Auf der Suche nach “meiner Spiritualität”. Interview mit Thomas Maurenbrecher

Auf der Suche nach „meiner Spiritualität“

Interview mit Thomas Maurenbrecher.

Anläßlich der Veröffentlichung seines Buches „Unergründliches Kolkata”.

Die Fragen stellte Christian Modehn.

Der „Religionsphilosophische Salon Berlin“ veröffentlicht  gelegentlich Beiträge, die die Suchbewegungen spirituell interessierter Menschen heute dokumentieren und zur Diskussion stellen. Sie weisen über das vielen noch vertraute ausschließlich christlich geprägte „Weltbild“ hinaus … und geben insofern auch zu denken, wie denn das Christliche heute – auch philosophisch – kohärent dargestellt werden kann. CM.

Herr Maurenbrecher, Ihr jetzt erschienenes Buch, das darf man wohl sagen, beschreibt –obwohl „Roman“ genannt – auch Ihren eigenen spirituellen Weg, heraus aus den angestammten christlichen Traditionen und Kirchenbindungen und hin zu einer Vorliebe für eine bestimmte Form der vielfältigen Vedanta-Philosophien. Was hat Sie denn am Christentum, in Ihrer rheinischen Herkunft offenbar die katholische Kirche, so gestört, was erschien Ihnen dort so wenig hilfreich und so wenig inspirierend, dass Sie sich dann einer Vedanta-Schule angeschlossen haben?

Als ich das Abitur machte, hatte ich das Gefühl, dass mein Kopf von Müll bedeckt sei: Totes Wissen, das war dieser Müll, den ich loswerden musste. Aber wie? Zu diesem Müllberg gehörten auch die vielen kirchlichen Dogmen, von denen ich gehört hatte. Jahrelang sah ich vor mir, wie auf dem Konzil von Konstanz langsam das Feuer zu dem gefesselten Jan Hus hinkriecht. Auf dem Konzil von Nicäa 325 wurde meines Erachtens beschlossen, dass es den Gott in uns – wie die Arianer sagten– nicht geben könne. Seitdem haben wir im Westen diese festgefahrene Teilung der Welt in zwei Sphären: die absolute göttliche „da oben“ und die kontingente, hier unten“, wo wir armseligen Menschen unser sündhaftes Leben fristen. Wir sind schwach, sagte Luther, nur die Gnade kann uns erlösen. Was ich damals nur ahnte: Dass der Künstler in mir nach Unvoreingenommenheit suchte, um selber schaffen, selber gestalten zu können. Er musste den Kopf aus dem Müll rauskriegen!

Diesen Freiraum finde ich zum Beispiel in der Vedantaphilosophie. Andere entdecken ihn um die Ecke, das ist mir klar. Bei Vedanta wird betont, dass es nicht entscheidend ist, ob man sich einen persönlichen Gott oder eine abstrakte Gottheit vorstellt. Entscheidend sei die meditative und praktische Bemühung um Gottesliebe. Da musste ich wieder an die ermüdenden Kämpfe Gotthold Ephraim Lessings denken, der sich von der Kirche seinen Pantheismus vorhalten lassen musste und doch in seinem Epos „Die Erziehung des Menschengeschlechtes“ als erster im deutschen Sprachraum den Gedanken der Reinkarnation äußerte.

Zu Ihrer Vorliebe für eine Vedanta-Philosophie selbst: Was ist da für Sie selbst so hilfreich, inspirierend für ein (ja auch politisches) Leben im 21. Jahrhundert inmitten von Kriegen und Gewalt? Und kann nun ein europäisch geprägter Mensch, vielleicht trotz allem immer noch mit christlichem Background, diese Vedanta-Philosophie überhaupt „adäquat“ verstehen?

