Jesus contra Christus?
Eine Kritik des neuen Buches von Philip Pullman, „Der gute Herr Jesus und der Schurke Christus“
Von Christian Modehn
Dieser Text ist eine ausführliche Fassung eines Beitrags für den NDR am 27.2.2011
Die Gestalt Jesu Christi fasziniert nach wie vor Künstler und Schriftsteller. Jetzt hat der Engländer Philip Pullman, bekannt auch als Autor von Theaterstücken und „Fanatsay – Erzählungen“, seinen Roman über den Mann aus Nazareth vorgelegt. Auf dem Rückdeckel des Buches, auf pech-schwarzem Papier und in knallig goldenen Buchstaben, fasst der Autor den Inhalt seines Werkes zusammen: „Dies ist keine frohe Botschaft“. Und auf der Titelseite, ebenfalls Gold auf Pechschwarz, ist zu lesen: „Der gute Herr Jesus und der Schurke Christus“.
Auf den ersten Blick wirkt das neue Buch von Philip Pullman wie eine phantastische Geschichte: Da hat Jesus einen Zwillingsbruder mit dem Namen Christus. Er, der Jüngere, theologisch interessiert, wird zum kompetenten Beobachter seines allseits beliebten Bruders. Denn Jesus profiliert sich als erfolgreicher Heiler und Wundertäter, er ist der Prediger eines Gottes, der reine Liebe und Güte zu allen Wesen ist. Jesus glaubt zu wissen, dass sich das Reich Gottes alsbald auf Erden ausbreiten werde.
Eines Tages wird Christus von einem mysteriösen Boten besucht. Dieser befremdlich wirkende Engel fordert ihn auf, sich an der Verhaftung und Kreuzigung seines Bruders zu beteiligen. Denn, so sagt der Bote, Jesus störe einfach das religiöse Establishment. Er verwirre die Menschen mit seinen radikalen ethischen Forderungen. Christus übernimmt also die Rolle des Verräters, die in den Evangelien dem Judas zugewiesen wird. So wird er zum „Schurken“.
Soweit mag der Roman skurril erscheinen, gelegentlich ist er auch etwas spannend angesichts der mysteriösen Engel – Besuche. Man könnte den 230 Seiten langen Text als unterhaltsame Lektüre aber schnell beiseite legen. Tatsächlich aber bietet Philip Pullman einen theologischen Traktat: Jesus wird hier nicht nur als der sympathische Menschenfreund vorgeführt: Er hat, so der Autor, im Unterschied zu seinem Bruder Christus keine Absichten, eine Kirche zu gründen. Pullman lässt Jesus sagen: “Was du, mein Bruder Christus, als Organisation beschreibst, klingt wie das Werk Satans“. Damit wird ein alter Topos aufgegriffen, der von der kritischen Bibelwissenschaft durchaus untergestützt wird: Jesus dachte nicht an eine weltweit agierende Kirche. Andererseits, so die Bibelwissenschaftler, habe der historische Jesus durchaus ein besonderes, ein ausgezeichnetes Selbstbewusstsein gehabt: Er erlebte sich in besonderer Verbindung mit Gott, sah sich als der „Heilsbringer der Endzeit“. Auf Grund dieser Tatsache wurde später die Lehre verbreitet, Jesus sei Mensch und Gott in einer Person.
Diese alte Tradition stellt Pullmann grundsätzlich in Frage. Jesus wird kurz vor seinem Tod ausführlich als radikaler Ankläger Gottes dargestellt: „Du bist im Schweigen, Gott, du sagst nichts…vielleicht bist du gar nicht da“, schleudert der verzweifelte Jesus seinem früheren Gott entgegen. Hier kann der Autor auch seine fundamentale Kirchenschelte loswerden, wenn er Jesus sagen lässt: „Wirst du, Gott, die Kirchenfürsten vom Thron stoßen und ihre Paläste zertrümmern?“ In dem Machtapparat, Kirche genannt, geschehe zwar gelegentlich caritativ Gutes, meint der Autor; aber von Jesu Kritik an Herrschern und Herrschaften sei nichts mehr zu spüren. Das religionskritische Feuer Philip Pullmans, Mitglied einer humanistisch – atheistischen Vereinigung in England, wird hier besonders greifbar.
Jesus, dieser an Gott verzweifelte Mensch, wird gekreuzigt und stirbt. Und danach? Der Autor greift auf das uralte, man möchte sagen abgegriffene literarische Motiv zurück, demzufolge die Leiche Jesu gestohlen wird und verschwindet. Aber der Glaube an die Auferstehung entwickelt sich trotzdem: Denn, so will es der Autor, zufällig hält sich am Ostermorgen der Zwillingsbruder Christus in der Nähe des Grabes Jesu auf: Und diesen Christus verwechseln die frommen Jünger mit ihrem gekreuzigten Meister. Sie können nun siegesgewiss jubeln: „Der Herr lebt“. Die Auferstehung Jesu – nichts als ein Betrug, ersehnt von den leichtgläubigen Frommen. Christus denkt nicht daran, die Verwechslung der Frommen zu korrigieren; auch deswegen ist er in der Sicht des Autors ein „Schurke“.
Um seine Geschichte halbwegs rund zu beenden, schickt Pullman seinen Christus an einen weit entfernten Küstenort; dort lebt er zurückgezogen, plötzlich verheiratet, mit seiner Frau Martha zusammen. Ob er eine „Himmelfahrt“ erlebt, wird nicht verraten.
Eine gewisse Bedeutung hat dieser in England gefeierte Besteller vielleicht, weil er das Interesse wecken könnte, die vier so unterschiedlichen Geschichten von Jesus, Evangelien genannt, in der Bibel wieder einmal zu lesen. Sie sind allemal vielschichtiger und spannender. Oder man beginnt, seine eigene, persönliche Jesus Geschichte zu schreiben. Schließlich hat jeder Mensch das gute Recht, eigene Bilder und Vorstellungen von dem Mann aus Nazareth zu entwickeln. Sie wecken die Lust zu fragen: Wer war der historische Jesus denn nun wirklich? Immerhin bietet die historisch – kritische Forschung da einige sichere Hinweise.
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Philip Pullman, Der gute Herr Jesus und der Schurke Christus,
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 2011. 240 Seiten,
18,95 Euro.