“Religion begründet nicht die Moral. Vielmehr: Moral und Vernunft begründen die Religion” (Immanuel Kant).

Zur Aktualität der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie Immanuel Kants
Ein Hinweis von Christian Modehn

Der Anlass, diesen Text zu schreiben:
Es wird von Kirchenführern und Theologen heute behauptet, die zunehmende Distanz von der Kirche (durch Kirchenaustritte) sei in der Abwehr gegenüber der Institution Kirche begründet. Diese Einschätzung ist falsch. Der Abschied von der Kirche hat seinen Grund in den Inhalten des kirchlichen Glaubens selbst. Sie sind in uralter Sprache und schlechter Poesie formuliert. Die Inhalte der Dogmen, der Lehren, der Moralvorschriften, der Bitt-Gebete und der meisten Inhalte der „Kirchen-Lieder“ können von Menschen, die in ihrer religiösen Bindung auch noch das kritische Denken bewahren wollen, nicht mehr angenommen werden. Man lese nur die meisten Lieder („Choräle“) in den offiziellen Gesangbüchern der Kirchen in Deutschland. Oder versuche die Begriffe des offiziellen „Nicäno-Konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnisses“ (aus dem Jahr 451 !) zu verstehen, ein Bekenntnis, das noch immer in Gottesdiensten gesprochen (geplappert) wird.
Wegen dieser fremden Dogmen-und Moralwelt verabschieden sich die Kirchenmitglieder von den Kirchen. Dabei ist hier die Rede von der katholischen Kirche weltweit und von der Evangelischen Kirche in Deutschland. Es gibt kleine, sich freisinnig nennende christliche, protestantische Kirchen, wie die Remonstranten in Holland, die einen anderen, einen vernünftigen Weg gehen, sie sind in ihrer Lehre undogmatisch!
Der Anlass, diesen Text zu schreiben, führt mich zur Religionskritik Kants. Ihm lag alles daran, die für alle Menschen mögliche vernünftige christliche Religion (mit sehr wenigen, aber vernünftigen Lehren) vorzustellen und zu begründen. Ob Kant und damit auch dieser Hinweis erfolgreich ist, bleibt unwahrscheinlich. Weil eben die meisten Menschen, wenn sie denn religiös sein wollen, wie zwanghaft das Trallala, das Unverständliche, das Mysteriöse, das Wunderbare, die „heiligen Väter“ und die Gurus etc. mehr schätzen als ihre Vernunft.

Immanuel Kant ist unbestritten einer der sehr maßgeblichen Philosophen, am 22.4.1724 wurde er in Königsberg geboren, dort ist er am 12. Februar 1804 gestorben. Kant ist in einem frommen pietistischen Milieu groß geworden. „Letztlich zielten die Pietisten darauf, die Schüler aus Weltkindern in Kinder Gottes zu verwandeln“, schreibt Manfred Kühn in seiner großen Kant Biographie, München 2004, S. 70. Der Kampf um Freiheit und Autonomie, der Kant auszeichnet, „hat seine Ursprünge in Kants Jugend“, genau in der Ablehnung des Pietismus (ders., S. 72). Dass Kant als Professor in Königsberg alles andere als ein eifriger Teilnehmer an den Gottesdiensten dort war, ist dokumentiert.

1.
Auf die Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie Immanuel Kants hinzuweisen, hat mit einer Erinnerung an ferne Vergangenheit der Philosophie gar nichts zu tun. Kants Philosophie ist immer auch Religionskritik und vor allem Kritik an Christentum und Kirchen. Und diese Kritik ist aktuell. Kant hat konstruktive Vorschläge, manchmal aus Frustration polemisch formuliert, wie sich die Kirchen und ihre Frommen aus dem „Pfaffentum“, so sagt er, befreien könnten, wenn sie es nur wollen. Ob sie heute Klerikalismus, Dogmatismus und Kirchenherrschaft überwinden, die alte „Erbsünde“ der Kirchen? Dies ist die dringende Frage. Eine Frage, die sich tatsächlich auf das Überleben der Kirchen bezieht. Denn die Kirchen in Europa sind trotz aller Macht de facto am Ende. So die Analysen der Religionssoziologen.
2.
