Liberale Theologie an der Basis: Interviews zur „Gretchenfrage“

Ein Hinweis von Christian Modehn. In der Rubrik “Liberale Theologie heute” werden Elemente, Interviews, Erfahrungen dokumentiert und kommentiert, die für eine neue liberale Theologie hilfreich sein können.

Wer sich auf die Suche nach Erfahrungen der gelebten „liberalen Theologie“ heute begeben will, sollte auch Interviews mit „Menschen von nebenan“ machen oder mit Menschen aus der (ferneren) Nachbarschaft. Also mit weniger oder „gar nicht“ Prominenten, aber auch mit eher allgemein bekannten „Zeitgenossen“. Oder man sollte die Interviews lesen, in denen sich Menschen zu ihrer Sinn – bzw. auch Unsinn – Erfahrung äußern. Ein interessantes Beispiel fand ich etwa in einer neuen Rubrik der „Kirchenzeitung für die Nordkirche“. Dort ist in der Ausgabe vom 11. September 2016, Seite 16, unter dem Obertitel „Die Gretchenfrage. Sag, wie hast du es mit der Religion“ ein Interview mit Harry Schulz (55) publiziert. Er ist Betreiber eines bekannten Grill-Imbisses in Hamburg und zudem in einem Fernsehprogramm als „Imbisstester“ gefragt… sowie … ein Hamburger Original.

Harry Schulz sagt u.a.: „Ich glaube sehr stark an Gott, ich glaube aber nicht an Kirchen allgemein… Ich habe für mich entdeckt, dass ich unheimlich gute Gespräche mit Gott führen kann. Und dass er mir auch antwortet… Ich überprüfe das auch, indem ich aus dem Bauchgefühl bei Problemen die Lösung suche… Da ist jemand, der hört mir zu, der macht mir Mut und passt auch ein bisschen auf mich auf“. Am wichtigsten ist für Harry Schulz die Nächstenliebe. Etwa das „Sich Kümmern“ um die alte Nachbarin. Und: „Mein Laden und ich unterstützen auch die Hamburger Tafel und die Aids Hilfe Hamburg“.

Was ist in diesen Aussagen theologisch? Oder sogar liberal-theologisch? Eigentlich alles: Der Glaube an Gott. Das Abstandnehmen von den Kirchen. Das persönliche Beten. Die erfahrene Nähe des Göttlichen. Die Nächstenliebe. Und das alles eben individuell auf eigene Art erlebt und mit einem individuellen Ton gesprochen. Das sind keine hoch-spekulativen Aussagen, aber da spricht sozusagen die theologische Basis. Sie kann keine Kirche und keine Universitätstheologie ignorieren. Und sie zeigt: Individueller Glaube und Religiosität bzw. auch Suchen und Unglauben sind lebendig. Philosophisch gesprochen: Eigentlich wohl überall lebendig. Weil der Geist (die Vernunft) nun einmal in ständiger Such-Bewegung ist.

Thomas Müntzer – der (fast) vergessene Reformator als Theologe der Revolution

Von Christian Modehn

Dieser Beitrag erschien in kürzerer Form in der empfehlenswerten Zeitschrift PUBLIK FORUM am 9. September 2016. Zu einem weiteren Beitrag zu Müntzers theologischem Profil, veröffentlicht am 6.10.2016, klicken Sie hier.

Der erste „Theologe der Revolution“ war auch einer der ersten Liturgie-Reformer. Vor Martin Luther hat er bereits 1523 die Messe auf Deutsch gefeiert: Thomas Müntzer wollte seine Gemeinde in Allstedt (Südharz) von „magisch wirkenden“ Texten befreien, um zur Erkenntnis des wahren Gottes zu führen. Dabei sollte zur Gewissheit werden: Die auserwählten Christen sind im heiligen Geiste eins mit Gott. Diese mystische Erfahrung bestärkte seinen politischen Kampf. Darum unterstützte Müntzer auch in Allstedt die empörten Bauern und Tagelöhner: Sie wollten „den wohllebenden Mönchen keinen Zins zahlen“ und gründeten einen „Widerstandsbund“. Gegen die Allmacht der Herrscher hatte sich ihr Pfarrer schon andernorts heftig ausgesprochen. Müntzer gehörte selbst zu den Verarmten. Für sie war er „Der Knecht Gottes“.

In den deutschen Messen zu Allstedt wurden zwar noch die alten, gregorianischen Melodien – auf Deutsch – gesungen. Aber das Volk war begeistert und strömte zu den Predigten. Dass Thomas Müntzer gleich nach der Liturgiereform die ehemalige Nonne Ottilie von Gersen heiratete, störte nur die katholischen Grafen der Umgebung.

