea diskutierten dieses Thema in zahlreichen angebotenen “Workshops”. Interessant z. B. der Workshop eines Praktikers aus Botswana, der junge Offiziersanwärter in der Armee “hinter” allem Gehorsam gegenüber der Befehlsgewalt mit seiner Arbeit zu autonom denkenden und selbstverantwortlich handelnden militärischen Führungskräften ausbilden will.

In welcher Weise wurden dabei unterschiedliche (internationale) Themen und Formen der “praktisch-philosophischen Arbeit” deutlich? Gibt es sozusagen “regionale Unterschiede”?

Ja, meiner Beobachtung nach gibt es diese Unterschiede durchaus, und zwar — oberflächlich betrachtet – zwischen einer mehr oder minder pragmatisch ausgerichteten anglo-amerikanischen Tradition und der kontinental-europäischen Denktradition. Für mich hat sich aber auf der Konferenz der Unterschied anders dargestellt, nämlich auf der einen Seite die Praktiker , die nur die “Denkwürdigkeit” der Praxis akzeptieren, nicht aber die praktische Relevanz der Theorie und auf der anderen Seite die Praktiker, die auf der Dialektik von Theorie und Praxis, von Denken und Erfahrung bestehen. Das ging nicht ohne Spannungen ab.

Sind Philosophische Praktiker “nur” in eigenen philosophischen Praxen tätig?

Nein, Philosophische Praktiker sind nicht nur in eigener Praxis, sondern z.B. auch mit Seminaren zu ethischen Fragestellungen im Wirtschaftsleben oder im Bildungssektor tätig. Dazu gehört z.B. in meiner Praxis die Seminarreihe” Was uns zu freien Menschen macht”. Hier werden “Schlüsselfiguren” unserer okzidentalen Denktradition auf ihr Freiheitsverständnis hin befragt. Es ist ja heute alles andere als von vornherein immer schon ausgemacht, wovon wir sprechen, wenn von der “Freiheit” die Rede ist.

Ist die Hauptaufgabe philosophischer Praxis die “Lebensberatung”?

Nein, die Hauptaufgabe Philosophischer Praxis ist nicht die Lebensberatung! Denn — entgegen einem weitverbreiteten Missverständnis – muss man sagen: Die Sache der Philosophischen Praxis ist nicht die Praxis der philosophischen Beratung, sondern die Sache der Philosophischen Praxis ist die Philosophie, zu der Philosophische Praxis mit ihrer Praxis des Philosophierens einen ganz neuen und eigenen Beitrag leistet! Philosophische Praxis hat nichts mit philosophischer Beratung zu tun, sondern mit der Praxis des Philosophierens, die es ihren Gästen oder Besuchern möglich macht, mit sich selbst zu Rate zu gehen. Die “Praxis des Philosophierens” und das dialogische Denken im Gespräch zwischen dem Praktiker und seinem Gast sind die zwei Seiten der einen Medaille.

Worin sehen Sie als philosophischer Praktiker die Bedeutung der Philosophie für die Lebensgestaltung des einzelnen?

“Geist ist das Leben, das selber in’s Leben schneide.” (Nietzsche). Die Bedeutung der Philosophie für die Lebensgestaltung des einzelnen sehe ich in einem philosophischen Denken, das “ins Leben eingreift” (Safranski). Eben ein solches Denken will die Praxis des Philosophierens in einer Philosophischen Praxis sein, denn Philosophische Praxis ist an einem Denken interessiert, das Menschen vitaler und wacher macht.

Weitere Informationen zue Philosophischen Praxis von Thomas Polednitschek:

http://www.pppolednitschek.de