Unbezweifelbare Tatsache ist: Religiöse Menschen, an ihre angeblich heiligen, religiösen Gesetze gebunden, tun als religiöse Menschen nicht nur viel Unsinn, sie begehen auch Verbrechen. Das weiß jeder, der die Geschichte der Religionen kennt. Das weiß auch jeder, der jetzt, im 21. Jahrhundert, die religionspolitische Szene beobachtet, also den Wahn fundamentalistisch genannter Religiöser im Islam, in den evangelikalen und charismatischen Kirchen (etwa in den USA, Brasilien, Nigeria). Oder im Hinduismus, Buddhismus, Judentum… Dass auch unter Atheisten und Agnostikern viel Unsinn geglaubt und getan wurde und wird, soll hier aber nicht das Thema sein.
Viel wichtiger ist die Erkenntnis: Der religiöse Wahn ist heute nicht zu stoppen. Für Prediger ist das rauschhafte Gefühl einer religiös sich nennenden Verzückung und Entrückung Beleg für die Macht Gottes, Priester lieben die Wallfahrten zur Buße, sie fördern den Wunsch, Gott mit allerhand menschlichen Opfern zu besänftigen; Theologen und Kirchenleute lieben es, wenn Fromme die Ikonen küssen und vor Popen niederknien oder den „heiligen Vater“ verehren. Theologen wollen unbedingt ihre dogmatischen Lehren anderen („Heiden“) aufdrängen als „die Wahrheit“. Sie haben wenig Respekt vor Minderheiten, den „anderen“, denen sie ihre angeblich von Gott kommende Moral aufzwingen: Diese Kirchenführer setzen alles daran, dass kirchliche moralische Normen staatliches Gesetz werden (siehe Polen heute). Wenn Kirchenführer von Menschenrechten sprechen, dann gelten diese nur für die anderen, nicht aber für die Kirche und die Kirchenführung selbst, wie im Falle des Katholizismus, siehe den verheerenden Ausschluss der Frauen vom Priesteramt. Und wenn Priester Minderjährige für die eigene sexuelle Gier missbrauch(t)en, dann hofften diese Kleriker auf klerikale Sonderrechte, die sie vor Strafen des demokratischen Strafrechtes beschützten.
3.
Kants Philosophie ist immer auch Religionskritik. Dies gilt für die großen Werke Kants (die „Kritiken“ der reinen und der praktischen Vernunft) sowie auch für kleinere Schriften, Aufsätze, vor allem aber auch für die vier Studien, die unter dem Titel „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ 1793 als Buch veröffentlicht wurden. Dieses Buch hat damals, in Zeiten der Zensur und eines reaktionären „christlichen“ Regimes, sehr viel zum Teil polemische Aufmerksamkeit gefunden.
4.
Kant zeigt:
– Wenn die faktisch bestehenden, sich auf eine göttliche Offenbarung berufenden christlichen Kirchen nicht die Vernunft als entscheidende Gestaltungskraft für ihre eigenen Lehren und Institutionen erkennen und gelten lassen, entarten sie zu einem Wahngebilde. Von „Wahn“ des Kirchenglaubens spricht Kant gerade in der „Religionsschrift“ von 1793 oft.
– Kant geht aber viel weiter. Er zeigt eine klar begründete vernünftige und für alle einsehbare Alternative: Aus dem moralischen Bewusstsein, das jedem Menschen von vornherein gegeben ist, entwickelt der nachdenkliche Mensch die Vernunftreligion, sie gründet in der Moral. Unter „Moral“ verstehe man nicht volkstümlich die enge irgendwie stickige Moralität der sexuellen Verkrampftheit. Moral ist für Kant der Begriff, der das geistvolle, vernünftige Leben des praktisch handelnden und frei entscheidenden Menschen meint.
5.
Inmitten dieser reflektierten Lebenspraxis des Menschen im Alltag ist die allen Menschen gemeinsame Vernunft-Religion begründet.