In seiner „Fürstenpredigt“ im Schloss Allstedt (13.7.1524) ermahnte er, biblische Propheten zitierend, Fürst Johann von Sachsen und die anderen: Sie sollten sich der Protest-Bewegung des Volkes anschließen. Denn das Volk habe bei seiner Unterdrückung ein heiliges Recht auf Widerstand. Wenn die Fürsten an ihrer Herrschaft festhielten, gelten sie als Gottlose, die das Volk bekämpfen und vernichten wird.  Müntzer sah die Ursache allen Elends bei den Herrschenden.Wenn er Gewalt unterstützte, dann nur als Reaktion auf vorhandenes Unrecht der Fürsten und der Kirche bzw. Klöster. Dass “Gott die Mächtigen vom Thron stürzt”, wie das Magnificat Marias im Neuen Testament sagt, nahm Müntzer wörtlich! Er fühlte sich – mit den Ausgegrenzten – auf der Seite Gottes! So wie die Fürsten (und Luther) das Wort der Bibel wörtlich nahmen vom “Gehorsam der Untertanen unter (jede) Gewalt”…und dieses Wort rabiat durchsetzten um des eigenen Machterhaltes willen.

Es ist bezeichnend, dass von Müntzer, diesem „theologischen Revolutionär“ (H.J. Goertz), kein authentisches Porträt überliefert ist. Im Vergleich zu zahllosen Luther-Porträts ein Beleg, wie heftig er auch von den Wittenberger Reformatoren ausgegrenzt wurde. Selbst sein genaues Geburtsdatum ist unbekannt: Um 1489 wurde Müntzer in Stolberg (Harz) geboren. Biografische Details fehlen oft. Erst in den letzten Jahren wurde begonnen, eine kritische Gesamtausgabe seiner wenigen Bücher und zahlreichen Briefe herauszugeben. Er studierte Theologie in Leipzig und Frankfurt/Oder, 1513 wurde er zum Priester für das Bistum Halberstadt geweiht. Seit der Zeit, bis zu seiner Hinrichtung am 27. Mai 1525, war er ruhelos unterwegs, um für die Einheit von Mystik und Revolution einzutreten. In etwa 30 Städten, zwischen Prag und Braunschweig, Wittenberg und Basel, Zwickau und Frankenhausen, hat er sich aufgehalten, immer auf der Suche nach einer Predigerstelle. Müntzer ist der Heimatlose, überall wurde er verjagt und verfolgt.

Seit 1521 ist der eine Mittelpunkt seines Denkens offensichtlich: Der heilige Geist wirkt in jedem Glaubenden; es gibt eine Gottunmittelbarkeit, der Klerus spielt dabei keine Rolle. Aus der Gottunmittelbarkeit folgt die grundlegende Veränderung der Gesellschaft und das Ende der Gewaltherrschaft der Fürsten. Und sogleich ergoss sich der öffentliche Zorn Luthers über ihn, den Müntzer seinerseits ebenso heftig beantwortete. Inzwischen haben, dank der Studien etwa von Hans-Joachim Goertz, die alt vertrauten Müntzer Klischees keine Chance mehr: Er ist weder der sozialistische Held des Bauernkrieges noch der „Erzteufel“, wie ihn Luther und seine Kirche lange Zeit hinstellte.

Entscheidend ist heute: Müntzer war ein eigenständiger Reformator. Darum sollte 2017 über ihn umfassend diskutiert werden. Themen gibt es genug: Im Unterschied zu Luther galt ihm die je eigene, geistvolle Erfahrung des lebendigen Gottes alles. Er dachte oft wie die Mystiker des Dominikanerordens, vor allem Johann Tauler. Das Wort Gottes, auch die Lehre von der Rechtfertigung, waren für Müntzer nur ein äußerer Anstoß, Gottes Geist „in mir“ zu erleben. Und diesen Geist sah er im Widerstand der Armen politisch am Werke. Einzig dem Projekt „Reich Gottes auf dieser Erde am Ende unserer Zeiten“ wollte er dienen. Dabei dachte er wie andere Reformatoren apokalyptisch. Er sah im Aufstand des unterdrückten Volkes eine Art Notwehr. Denn einzig bei den Fürsten nahm die Gewalt ihren Anfang. Müntzer verteidigte „das Gewaltrecht der Guten“, also der leidenden Christen. Dass der staatskonforme Luther mit seiner Sympathie für die Fürsten letztlich auch nicht den Frieden förderte, ist eine Tatsache. Heute wünscht man sich, die vernünftigen Humanisten hätten mehr Einfluss gehabt in dieser apokalyptisch aufgewühlten Zeit. Vernünftiges Denken, Klarheit der Begriffe, Selbstkritik und philosophische Logik hatten bei dem Reformator Luther und seinem Kreis keine Chance. Und sie waren im Gefolge Augustins stolz darauf, Verächter der Philosophie und des Humanismus zu sein!

