Stille in der Stadt – Ein Interview mit Ursula Richard

Stille in der Stadt – Interview mit Ursula Richard
Ursula Richard ist Autorin und Mitbegründerin der “Edition Steinrich” in Berlin. Im August erscheint von ihr ein wichtiges Buch im Kösel Verlag über “Stille in der Stadt”, ein Thema, das viele religionsphilosophisch Interessierte sicher bewegt. Ursula Richard hat dem religionsphilosophischen Salon schon vorweg ein Interview gegeben.

Sie haben ein Buch geschrieben mit dem Titel „Stille in der Stadt“.
Warnen Sie also indirekt vor der Stadtflucht, die so viele erfasst, die gern meditieren und zur Ruhe kommen.

Ich warne vor falschen Sichtweisen und Trennungen, (die ich natürlich selbst gut kenne) – hier die Stadt als energie- und kräftezehrender Vampir, da das Land, das Natur, Zur-Ruhe- oder Zu-Sich-Kommen verspricht. Dieser Sicht zufolge muss ich so oft wie möglich der Stadt entfliehen, um in ländlichem Umfeld die Energie aufzutanken, die ich dann in der Stadt wieder so schnell verbrauche. Mein Vorschlag: Diese Sichtweisen und Trennungen einmal fallenlassen und schauen, wie viele Möglichkeiten doch in der Stadt selbst gegeben sind, Ruhe, Stille und vielleicht noch viel mehr zu finden.

Aber mussten Sie sich in der Stadt die Stille erst einmal „erobern“?

Ich musste nur die Fluchtbewegung aufgeben und dann sehen: die Stille ist auch in der Stadt zu finden, ja letztlich ist sie immer und überall da. Sie ist auch in den Geräuschen zu finden. Stille ist nicht zu erobern, sondern zu entdecken als eine Qualität, die alles durchdringt. Aber natürlich sind solche Entdeckungen an Hauptverkehrsstraßen zur Rushhour schwieriger als auf dem eigenen Balkon zu machen. Christian Herwartz, der in Berlin Straßenexerzitien leitet, erzählte von einer Frau, die die Erfahrung tiefer Stille am Kottbusser Tor machte, einem sehr lauten, belebten Ort in Berlin, vor dem sie sich zudem fürchtete, da er von vielen Drogenabhängigen und alkoholkranken Menschen bevölkert wird.
Ich finde es aber auch faszinierend, dass man die Stille auf dem Land meist als so wohltuend wahrnimmt, aber wenn man genau hinhorcht, ist es ja gar nicht still; es zirpt und schilpt, Vögel zwitschern, Frösche quaken, Kühe muhen, Trecker fahren, aber man empfindet das nicht als Lärm. Der Geräuschpegel kann im Städtischen mancherorts viel niedriger sein, aber da ist man viel schneller dabei, sich gestört zu fühlen. Und so kann man erkennen, wie viel unseres Erlebens vor allem von unseren Wertungen abhängt.

Wo haben Sie denn in Berlin, mitten in der Stadt, Ruhe und Stille gefunden?

Ruhe und Stille in einem eher vordergründigen Sinne habe ich in Berlin an vielen Orten gefunden: auf dem eigenen Balkon, auf Friedhöfen, in Parks, in Kirchen, in Meditationszentren, mit einem Boot auf dem Wannsee, früh morgens auf den Straßen … Aber ich habe auch schon Ruhe und Stille gefunden, als ich z. B. offenen Sinnes den Kudamm entlang gegangen bin, auch Ruhe und Stille in den vielfältigen Blickkontakten oder Begegnungen, die an solchen belebten Orten so einfach möglich sind.

Sie sprechen auch von urbaner Spiritualität. In den Bergen und den Wüsten bin ich allein. Ist urbane Spiritualität eine „Frömmigkeit“, die den anderen, die andere, wahr – nimmt? Eine Spiritualität des Antlitzes?

Ja, für eine urbane Spiritualität ist m. E. die Dimension der Verbundenheit sehr wichtig und damit ist sie sicherlich eine Spiritualität des Antlitzes. Ursula Baatz spricht davon, das Antlitz des Anderen wahrzunehmen und zu ehren; bei den Straßenexerzitien von Christian Herwartz kann ein Leitimpuls sein, im Anderen Gott zu finden. Ich nehme den anderen Menschen nicht mehr als jemanden wahr, der potenziell meine Ruhe und meine Kreise stört, mir fremd und suspekt ist, sondern schaue und handle aus einer Haltung der Verbundenheit heraus und das ermöglicht ganz neue faszinierende Begegnungen, in der U- oder S-Bahn, auf der Straße usw.

Es gibt „stille Abteile“ bei der Bahn. Wünschen Sie sich ähnliches, etwa „stille Cafés“ z.B. in denen von 4 bis 8 Ruhe herrscht?

Ich denke, dass Großstädte vielfältige „Räume der Stille“ brauchen. Das können „stille Cafés“ sein oder in Restaurants ein Raum, in dem in Stille gegessen werden kann. Oder geöffnete Kirchen; denn Kirchen erscheinen mir immer noch mit die machtvollsten Kraftorte der Stille zu sein. Und es gibt noch so viele Kirchen bei uns, doch sie sind viel zu selten geöffnet. Aber für mich sind auch „Räume der Stille“ am Potsdamer Platz z. B. denkbar in Räumlichkeiten, die von Hotels oder Daimler Benz oder der Deutschen Bahn zur Verfügung gestellt werden, oder leer stehende Läden in Neukölln oder im Wedding, Räume, in denen man allein oder mit anderen für eine Weile in Stille sein kann. Da ließe sich vieles vorstellen. Ich würde gerne mit anderen an Konzepten und der Realisierung von Räumen der Stille arbeiten.

Wie geht es weiter mit dem Buch: Wünschen Sie sich, dass LeserInnen ihre Ruhe Momente in der Stadt mit Ihnen austauschen?

Ja, im letzten Teil meines Buches entwerfe ich eine Art Utopie, wie ich mir eine Stadt in einigen Aspekten wünsche (und da spielen die Räume der Stille eine große Rolle), und ich lade die LeserInnen ein, auch ihre Phantasie spielen zu lassen, um ihre Stadt oder ihr näheres städtisches Umfeld zu entwerfen. Und dann für sich zu schauen, was kann ich oder will ich persönlich tun, um diese Stadt Wirklichkeit werden zu lassen. Und über solche Ideen, Phantasien würde ich mich gerne austauschen, aber auch über die Qualität von Begegnungen aus einer Haltung der Verbundenheit heraus und natürlich auch über Ruhe-Momente in der Stadt, gern an ausgefallenen Orten. Im Moment bin ich noch dabei, einen blog zum Thema einzurichten als einer Möglichkeit des Austauschs. Das Thema einer urbanen Spiritualität hat mich wirklich gepackt. Im Prozess des Schreibens habe ich so viele neue interessante Erfahrungen machen können mit der Stadt, mit mir, mit meinen Mitmenschen, einfach dadurch, dass ich mir meiner gewohnten Sichtweisen, Trennungen und Wertungen über sie bewusster geworden bin und diese immer wieder auch habe loslassen können, und einfach neu geschaut und ganz viel spannendes entdeckt habe.
religionsphilosophischer-salon.de, publiziert am 12. 6. 2011
Ursula Richard und die Edition Steinrich: Arndtstr. 34, 10965 Berlin.
Das Buch “Stille in der Stadt” hat den Untertitel: Ein City – Guide für kurze Auszeiten und überraschende Begegnungen, ca. 160 Seiten, Kösel verlag, August 2011.

Glauben ohne Wunder. Ein Salongespräch bei Rudolf Bultmann

Die Frage nach der Bedeutung der Wunder im christlichen Glauben ist sehr aktuell, weil die katholische Kirche nach wie vor daran festhält: Gott kann, sozusagen aus dem Himmel handelnd eingreifen und in Einzelfällen einmal die von ihm geschaffenen Naturgesetze durchbrechen, also “unnatürlich” handeln. (Sonst ist in römischer Sicht “Unnatürliches” absolut verboten, siehe die Verdammung der Homosexualität). In dieser Situation ist es interessant, sich einmal auch theologisch, warum nicht auch ein wenig unterhaltsam im Rahmen eines fiktiven Salon – Gesprächs, mit den Vorschlägen des protestantischen Theologen Rudolf Bultmann zu befassen. Im folgenden ist der Text einer RADIO Sendung von mir (im RBB) in der für Hörfunkzwecke üblichen Form zum Nachlesen abgedruckt. Dass meine Sympathien in dem Falle Bultmann gelten, brauche ich an dieser Stelle nicht zu verschweigen.