Kant weiß: Die Menschen haben aufgrund ihrer geschichtlichen Entwicklung zunächst einmal eine Bindung an die konkret geprägte, dogmatische Kirchenwelt. Diese Religion bezieht sich auf Offenbarungen, von denen Kirchenführer behaupten, in ihnen spreche Gott selbst mit Weisungen und Moralgeboten. Aber: In der Vernunft des Menschen, in seinem moralischen Bewusstsein, lebt eine andere Religion, dies zeigt Kant: Es ist die Religion des vernünftigen Menschen. Sie muss zum Ausdruck kommen und sich gegen die dogmatischen Erstarrungen und, wie Kant ausdrücklich betont, gegen das „Pfaffentum“ durchsetzen. Denn diese Vernunftreligion ist eine allgemeine, also allen Menschen gemeinsame Religion. Sie ist dem geistigen Niveau eines reifen Menschen entsprechend, sie befreit von Ängsten, die mit den faktischen Kirchenglauben verbreitet werden. Die Vernunftreligion gehört also zu einer reifen, einer selbstkritischen Menschheit. Kant geht so weit zu betonen: Die Vernunftreligion ist eine Weltreligion. Im Idealfall: Die Weltreligion. Wer sich als einzelner zu ihr bekennt, kann sich, sagt Kant, „wie in einer unsichtbaren Kirche fühlen“. Diese unsichtbare Kirche ist „eine bloße Idee von der Vereinigung aller Rechtschaffenden unter der göttlichen unmittelbaren, aber moralischen Weltregierung“ (Religionsschrift, Seite B 142).
Dese Vernunftreligion, so meint Kant, ist in ihrem Inhalt einfach, sie kann jeden Menschen überzeugen. Kant fasst seine Überlegungen zusammen: „Religion ist die Erkenntnis all unserer ethischen Pflichten als göttlicher Gebote“ (Religionsschrift B 230). In den ethischen Pflichten wird die Idee Gottes also vernehmbar. Mit anderen Worten: Nur ein Mensch, der sich bemüht, ethisch gut zu sein, kann hoffen, Gott wohlgefällig zu sein.
Kants religiöses Denken ist eine Befreiung zur Einfachheit der „Lehren“: Er schreibt in seiner Religionsschrift (Ausgabe von 1794, „B“, S. 261): „Ich nehme erstens folgenden Satz als einen keines Beweises (!) benötigten Grundsatz an: Alles, was außer dem guten Lebenswandel der Menschen man noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Aberglaube“. (Kant verwendet anstelle von Aberglauben den damals wohl üblichen Begriff „Afterdienst“. Und die meisten der hier zitierten Worte hat Kant der hohen Bedeutung wegen „gesperrt“, also mit Abstand, drucken lassen.)
6.
Ein spezieller Hinweis zur „Erkenntnislehre“, den man aber auch später lesen könnte:
Kant spricht von Religion und Gott in eher schwierig formulierten, aber nachvollziehbaren Sätzen und Argumenten. Er schreibt also Sätze, die von ihm selbst „Wissen“ genannt werden, obwohl er in seiner für ihn sehr präzisen „Erkenntnis-Definition“ (in der „Kritik der reinen Vernunft“) nur diese Einsichten als Erkenntnisse gelten lässt, die durch einen Bezug der Vernunft zu sinnlich gegebenen Objekten zustande kommen. Aussagen über Gott konnte er deswegen nach seiner Definition nicht Erkenntnisse nennen, weil Gott bekanntlich kein sinnlich gegebenes Objekt in der Welt ist. Und dabei bleibt es für Kant. Darum konnten nur Einsichten der Naturwissenschaften für ihn als Erkenntnisse gelten.
Nebenbei: Heute hingegen wird niemand ernsthaft bezweifeln, dass auch Aussagen zur Geschichte oder Kunst doch auch Erkenntnisse sind. Warum dann nicht auch philosophisches Wissen, das sich auf „Produkte des Geistes“, wie die Religionen, bezieht?
7.
So könnte man meiner Meinung nach auch Kants reflektierten und kritischen Aussagen zur Religion und zu Gott durchaus Wissen nennen. Kant nennt die Qualität dieser Aussagen zwar „Glauben“. Aber eben nicht Glauben im Sinne von beliebigen, willkürlichen Behauptungen wie „im Himmel ist Jahrmarkt“. Kant behauptet, wenn er von Glauben spricht, die Form des religiösen Verhaltens beschreiben zu können.