Thomas Müntzer wurde schließlich im „Endkampf“ aufseiten der Bauern in Frankenhausen (11. Mai 1525) gefangen genommen und in Mühlhausen am 27.Mai 1525 hingerichtet. Luther, aber auch Philipp Melanchthon, stachelten die Fürsten sogar noch an, diesen “Unmenschen” Müntzer zu töten. Diese direkte Aufforderung zur Tötung eines andersdenkenden Reformators ist – aus heutiger Sicht – ungeheuerlich. Diese Mordaufrufe Luthers werden offiziell in lutherischen Kirchen überhaupt nicht “behandelt”. Der Müntzer Spezialist und Historiker Hans-Jügen Goertz schreibt: Luther stand explizit und kämpferisch aufseiten der Fürsten und warnte diese eindringlich vor Müntzer als dem “lügenhaften Teufel, Weltfresser, Schwindelgeist”. “Luther tilgte alle menschlichen, individuellen Züge Müntzers”(Goertz, S. 254). Noch schlimmer: “Luther ließt sich die Gelegenheit nicht nehmen, den Gotteslästerer und Aufrührer Müntzer literarisch hinzurichten, bevor das Urteil gesprochen war und der Henker sein Schwert erhoben hatte. …Luther unterdrückte jeden Zweifel an dem martialischen Abschlachten der fliehenden Bauern bei Frankenhausen. Luther wollte allen Regungen von Mitleid und Nachsicht zuvorkommen. Dem Teufel und dem Antichristen (Müntzer) durfte niemand mit Verständnisund Erbarmen begegnen” (Goertz  S. 254 f.) “Seither, (also durch Luthers Polemik verursacht, CM) geistert die Kunde von dem Mordpropheten Müntzer durch die Zeiten…und die Deutschen haben gelernt, Nonkonformisten, Dissidenten und Revolutionöären mit Abscheu zu begegnen”. (Goertz, S. 257).

Nur vereinzelt fällt heute sein Name unter den Theologen der Befreiung. Sie wissen wie er: Die Kirche muss mit den mit den Unterdrückten Gerechtigkeit realisieren, sonst bleibt all ihr Tun gottlos. Eine Kirche aufseiten des Staates, eine Kirche, die den Staat sozusagen automatisch unterstützt, noch schlimmer: eine Staatskirche, ist in dieser Sicht eine Art Gotteslästerung; siehe etwa auch die entsprechenden Verbrechen in katholischem Milieu in der Zeit der katholischen Franco-Diktatur in Spanien.

Ob es im Reformationsgedenken (ab 31. Oktober 2016 ein ganzes Jahr lang) auch ein Müntzer-Gedenken geben wird, ob er eine Rolle spielen wird in den zahlreichen (evangelischen) Akademien-Veranstaltungen oder beim Kirchentag 2017, wäre zwar wünschenswert, ist aber angesichts dieser seiner „störenden Theologie“ eher unwahrscheinlich. Müntzers Theologie ist deswegen störend, weil mit ihm die ständige Staatsnähe des Luthertums (bis heute) kritisch diskutiert werden müsste. Müntzer würde heute von kirchlicher, also wohl christlicher Seite, diese Frage an die C-Parteien stellen: Seid ihr christlich, ihr so genannten Christlichen Parteien? Was soll dieses “C”? Diese Frage würde er angesichts des Umgangs mit Fremden und Flüchtlingen stellen, angesichts der von C Parteien nicht kritisierten und verhinderten Rüstungsproduktion, der geringen staatlichen Beiträge für eine unwirksame Unterstützung armer Länder, der zunehmenden Armut auch in Deutschland usw. Das Ergebnis wäre nicht nur für Müntzer niederschmetternd. Er würde wohl für die Streichung des “C” aus dem Titel der  beiden Christlichen Parteien plädieren. Wäre auch ein hübsches Thema im Reformationsgedenken…

Die „Thomas-Müntzer-Gesellschaft“ hat ihr Büro in Mühlhausen, dort erscheinen zahlreiche Studien. Etwa: Alejandro Zortin, Thomas Müntzer in Lateinamerika. 2010., 44 Seiten.

Zur Vertiefung besonders zu empfehlen: Hans Jürgen Goertz, Thomas Müntzer – Revolutionär am Ende der Zeiten. C. H. Beck. 2015. 352 Seiten, 24,95 €.

Denk mal: Zum Tag des offenen Denkmals.