RBB, Gott und die Welt 1.5. 2011
Glauben ohne Wunder?
Ein theologischer Salon bei Rudolf Bultmann
Von Christian Modehn

1. Spr.: Erzähler Text: 175 Zeilen= 12 Min.
2. Spr.: Zitator

28 O TÖNE, zus.13 50“ (es entfallen die eingespielten 3., 24., 27. Zusp.)
3 musikal. Zusp., Mozart Klavier Sonaten, bitte die vorliegende verwenden!

1. musikal. Zuspielung, Mozart Sonate, 0 04 freistehend, dann bis Beginn der Titelsprecherin freistehend:

1. O TON, 015“, Pulsfort
Gott wirkt in der Geschichte. Und von daher wird auch damit gerechnet, dass Gott direkt in die Abläufe der Geschichte und des Menschenschicksals eingreifen kann und sich dabei über Naturgesetzmäßigkeiten hinwegsetzt.

1. musikal. Zuspielung, 0 03“ freistehend

3. O TON, Kürschner – Pelkmann, bitte aus dem 13. O TON diese Worte noch einfügen: (also die eingespielte Nr. 3 entfällt! „Für mich ist es..)
Eine Frau aus dieser Gemeinde erzählte, sie sei verstorben gewesen und sei wieder auferweckt worden durch Jesus. Und das wurde dann auch mit Begeisterung von den Gemeindemitgliedern aufgenommen.

1. musikal. Zuspielung, 0 03“ freistehend.

2. O TON , 0 17“, Kollmann
Man sollte natürlich mit dem Wunderglauben sehr vorsichtig sein, weil sehr vieles, was in der Geschichte der Menschheit für Wunder im Sinne von Durchbrechung physikalischer Gesetze betrachtet wurde, sich denn sehr schnell als etwas entpuppt hat, für das es eine vernünftige Erklärung gibt.

Titelsprecherin:
Glauben ohne Wunder?
Ein theologischer Salon bei Rudolf Bultmann
Von Christian Modehn

1.musikal. Zusp., Mozart Sonate. Bleibt noch einmal ca. 0 07“ freistehen, dann wegblenden:

1. SPR.:
Mit Mozart, seinem liebsten Komponisten, begrüßt der protestantische Theologe Rudolf Bultmann seine Gäste, nicht nur Kollegen aus der evangelischen Kirche, sondern auch Katholiken und Philosophen. Die Gesprächsrunde kann also spannend werden. Er freut sich immer, wenn Menschen von weit her kommen, um mit ihm in seiner Wohnung, oben, auf den Hügeln von Marburg, zu diskutieren. Im Oldenburgischen geboren, ist er schon als Student in die hessische Universitätsstadt gekommen. Später übernahm er hier den Lehrstuhl für Bibelwissenschaften. Der Gastgeber ist alles andere als ein „verbissener Spezialist“ oder gar ein „Kirchenfunktionär“. Vielseitig gebildet, will er modernen Menschen den christlichen Glauben erklären und nahe bringen. Dichtung und Musik spielen dabei eine große Rolle. Sie inspirieren bei der Suche nach dem wahren, dem „eigentlichen“ Leben.

1.musikal. Zusp., Mozart Sonate. Bleibt noch einmal 0 06“ freistehen.
(alle 3 Takes sind von bis 1 bis 3 nummeriert…Und die Startzeiten angegeben).

1.SPR.:
Gleich zu Beginn möchte Rudolf Bultmann an seine theologische Grundüberzeugung erinnern. Er greift zu einer Mappe seiner Vorlesungen, darin hat er notiert:

2. SPR.:
Unsere Aufgabe ist es, die vielen mythischen Bilder der Bibel zu verstehen. Sie verwirren heute, weil sie Göttliches naiv in die Welt hineinziehen, also Gott zu einem greifbaren Objekt machen, etwa bei den Naturwundern, wo Jesus als der Herr der Meere dargestellt wird. Die biblischen Wundererzählungen sollte man als Märchen und Mythen lesen und versuchen, ihren menschlich wertvollen Inhalt aber in eine neue Sprache zu übersetzen.

1. musikal. Zuspielung, noch einmal 0 03“ einblenden, dann sehr leise als Hintergrund für Text.

1. SPR.:
Rudolf Bultmann reicht Tee und Kaffee. Ein Bier mit dem obligaten Schnäpschen, was er als alter Oldenburger besonders schätzt, gebe es erst später. Der leidenschaftliche Pfeifenraucher kann es gut verstehen, wenn seine Gäste zu Zigarren und Zigaretten greifen. Bultmann kommt nun zur Sache: Er erinnert die Teilnehmer an die entscheidende Basis des Christentums, den „einen“ Mittelpunkt des Glaubens:

4. O Ton, 0 30“, Bultmann,
Der christliche Glaube redet von einer Offenbarung. Und meint damit Gottes Handeln als ein Geschehen, das dem objektivierenden Denken der Vernunft nicht sichtbar ist. Ein Geschehen, das als Offenbarung nicht Lehre mitteilt, sondern die Existenz des Menschen trifft und ihn lehrt oder besser ermächtigt, sich zu verstehen als getragen von der transzendenten Macht Gottes.

1. SPR.:
Bultmann schaut in die Runde: Vor allem um dieses eine Wunder gehe es ihm, um die Offenbarung Gottes, die Zuwendung absoluter Liebe. Sie könne den Menschen grundlegende Geborgenheit schenken. Die vielen einzelnen Wundererzählungen seien demgegenüber zweitrangig. Der Gastgeber greift zu seinen Aufzeichnungen, und deutet auf eine Stelle, die einigen Gästen schon bekannt sein dürfte:

2. SPR.:
Bildhafte Jenseitsvorstellungen müssen überwunden werden, ebenso magische Erlösungsvorstellungen. Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparate benutzen, nicht in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister – und weiterhin an die Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.

1. SPR.:
Da meldet sich gleich der Bibelwissenschaftler Bernd Kollmann von der Universität in Siegen zu Wort:

6. O TON, 0 23“, Kollmannn
Bultmann verfolgt ein sehr wichtiges Anliegen, er möchte ja Glaubenshindernisse für den modernen Menschen beseitigen. Und die neutestamentlichen Wundergeschichten sind natürlich in ihrer Sperrigkeit auch ein Stückweit ein Glaubenshindernis. Von daher Anliegen grundsätzlich als sehr positiv zu betrachten.

1. SPR.:
Dem kann der katholische Theologe Gottfried Bachl aus Salzburg nur zustimmen:

25. O TON, 0 36“, Bachl.
Es ist ein grobes Missverständnis zu meinen, dass der Glaube als Glaube die Einladung zur Leichtgläubigkeit ist. Das ist nicht der Fall. Sondern im Sinn der biblischen Überlieferung ist dem Glauben an Gott ein sehr kritisches Moment eingestiftet, dass man Gott nicht mit irgendwelchen Dingen der Welt verwechselt, mit irgendwelchen Einfällen oder Träumen oder auch Wahnvorstellungen, die Bibel verwendet ja auch das Wort Wahn, wenn es um diese Leichtgläubigkeit geht.

1. SPR.:
Rudolf Bultmann wirft nun das entscheidende Stichwort in die Runde, den von ihm geprägten Begriff der „Entmythologisierung“ der biblischen Wunderberichte. Nach zahlreichen Debatten weiß er, wie wichtig es ist zu betonen: In den Mythen, also den bilderreichen Märchen und Erzählungen des Neuen Testaments, werden Vorschläge zur Lebensgestaltung gemacht.

5. O TON Bultmann ,
Das ist ja nun die Frage der so genannten Entmythologisierung, ob mit der Erledigung der mythologischen Vorstellungen das letzte Wort gesprochen ist oder ob in ihnen ein bleibender Sinn Ausdruck gefunden hat. Ob ihnen eine Anschauung, ja ein Wissen vom Wesen der menschlichen Existenz zugrunde liegt, das vielleicht nicht das einzig mögliche Verständnis menschlicher Existenz wäre, das aber eine Möglichkeit ist, die ihr Recht nie verlieren kann.

