“Life of Pi” – “Schiffbruch mit Tiger”: Aus einem Interview mit Yann Martel

Wenn der Tiger das Leben rettet

Oder: Wie “das Böse” mit Vernunft besiegt werden kann

Von Christian Modehn.

Dieser Beitrag erschien in kürzerer Fassung schon 2003 in “Publik-Forum”, nach einem Interview “Christian Modehn befragt Yann Martel”. Weil viele Freunde des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons nachfragten, bieten wir den Text (nicht veraltet!) zum Nachlesen, auch anläßlich des Films des “Starregisseurs” Ang Lee (Taiwan) mit dem Titel “Life of Pi”, Start in Deutschland 26.12. 2012.

Auf hoher See ist er allein. Mit seinem Rettungsboot treibt er irgendwo verloren auf dem Pazifik hin und her: Pi Patel, ein sechszehnjähriger Junge aus Indien, hat bei einem Schiffbruch seine Familie verloren. Auch fast alle Tiere  sind dabei umgekommen. Sie sollten auf dem Dampfer seines Vaters, eines Zoo-Direktors in Pondicherry, Indien, nach Kanada transportiert werden. Jetzt hat Pi nur noch seine kleinen Rationen fürs Überleben – und neben sich einen Tiger. Ihn nennt Pi respektvoll Richard Parker. Er hat überlebt, weil er sich an einem Orang Utan satt fressen konnte; auch der Affe hatte noch das Desaster überstanden.

Nun muß Pi ständig damit rechnen, dass der bengalische Tiger, 450 kg schwer, auch über ihn herfällt. Sie sitzen schließlich im gleichen Boot.

“Schiffbruch mit Tiger” heißt der mit dem angesehenen Booker Preis (London) 2002 ausgezeichnete Roman eines bislang eher unbekannten Autors: Yann Martel (49), aus Montréal, Kanada, erzählt nicht nur in bewegenden Worten die Geschichte eines grossen Abenteuers. Er schildert nicht nur voller Spannung den verzweifelten Überlebenskampf eines verlorenen Menschen. Er geht vor allem der Frage nach: Wie kann ein Mensch, ja, wie kann die Menschheit insgesamt, überleben im Angesicht mörderischer, unberechenbarer, wilder Gefährdungen.

Pi ist ein gebildeter, nachdenklicher junger Mann: Den Tiger im Zustand menschlicher Selbstüberschätzung ins Meer zu schleudern oder auch zu töten, scheidet für ihn aus: Das Tier ist körperlich überlegen. So gilt es für Pi, sich zu arrangieren und mit der Macht des Geistes und der Vernunft, den Tiger zu bändigen. Und davon handelt der Roman ausführlich: Wie sich die menschliche Dominanz ausbauen lässt; wie das Tier, sozusagen gewaltfrei, z.B. mit der Trillerpfeife schikaniert und eingeschüchtert werden kann. “Es kommt darauf an: Das Tier muss es vermerken: Der Mensch achtet sehr darauf , dass seine Grenze nicht verletzt wird”. Mit Vernunft und List kann Pi schließlich den ewigen Kreislauf von Fressen und Gefressenwerden unterbrechen.

Aber Yann Martel nennt eine weitere Bedingungen: “Ich (Pi) hätte aufgegeben – hätte sich nicht in meinem Herzen eine Stimme bemerkbar gemacht. Die Stimme sagte: Ich sterbe nicht. Solange Gott bei mir ist, sterbe ich nicht”.

Pi ist ein spirituell interessierter junger Mann; für ihn ist die Mystik des Hinduismus, Christentums und des Islam gleichermaßen wichtig. Das ist wichtig: Er ist eine „multireligiöse“ Gestalt, darin sehr zeitgemäß, gibt es doch immer mehr Menschen, die sich aus der exklusiven Bindung an eine (herkömmlich- vertraute) Konfession befreien und „Mischformen“ religiösen Bewusstseins für sich selbst suchen und dann „hybrid“ leben. Darauf weisen immer wieder auch TheologInnen hin, wie etwa Manuela Kalsky, Amsterdam, Spezialistin für “multireligiöse Bindungen”.