Es geht nicht darum, dass jemand wie ich die Vedantaphilosophie „adäquat“ versteht, weil das kein hermeneutisches Problem ist. Im Christentum wird das Mysterium von Golgatha als zentrales Ereignis der Geschichte, als Wende zum christlichen Zeitalter angesehen. In der äußeren Geschichte (Epoche des Kolonialismus und Imperialismus, zwei Weltkriege) kann man diesen geschichtlichen Paradigmenwechsel nicht erkennen. Seit dem konstantinischen Zeitalter gibt es die Verquickung der christlichen Kirchen mit den jeweils herrschenden politischen Mächten. Nur das esoterische Christentum, etwa angefangen bei Meister Eckhart bis hin zur Parzivalsage, bezieht sich auf die zentrale Botschaft Christi: die Bergpredigt und die Sieben Ich-bin-Worte. Ausformuliert ist der Zusammenhang zwischen Gottwerdung und Menschwerdung bereits in den „Vorlesungen über das Gottmenschentum“ von Wladimir Solowjow. Auch Max Scheler spricht in seinem Konzept der Person über diesen Zusammenhang.

In der Vedantaphilosophie ist man der Auffassung, dass jeder Avatar (Erleuchtete), der in der Geschichte aufgetreten ist, seine besondere spirituelle Aufgabe hat. Für sie reiht sich Christus da ein. Überhaupt wird im Hinduismus – und so auch in der Vedantaphilosophie – jede legitimierte (und nicht terroristische) Form von Religion integriert. Sie kennen nicht den Unterschied zwischen Orthodoxie und Heterodoxie wie im Christentum. Eine Besonderheit ist höchstens, dass sie den Übergang vom Mythos zum Logos anders und nicht so klar vollzogen haben wie die ionischen Naturphilosophen in Griechenland. Ich sehe da jedoch kein entweder – oder, sondern eher ein sowohl – als auch. Pindar und Homer hindern mich nicht am Verständnis der Apokalypse oder der Meditationes von Descartes, und das Ramayana und das Mahaabharata zeigen mir die ganze astrale und geistige Vielfalt der Menschen-Götterwelt. Sie finde ich in den vier Hauptformen des Yoga (in der Gliederung von Vivekananda) als spirituelles Streben, als geistige Übungen (sadhana) wieder. Auf diesem Weg gehe ich von meiner Persönlichkeit mit ihren Schwächen aus, versuche, mein Unwissen über die geistige Welt zu verringern. Die alte westliche Frage nach der Werkfrömmigkeit ist darin eingeschlossen (Karma-Yoga).

Das Kernproblem der Moderne ist allerdings in Ost und West das gleiche: dass sich die Götter und Engel seit den großen Astronomen und seit dem Streit zwischen Rationalismus Empirismus zurückgezogen haben. Wir sind auf uns gestellt, leben mit dem Absurden (Albert Camus), können scheitern, können zu Mordmaschinen werden.

Kann die Advaita-Vedanta, die ja, wie Sie selbst schreiben, „nur die nicht-sinnliche Welt (als die immaterielle) wirklich nimmt“ (S. 182), hilfreich sein im 21. Jahrhundert? Ist das nicht eine Flucht, sich der Gestaltung des Materiellen als wichtigem Lebensgrund (wir Menschen sind ja Fleisch, der unseren Geist auch „steuert“) zu entziehen?

Es gibt die Gefahr des Eskapismus in jeglichen spirituellen Streben, keine Frage. Aber ich glaube nicht, dass es eine neue Form des Umgangs mit der Schöpfung gibt, weil die Welt der materiellen Gegenstände immer stärker geworden ist. Die andere Gefahr, dem Eskapismus entgegengesetzt, ist die der hohlen Ritualisierung in exoterischen Formen der Religion: Glöckchenklingeln und Weihrauchgeruch…

Ich denke, dass die Frage Edmund Husserls in seiner Krisis-Schrift (1936) immer noch aktuell ist. Was ist diese Frage? Dass seit Galilei und Descartes eine schematische Erklärung und Deutung von Welt in mathematisch formulierten Naturgesetzen dem Menschen der Moderne nicht genügend Raum lässt zur Ausformulierung seiner individuellen Erfahrungsaufschichtung, die aus seinem Leben mit seinen Kämpfen erwachsen könnte. Er ist, um das mal so zu sagen, den Forschungsergebnissen der Naturwissenschaften und deren technischen Realisationen genauso hörig wie seine Vorfahren den dogmatischen Konzilsbeschlüssen. Es ginge darum, so Husserl, die Strukturen dieser Lebenswelt zu beschreiben, des In-der-Welt-Seins, wie Heidegger das nennt.