1. SPR.:
Die Frage nach der Bedeutung der mythischen Erzählungen und der Wunderberichte hat Bultmann in seinem umfangreichen Werk beantwortet: Die biblischen Geschichten, also die Mythen, können nur dann das Leben deuten, wenn die Menschen sich nicht unmittelbar an die Bilder klammern und nur dem Vordergründig – Mysteriösen verhaftet bleiben. Der Evangelist Markus stellt Jesus als Wundertäter vor; er berichtet, wie er eine schwerkranke Frau heilte. Pfarrerin Cornelia Machoni (sprich Makoni) aus Berlin will auf den tieferen Sinn dieser „mythischen Erzählung“ von der „blutflüssigen Frau“ hinweisen:

12. O TON, 0 35“. Machoni, Etwas später rein gehen bei:
Man kann sich vorstellen, welche Aussätzigkeit das bedeutete in jeglicher Hinsicht, also keine Teilhabe an Gesellschaft. Und diese Frau bringt trotzdem die Hoffnung auf, dass sie gesund wird. Und folgt diesem Jesus und berührt ihn. Jesus ist derjenige, der diese Frau letztlich auf diesen Weg ja gebracht hat, und zwar durch sein Menschsein. Er war ja da, er hat gewirkt, er hat gehandelt. Sie wusste davon, und daraufhin hat sie sich ja auf den Weg gemacht und ist zu ihm gegangen und ihn besucht. Und diese Frau fällt in den Staub nieder und legt ihm diese ganze Lebensgeschichte vor, und er entlässt sie mit den Worten. Dein Glaube hat dir geholfen.

1.SPR.:
Auf die innere Einstellung zur Krankheit kommt es an, davon ist die Pfarrerin überzeugt: Der Glaube kann eine Art heilsame Lebensenergie werden, die dem Leiden trotzt. Aber was sagen denn Historiker zu der Behauptung, Jesus von Nazareth sei ein Wundertäter gewesen? Die Blicke der Teilnehmer im Salon richten sich auf den Bibelwissenschaftler Bernd Kollmann:

11. O TON, 0 42, Kollmann
Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Jesus insbesondere auf dem Gebiet der Krankenheilungen und der Dämonenaustreibungen einer der ganz charismatisch begabten Wundertäter seiner Zeit war. Das sind Wunderberichte auch in den Evangelien, die einen ganz festen historischen Kern haben. Bei den Heilungsgeschichten stehen Blindenheilungen und Gelähmtenheilungen im Mittelpunkt der Überlieferung, man hat sich die Krankheitsbilder wohl so vorzustellen, dass es sich hier um Krankheiten psychogener Natur handelt, wo ein charismatisch begabter Heiler nachweislich auch zu Erfolgen kommen kann.

1.SPR.:
Mit dieser Erklärung sind alle einverstanden: Jesus als charismatischen Wunderheiler zu verstehen, das sei noch nachvollziehbar. Aber hat er denn nicht auch so genannte Naturwunder vollbracht? Er soll doch der Herr über Meeresstürme gewesen sein…und einmal habe er sogar Wasser in Wein verwandelt.

7. O Ton, 0 52“, Kollmann
Hier wird aus der Perspektive des nachösterlichen Glaubens Jesus ganz Großes zugeschrieben. Dies sind Wundergeschichten, die keinen direkten historischen Anhalt haben, wo im Lichte des nachösterlichen Glaubens der Gemeinde Jesus solche Wunder zugeschrieben werden, auch um seine Messianität zu untermauern und zu dokumentieren. Um für ihn zu werben auch, also solche Wundergeschichten wurden ja auch von anderen Gestalten in der Umwelt des Neuen Testamentes erzählt, sowohl im Judentum als auch in der griechisch- römischen Welt. Und hier war das Christentum auch in einer Situation, wo es mit entsprechenden Jesuswundern aufwarten musste, um sozusagen im Wettkampf der Religionen konkurrenzfähig zu bleiben.

1. SPR.:
Im Laufe der Kirchengeschichte wurde also der charismatisch begabte Prophet und Heiler Jesus von Nazareth zum Gottmenschen Christus aufgewertet. Er wurde als eine Art überirdisches Wesen dargestellt, das auch die Naturgewalten beherrscht. Nur so konnte das Christentum auf dem „Markt der Religionen“ konkurrenzfähig bleiben. Diese Erkenntnis müssen die Salon-Teilnehmer erst einmal in Ruhe verarbeiten.

2. musikal. Zuspielung, bleibt 0 07“ freistehen, dann wegblenden.

1. SPR.:
Die protestantischen Gäste im Salon möchten gern Näheres über die klassische katholische Wunder – Theologie erfahren und wenden sich an Pfarrer Ernst Pulsfort aus Berlin. Seine Kirche hält schließlich daran fest, dass Wunder bis in unsere Zeit immer wieder geschehen. Diese Überzeugung könne sich auf alte biblische Traditionen berufen, meint der katholische Theologe:

8. O Ton, 0 33“, Pulsfort
Das Christentum und das Judentum auch, das sind ja beides Religionen, die damit rechnen, dass Gott die Geschicke der Welt lenkt. Also Gott wirkt in der Geschichte mit. Er hat Israel aus Ägypten geführt. Wir verstehen unsere Geschichte nicht nur als profane Geschichte, sondern auch als Heilsgeschichte. Gott wirkt in der Geschichte. Und von daher wird auch in diesen Religionen damit gerechnet, dass Gott direkt in die Abläufe der Geschichte und des Menschenschicksals eingreifen kann und sich dabei über Naturgesetzmäßigkeiten hinwegsetzt. Das ist eine Provokation.

1. SPR.:
Wohl wahr, meint der Protestant Bernd Kollmann:

9. O TON, insges. 0 44“. Kollmann
Man sollte natürlich mit dem Wunderglauben sehr vorsichtig sein, weil sehr vieles, was in der Geschichte der Menschheit für Wunder im Sinne von Durchbrechung physikalischer Gesetze betrachtet wurde, sich denn sehr schnell als etwas entpuppt hat, für das es eine vernünftige Erklärung gibt.
Aber auf der anderen Seite wird uns glaube ich, gerade auch in unserer technisierten Welt auch immer deutlicher, dass es doch viele Bereiche gibt, die wir mit naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit nicht erfassen können, und wo wir Dinge in unserem Leben spüren, die über das, was wir vernunftmäßig begreifen können, hinausgehen. Es ist natürlich dann Ansichtssache, ob man solche Dinge für Zufall hält oder für göttliches Einwirken. (ev. hier rausgehen)
Die Frage nach der Bedeutung der mythischen Erzählungen und der Wunderberichte hat Bultmann in seinem umfangreichen Werk beantwortet: Sehr viele Menschen, auch Menschen, die kirchenfern sind, sind aber doch der festen Überzeugung, dass sie hier etwas Wunderbares erfahren haben.

1. SPR.:
Ob ein unerklärliches Ereignis als Wunder zu werten ist oder nicht, liegt also vor allem im Auge des Betrachters. Eindeutige Urteile kann es da nicht geben. Darin sind sich die Salonteilnehmer einig. Aber die Protestanten wollen dann doch wissen: Wie geht die katholische Kirche heute mit so genannten Wunderberichten um, etwa mit den Heilungsberichten im französischen Marienwallfahrtsort Lourdes? Wieder wenden sie sich an Pfarrer Ernst Pulsfort:

10. O TON, 0 23“, Pulsfort
Die Kirche schätzt die Wunder hoch, allerdings geht sie sehr vorsichtig damit um, Dinge als Wunder anzuerkennen, die als solche von den Gläubigen bezeichnet werden. Also, man sieht das ganz deutlich in Lourdes, wo also monatlich Menschen sagen, es geschehen Wunder. Und in den 150 Jahren, in denen Lourdes existiert sind 67 oder 65 Vorgänge als Wunder anerkannt worden.

1. SPR.:
Bischöfe und Päpste achten also darauf, dass sich der Wunderglaube nicht unkontrolliert ausbreitet. Dabei wissen sie sehr gut, wie sehnsüchtig viele Menschen nach Wundern verlangen. In wie vielen Orten Italiens haben nicht schon Marienstatuen wunderbare blutige Tränen geweint? Der Theologe Gottfried Hierzenberger hat allein für Europa 1.128 so genannte Marien Erscheinungen gezählt, in Amerika soll die Gottesmutter 111 mal leibhaftig zu den Menschen gesprochen haben. Der Wunderglaube ist also eine Art „Urgestein“ des Katholizismus. Aktuelle Umfragen in Italien zeigen, dass dort der wundertätige Heilige Pater Pio der beliebteste aller Heiligen ist. Aber auch in der anglikanischen Kirche Afrikas breite sich der Wunderglaube aus, meint der Publizist Frank Kürschner – Pelkmann. Er berichtet von einem Sonntags – Gottesdienst in der Kathedrale von Kampala im ostafrikanischen Staat Uganda:

13. O TON, 0 33, Kürschner Pelkmann,
Eine Frau aus dieser Gemeinde erzählte, sie sei verstorben gewesen und sei wieder auferweckt worden durch Jesus. Und das wurde dann auch mit Begeisterung von den Gemeindemitgliedern aufgenommen. Das war der Wunder der Erweckung. Und vielleicht kann man sagen, dass ein Hintergrund eben ist, dass die meisten afrikanischen Christinnen und Christen die Bibel wortwörtlich verstehen. Also, die Wunder die vor 2000 Jahren passiert sind, können auch heute in Kampala passieren.