Nur in dieser spirituellen Kraft, kann sich Pi trotz aller Angst und Verzweiflung durchringen, “dass das wilde Tier am Leben bleibt”. Eine Entscheidung, die ihm später selbst die letzte Energie zum Überleben auf hoher See geben wird: Denn hätte er nicht das Tier bei sich, um das er sich letztlich kümmern muss, der Lebenswille hätte ihn in den Stunden tiefster Ohnmacht längst verlassen: Ein Dampfer fährt nämlich ungerührt an den Schiffbrüchigen vorbei…In dem Moment ist Pi dem Ende nahe, und dann sieht er den hilflosen Tiger vor sich: “Ich liebe dich, Richard Parker. Wärest du in diesem Augenblick nicht hier, ich wüsste nicht, was ich tun würde. Ich glaube, dass ich nicht weiter könnte. Die Hoffnungslosigkeit wäre mein Tod. Gib nicht auf, Richard Parker, gib nicht auf”

Und gegen Ende seines Romans lässt Yann Martel seinen Protagonisten Pi zum Tiger sagen: “Richard Parker, ich danke dir, dass du mir das Leben gerettet hast”. Verkehrte Verhältnisse,  könnte man denken: Nicht das Töten des gefährlichen Feindes rettet den bedrohten Menschen, sondern das Lebenlassen des “anderen”. Nicht tierische Gewalt, sondern menschliche Vernunft führt beide zur Rettung.

Yann Martel hat natürlich keinen philosophischen Traktat geschrieben, obwohl er selbst philosophisch sehr interessiert ist. Er hat einen gut lesbaren ( und gut übersetzten) Roman geschrieben, selbstverständlich mit einem aktuellen Bezug,  angesichts der kriegerischen Gewalt, angesichts der dauernden Gefahren von “Fressen und Gefressenwerden”. Kein Wunder, dass sich bisher allein im englischen Sprachraum mehr als eine halbe Million Leser auf diese Irrfahrt übers Meer mit einem Tiger eingelassen haben. Sie haben dabei die Kunst des Überlebens entdeckt – in der Kraft der Vernunft!

Sie haben aber dabei auch einen Autor kennen gelernt, der “die Idee des Friedens” auf seine Weise praktisch versteht: “Ich lebe eher kärglich und sparsam, ich wohne nie allein, sondern immer in Wohngemeinschaften mit anderen; ich kaufe vor allem Second-Hand-Klamotten; ich habe kein Auto. Wichtiger ist noch, dass ich mich regelmässig ehrenamtlich engagiere: In Montréal besuche ich einmal pro Woche ein Hospiz für Sterbende, ich versuche, diesen Menschen nahe zu sein. Konsumverzicht und Ehrenamt sind für mich zwei revolutionäre Ideen in einer kapitalistischen Welt, bei der sich alles nur um den Profit und die Macht des Stärkeren dreht”.

Mit Verwunderung nehmen die Leser zur Kenntnis, dass sich der jetzt in allen grossen Sprachen übersetzte Autor öffentlich zum christlichen Glauben bekennt. Er ist in einer religiös desinteressierten, “skeptischen Familie” von Diplomaten großgeworden. In Montréal wird Martels Bekenntnis zum Christentum wie eine kleine Sensation behandelt. Denn in dieser Metropole hat die Kirche seit 40 Jahren jegliche Reputation verloren, sie hat alle institutionelle Macht nach der “révolution tranquille” um 1960 aufgeben müssen.  Aber gerade diese schwache, machtlose Kirche von Montréal fasziniert offenbar Yann Martel, etwa die römisch-katholische Pfarr-Gemeinde St. Pierre – Apotre, in der ausschließlich Homosexuelle die Gemeinde bilden und vorbehaltlos als solche angenommen werden und das Gemeindeleben und die Gottesdienste tatsächlich bestimmen.