Es muss darum auch immer wieder gegen alle populären Vorurteile betont werden: Kant ist alles andere als ein pauschaler und undifferenzierter Zerstörer „metaphysischer Gegebenheiten“ oder Fakten oder Ideen, wie der Religion oder dem Begriff Gott. Kant kann lediglich ein Zerstörer eines spekulativ übermütigen Verstandesdenkens seiner Vorgänger genannt werden, also jener Philosophen, die mit religiösen Begriffen und Gottesbeweisen hin und her jonglierten. Das war wie eine Art Spiel der Begriffe. Man glaubte, mit der Vernunft Gott, den Unendlichen, zu umfassen, so dass die Frage entstehen musste: Hat der von Menschen umfasste „Gott“ noch einen Gott über sich? Das wär ja auch keine treffenden Antwort:
Kant weist also ein spekulatives Allerlei ab und schafft Raum für einen allgemeinen, vernünftigen Umgang mit Religion und mit Gott. Das ist die Basis, die im Laufe der Philosophiegeschichte weiter diskutiert wurde.

8.
Nach dieser allgemeinen Einführung zur Vertiefung zur Vertiefung noch einige der zentralen Aspekte zum Thema „Vernunftreligion“, vor allem bezogen auf die „Religionsschrift“ Kants von 1793.

Für Kant ist, noch einmal, grundlegend: Die Idee Gott erschließt sich in der Praxis der Moral und nicht umgekehrt. Also: Die praktische Vernunft ist der Ausgangspunkt und Mittelpunkt, um Gott zu „entdecken“. Und nur weil die Vernunft bestimmend ist, kann es dann überhaupt kritische und normative Auseinandersetzungen mit den de facto bestehenden, dogmatischen Religionen geben. Ohne Vernunftbegriffe wären die dogmatisch – religiösen Menschen ihrerseits heillos und hilflos den vielen sich widersprechenden Maximen der vielen Religion ausgesetzt…Die sich reflektierende praktische Vernunft (also die Vernunft inmitten der Lebenspraxis) klärt den Begriff Gott. Sie ist Kriterium und Maßstab für alles, was mit der Idee Gott zu tun hat.
9.
Das ist entscheidend, wenn man Kants Vernunftreligion als universale Religion verstehen will: Kant gelangt zur Idee Gott und zur Vernunft-Religion also nicht durch breit angelegte historische Studien. Sondern einzig durch eine genaue, subtile Analyse dessen, was sich im Vollzug der praktischen Vernunft, etwa in der freien moralischen Entscheidung zeigt, was darin implizit enthalten ist und was möglicherweise als ein Apriori der menschlichen Vernunft überhaupt beschrieben werden kann.
Kant ist immer bewusst: Der Mensch erreicht in seinem Leben und darauf reflektierten Denken niemals Gott, wie er „an sich selbst“ ist, in seinem inneren Wesen also. Der Mensch erreicht Gott als Idee, wie Gott nur von ihm her, dem Menschen, im Denken erreichbar ist. Spekulationen über das innere Wesen Gottes „an sich“ entfallen also. Mehr ist nicht zu wissen im Zusammenhang von Mensch und Gott. Der Mensch weiß nur, dass er dem Faktum des kategorischen Imperativs ausgesetzt ist. Warum dies so ist, kann der Mensch, sagt Kant, nicht verstehen. “Wir begreifen nicht die praktische unbedingte Notwendigkeit des moralischen Imperativs, wir begreifen aber seine Unbegreiflichkeit“, schreibt Kat in seiner „Metaphysik der Sitten“ über seine Philosophie, die bis an die “Grenzen der menschlichen Vernunft in Prinzipen strebt“ (S. 102). Und Kant nennt es, so wörtlich, „unbescheiden, zu verlangen, dass wir mehr wissen, als dass wir durch das moralische Gesetz (den Kategorischen Imperativ) zum guten Lebenswandel berufen sind“ (S. 107).
10..
Um sich der Gottesfrage zu nähern, ist es wichtig, sich auf die berühmten drei Fragen Kants zu beziehen: „Alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl als das praktische) vereinigt sich in folgenden drei Fragen:
Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?“ (Kritik der reinen Vernunft, B 833).
11.
Dabei ist die Frage „Was darf ich hoffen“ religionsphilosophisch besonders wichtig. Der tugendhafte Mensch muss auch ohne Belohnung für sein gutes Handeln, förmlich eine göttliche Instanz denken, die das gute Handeln belohnt und die böse Tat des Bösen bestraft. Wer das moralische Gesetz in sich wahrnimmt, also sich zur Freiheit aufgerufen weiß und den Willen hat, frei diesem moralischen Gesetz zu folgen, dem zeigen sich die Begriffe Freiheit, Unsterblichkeit der Seele und Gott. Diese Begriffe nennt Kant Postulate, also Forderungen bzw. apriorische Voraussetzungen, die sich ergeben, wenn man das moralische Gesetz nach allen Seiten ausleuchtet.