1. SPR.:
Und was denken Sie selbst als kritischer Protestant darüber, wollen nun die Katholiken wissen:

14. O TON, 0 29, Kürschner – Pelkmann.
Ich glaube eher, dass sie wirklich schwer krank gewesen war und im Grunde ihr Leben aufgegeben hatte. Und dann wieder gesund geworden ist und dies wirklich nicht naturwissenschaftlich medizinisch erklärte, wir würden vielleicht den Kreislauf prüfen und den Blutdruck feststellen. Aber dass sie überzeugt war, dass das eben ein göttliches Eingreifen in ihr Leben war. Und ich denke schon, dass der Genesungsprozess auch ganz objektiv also durch festen Glauben gefördert werden kann.

1. SPR.:
Bei allem einfühlenden Verstehen: Frank Kürschner – Pelkmann muss eingestehen, dass ihm dieser Gottesdienst noch aus anderen Gründen befremdlich vorkam:

15. O TON, 0 33“, Kürschner – Pelkmann
Während die Wiederbelebung dieser Frau von der Gemeinde positiv aufgenommen wurde, war es zufällig der erste Gottesdienst in der anglikanischen Kirche Ugandas, wo Frauen zu Pfarrerinnen geweiht wurden. Da gab es dann einen Aufstand von Gemeindemitgliedern dagegen. Weil, nach ihrem Verständnis der Bibel, sind Pfarrer Männer. Und da merkte eben auch die Grenze, wo einerseits also die Faszination des Wunderbaren eben auch umschlagen kann in eine fast dogmatische Vorstellung von dem, was christlicher Glaube ist.

1. SPR.:
Rudolf Bultmann ist fast amüsiert über diesen Bericht. Er sieht sich in seiner Forderung nur bestätigt, die Vernunft unter den Frommen zu fördern. Er blickt in die Runde und fragt: Warum denn die katholische Kirche immer noch die Wunder so wichtig nehme, etwa, wenn Menschen selig oder heilig gesprochen werden? Die Teilnehmer denken an die Seligsprechung des polnischen Papstes Johannes Paul des Zweiten. Zuvor mussten alle Wunder geprüft werden, die nach seinem Tod unter Anrufung seines Namens geschehen sein sollen. Zum Schluß konnte der Vatikan nur ein einziges Wunder als echt anerkennen: Die französische Ordensschwester Marie Simon-Pierre wurde im Juni 2005 in Aix –en – Provence plötzlich von der Parkinson-Krankheit geheilt, als sie sich im Bittgebet an den verstorbenen Papst wandte. Ernst Pulsfort will das erklären:

17. O TON, 0 56“, Pulsfort
Wir brauchen Kriterien unabhängig der Verehrung des Volkes, um dieser Verehrung des Volkes Legitimität zu geben. Und da stellt man ganz scharfe Kriterien auf: Ohne Wunder wird keiner selig gesprochen. Also die Akzeptierung für ein Wunder ist: Es muss von einem Moment auf den anderen passieren. Also, dass das Krebsgeschwulst von einem Moment auf den anderen verschwunden ist. Und deswegen werden während der Selig – und Heiligsprechungsverfahren Zeugen gebeten, sich zu melden, die eine Gebetserhörung erfahren haben. Dann wird dieses Zeugnis kontrolliert, geprüft. Dieses Wunder muss physiologisch nachweisbar sein, im Röntgenbild, hätte ich fast gesagt. Wenn das eindeutig ist, dann kann man ernsthaft diese Seligsprechung betreiben, weil man sagt: Das Wunder ist ein Hinweis darauf zumindest, dass diese Person verehrungswürdig ist, dass sie hilfreich ist, dass sie Fürsprecher ist.

1. SPR.:
Aber so einfach sei es doch nicht, ruft der katholische Theologe Gottfried Bachl aus Salzburg in die Runde. Denn andere ebenso höchst verehrungswürdige Frauen und Männer würden eben nicht so schnell selig oder heilig gesprochen werden wie Papst Johannes Paul II.. Man denke etwa an den beliebten Erzbischof Oscar Romero aus El Salvador, den Beschützer der Armen, den Freund der lateinamerikanischen Befreiungstheologen. Seit 30 Jahren gebe es Bemühungen, diesen vorbildlichen Erzbischof heilig zu sprechen, bisher ohne Erfolg. Professor Bachl fährt fort:

18. O Ton, 0 37“, Prof. Bachl
Man muss auch zu diesen Heiligsprechungen sagen, dass sie ja auch kein absoluter Vorgang sind, in der Bedeutung, dass man nun den Maßstab der Heiligkeit genau definiert hätte. Das richtet sich auch gewissermaßen auch nach dem Geschmack des jeweiligen Papstes, nach der kirchenpolitischen Richtung, in der man sich bewegt, nach den Vorlieben, die man hat. Wäre es nicht so, dann gäbe es eine ganze Reihe von Leuten, die längst hätten heilig gesprochen werden müssen und andere wieder, hätten vielleicht kaum eine Chance gehabt.

1. SPR.:
Dass nun katholische Theologen die Heiligsprechungsverfahren kritisieren, erstaunt die protestantischen Gäste im Hause Bultmann. Denn auch der Kapuziner Pater Karl Kleiner aus München distanziert sich vom naiven Wunderglauben:

19. O TON,0 40“ Pater Karl Kleiner
Es gibt Leute, auch meinetwegen fromme Leute, die immer etwas erleben wollen. Also Glauben bedeutet für die schon Schauen. Und nicht Angewiesensein auf eine Botschaft, die ich annehme. Und diese Leute wollen immer, dass sich der Himmel rührt, dass sich die Hölle rührt. Da muss sich immer etwas bewegen, irgendetwas Wunderbares tun. Das sind sehr einfache Leute. Und ohne Zeichen läuft nichts bei denen. Und ich würde sagen, das ist eine Sache, die von den Priestern der Kirche nicht gepflegt werden soll. Sondern Jesus verlangt schon, dass wir glauben, dass wir auf seine Worte setzen, dass wir ihn akzeptieren.

3. musikal. Zuspielung, bleibt ca. 0 07“ freistehen, dann wegziehen.

1.SPR.:
Rudolf Bultmann greift nun wieder zu den Manuskripten seiner Vorlesungen, darin steht mit dickem Ausrufungszeichen der Satz:

2. SPR.:
Wir müssen beim Thema Wunder unseren Blick über die Bibel hinaus weiten. Sicher, das eine und einzige Wunder bleibt, dass sich Gott offenbart und dass Jesus Christus uns Lebensorientierung bietet. Aber das verstehen wir um so eher, wenn wir auch bereit sind, Gottes Wunder in unserem menschlichen Leben zu erfahren, sozusagen auch im Alltag.

1. SPR.:
Auf diesen Satz habe ich die ganze Zeit gewartet, sagt die Augsburger Philosophin Katharina Ceming:

20. O TON, 0 49“, Ceming
Die Option Mensch an sich ist das Wunderbare. Also, er ist ja in alle Richtungen auch offen, und ich denke, dass dieser Mensch das Potential zum größten Schurkentum hat, aber eben auch genau zum größten Heiligen. Und ich denke jetzt wirklich an diese Geschichte von Viktor Frankl, der also diese entsetzliche KZ Zeit überlebt hat, und der eben gesagt hat: Genau dort hat sich auch menschliche Freiheit gezeigt. Also, dass es Menschen gegeben hat, die in der extremsten schrecklichsten Situation ihres Lebens bereit waren, trotzdem mit anderen noch etwas zu teilen. Das ist das wahrhaft Wunderbare. Und ich denke, das Wunderbare steckt in der Liebe, das ist auch nicht erklärbar, warum Menschen Dinge tun. Und das ist genau das Element des Wunderbaren, das sie jetzt niemals im Sinne einer mechanistisch, materialistischen Welterklärung erklären werden.