“Mein Buch  hat mit dem Frieden zu tun”, sagt Yann Martel, “immer wenn wir Brücken bauen zwischen der Mehrheit und den “anderen”, wenn die Vernunft stärker ist als Hass, kommen wir der Harmonie, dem friedlichen Zusammenleben,  näher”.

Yann Martel, Schiffbruch mit Tiger. Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf – Allié. S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 382 Seiten. 19, 90 EURO.

PS.: Inzwischen hat Yann Martel zugegeben, dass einige  Ideen zu seinem Roman von Moacyr Scliar. einem brasilianischen Autor, stammen. Aber er empfindet,  so sagt Scliar,  die Nachahmung als ein Kompliment…

COPYRIGHT: Christian Modehn, religionsphilosophischer Salon.

Selbstbestimmt leben – auch in meiner Religion

Beim nächsten Salon am 13.1. 2013 wollen wir das schon diskutierte Thema Selbstbestimmung von einer spezielleren Seite beleuchten:

“Selbstbestimmt leben – auch in meiner Religion”. Über das Recht und die Pflicht, sich seinen persönlichen Glauben, auch seinen persönlichen Unglauben, also seine eigene Spiritualität, selbst (mit anderen) zu gestalten. Also ein Salonabend auch über den Abschied von alten Göttern und überlieferten Traditionen und Konfessionen … sowie und von dem (unbewußten?) Gebundensein an “kulturelle Götter” (etwa des Kapitalismus, Konsumismus usw.) …Ein spannender Salon Abend, herzliche Einladung… mit der Bitte um Anmeldung per email: christian.modehn@berlin.de

ORT: Wieder in der Galerie Fantom in der Hektorstr. 9 in Berlin – Wilmersdorf, nahe Kurfürsten Damm um 19 Uhr!

Zum Thema des Januar Salons:  Im November und Dezember 2012  sprachen wir über Möglichkeiten und Formen der Selbstbestimmung, anläßlich des Buches von Peter Bieri. Im JANUAR Salon am Freitag, 11. Januar 2013 um 19 Uhr in der Galerie Fantom (Hektorstr. 9 in Wilmersdorf) wollen wir das Thema fortsetzen: Es wurde ja deutlich, dass wir bei der Selbstbestimmung immer schon von einem Bestimmtsein und Verfügtsein ausgehen (müssen). Das gilt auch für die religiösen, philosophischen und weltanschaulichen Tradtitionen, in die wir hinein gestellt wurden. Welche Bedeutung hat dann religiöse, philosophische und weltanschauliche Selbstbestimmung, also die Wahl, meines je eigenen “Glaubens”. Heute suchen sich immer mehr Menschen ihre je eigene Spiritalität: Das ist soziologisch erwiesen. Die Rede ist von multireligiösen Bindungen. Ist das wirklich so neu? Und welches sind die Kriterien der Wahl, welches Glück suchen wir dabei? Genauso wichtig: Wie stark sind die unbewusst bestimmenden “Dogmen” der Gesellschaft, die meist den Werten der herrschenden kapitalistischen Gesellschaft entsprechen? Sind wir uns bewußt, dass wir z.B. an die Allmacht des Geldes “glauben”, an die bestehenden Strukturen der Wirtschaft, der Politik? Können wir auch inmitten dieser zugewiesenen Glaubensformen zur Selbstbestimmung finden? Das spannende Fragen, über die eine Debatte lohnt zugunsten größerer Klarheit.

 

Der phantastische Jesus – über “apokryphe Weihnachtsgeschichten”

Eine Ra­dio­sen­dung am 2. Weihnachtsfeiertag: Im Kulturradio RBB von 9.04 bis 9.30 Uhr. Derselbe Beitrag wird am 26. 12. 2012 auch im Hessischen Rundfunk HR2 (Reihe Camino) von 11.30 bis 12.00 Uhr gesendet.