Die Postulate sind im moralischen Handeln anwesend. Die Philosophie thematisiert diese a priori gegebene Situation nur.
Das heißt, kurz zusammengefasst: Der Mensch ist in seinem moralischen Handeln darauf aus, die eigene sittliche Vollkommenheit zu erlangen und zugleich auch die Glückseligkeit für alle zum höchsten Zweck zu machen. Aber diese Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit ist in dieser Welt nicht erreichbar, sondern nur in der noumenalen, also der gedanklich „vorhandenen“ Verstandes-Welt. Als Urheber des Gesamtzusammenhangs wird Gott wahrgenommen. Er hat auch das moralische Gesetz geschaffen, so dass in der Forderung des moralischen Gesetzes der göttliche Wille erscheint. Gott wirkt also über das moralische Gesetz im Menschen nicht nur in jedem Menschen, sondern dann auch in der Welt, sofern Menschen dem moralischen Gesetz entsprechend handelnd die Welt gestalten. Die Autonomie des Menschen wird dadurch nicht eingeschränkt, denn er kann sich frei zu dem moralischen Gesetz verhalten. Deswegen sagt Kant: So kommt man durch diese Reflexion „zur Religion, das heißt zur Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote“. Wer die moralischen Gesetze als seine Pflichten begreift und diese respektiert, der folgt damit göttlichen Weisungen. Und in diesem Tun ist der Mensch dann religiös zu nennen, also mit Gott verbunden. Religion ist also für Kant wesentlich das Tun des moralischen Gesetzes.
12.
Diese in der menschlichen, aber von Gott geschaffenen Vernunft „entdeckte“, ja durchaus „offenbar gewordene“ Religion bezieht sich auch auf historische Erzählungen, wie das Neue Testament, und damit auch auf die Gestalt Jesu Christi. Christus aber wird von Kant als Vorbild gedeutet, und Vorbild kann für Menschen nur jemand sein, der selbst Mensch ist und nicht Gott. Es gibt also für Kant durchaus Übereinstimmungen der Ethik Jesu mit den Grundsätzen der vernünftigen Religion. Dies ist eine Bestätigung, dass Jesus von Nazareth wie auch andere Weisheitslehrer Prinzipien der allgemeinen, der vernünftigen Moral erkannt hatte.
13.
Aber die Kirchen haben leider nicht die allgemeinen Moralprinzipien Jesu von Nazareth in den absoluten Mittelpunkt ihrer Dogmatik gestellt, etwa die Liebe zu Gott und den Menschen als das EINE Gebot. Die Kirchen lieben den Klerikalismus, den pompösen Kult und die Trennung von Klerikern und Laien, den Unkundigen…
Sogar vom Gebet spricht Kant in seiner Religionsschrift: Das populäre Bittgebet lehnt er ab, weil der Mensch sich dabei wie zu einem willkürlich agierenden höchsten Wundertäter verhält. Insofern sind diese populären Bittgebete (um ein gutes Examen etc..) für Kant, so wörtlich, „abergläubischer Wahn, ein Fetischmachen“(B 302). Hingegen: Wenn man Beten versteht, dass sich die Gesinnung des Menschen in allen seinen Handlungen von Gott wie begleitet fühlt, dann kann diese Haltung Kant akzeptieren. Wer diese geistige Haltung (von Gott sozusagen begleitet zu sein) dann auch noch in fromme Worte fassen will, so kann allerdings diese Formulierung nichts anderes sein als „eine Belebung jener menschlichen Gesinnung, die aber keine Beziehung aufs göttliche Wohlgefallen hat“ (B 303).
14.
Aber Kant weiß: Die Vernunftreligion zu akzeptieren zu leben fällt den meisten Menschen schwer. Denn Pomp und barocke Inszenierungen mit bestens ausstaffierten Bischöfen und Klerikern sind doch auch folkloristisch ein amüsanter Anblick.