Ein philosophischer Hinweis von Christian Modehn

Am vergangenen Wochenende (am 10. und 11. September 2016) fand wieder der „Tag des Offenen Denkmals“ statt, ein kulturelles Ereignis, das offenbar immer mehr Interessierte findet und nicht nur in Deutschland „begangen“ wird. Auch über diese beiden”Gedenktage” hinaus bleibt die Besinnung auf das, was offene Denkmäler denn zu denken geben, wichtig. Der Tag des offenen Denkmals ist vom Titel her verlockend für eine philosophische Meditation. Und sie könnte sozusagen wie eine Art Begleitmusik gelten für alle, die an dem Tag und auch sonst Orte und Häuser betreten und betrachten, die sich – offiziell – Denkmäler nennen.

Zunächst könnte man sprachphilosophisch meinen, das Substantiv Denkmal sei ursprünglich eine verbale Befehlsform gewesen, in dem Sinne von „Nun denk mal“ angesichts eines bestimmten Raumes und Ortes. Ich finde die Erneuerung des Denkmal-Begriffes aus dem Geist der verbalen Aufforderung „Denk mal!“ recht hübsch und hilfreich.

Die philosophische Frage wäre vorher aber doch die: Welche Gebäude, Orte und Räume werden dann vom wem eigentlich zu Denkmälern offiziell erklärt? Ich denke, mit starker Abwehr, an die überall noch anzutreffenden Denkmäler der Kriegshelden, „die für Volk und Vaterland gestorben“ sind, im 1. Weltkrieg etwa. Mir tun die Hinterbliebenen natürlich leid und die Toten selbst auch, die sich in jungen Jahren als “Kanonenfutter”, der Begriff ist treffend, im Rahmen des nationalistischen Wahns (von anderen Europäern und Christen ebenso) abknallen lassen mussten. Schlimm ist, dass diese Denkmäler heute auf die Kriegsumstände, also etwa auch auf das „Kanonenfutter“, nicht aufmerksam machen. Von daher sind diese Denkmäler in dieser gegebenen Form (!) eben wohl keine Orte, die von vornherein zum Bedenken des Friedens und der Überwindung jeglichen Nationalismus führen. Wo sind genauso zahlreich vertreten die Denkmäler, Denkräume, etwa für die wenigen Widerstandskämpfer in der Nazi-Zeit?

Es gibt auch Orte, die noch keine offiziellen Denkmäler sind, dies aber – zumal in diesem Jahr – werden sollten: Etwa die Orte und Plätze, wo Flüchtlinge im vergangenen Jahr willkommen geheißen wurden; und die Flüchtlings – Unterkünfte, die vielen, die von Rechtsradikalen dann in Brand gesetzt wurden aus purem Hass. Diese Häuser sind Denkmäler, dort sollte man verweilen im Sinne von Denk-Mal politisch weiter!  Also: Denken an den Humanismus, als der Basis menschlichen Miteinanders. Denken an die spontane Hilfsbereitschaft als Ausdruck eines neuen menschlichen Miteinanders! Aber diese Orte kommen in den Listen der Denkmals-Orte am 10. oder 11. September nicht vor. Ähnliche Gedenkorte wären etwa auch jene Häuser, wo heute die Büros von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International untergebracht sind. Lebendiges und aktuelles Gedenken könnte man das nennen.

Natürlich kommt man, philosophisch gesehen, überall und immer ins philosophische Denken. Darum sollte man beim Tag des Offenen Denkmals eben unterscheiden: Einerseits wird das Denken aktiviert im Sinne des klassischen, kulturellen historischen Wissens: Ich sollte also lernen und wissen, so lautet die Aufforderung, dass in diesem Schloss XY, als Denkmal, Großfürst Isidior mit seiner Geliebten Charlotte im 18. Jahrhundert lebte. Das ist alles Sache der Historiker, die bei den Denkmälern zurecht ihre Aufgaben sehen.

Andererseits: Das philosophische Denken und Gedenken ist vom historischen Wissen und Gedenken auch verschieden: Philosophisch wird es, wenn man fragt: Warum gibt es eigentlich bestimmte Orte und Räume, die explizit an einigen Tagen zum Denken auffordern? Sind nicht alle Orte erstaunlich? Ist nicht mein Leben, unser Leben, erstaunlich und verwunderlich? Von Sokrates wird berichtet, dass er auf der Straße längere Zeit meditierend “verwundert” stehen blieb und nur nach nachdachte. Thaumazein nannten die Griechen diese elementare philosophische Erfahrung! Worüber wundert sich der Philosoph und kommt dadurch ins Denken? Über das Erstaunliche, dass er da ist, dass die Welt da ist, dass wir erkennen können, gut sein können, leben dürfen, andere Menschen als Geschenk erleben usw. Von daher ist für Philosophen jeder Tag ein Tag des offenen (also einladenden) Denk Mal! “Tage des offenen Denkmals” wären philosophisch gesehen Tage, an denen sich Menschen austauschen über dieses Erstaunen, dieses sokratische “Thaumazein”…