(Kürzungsvorschlag Anfang.Als Notlösung käme in Frage: NUR den 21. O TON zu entnehmen! CM. )

1. SPR.:
Die menschliche Freiheit ist für viele Philosophen das allerhöchste, fast etwas Göttliches, Wunderbares. Immanuel Kant sprach z.B. von dem geheimnisvollen „Faktum“ der Freiheit, das man nicht beweisen kann… Ja, es gibt das Geheimnis im Leben, ruft der Münchner Philosoph Günter Schiwy in die Runde! Es gibt das Wunderbare in der Welt. Die Schöpfung sei doch nichts Plattes, nichts Banales. Schiwy denkt dabei an sein großes Vorbild, den berühmten Naturforscher und Theologen Teilhard de Chardin; Er studierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Evolution der Welt in ihrem Auf und Ab und konnte dabei natürlich nicht die Katastrophen ignorieren.

21 O TON, 0 28“, Schiwy
Gegen diese Erfahrung hat er die Grunderfahrung des Menschen gesetzt: Er hat gesagt: Gäbe es nicht die Lust am Leben, gäbe es auch nicht die Erfahrung des Unlustigseins. So hat er immer dialektisch gedacht. Aber das Primäre und das Stärkere, ist für ihn letztlich diese positive Energie. Und weil es die gibt, gibt es auch für jeden Menschen die Möglichkeit, die Krisen durchzustehen.

1. SPR.:
Und dieses Potential ,,trotz aller Verzweiflung weiterzuleben“ und für das Wohl der Menschen, besonders der Leidenden, zu arbeiten, diese Kraft habe doch der Mensch nicht aus sich heraus, meint der Philosoph Günter Schiwy. Im Menschen wirke vielmehr eine göttliche Kraft, etwas Wunderbares:

22. O TON, 0 28“, Schiwy
Man muss wissen, dass wir als Geschöpfe nicht allein jetzt auf diesen Weg gesetzt sind. Sondern da ist jemand, der geht nicht nur neben uns her. Sondern der ist unser innerstes Kraftzentrum, es ist etwas, was von Innen her da ist. Und dafür gibt es nun immens viele Zeugnisse, man muss nur in sich selbst hineinhorchen. Das geht über die Kunst, das geht über die großen Forscher, das geht über die vielen Menschen, die sich für andere hinopfern. Das sind doch Energien, die haben wir doch nicht aus uns selbst.

( Kürzungsmögl. Ende).

1. SPR.:
Pfarrerin Cordula Machoni möchte diesen Gedanken aus persönlicher Erfahrung gleich ergänzen:

23. O TON, 0 40“. Machoni:
Zu der Hoffnung, dass Wunder geschehen, gehört: dass ich selbst für eins sorge. Ich kann eben nicht darauf hoffen, dass irgendwas Großes passiert. Sondern Wunder, die ich tun kann, geschehen auch im Kleinen. Der Dienst am Nächsten, also alles, was mit Diakonie zu tun hat oder mit kleinen Handlungen am Nächsten. Und was ist das für ein Wunder, dass Menschen, die hoch belastet sind, hoch engagiert sind in ihrem beruflichen Umfeld, die flexibel, mobil sind, Familie haben, mehrere Tätigkeiten und die dann noch Zeit finden bzw. ihre Zeit erübrigen, Menschen zu helfen! Finden Sie das normal, ist das alltäglich? Da denke ich, das sind schon kleine Wunder, die da passieren.

1. SPR.:
Rudolf Bultmann nickt zustimmend, er blättert in seinen Manuskripten, dort hat er notiert:

2. SPR.:
Ein Mensch, dessen Wesen und Tun von heiterer Liebe getragen ist, wird für andere Menschen zu einem Wunder. Und in solchem Sinne sind wir alle aufgerufen, nicht nur Gottes Wunder zu schauen, sondern auch daran zu wirken, Wunder zu vollbringen. Die Menschen sollten erkennen, dass das menschliche, freie und authentische Leben ein kleines Wunder ist! Wahres menschliches Leben ist kein fernes, kein „eschatologisches“ Zukunftsprojekt irgendwann im Himmel.

1.Spr.:
Dabei beruft sich Bultmann auf die biblischen Lehren des ersten Johannes Briefes; er empfiehlt den Christen, in großer Gelassenheit und Ruhe ihr Leben zu gestalten:

28. O TON, 0 23“, Bultmann
Weil er, der Glaubende, im Grunde schon den Tod hinter sich gelassen hat, und wie Johannes es ausdrückt, aus dem Tode in das Leben hinüber geschritten ist. Das echte, eigentliche Leben ist schon Gegenwart für den, der in Christus neues Geschöpf ist. Die eschatologische Vollendung ist für ihn schon angebrochen.

3. musikal. Zusp., noch einmal 006“ freistehend lassen.

1. SPR.:
Der Gastgeber schaut auf die Uhr. Jetzt sei es doch langsam Zeit, an das versprochene Bier zu denken… Als ökumenisch gesinnter Protestant, bittet Bultmann einen Katholiken um das Schlusswort. Ernst Pulsfort ist dazu gern bereit:

26. O TON, 0 34“, Pulsfort.
Das Wunder ist noch keine Garantie dafür, dass ein Mensch zum Glauben kommt. Wir finden in den Evangelien ja zahlreiche Wundergeschichten. Und diese Wundergeschichten erregen bei Betrachtern eher eine Ablehnung der Person Jesu. Also Wunder garantiert noch nicht die Annahme des Glaubens. Sondern das Wunder ist eigentlich nur verstehbar als eine Verstärkung des Glaubens oder Bestätigung des Glaubens für den, der bereits glaubt. Also der, der nicht glaubt, der nicht an Gott glaubt, der wird niemals eine Sache als Wunder anerkennen.

3. musikal. Zusp. 005“ freistehend:

1. SPR:
Post Scriptum: Rudolf Bultmann wurde 1884 geboren, er ist im Jahr 1976, drei Wochen vor seinem 92. Geburtstag, in Marburg gestorben.

3. Musik wieder hoch, darauf Absage:

Titelsprecherin: Glauben ohne Wunder? Ein theologischer Salon bei Rudolf Bultmann

Sie hörten eine Sendung von Christian Modehn
Redaktion: Anne Winter

Buchempfehlungen:

Eine umfassende historische und kulturwissenschaftliche Einführung zum Thema Wunder bietet das sehr empfehlenswerte Buch „Wunder, Poetik und Politik des Staunens im 20. Jahrhundert“. Hg. von Alexander C.T. Geppert und Till Kössler, Suhrkamp Taschenbuch, 2010, 475 Seiten.

Das Standardwerk zu Bultmann:
Konrad Hammann, Rudolf Bultmann. Eine Biographie. Mohr Siebeck Verlag, Tübingen, 2009, 582 Seiten.

Bernd Kollmann, Neutestamentliche Wundergeschichten.
Biblisch-theologische Zugänge und Impulse für die Praxis
Kohlhammer Urban Taschenbücher, 2010, 224 Seiten.

Gottfried Bachl, Der schwierige Jesus. Tyrolia Verlag, Innsbruck-Wien. 1994, 112 Seiten.

Katharina Ceming, Mystik im interkulturellen Vergleich, Bautz Verlag, Nordhausen, 2005, m133 Seiten,

Josef Imbach, Wunder. Eine existentielle Auslegung. Topos Taschenbuch, 2002. 240 Seiten.

Wie kann in Mexiko Veränderung gelingen?