Die „Laien“ müssten nur erkennen, dass der einfache Vernunftglaube sie befreit von allerhand Zwängen und Wahnvorstellungen, etwa, dass sie als Menschen Gott besänftigen oder Gott im Ablass förmlich bestechen können. Die Vernunftreligion ist eine Religion der reifen Menschen. Sie können ja Riten vollziehen, aber immer in dem Wissen: Dass es darauf nicht ankommt, dass diese Riten sozusagen hübsches Spektakel sind, vielleicht seelisch beruhigend, ästhetisch schön wie eine Mozartmesse oder das Requiem von Verdi…
Aber man denke daran, dass Kant für die Vernunftreligion durchaus das „Gemüt“, wie er sagt, pflegt und gelten lässt. Im abschließenden Kapitel seiner „Kritik der praktischen Vernunft“. (S. 289) stehen ganz am Anfang die bekannten Sätze: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“.
15.
Kant hat die Hoffnung, die der Philosoph Friedo Ricken so formuliert: „Nur eine Kirche ist eine wahre Kirche, die ihre statutarischen (also vorgegebenen) Gesetze nicht absolut setzt, sondern weiß, dass sie als Kirche auf dem Weg zum ethischen allgemeinen Wesen (der Menschheit), zum Reich Gottes ist und dass sie die Aufgabe har, die Einheit der Menschheit zu verwirklichen“ (in: Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie, Stuttgart, 2003, S. 226 f.)
16.
Man stelle sich nur einmal vor: Die Menschheit hätte auf die vielen Götter- und Götzenbilder verzichtet, auf dogmatische Streitereien und Ketzerverbrennungen usw., und die Menschen hätten auf kulturell jeweils unterschiedliche Weise ihre inhaltlich einfache moralische Vernunftreligion praktiziert: Wie viel Elend und Grausamkeit wären den Menschen erspart geblieben…Und wie sehr könnten dann auch in den Kirchen des einfachen moralischen Glaubens die wirklich wichtigen und drängenden Thema vorrangig diskutiert werden. So aber streiten sich die Frommen über den Papst und den Zölibat, die Göttlichkeit der Bibel oder des Korans, die Heiligkeit des Heiligen Landes, die richtige Nachfolge des Dalai Lama und so weiter und so weiter. Wie viele Energien werden da sinnlos und immer ständig verschwendet bei diesen Debatten der dogmatischen Religionen.
Diese Debatten hätten meines Erachtens heute nur noch Sinn, wenn als Ziel die Frage vorgegeben wäre: Wie werden wir diese z.B. eben genannten dogmatischen Themen los und wenden uns der Vernunftreligion zu, der bescheidenen, der einfachen, der humanen Vernunftreligion?
17.
Falls es jemals zu einer universalen Vernunftreligion im begründeten Sinne von Kant (!) kommen sollte, dann müsste über die Formen des Miteinanders in der Gemeinschaft diskutiert werden. Vorläufig aber wäre viel gewonnen, wenn in den bestehenden (dogmatischen) Kirchen sich die Kräfte der Vernunft immer mehr durchsetzen. Das wäre nicht nur für das friedliche Miteinander in Staaten und Gesellschaften wichtig, sondern, wie schon gesagt, für alle Menschen entscheidend, die nicht länger ihre Religion mit Wunderglauben und dogmatischen Lehren des Klerus verwechseln wollen.
18.
Man stelle sich einmal vor: Die Kirchentage und Katholikentage und die ökumenischen Kirchentage und die Synoden in Deutschland, Rom und anderswo würden sich in vielen Gesprächskreisen NUR mit der so einfachen und so humanen und, wenn man so will, von Jesus unterstützten Vernunftreligion befassen: Was wäre dies für ein Lichtblick, für ein Weg zur Hoffnung und Veränderung in dieser verrückten Welt der Kriege, des Rassismus, des Waffenhandels, des Neokolonialismus, der kapitalistischen Wachstumsideologie, der Klimakatstrophen usw. Aber nein, das macht man nicht, sondern debattiert über solche Kleinigkeiten wie: Ist ökumenisches Abendmahl erlaubt? Wann wird der Zwangszölibat für Priester abgeschafft? Dürfen Frauen Priesterinnen werden? Und so weiter …ad aeternum?

Ich empfehle die Ausgabe der „Religionsschrift“ aus der Philosophischen Bibliothek des Meiner Verlages in Hamburg. Mit einer Einleitung und mit Anmerkungen herausgegeben von Bettina Stangneth, Hamburg 2003.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon.de