Damit ist gar nichts gegen das Bedürfnis gesagt, historisch viel mehr und immer mehr zu wissen von den offiziell zu denkwürdig erklärten Häusern. Aber alle, die am 10. und 11. September durch Denkmäler laufen oder durchgeschleust werden und sonst sowieso durch Museen fotografierend eilen, sollten sich aber fragen: Was geben und bedeuten mir diese Räume und Orte denn nur wirklich für mich in meinem Leben und in meinem Fragen? Geben sie mir zu denken? Oder habe ich gar schon wieder schnell vergessen, was denn Großfürst Isidor mit seiner Charlotte in seinem Schloss XY alles gemeinsam unternommen hat? Kurz und gut: Historisches Wissen ist flüchtig, weil es im allgemeinen nicht den eigenen Geist, die “Seele”, berührt. Historisches Wissen muss per se äußerlich bleiben und wird deswegen leider oft schnell vergessen. Philosophisches Wissen, es ist Weisheit, ist anders: Da erinnert man sich sein Leben lang an eine Erschütterung, die viele Minuten dauerte, weil man sich angesichts von Großfürst Isidor, um bei diesem Beispiel zu bleiben, doch fragte: Was macht eigentlich gemeinsames Leben aus, was bedeutet Macht und Herrschen, was bedeuten Reichtum und Luxus im Schloß XY?

Bemerkenswert von philosophischer Seite ist: Auch Kirchengebäude, manchmal Gotteshäuser genannt, sind bei den Tagen des offenen Denkmals, in Berlin etwa, reichlich vertreten. Eigentlich wird ja in Kirchen de facto mehr das Beten gepflegt und das Singen usw als das umfassend kritische Denken. Darum ist es bemerkenswert, dass sich die Kirchengemeinden selbst dem Denken verpflichtet wissen: In Kirchen soll also ganz offiziell auch philosophisch und kritisch und religionskritisch gedacht werden! Das wäre ja eine frohe Botschaft!

Trotzdem meine ich: Wir alle brauchen wohl auch philosophische Tage des „Denk mal!“ Und diese Tage sind eigentlich immer, an jedem Tag.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Hannah Arendt: Pluralität und Erfahrung des anderen. Sie haben ihre Wurzeln im Selbstgespräch des einzelnen.

Ein Hinweis auf ein neues Buch von Hannah Arendt.

Hannah Arendt hat als Flüchtling in den USA nur noch politische Philosophie bzw. politische Theorie betreiben wollen, das hat sie etwa auch in dem berühmten Fernseh-Interview mit Günter Gaus betont. 1954 hat Hanna Arendt an der Notre-Dame University Vorträge zu dem Thema gehalten, auch über Sokrates und Platon hat sie gesprochen. Damit zeigte sie, dass die klassischen Themen der klassischen Philosophie für sie doch auch selbstverständlich wichtig blieben; sie wollte diese nur ausdrücklich im Zusammenhang des politischen Zusammenlebens erörtern.

Jetzt ist im Verlag „Matthes und Seitz“ (Berlin) zum ersten Mal eine deutsche Übersetzung ihres Vortrags mit dem Titel „Sokrates. Apologie der Pluralität“ erschienen. Dieser eher knappe Text ist originell und bedeutsam für weitere Diskussionen, weil er die Erfahrung der Andersheit der vielen anderen Menschen (Pluralität) gerade IN der Erfahrung des Selbst begründet: Von Selbstbewusstsein, diesem klassischen philosophischen Begriff, spricht Arendt in dem Text – soweit ich sehe – nicht. Aber sie verweist auf die elementare Denkerfahrung, die sich abstrakt etwa so beschreiben lässt: Ich denke mich und erlebe mich dabei als den von mir Gedachten, wobei das von mir gedachte Ich in gewisser Weise von mir als dem Denkenden verschieden ist. Es ist also eine gewisse Spaltung, “Pluralität”, im Ich oder im Selbstbewusstsein sichtbar und erfahrbar. Also eine Art zweifache Gegebenheit des einen Ich, so dass Hannah Arendt tatsächlich meint: Das Ich ist in seinem Selbstbewusstsein pluralistisch: “In sich selbst trägt der Mensch die Signatur dieser Pluralität in sich” (Seite 60 in dem genannten Buch). Also ist die Vielfalt verwurzelt im Ich selbst, und nur aufgrund dieser pluralistischen Erfahrung kann der einzelne auch den anderen als den anderen erkennen. Dies ist die zentrale These in dem Buch. (Es bietet darüber hinaus und im Gang der Argumentation wichtige Hinweise zu einer Philosophie der Freundschaft oder zur Differenz Sokrates-Platon, darauf kann hier nicht näher eingegangen werden).