Diesen herrlichen Goetheschen Ton eines inneren Schöpfungstages „Ich ging im Walde so für mich hin, nichts zu suchen, das war mein Sinn“ gönnen wir uns einfach gar nicht mehr, dieses wieder „Linkisch –Werden“ wie auf den Bildern von Cy Twombly.

Wenn Advaita-Vedanta davon ausgeht, dass die nichtsinnliche Welt die eigentliche Wirklichkeit ist, so ist das nicht als fundamentalistisches Dogma gemeint, als „Glaube“, sondern als eine innere Ausrichtung, die nur zu etwas führen kann, wenn ich – trotz aller Durststrecken – darum ringe, die „alten Platten“ meines Lebens weniger und weniger abspiele: Die haben mit Neid, Eifersucht, Festhalten usw. zu tun. Das kann dazu führen, dass mich die Kriege, überhaupt die Gewalt, die ich gewöhnlich an der Oberfläche bedauere, von denen ich aber im Unterbewusstsein fasziniert bin, nicht mehr in ihre angstvoll-lustvollen G i e r s t r u k t u r e n hineinziehen. Höhere Gefühlsformen können aus einer neuen inneren Ruhe hervortreten, die Blüten treiben. Es ist eine überraschende Form der A l l t a g s p o e s i e, die daraus entstehen kann.

Sie strahlt wie ein mildes Licht auf meine bisherige, ambivalente Wahrnehmung der Kämpfe und Kriege herab, und ich entdecke, was i c h in dieser Lage konkret tun kann .Ich gucke nicht weg, und ich ziehe mich auch nicht billig in die Privatheit zurück. Der Yogi gewinnt, wie Vivekananda sagt, eine innere Macht, wenn er gewisse, nicht ganz einfache Übungen mit Beharrlichkeit macht (Raja-Yoga). Das erscheint mir wichtig, weil in christlichen Diskurs kein Kraut gegen die politische Macht gewachsen ist. Man arrangiert sich seit Jahrhunderten mit den politisch Mächtigen, wird – wie in Deutschland – von der Industrie über die Kirchensteuer ausgehalten.

Man hat den Eindruck, dass Sie an einer Verbindung oder zumindest einer Melange von Anthroposophie, Vedanta und dann auch Existenzphilosophie im Sinne des frühen Heidegger (Seite 174 ff) interessiert sind. Fühlen sich darin mit allen Menschen verbunden, die heute, wie die Religionssoziologen treffend sagen, die eigene Spiritualität aus unterschiedlichen (untereinander widersprüchlichen?) Quellen sich „zusammen basteln“. Das „Zusammen-Basteln“ kehrt ja immer wieder als Begriff der heutigen Religionssoziologie.

In dieser Mélange kann ich mich wiederfinden, aber nicht in dem Sinne, dass ich in religiösen Dingen ein bisschen „herumbastele“, um mir meine Religion „zu stricken“. Da guckt man auf den modernen Menschen vom theologischen oder soziologischen Sockel herab, hat vielleicht im Kopf, dass es, wie Augustinus meinte, Erwählte gibt und den Rest. Wichtig ist mir der Unterschied zwischen Wissen über Gott (so und so erstudiert und mit geschickter Homiletik dargeboten) einerseits und Gotteserfahrung andererseits, nenne es Moses am Dornbusch oder Saulus wandelt sich zu Paulus. Bei der Gotteserfahrung spielen Geheimnisse hinein, der Einschlag des Geistes.

Und der Bastler, von denen einige Religionssoziologen sprechen, befindet sich bei Claude Lévi-Strauss in bester Gesellschaft: Der bricoleur ist zwar schlichter in seinen Denkformen und seinem Tun, aber in seinem „totalisierenden“ Bemühen ist er dem gelehrten Wissenschaftler ebenbürtig.

Historisch gesehen kann man sagen, dass sich Europa durch die Unzahl der Kriege selber geschwächt und ein geistiges Vakuum erzeugt hast. Die prominenten Pazifisten waren keine Kirchenvertreter, wenn man genauer hinsieht. Insofern ist es naheliegend, dass Menschen, die nach dem subjektiven Sinn ihres Lebens suchen, eklektizistisch vorgehen und nichtchristliche Religionen durchmustern.

Thomas Maurenbrecher. „Unergründliches Kolkata. Ein Roman“. Erschienen in der J. Kamphausen Mediengruppe, Bielefeld, 188 Seiten. 14.99 €.

