Christen und Muslime gemeinsam auf Wallfahrt
Können Christen und Muslime gemeinsam in Westeuropa eine Wallfahrt unternehmen? Können Sie sich gemeinsam an einem Ort versammeln und dann einen christlichen Gottesdienst feiern und danach gemeinsam einer Lesung aus dem Koran folgen? Das ist keine rhetorische Frage: In der Bretagne, Frankreich, im Ort Vieux – Marché an den Cotes d Armor treffen sich schon seit 56 Jahren Menschen, die konfessionell zwar getrennt, aber doch in der grundlegenden Frage nach dem EINEN Gott gemeinsame Überzeugungen haben: Christen und Muslime. Immer an einem Juli Wochenende kommen einige hundert Pilger aus beiden Religionen zusammen. Äußerer Anlass ist die Erinnerung an 7 junge Männer, die im 3. Jahrhundert in Ephesus lebten. Während der Christenverfolgung wurden sie bei lebendigem Leib eingemauert, aber sie überlebten, so berichtet die Legende. Davon waren Christen wie Muslime später gleichermaßen beeindruckt. Muslime sehen im Überleben der Frommen einen Beweis für die Allmacht Allahs. In einer Sure des Koran werden die 7 Männer erwähnt. Das Wallfahrtsgeschehen verlagerte sich von Ephesus in die Bretagne…
In den letzten Jahren hat sich die Wallfahrt nach Vieux Marché zu einem Treffpunkt für Menschen entwickelt, die in christlich – muslimischen Mischehen leben. Hier können sie sich austauschen, gemeinsam feiern und an Konferenzen und interreligiösen Treffen teilnehmen. „Ein religiöses Ereignis zu haben, das uns gemeinsam ist, entspricht völlig unserem Wunsch, als christlich- muslimisches Paar eine gemeinsame spirituelle Basis zu haben“, berichtet Saida in der Tageszeitung La Croix, Paris, vom 22. 7. 2010. Inzwischen gibt es auch eine christlich – muslimische Wallfahrt nach Chartres. Frankreich scheint in der Hinsicht ohnehin etwas weiter entwickelt zu sein als Deutschland: Dort gibt es in zahlreichen Städten Gesprächskreise „Groupes de foyers islamo-chrétiens” (GFIC). Das Verhältnis zwischen beiden Religionen scheint dort etwas entspannter zu sein. Ich kann mich z.B. erinnern, wie ein Muslim kürzlich sein Abendgebet in einer Seitenkapelle der prächtigen Kirche Saint Sulpice in Paris ungestört gestalten konnte. Ob es wohl jemals in Deutschland gelingt, dass eine der leerstehenden Kirchen den Muslimen übergeben wird als Moschee? Ob es wohl jemals in Deutschland gelingt, dass eine der vielen leerstehenden Kirchen als Treffpunkte für Christen und Muslime gestaltet werden, vielleicht mit einem Wallfahrtsgeschehen oder gemeinsamen Konferenzen usw.? Warum ist die Last der christlichen dogmatischen Traditionen so groß, dass Christen nicht den ersten Schritt auf die Muslime hin tun können? Lieber werden Kirchen abgerissen oder verkauft als dass sie Muslims angeboten werden oder neue Konzepte interreligiöser Arbeit probiert werden. Diese geringe Kreativität, diesen geringen Mut, aufseiten der Kirchenführungen, empfinden viele Menschen einfach unerträglich. Einzige mir bekannte Ausnahme: Die Moschee in der Rozengracht in Amsterdam, nahe dem Anne Frank Haus, war früher eine Kirche…
PS: Ich habe übrigens in meinem Buch „Religion in Frankreich“, Güterlsloh, 1993, auf S. 137 f. als einer der ersten in Deutschland überhaupt auf diese gemeinsame Wallfahrt in der Bretagne hingewiesen. Das Buch „Religion in Frankreich“ ist noch antiquarisch zu haben.