Diesen zentralen abstrakten Gedanken formuliert Arendt mit den Begriffen des im einzelnen immer schon gegebenen Selbstgesprächs: „Indem ich mit mir selbst spreche, lebe ich auch mit mir zusammen…. Die Menschen tragen die Signatur der Pluralität in sich“ (S.26 in dem genannten Buch). Das hat ethische Konsequenzen: Ich muss also mit mir (als dem gedachten Ich) ins Reine kommen; ich darf mit mir (als dem gedachten Ich) nicht im Widerspruch stehen. Ziel ist eigentlich: Ich muss mit mir übereinstimmen. Das ist der oberste Lebenssinn für Sokrates. Und Hannah Arendt zeigt in dem Buch, wie Sokrates dieses Mit-sich-Eins-Sein selber lebte und lehrte. Dieses Mit-sich-Eins-Sein ist ein Werden, ein Prozess, eine bleibende Aufgabe.

Wer als Ich diese dauernde Aufgabe erkennt, wird auch mit den anderen Menschen in seiner Umgebung geduldig umgehen, weil diese sich ja auch wahrscheinlich bemühen, mit sich selbst überein zu stimmen. Voraussetzung für eine humane Gestaltung der Pluralität bleibt für Arendt: „Die Einsamkeit mit sich selbst, der Dialog des Zwei-in-Einem ist integraler Bestandteil des Zusammenseins und Zusammenlebens mit anderen“ (S. 81). Nur im Mit mit sich selbst allein sein kann diese Entdeckung der inneren, eigenen Pluralität denkend wahrgenommen werden.

Bedrängend, wenn nicht zerstörerisch ist die Erfahrung, wenn die Nicht-Übereinstimmung des Ich mit sich selbst erlebt und dann aber ignoriert bzw. überspielt wird. Dann wird die Daseinslüge zum Gesetz des Ich.

Jedenfalls ist die innere Pluralität im Selbstbewusstsein des einzelnen für Arendt so elementar, dass sie das große philosophische Wort thaumzein, sich verwundern, darauf bezieht: Im Thaumazein, Erstauntsein und Sich-Wundern, wird ja die Urerfahrung beschrieben, mit der Sokrates und Platon – zunächst über die Sprachlosigkeit im Thaumazein – ins weitere Philosophieren fanden.

Das Ur-Erstaunliche ist also das Selbstbewusstsein, das mit sich selbst übereinstimmen soll, das also die Differenz der Andersheit in seinem Selbst sozusagen positiv gestalten kann.

Diese Begründung der Erfahrung der menschlichen Pluralität, also die Erfahrung des anderen, erscheint für viele wahrscheinlich neu und sicher erstaunlich. Man könnte meinen, Hannah Arendt sei insofern doch klassische Philosophin geblieben, als sie für die Erfahrung des anderen als anderen eine Art apriorische Struktur im Ich entdeckt bzw. freilegt. Diese Denkhaltung könnte man wohl transzendentalphilosophisch nennen. Vielleicht ahnte dies Hannah Arendt, und vielleicht verwendet sie deswegen nicht den klassischen Begriff Selbstbewusstsein. Um eine apriorische Struktur handelt es bei Hannah Arendts Hinweis dann doch, wenn sie auf das in sich plurale „Selbstgespräch“, wie sie sagt, hinweist als Voraussetzung, über die andere Person als andere Person wahrzunehmen und zu respektieren.

Gewonnen ist die wichtige auch politisch so relevante Einsicht: Wir Menschen können und sollen Pluralität unter den Menschen anerkennen. Sie ist normal. Ich sage: Sie ist apriorisch und gehört zum “Wesen des Menschen”, könnte man auch klassisch sagen. Pluralität unter den Menschen ist also etwas allgemein Menschliches, noch einmal anders gesagt, Pluralität – in Gleichberechtigung – ist also zu hegen und zu pflegen.

Die weitere Frage bleibt, die Hanna Arendt nicht beantwortet, ob denn die Erfahrung des “anderen” in mir selbst noch einmal eine andere Qualität hat, als jene Erfahrung im Ich-Du bzw. Ich-Wir, wenn ich dem anderen, leibhaftig vor mir stehenden Anderen, begegne. Ich denke, etwa Lévinas hätte dem zugestimmt. Der leibhaftige Andere ist für ihn wohl die Gründung erst meiner Ich-Erfahrung.

Hannah Arendt lag daran, in einer Zeit kurz nach dem Holocaust und in der Nachkriegsgeschichte entschieden für die unabweisbare Pluralität der Menschen zu plädieren. Und für den Respekt dieser Pluralität einzutreten.

Hannah Arendt, Sokrates. Apologie der Pluralität. Matthes und Seitz Verlag, Berlin. 2016, 109 Seiten. 12 Euro. Übersetzung: Joachim Kalka.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Salon am Freitag, den 23. September 2016: “Erfindet euch neu!”