“ÜBERDURCHSCHNITTLICH ZUFRIEDEN” UND ZUGLEICH “DIE SCHNAUZE VOLL!”
Wie kann in Mexiko Veränderung gelingen?
Von Alfons Vietmeier, Mexiko – Stadt, Anfang Juni 2011

Viele Reisende aus Deutschland kommen nach Mexiko mit Informationen über ein landschaftlich und kulturell reiches Land, das aber zugleich in einer tiefen Krise steckt mit einem besorgniserregend hohem Armuts – und Gewaltindex. Beim Spaziergang durch die Straßen kleiner und großer Städte gibt es dann schnell ein Erstaunen: Überall herzlich – erfreuliches Leben! Es gibt viel mehr Kinder und Jugendliche als in Deutschland und die haben ihren Spass auf den Strassen und in den Park; in der Metro zwitschern verliebte junge Pärchen; ältere Menschen erklären höflich den Weg ;lachende junge Frauen stehen zusammen beim Schwatzen an der Tortilla-Bäckerei. Um nicht zu idealisieren: Natürlich fallen auch viele bekümmerte und müde Gesichter auf. Jedoch der Eindruck bleibt, auch nach Wochen und Jahren in Mexiko . Trotz all des Schlimmen, was tagtäglich passiert und wovon die Nachrichten voll sind: Die Stimmungslage der ganz großen Mehrheit der mexikanischen Bevölkerung ist “überdurchschnittlich zufrieden”.
Das ist erneut im internationalen Vergleich dokumentiert worden im jüngsten Zufriedenheitsindex der “Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung” (OECD). Das verwundert sogar die öffentlichen Medien. “Mexiko, GLÜCKLICH trotz schlechter Lebensqualität!”, so steht es groß als Titelzeile in einem Massenblatt. Und das trotz aller objektiven Daten, die eigentlich auf ein depressives und zugleich aggressives Grundempfinden der mexikanischen Gesellschaft schliessen müssten.
Wie erfasst man, wie lebenswert ein Land ist? Der klassische Ansatz fragt vor allem nach materiellen und politischen Eckpunkten: Beschäftigungindex, Einkommensniveau und Kaufkraft, Wohnung, Gesundheitsversorgung, Bildungssystem, Rechtssicherheit usw. Laut dieser seit Jahren realisierten Studie der OECD befindet sich Mexiko unter den 34 Mitgliedsstaaten bezüglicher solcher Eckpunkte an vorletzter Stelle und Deutschland in der Spitzengruppe. Als Beispiele mögen folgende Daten dienen: Das durchschnittliche Jahreseinkommen in Mexiko beträgt 12.100 Dollar, im Vergleich zu 22.200 Dollar im OECD – Schnitt. Zugang zur Bildung: Im Mexiko haben nur 34 % der arbeitenden Bevölkerung einen Schulabschluss, während der OECD Standard bei 73 % liegt. Jedoch bei der Frage, wie zufrieden insgesamt die Befragten sich fühlen, liegt Mexiko deutlich über über Deutschland, ein “Volk notorischer Nörgler auf hohem Niveau” (Spiegel – Online, 26.05.2011).
Warum? Die Antwort ist nicht leicht, man muss sich differenzierter nachdenken.
Da sind zuerst und vor allem die sozialen Beziehungen, die weithin noch halten und als Sicherheitsnetz dienen, “trotz allem…” Fast jeder hat Onkel und Tanten, Cousinen und Vetter, Hochzeits- und Taufpaten; und diese haben wiederum… Aus vitaler Notwendigkeit über Jahrhunderte kultiviert, befindet sich fast jeder in einem Beziehungsgeflecht. Das heißt konkret: wir helfen uns gegenseitig! Und das macht zufrieden! Wer es akzeptiert z. B. eine Patin zu sein, rechnet damit, dass “irgendwann” auch dem Patenkind geholfen werden muss, einen Job zu finden oder… Das ist gleichsam eine kulturell – moralische Norm. Also, trotz Arbeitslosigkeit und eines schlechten Gesundheitssystems gilt: “Wir kriegen das schon hin, “irgendwie” einen Weg zu schaffen, der uns zufrieden macht und erhält”.
Von solcher Grundeinstellung her gibt es eigentlich nicht die Krise einer deutschen Mittelschichtsgesellschaft, die nach oben gekommen ist, Wohlstand geschaffen hat und dann immer in Angst lebt, das Erworbene zu verlieren. “Wir in Mexiko waren halt immer schon knapp dran. Aber meine Familie ist jetzt etwas besser dran als damals die Familie meiner Eltern. Wir haben eine kleine und dezente Wohnung und 2 Kinder studieren sogar!,” erzählt mir Josefina, die eine kleine kirchliche Basisgruppe leitet.
Soche Beziehungen müssen gepflegt werden. Im Laufe des Jahres gibt es immer Gelegenheiten miteinander zu feiern: Es vergeht kein Monat ohne irgendein soziales, ziviles oder religiöses Fest. Das ist immer Anlass, sich zu treffen, um miteinander zu essen, zu trinken, zu singen und zu tanzen… und –ganz wichtig- sich auszutauschen und konkrete Absprachen zu treffen. Das hat Kultur und ist Kultur.
Sicher hat solche positive Grundstimmung auch ihre erheblichen Schattenseiten: Beziehungsgeflecht beinhaltet auch Vetternwirtschaft, Seilschaften und “Klüngel”. Da ist Tür und Tor offen für Korruption (“der Pate regelt das schon…”) und für Kleptokratie (statt Demokatie): “Da sowieso die Institutionen schwach und korrupt sind, warum sollen wir nicht das für uns rausholen, was möglich ist…!”
Und hier wird dann konkret die tiefere Krise eines solchen “Systems”, das bisher es noch ermöglichte, “mehr oder weniger” zufrieden zu sein mittels solcher Umgangsformen und Absicherungsstrategien. Aber wie lange noch? Für wie viele ist ein solches Sichheitsnetz schon zerrissen? Die Millionen Migranten, die Drogenökonomie und die damit verbundene extrem schnell wachsende Gewaltszene machen das sehr deutlich.
Es geht dabei nicht darum, die soziale Beziehungskultur abzuwerten, sondern sie umzuformen und mit neuen Werten zu füllen. Zum Beispiel: Für Transparenz der öffentlichen Finanzen sich einzusetzen, auch wenn “Schmieren” eine übliche Alltagspraxis ist! Solidarisch sein mit den Opfern einer korrupten Wirtschaftspolitik (Betriebsschliessung mit Massenentlassung), auch wenn der politische “Pate” ein Teil der Ursache ist! Es geht um Menschenwürde und Menschenrechte, die höhere Werte sind als das Beziehungsgeflecht einer Vetternwirtschaft.
Solches Umformen ist nicht leicht, geschieht aber seit Jahren in einer großen Vielzahl von Sozialbewegungen und Organisationen der Zivilgesellschaft, von denen sehr viele christlich inspiriert sind. Oft waren es engagierte Leute in kirchlichen Basisgruppen, die dort gelernt haben die “Unterscheidung der Geister” zu praktizieren und denen dann irgendwann das “Pfarreimilieu” zu eng wurde: Einfach deshalb, weil der Kleriker immer gefragt werden will und Unterordnung erwartet und weil auch die grosse Mehrheit der pastoralen Ehenamtlichen religiös und politisch sehr konservativ ist. Die große Mehrheit der mexikanischen Solidar-, Öko- oder Menschenrechtsszene hat (im Auszug aus dem pfarrkirchlichen Milieu und bei bleibendem christlichen Engagement) hier ihren Ursprung. Seit Jahren wächst in diesem weiten Bereich eine “kritische Bewegung”, die gesellschaftsverändernde Dynamik voranbringt und gerade diesen Einsatz als erfüllend empfindet und deshalb “kritisch – zufrieden” ist: “Wir können noch ‘ne Menge bewegen! Fast ohne materielle Mittel, aber mit großer Kreativität kommen wir voran! Das macht Freude!”, meint Oscar, engagiert im Netzwerk “Alle Rechte für Alle!”
Eine solche “kritische Massenbewegung” hat ein enormes Potential in sich, das sich sozusagen entlädt, wenn “etwas ganz Ernstes” passiert. Das geschah in Mexiko z.B. 1985, als ein schlimmes Erdbeben ganze Straßenzüge, Kliniken usw. zerstörte. Es war zugleich auch ein soziales und politisches Erdbeben. Seit langer Zeit befindet sich Mexiko in einem zivilen Krieg (Drogenkrieg), in dem es in den letzten dreieinhalb Jahren über 40.000 Ermordete gegeben hat, allein im letzten April waren es 1 427 Tote. Am 8 März 2011 wurden in Cuernavaca (eine Autostunde von Mexiko – Stadt entfernt und “Stadt des ewigen Frühling” genannt; jetzt vom Volksmund umbenannt in “Stadt der ewigen Schiesserei”) 7 junge Erwachsene ermordet gefunden, unter ihnen der Sohn des Dichters und Schriftstellers Javier Sicilia, ein im ganzen Land bekannter Interlektueller aus dem Kreis um den berühmten Theologen und Gesellschaftskritiker Ivan Illich (1926 bis 2002): Jetzt war das “Fass übergelaufen”! Es bildete sich spontan eine Solidarbewegung, insbesondere christlicher Provenienz, wo Sicilia groß geworden war und weiterhin aktiv ist. Die Empörung war enorm! “…hasta la madre!” (so ungefähr wie “… die Schnautze voll!”), war das Poeten – Leitwort, das den Zorn orientierte. Es wurde ein viertägiger Marsch nach Mexiko – Stadt initiiert mit Schneeballefekt: Am Sonntagnachmittag füllten 150.000 Schweigende solidarisch den Hauptplatz: Das Motto: “Nicht mehr Blut!”. Es war die Stunde der Berichte und Zeugnisse der Mütter von Ermordeten und von Poeten, die besser als geübte Aktivisten oder Politiker in Worte und Zeichen fassen konnten, was viele Tausende im Innern bewegt hat. Ich habe sehr viele weinen gesehen und auch meine Augen wurden feucht. In Gesprächen wurde immer wieder betont: “Meine Tränen fließen aus Trauer und Wut über das, was passiert. Aber es sind auch auch Freudentränen: Endlich bewegt sich unsere Gesellschaft! Schaut, wie wir uns neu vernetzen !”
Dieser Nachmittag war zugleich die Geburtsstunde einer neuen mexikanischen Friedensbewegung: ein nationaler “Pakt für ein Mexiko in Frieden mit Gerechtigkeit und Menschenwürde” beginnt sich zu vernetzen. In diesen Tagen bricht eine Karavane auf nach Ciudad Juárez, dieser traurig – berühmten Millionenstadt an der Grenze zu den USA. Am Sonntag, dem 10. Juni, wird dort dieser Nationalpakt der Zivilgesellschaft vertieft. Dieses Datum hat auch symbolische Bedeutung. Vor genau 40 Jahres (es war das Fronleichnamsfest 1971) gab es in Mexiko – Stadt eine grosse Studentendemostration, die brutal von paramilitarischen Gruppen zusammengeschlagen wurde mit über 70 Toten (“Leichnamsfest”): Geschichte bleibt lebendig!
Der Pakt beinhaltet folgende 6 Forderungen, von denen jede wiederum eine Liste von Konkretisierungen beinhaltet:
Wir fordern:
1. Die Morde und das Verschwinden von Personen aufzuklären und diese Opfer auch namentlich bekannt zu geben…
2. Die Kriegsstrategie (gegen die Drogenkartelle) zu beenden und den Schwerpunkt auf die Sicherheit der Bürger zu setzen…
3. Die Korruption und das Straffreibleiben zu bekämpfen…
4. Die ökonomische Wurzel und die Gewinne der Verbrechensorganisationen zu bekämpfen…
5. Eine dringende Aufmerksamkeit auf die Situation der Jugend und effektive Aktionen zur Erneuerung des sozialen Netzes…
6. Eine Demokratie mit mehr Bürgerbeteiligung…