Thomas Maurenbrecher, Jahrgang 1940, wuchs am Niederrhein auf und lebt heute als freier Schriftsteller in Berlin. Er arbeitete als Kaufmann, als Sozialwissenschaftler (Deutschland, USA, Türkei) sowie als Sozialarbeiter. Zahlreiche Romane, Erzählungen und Gedichte.

 

Das Ich, begrenzt und entgrenzt: Eine Seminarreihe in der Mainzer7

Unsere FreundInnen im Kulturraum Mainzer7 in Neukölln, www.mainzer7.de, veranstalten ab April 2013 eine philosophische Seminarreihe zum Thema

“Das Ich in seiner Begrenzung und Entgrenzung”.

Wir weisen gern auf diese Veranstaltungen hin. Schon früher hat der Religionsphilosophische Salon auf den Kulturraum Mainzer7 aufmerksam gemacht, weil es sich dort auch um eine private philosophische und kulturelle Basisinitiative mitten in Neukölln handelt, inspiriert und geleitet vor allem von dem Soziologen Dr. Thomas Maurenbrecher.

Der Text des Flyers:

Das Ich taucht mit einem neuen Ton in der Philosophie der Neuzeit auf, seit Montaigne und Descartes; beide philosophieren vom Zweifel her.

Locke, Hobbes u.a. haben darüber nachgedacht, wie sich die Individuen in einer Gesellschaft zueinander verhalten, die sich nicht mehr an einer göttlichen Ordnung ausrichtet. Wie sich die Interessensphären abgrenzen lassen, ohne dass es Mord und Totschlag gibt.

Zentral dabei ist, ob man von einem optimistischen oder einem pessimistischen Menschenbild ausgeht.

Durch den Wegfall der traditionellen Gesellschaft ergibt sich eine gewisse Entfesselung des Menschen.

Das Ideal der Selbstverwirklichung bildet sich heraus, hat aber antisoziale Elemente in sich; durch die Kapitalakkumulation steigern sich die sozialen Spannungen. Das Problem der Ausbeutung scheint sich heute zur Selbst-Ausbeutung zu steigern und epidemisch Erschöpfung auszulösen.

Political correctness ist ein gängiger Minimalbegriff in der Öffentlichkeit geworden.

Die Sehnsucht nach Transzendenz verschwindet oder wird auf Nebenschauplätze abgedrängt.

Wo zeigt sich das Ich?

Themen der Seminare/Workshops:

 1. Was ist das Ich? Inwiefern kann es sich begrenzen und entgrenzen und nach welchen Kriterien?

20.4. 19 Uhr (Vortrag) + 21. 4 11 Uhr (Gespräch)

Dr. Uwe Petersen Philosoph, Berlin

2. Geschichte – die der Mensch ist (Ich – Gedächtnis – Geschichte)

25.5. 19 Uhr (Vortrag) + 26 5. 11 Uhr (Gespräch)

Gerhard Nurtsch, Philosoph, Köln

3. Das Ich im nicht – westlichen Kontext: die afrikanische Ubuntu- Philosophie

7.9. 19 Uhr (Vortrag) +8.9. 11 Uhr (Gespräch)

Roger Künkel, Philosoph, Berlin

4. Ich – Du – Wir. Identitätsbildung im 21. Jahrhundert

28.9. 19 Uhr (Vortrag) + 29.9. 11 Uhr (Gespräch)

Michael Braun, Philosoph, Berlin

5. Das Ego und das wahre Selbst. Was wir SIND –  der ungeborene und unsterbliche Grund unserer Existenz

19.10. 19 Uhr (Vortrag) + 20.10. 11 Uhr (Gespräch)

Hans Torwesten, bildender Künstler, Schriftsteller, Kieming (Chiemsee) war

Hinweis: ausführliche Texte zu den Themen der einzelnen Workshops auf unserer Webseite www.mainzer7.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Zwei Welten werden immer Gegenstand der Spekulationen der Philosophen sein: die ihrer Fantasie, in der alles wahrscheinlich und nichts wahr ist, und die Natur, in der alles wahr ist und nichts wahrscheinlich zu sein scheint.“

Rivarol, französischer Moralist (1753-1801)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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