Der nächste religionsphilosophische Salon findet am FREITAG, den 23. September 2016, um 19 Uhr in der Kunst-Galerie Fantom in der Hektorstr. 9 in Wilmersdorf statt. Das Thema wird sich auf das Buch des französischen Philosophen Michel Serres beziehen: “Erfindet euch neu!” (bei Suhrkamp erschienen, 77 Seiten, 8,30 €).

Dr. Hans Blersch, Mathematiker und praktischer Philosoph und etlichen Teilnehmern unseres Salons bereits bekannt, wird uns in das Thema einführen. Die These von Michel Serres, wie sie auf dem Buch Cover “Erfindet euch neu” mitgeteilt wird, heißt: “In der kurzen Zeitspanne, die uns von den siebziger Jahren (1970 ff.) trennt, ist ein neuer Mensch geboren worden. Er oder sie … kommuniziert nicht mehr auf die gleiche Weise, nimmt mehr dieselbe Welt wahr, lebt nicht mehr in derselben Natur” (wie etwa Michel Serres, Jahrgang 1930!). Ist also (schon wieder ?) ein Bruch der Generationen entstanden? Ist die junge Generation (in Europa oder weltweit ?) der alten überlegen? Hat die ältere Generation die Chance, sich neu zu erfinden? Dies sind nur einige Fragen, die sich spontan stellen.

In jedem Fall: Herzliche Einladung. Und – wegen der begrenzten Plätze – bitte Anmeldung an: christian.modehn@berlin.de   Teilnahmegebühr für die Raummiete: 5 Euro. Studenten bezahlen nichts… Es wird ein interessanter Gesprächs-Abend zur Möglichkeit, “sich neu zu erfinden”…

Luthers Bindung an die Fürsten: Die Sicht niederländischer Forscher

Wer sich mit der Reformation in den Niederlanden im frühen 16. Jahrhundert befasst, ist überrascht: Trotz zahlreicher Freunde und Sympathisanten Luthers in den Niederlanden (und Antwerpen) damals, hat die lutherische Form, Kirche zu sein, dort um 1520 und später keinen zahlenmäßigen Erfolg gehabt. Und das liegt daran, so die Autoren der Studie „Ketters en Papen onder Filip II.“ (herausgegeben vom Rikjsmuseum Het Catharijneconvent Utrecht, 1986), dass Luther 1531 etwa ausdrücklich die Antwerpener Lutheraner warnte: Sie sollten auf versteckte, aber der Öffentlichkeit bekannte Zusammenkünfte verzichten; sie sollten entweder völlig privat, in aller Stille ihre Gottesdienste feiern oder das Land verlassen und dort hin gehen, wo das Wort Gottes frei verkündet werden kann. „Dieser Standpunkt schließt ganz an Luthers Neigung an, Unterstützung zu suchen bei den Fürsten. So ist die lutherische Reformation fast überall das Werk der regierenden Fürsten gewesen. In Deutschland geschah die Reformation von oben nach unten, nach dem Willen und dem Beschluss der Landesherren. Und diese Fürsten behielten die Leitung bei der Sicherung des reformatorischen Geistes. In den Niederlanden war so etwas ausgeschlossen… Das niederländische Volk wandte sich mehr den radikalen Bewegungen der Wiedertäufer zu und später dem militanten Calvinismus“. (S. 45 im genannten Buch, Beitrag von J. Decavele).

Wir erinnern an diese starke Bindung Luthers an die Fürsten, um noch einmal seinen tiefen Hass gegen den sozial-orentierten Reformator Thomas Müntzer (und seine Forderung, dass die Fürsten ihn verhaften und verbrennen) deutlich zu machen.

Copyright: Christian Modehn

Militärdiktatur in Argentinien und die Kirche: Ein verdrängtes Thema kehrt nun wieder

Ein Hinweis von Christian Modehn

33 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur in Argentinien (sie dauerte von 1976 bis 1983) sind am 25. August 2016 – endlich – einige der führenden Mörder und Folterer aus den herrschenden Militärkreisen in der argentinischen Stadt Cordoba verurteilt worden. General Luciano Benjamin Menéndez z.B. wurde in 54 Fällen von Mord, in 656 Fällen von Folter und in 257 Entführungen für schuldig gesprochen; er hatte damals den Titel „die Hyäne“: „Er tötete nach Lust und Laune“, schreibt die argentinische Journalistin Marta Platia in „der Freitag“ vom 1.9.2016, Seite 10 in ihrem ausführlichen Prozessbericht. Dieser Verbrecher hat einen Rekord an lebenslangen Haftstrafen „gesammelt“: Es sind 10 lebenslängliche Strafen und noch einmal zweimal 20 Jahre…Bereut hat er auch nach dem Prozess nicht und nichts. Preisgegeben hat er seine Informationen, etwa zur Lagerung der Ermordeten, auch nicht.

Der Religionsphilosophische Salon Berlin“ ist an der Verteidigung der Menschenwürde und der Menscherechte lebhaft interessiert und engagiert. Von unserem speziellen Interesse an Religionen und Kirchen soll nur darauf hingewiesen werden:

Die Diskussion über die Rolle der katholischen Kirche während der argentinischen Militärdiktatur wird nun hoffentlich auch in Europa, auch in Deutschland, wieder lebhafter und objektiver werden. Durch die Arbeiten der investigativen französischen Journalistin Marie-Monique Robin ist das Thema seit der Wahl Kardinal Bergolios zum Papst immer wieder kontrovers diskutiert worden, zur Lektüre des französischen Textes klicken Sie hier.

Deutlich wird einmal mehr, wie personell gut ausgestattet die Militär-Seelsorge unter den Diktatoren war, dazu haben inzwischen argentinische Historiker lange und offenbar vollständige Listen mit entsprechenden Beschreibungen der Details publiziert. Tatsache ist, dass viele Militär – und Polizeiseelsorger bei den Folterungen aktiv dabei waren. Erwähnt wird unter vielen anderen auch ein Jesuitenpater (Martin Gonzalez SJ) als Militärgeistlicher, der dieses Amt (von 1971 bis 1977), wie allgemein auch in anderen Orden üblich, nur mit Zustimmung seines damaligen Provinzials, Pater Bergoglio, ausüben durfte. Pater Bergoglio war Provinzialoberer seines Ordens von 1973 bis 1979, also zur Zeit der Militärdiktatur.

Die beiden jungen Historiker Lucas Bilbao und Ariel Lede Mendoza haben kürzlich eine umfangreiche Studie über den Militärbischof Victorio Bonamin aus dem Salesianerorden (Militärbischof von 1960 bis 1982!) veröffentlicht: „Bischof Bonamin hatte eine direkte Verbindung zu den Diktatoren und zu den Orten der Folter“, schreiben sie. Beide Autoren konnten die Tagebücher des Bischofs auswerten und entdeckten dort Rechtfertigungen der Folter und Lobeshymnen auf die Diktatur; auch in die Ermordung des (nahezu einzigen) oppositionellen Bischofs Enrique Angelelli (ermordet 1976) war Bonamin verwickelt. Für weitere Infos klicken Sie hier.

Eine gewaltige Aufgabe kommt da auf objektive, also auch der Kirche gegenüber kritische Historiker zu. Ob man es wagt, dabei einmal gründlich die Rolle von Pater Bergoglio bzw. Kardinal Bergoglio in Buenos Aires zu untersuchen, ist fraglich. An dieser Gestalt wagt niemand in dem argentinischen Zusammenhang – vielleicht aus der viel beschworenen Barmherzigkeit – Kritik zu üben. Wer trotzdem kritische Fragen stellt, wird als “Linker” oder so fertiggemacht.

Zunächst aber sollte wohl das Buch über den Militärbischof Bonamin übersetzt werden, es hat in Argentinien den treffenden Titel „Profeta del genocidio“ (Prophet des Völkermords), Verlag SUDAMERICANA, März 2016. Welche katholische Institution wäre dazu bereit, allein schon deswegen, weil Millionen DM-Spenden damals, auch zu Zeiten der Militärdiktatur, nach Argentiniens Kirche überwiesen wurden.

Das Buch ist auch wichtig, weil es den Einfluss reaktionärer katholischer Kreise aus Frankreich in Argentinien im Umfeld der Militärdiktatur zeigt. Die „Cité Catholique“ war dort heftig tätig. Die Autoren schreiben in dem Vorwort: „El libro básico del fundador de la organización, Jean Ousset, es El marxismo-leninismo. Se publicó en Francia en 1961 y su primera edición extranjera al año siguiente en Buenos Aires,18 con traducción y notas del coronel Juan Francisco Guevara, quien entonces era jefe de Inteligencia del Ejército. “El marxismo —dice Caggiano (Kardinal von Buenos Aires bis 1979) en el prólogo— nace de la negación de Cristo y de su Iglesia”.

Damit ist klar: Die rechtsextremlastigen Kleriker brauchten den Marxismus als Feindbild, um die eigene Aggression gegen jegliche Befreiungsbewegung zu begründen. Der Anti-Marxismus war förmlich das herrschende politische Glaubensbekenntnis in weiten Kreisen des maßgeblichen Klerus. Aber das ist ein anderes dringendes Thema, es berührt auch den Umgang Papst Pius XII. mit Hitlers Regime („es ist nicht ganz so schlimm wie der Kommunismus“, hieß es).

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.