Die da einbezogen sind, sie stecken einander in ihrer Begeisterung an, machen Mut, man vernetzt sich… Die “kritische Massenbewegung” wirkt wie Sauerteig und die oben beschriebene Qualifizierung der mexikanischen Bevölkreung als “überdurchschnittlich zufrieden” erhält neue Motive und Aufgaben.

“Schwebende Gläubige”. Neues aus Holland

„Schwebende Gläubige“
Neue Untersuchung zu Religion und Kirchen in den Niederlanden

Ein neuer Titel wurde in Holland „geboren“, ein Name für jene Menschen, die nicht mehr kirchlich gebunden, aber doch religiös/spirituell interessiert sind: Es sind die „schwebenden Gläubigen“, so auch der Titel einer gerade jetzt erschienen Studie von Joep de Hart, er ist Professor für Religionssoziologe an der Universität Leiden. Erneut wird faktenreich dargestellt: Die niederländische Gesellschaft wird zunehmend unkirchlich, aber nicht unreligiös. „Nur 14 Prozent der Bewohner betrachten sich selbst als Atheisten“. Kirchenmitglied ist (nur noch) jeder dritte, wobei in den Kirchen eher die älteren Bewohner versammelt sind. Die meisten Holländer seien „Ietsisten“, also Menschen, die an „etwas Höheres“, eine göttliche Kraft, einen transzendenten Mittelpunkt im Leben glauben. Ietsisten bedeutet „an etwas Gläubige“, Menschen, die ihre Individualität ernst nehmen, auch ihre Selbstbestimmung in religiösen Fragen. Nebenbei: Ich habe zu dem Thema 2010 im WDR, Reihe Lebenszeichen, ein Radiofeature gemacht. Kriterium für die individuelle Annahme religiöser Traditionen seien, so Joep de Hart, „das gute Gefühl“, die Emotion, die wach wird, wenn man sich mit einer Tradition befasst und sie ins eigene Leben integriert. Die ersten Kritiker dieses Buches weisen zu recht darauf hin, dass die radikale Säkularisierungsthese nicht mehr gültig ist. Viele Jahre wurde betont: Die Entkirchlichung führe automatisch zu einem säkularisierten, also „nur“ weltlichen Denken. Ob die neue „Verzauberung“ der Welt immer harmlos und gesellschaftlich „ungefährlich“ ist, bleibt eine ganz andere Frage. Dringend wünschenswert wäre es unserer Meinung nach, wenn nach dem Abschied von den dogmatisch – rigiden Konfessionskirchen tatsächlich vernünftige, aber doch wenigstens stets vernünftig überprüfte Spiritualitäten entständen.
Joep de Hart bietet als Soziologe nur Fakten; in einem Interview konnte er sich dann aber doch nicht der Prognose enthalten: „Im Jahre 2050 wird das letzte Mitglied der Protestantischen Kirche der Niederlande die letzte Kirchentür schließen. Bei den Katholiken kann das noch etwas länger dauern“, so in einem Interview für Radio 1 Nederland am 29. Mai 2011. Wenn also in 40 Jahren fast alle Holländer „Ietsisten“ sein werden, ist denn der Gedanken so abwegig, dass doch offene und freie, undogmatische Gemeinden entstehen, denn ohne einen sanften Bezug zu anderen spirituell Interessierten hat es ein „Ietsist“ auf Dauer nicht ganz leicht.
Nebenbei: Die Kirche der Remonstranten ist bereits ein solcher Ort, in dem undogmatisch die christliche Tradition interpretiert und gelebt wird, eben „freisinnig“.

Joep de Hart, Zwevende Gelovigen, Oude religie en nieuwe spiritualiteit. Ben Bakker Verlag, Amsterdam, 2001, 326 seiten, 229, 50 Euro.

Friedrich Wilhelm Graf und die römische Kirche

Im Juli 2009 veröffentlichte PUBLIK FORUM ein Interview von mir mit Prof. Friedrich Wilhelm Graf, dem bekannten protestantischen Theologen von der Universität München. Inzwischen hat Friedrich Wilhelm Graf das viel beachtete Buch „Kirchendämmerung“ (becksche Reihe 2011) veröffentlicht, ein anregendes theologisches Buch, in einer Deutlichkeit geschrieben, wie sie heute selten noch Theologen wagen. Auch wenn wir mit einzelnen Aussagen nicht einverstanden sind, etwa zur optimistischen Einschätzung des „freien Marktes“ oder der Prognose, die rechtlichen Rahmenbedingungen der Volkskirche würden sich nicht ändern, so können wir das Buch „Kirchendämmerung“ ausdrücklich allen empfehlen, die über die Zukunft der etablierten Kirche in Deutschland nachdenken. Grafs Plädoyer für eine von der Vernunft “kontrollierte” Theologie wird philosophisch Interessierte ohnehin erfreuen.
In dem Buch „Kirchendämmerung“ wird von der römischen Kirche eher am Rande gesprochen, deswegen bieten wir hier noch einmal das Interview vom Juli 2009, es hat unseres Erachtens nichts an Aktualität verloren.

»Jesus-Nachfolge ist nicht der Weg des Papstes«
Über den Papst wird der protestantische Theologe Friedrich Wilhelm Graf (München) befragt
Von Christian Modehn

Herr Graf, seit Beginn seines Pontifikats betont Benedikt XVI. die römisch-katholische Identität. Ist das eine Kampfansage an den Protestantismus?

Friedrich Wilhelm Graf: Man kann nur dankbar sein, dass der Papst das spezifisch Katholische – jedenfalls so, wie er es versteht – prägnant formuliert. Denn es ist immer besser, wenn man es mit Leuten zu tun hat, die genau wissen, wer sie sind und was sie wollen. Für Benedikt ist die Ökumene mit den Protestanten sehr viel weniger wichtig als die Verständigung mit den orthodoxen Kirchen. Denn er täuscht sich nicht darüber, dass die Situation in Deutschland, wo beide Kirchen jeweils ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, im europäischen Vergleich die Ausnahme ist.

Warum ist dem Papst die Annäherung an die Orthodoxie so wichtig?

Graf: Wenn wir Benedikts Aussagen oder denen des zuständigen Kardinals, Walter Kasper, folgen, dann fällt auf, dass sie regelmäßig die große Nähe der jeweiligen Amtsverständnisse betonen. Wie der Katholizismus kennt die Orthodoxie eine steile Amtstheologie. Ebenso betonen beide die Autorität der Kirche als Institution. So weit die Gemeinsamkeiten. Doch dann muss man genauer hinschauen. Zum einen hat die Orthodoxie in sich große Unterschiede. Viele orthodoxe Kirchen sind so etwas wie Ethno-Religionen, die das Christentum in einem engen nationalen Kontext auslegen und deren Symbolsprachen den Anspruch dokumentieren, Trägerinnen der nationalen Seele zu sein. Zum anderen haben die orthodoxen Kirchen keine eigenen Aufklärungstraditionen. Das macht sie in Fragen von Menschenrechten, Menschenwürde, Demokratie zu äußerst heiklen Dialogpartnern.

Bei diesen Punkten gäbe es zum Protestantismus größere Nähe. Trotzdem zeigt der Papst den Protestanten die kalte Schulter. Warum?

Graf: Der Papst weiß, dass sich die Kernanliegen der Reformation nicht in den Katholizismus übertragen lassen: das Priestertum aller Gläubigen, die starke Betonung der Weltlichkeit des Glaubens, die Unterscheidung von Religion und Politik. Außerdem braucht der Protestantismus keinen Papst. Insofern kann man es Benedikt nicht übelnehmen, dass er am Gespräch mit den Protestanten kein großes Interesse hat.

Aber muss man deswegen den protestantischen Kirchen das Kirchesein absprechen?

Graf: Zum Glück muss ja niemand seine eigene Identität von der Bestätigung durch andere abhängig machen. Denn die Sache ist klar: Nach Maßgabe der römisch-katholischen Kirchenlehre sind protestantische Kirchen nicht im gleichen Sinne Kirche wie die katholische. Die katholische Kirche hat im Zuge der Modernisierung ihre Machtansprüche immer deutlicher betont, sie hat immer steilere Amtstheologien entwickelt und die Priester den Laien deutlich vorgeordnet. Das alles liegt dem Protestantismus fern. Mit dieser Differenz kann man aber konstruktiv umgehen. Es ist niemandem damit gedient, sie einfach zu leugnen.

Ist diese starke Betonung des Amtes und der Hierarchie der Versuch, die Kirche als eine Art Gegenwelt zur Moderne zu etablieren?

Graf: Man kann sagen, dass sich die römisch-katholische Kirche seit 200 Jahren als Gegeninstitution zum Prozess der Modernisierung versteht. Deshalb hat sie im 19. Jahrhundert die Autorität des Papstes gestärkt, deshalb hat sie zunehmend auf einen römischen Zentralismus gesetzt. Was wir bei Benedikt XVI. erleben, ist die logische Fortsetzung einer in sich konsequenten Kirchenpolitik: einer Politik, die man als Identitätspolitik beschreiben könnte, als Pflege der eigenen Corporate Identity. Unter den Bedingungen eines zunehmenden Pluralismus ist das plausibel.

Viele Katholiken in Deutschland sehen das anders. Unter Berufung auf das Zweite Vatikanische Konzil mahnen sie an, dass die römische Kirche sehr wohl lernfähig sein kann und dass es einen durchaus anderen Katholizismus gibt als denjenigen, den der Papst mit Macht in seiner Kirche durchzusetzen versucht.

Graf: Nun ja, er ist eben der Papst, und das müssen auch reformorientierte und liberale Katholiken in irgendeiner Weise akzeptieren. Aber wie dem auch sei: Über die Deutung des Zweiten Vatikanums kann man trefflich streiten. Die meisten Dokumente des Konzils sind Kompromisstexte, die man nach der einen wie nach der anderen Richtung hin lesen kann. Ich persönlich sehe nicht, dass der amtierende Papst die Ideale des Zweiten Vatikanums verraten hätte. Wenn man bei den Tatsachen bleiben will, muss man gestehen, dass viele seiner Aussagen durch das Konzil gedeckt sind. Das ist das eine. Und was die Lernfähigkeit der katholischen Kirche angeht, so muss man sehen, dass der Papst keineswegs lernunwillig ist. Denken Sie nur an seine Symbolpolitik: Da verzichtet er etwa auf den altehrwürdigen Titel »Patriarch des Abendlandes«. Das kann eine Demutsgeste, es kann aber auch eine Herrschaftsgeste sein. Tatsache aber ist: Es hat sich etwas geändert. Insofern würde ich bestreiten, dass die römische Kirche nicht lernbereit ist. Sie verändert sich permanent. Es ist nur nicht immer ganz leicht zu sagen, was die Zeichen, die sie dabei setzt, bedeuten.

Die katholische Kirche ist eine Weltkirche. Ist den Katholiken – sagen wir in Brasilien oder Korea – die von Benedikt XVI. propagierte katholische Identität überhaupt vermittelbar? Wie sollen die Menschen dort mit Ratzingers enger Verbindung von Griechentum und Evangelium klarkommen?

Graf: Da spielen Sie nun auf sein Lieblingsthema an: Glaube und Vernunft. Und Sie spielen an auf seine Regensburger Rede. Aber auch hier müssen wir genau hinschauen. In der Tat behauptet der Papst, die einzig legitime Form des Christentums sei diejenige, in der es sich mit dem griechischen Denken verbunden und darin seine Glaubenswahrheit formuliert hat. Das freilich ist eine radikale Absage an neue protestantische Christentümer, die überall auf der Welt enorme Erfolge erzielen und in Lateinamerika den traditionellen Volkskatholizismus aushöhlen. Benedikts Reaktion darauf ist: Wir müssen das Katholische schärfer profilieren, dann wissen die Leute, warum sie besser bei uns sind als bei den anderen.

Steckt dahinter aber nicht auch ein elitärer Machtanspruch: dass nämlich der Klerus durch seine philosophische Bildung als Führungselite der Kirche legitimiert ist?

Graf: Aber natürlich. Es wäre ganz naiv zu meinen, dass die Symbole der Religion nichts mit Macht zu tun hätten. Religiöse Symbole sind Kommunikationsmedien, in denen Ordnungsstrukturen thematisiert werden. Insofern hängen Macht und Religion eng zusammen, und es besteht überhaupt kein Zweifel, dass Benedikt XVI. einen extrem steilen normativen Machtanspruch erhebt: Er weiß besser als alle anderen, was die wahren Ordnungen des Zusammenlebens sind, er weiß besser, was Wahrheit ist. Denken Sie nur an seine Äußerungen zur Naturrechtslehre oder an seine Formulierung von der »Diktatur des Relativismus«. Was wäre denn der Gegenpol? Doch wohl ein Absolutismus. Man könnte das sicher auch differenzierter formulieren, aber im Kern läuft es auf eine starke Betonung der normativen Deutungskompetenzen des Papstes als Institution hinaus.

Gegen kirchliche Machtansprüche beriefen sich die Reformatoren auf das Evangelium als höchste Autorität. In der Theologie von Benedikt XVI. kommt die Heilige Schrift aber eher am Rande vor.

Graf: Fairerweise muss man sagen, dass der Heilige Vater ein Jesusbuch angekündigt hat, das in Kürze erscheinen soll. Vielleicht sollte man dieses Buch abwarten. Aber eines ist ganz klar: Eine tat- und herzbetonte Frömmigkeit der Jesus-Nachfolge ist ganz bestimmt nicht der Weg dieses Papstes.

Friedrich Wilhelm Graf geboren 1948, ist Ordinarius für Systematische Theologie und Ethik an der Universität München. Der Beitrag erschien in Publik Forum. Zeitschrift Kritischer Christen

“Museum des Widerstandes” in Santo Domingo eröffnet

Endlich gibt es in Santo Domingo, der Hauptstadt dee Dominikanischen Republik, ein Museum des Widerstandes. Es sollte auch in alle “Touristen” – Führungen einbezogen werden.
Es hat eine interessante und vielseitige website: www.museodelaresistencia.org/ es bietet viele Informationen, man wird neugierig sein, wie andere “Widerstandsmuseen” weltweit mit dieser Gedenkstätte an die Diktatur Trujillos, ermordet am 30. Mai 1961, zusammenarbeiten werden.
In unserer website www.religionsphilosophischer-salon.de gibt es einen ausführlichen Beitrag über die unsägliche Rolle der katholischen Kirchenführung während der Diktatur, bis zum Jahr 1960…