Der phantastische Jesus: Weihnachtsgeschichten der frühen Kirche

Von Christian Modehn

„Es begab sich aber zu der Zeit …“. So beginnt die bekannte Weihnachtsgeschichte im Lukas-Evangelium. Darüber hinaus finden sich über die Geburt Jesu und den Alltag in der heiligen Familie weder bei Lukas, noch beim Evangelisten Matthäus erschöpfende Hinweise. Mit so mageren Informationen wollten sich die ersten Christen aber nicht zufrieden geben. Sie verfassten, von frommer Phantasie geleitet, weitere Legenden und Erzählungen, so genannte „apokryphe“, verborgene Evangelien: Da wird von der Geburt in einer Höhle berichtet, von neugierigen Hebammen und den Eltern der „Gottesmutter“ Maria. Das wundertätige Baby entwickelt sich zum trotzigen, frechen Jungen. Die Kirchenführung ignoriert diese Texte; das fromme Volk sowie Künstler und Schriftsteller lassen sich von ihnen bis heute inspirieren. „Der Glaube braucht phantastische Bilder“, sagen Liebhaber dieser ersten „Jesus–Romane“.

 

Der Advent – philosophisch betrachtet.

Inspirationen im Advent.

Diese philosophische Meditation wurde am 30.11.2012 publiziert. Und bis zum 27.11.2022:  369 mal gelesen.

Von Christian Modehn.  Siehe auch “Advent in Kiew (Kyjiw)” : LINK.

Der Beitrag wurde am 27.11.2022 aus dieser Website entnommen, angesichts der Hilflosigkeit, wenn nicht der Verzweiflung, für eine andere, spirituell und vor allem human angemessene Form des Lebens im Advent zu plädieren. Leben ALS Erwartung, als Hoffnung, war ja eine Kernthese dieses Beitrags.

Um nicht vom Krieg, von der Klimakatastrophe, der Spaltung der Menschheit in wenige Reiche und sehr viele Arme zu sprechen: Sind die Weihnachtsmärkte in Deutschland jetzt wieder nicht ein populäres Symbol dafür, dass Weihnachten ein Markt-Ereignis, ein Markt-Geschehen, geworden ist?.Kann auf diesen Weihnachts-Märkten die Hoffnung auf eine andere, gerechte Welt lebendig werden?

Advent – Adveniat – d.h. : Möge ER doch erscheinen, dasein, kommen  – endlich, der ersehnte Messias, als Inbegriff, als Symbol, einer geretten, weil reif gewordenen Menschheit. Die Hoffnung heute als letzte Rettung im Dunklen bleibt diffus. Sie hat keine Subjekte mehr … oder nur sehr wenige.

Vielleicht aber ist der Messias, die “messianische Zeit” (Walter Benjamin), schon da und dort unbemerkt, aber  lebendig? Aber nur wenige geben Hinweise, wo ER oder die messianische Zeit, zu suchen seien. In den großen, dem kapitalistischen Markt-Geist ergebenen Kirchen doch wohl nicht? Oder an der Basis der Suchenden, Glaubenden, jenseits der Hierarchien!

Die ökologischen Bewegungen, die “Klima-Aktivisten”: Sind sie ein Hinweis in die richtige Richtung einer humaneren Welt.

Ein seltsamer Gedanke: Hat der Titel “Die letzte Generation” für die jungen mutigen Klima-Aktivisten nicht eine geradezu “adventliche” Bedeutung? Der aktiven Erwartung? Der Grenze, des Übergangs, des Aufhörens einer alten, vertrauten, aber gescheiterten Welt-Ordnung?

Die Machthaber der alten Ordnung wehren sich gegen die Möglichkeit einer besseren, gerechteren Welt … weil diese ihnen die Privilegien entzieht?

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin.