Spiritualität am Karfreitag…

Spiritualität des Karfreitags:

Der hier publizierte Text ist die ausführliche Fassung einer Ra­dio­sen­dung aus dem Jahr 2014 im RBB, später auch im NDR und HR gesendet. Wegen etlicher Nachfragen zur Lektüre dieses Hörfunk Beitrags hier der Text in voller Länge. Vielleicht sind einige Aussagen inspirierend. Christian Modehn am 7.4.2022.

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RBB: Gott und die Welt, Karfreitag, 18.04.2014. Der Text folgt der für Hörfunkproduktionen üblichen Form.

Elend, nackt und bloß
Jesus am Kreuz
Von Christian Modehn

1.SPR.: BerichterstatterIN
2.SPR.: Berichterstatter
3.SPR.: Zitator

21 O Töne, zus. 12 30“
7 Musikal. Zuspielungen. Die Musik Jordi Savalls über Caravaggio, bitte nicht zu knapp einsetzen. Bei jeder Musik etwa 20 Sek. nach Start reingehen!

1. Musik. Ca. 0 12“ freistehend, verwenden ab 0 18“ dort. leise im Hintergrund.

1. O TON, Bachl, 0 28“.
Ich meine das Kreuz, das in unserer christlichen Kulturwelt, in unseren Räumen, doch weithin ein Möbel geworden ist. Zwar ein Möbel, mit einer gewissen Ehrfurcht behandelt, es ist ein Möbel,
ein hübsches Ausstattungsstück für eine Wohnung. Wenn das Kreuz etwas ist in der Kultur, dann ist es der Querbalken in der Kultur.

1. Musik, ca. 0 06“ wieder freistehend

2. O TON, Sander, 0 18“
Man identifiziert sich mit jemandem, der ohnmächtig ist. Und das ist eine ganz schwierige Identifikation. Weil man sich damit mit seiner Ohnmacht auch auseinandersetzen muss. Von daher ist die Auseinandersetzung mit dem Gekreuzigten immer auch das Zu-sich-Selber-Finden in die eigenen Abgründe hinein.

1. Musik, ca. 0 06“ wieder freistehend.

3. O TON, Manfred Richter, 0 31“.
Es ist das Bewusstsein der irdischen, der kreatürlichen Hinfälligkeit, dass dieser Gottessohn selbst in erbärmlicher Nacktheit gezeigt wird. Die Nacktheit war verbunden mit gesellschaftlicher Ausgrenzung.
Und je mehr die Hinfälligkeit des irdischen Lebens bewusst wurde, hat man diesen Aspekt des ausgegrenzten Christus als Trost verstanden

1. MUSIK. 0 06“, aber Titelsprecherin freistehend.

Titelsprecherin:
Elend, nackt und bloß
Jesus am Kreuz
Eine Sendung von Christian Modehn

2. MUSIK, 0 12“ freistehend.

1. SPR.:
Der katalanische Komponist Jordi Savall, [ˈʒɔɾði səˈβaʎ] kann seinem Entsetzen über das Sterben Jesu nur musikalisch Ausdruck geben. In der Sprache der Musik äußert er die Gefühle der Freunde Jesu, erzählt von ihren Tränen, dem Schluchzen, dem Schrei des Entsetzens.

2. MUSIK, 0 08“ freistehend.

2. SPR.:
Jesus von Nazareth hängt leblos am Kreuz; ausgeblutet; qualvoll verendet an diesem Todes-Balken, der nur für Verbrecher bestimmt ist. Dabei galt Jesus unter den Armen und Ausgebeuteten in Palästina als der Gerechte, der Menschenfreund. Er war der Bote eines gütigen Gottes.

2. MUSIK, 0 06“ freistehend.

1.SPR.:
Bei der Marter der Kreuzigung war der lange hinausgezögerte Tod durch Kreislaufversagen durchaus von den Herrschern vorgesehen. Die Römer verurteilten in ihrem Imperium auf diese Weise politische Fanatiker und Rebellen. Aber Jesus von Nazareth dachte gar nicht an ein begrenztes politisches Programm. Ganz andere Projekte sind für ihn entscheidend: Die neue, geschwisterliche Gesellschaft, die in ihrer Liebe zum Nächsten und zu Gott ihren Sinn findet.

2. SPR.:
Seit mehr als tausend Jahren ist für Christen und ihre Gemeinden die Verehrung des sterbenden Jesus am Kreuz unverzichtbar. Sie sind auf das Kreuz Jesu geradezu fixiert, sie forderten ständig Künstler auf, den toten Jesus zu malen. So wird der Schmerzensmann in alle nur denkbaren Landschaften placiert, in Städte, Häuser, Kirchen. Jeder Altar braucht sein Kruzifix. Nur die Reformierten verweigern sich jeglicher bildlicher Darstellung Jesu. Aber in der frommen Phantasie entsteht dann doch ein persönliches, ein inneres Bild von Jesus.

1. SPR.:
Jeder Künstler nimmt auf seine eigene Weise das Kreuzesgeschehen wahr. Raffael und Rembrandt, Tizian und El Greco, Hieronymus Bosch und Rubens, Altdorfer und Caravaggio, um nur einige prominente Maler des 16. und 17. Jahrhunderts zu nennen, schaffen alles andere als dokumentarische, gar historisch korrekte Arbeiten. Sie bieten dem Publikum ihre Sicht des Kreuzweges; sie interpretieren ihren Kalvarienberg und ihre Kreuzesabnahme und Grablegung. So können die Gläubigen immer wieder einem neuen Antlitz des Gekreuzigten begegnen. Aber immer wird ein fast nackter Jesus gezeigt, bemerkt der Salzburger Theologe Hans – Joachim Sander:

4. O TON, Sander, 0 26“.
Der nackte Jesus am Kreuz ist eine Demonstration, und zwar die Demonstration einer Ohnmacht. Der Gekreuzigte selbst, der dann im Mittelpunkt rückt, das ist die Darstellung eines zerstörten, zerbrochenen Männerkörpers, der einer politischen, religiösen Konstellation zum Opfer gefallen ist. Und damit das Zurschaustellen, das Ausstellen, das Aussetzen eines ohnmächtigen Menschen.

3. MUSIK, 0 12“ freistehend.

1. SPR.:
Der Musiker Jordi Savall lässt sich von einem Gemälde des italienischen Meisters Caravaggio inspirieren. Es hat den Titel „Kreuzabnahme“, im Jahr 1603 wurde es für eine Kirche in Rom geschaffen. Der fast nackte Leichnam Jesu wird von Joseph von Arimathäa, einem treuen Jünger, und von Johannes, dem Apostel, sanft gehalten, bevor er ins Grab gelegt wird. Maria von Magdala verbirgt inmitten der Trauernden ihr Gesicht, sie will ihre Verzweiflung nicht zeigen. Maria, die Mutter Jesu, wendet sich, vom Schmerz bewegt, noch einmal ihrem verstorbenen Sohn zu. Dessen rechter Arm, reglos und schlaff, berührt bereits das Grab. Der Apostel Johannes ist so verwirrt, dass er beim Heben des Leichnams in Jesu offene Wunde greift. Sie wurde verursacht, als die Soldaten das Herz durchbohrten. Diese Szene wird von einem schwarzen Hintergrund beherrscht. Die Trauerden stehen wie vor einer undurchdringlichen Mauer. Der Kunsthistoriker Dominique Fernandez schreibt:

3. SPR.:
Es ist ein nicht mehr zu steigerndes, ein absolutes Schwarz. Ein solches Drama ist eigentlich unbegreiflich, unsäglich, jenseits jeglicher Form.

3. MUSIK, noch einmal 0 06“ freistehend.

1.SPR.:
Für die Christen der ersten Jahrhunderte war das Kreuz noch nicht das entscheidende Symbol ihres Glaubens. Sie hatten eine große Scheu, die Gestalt Jesu von Nazareth bildhaft darzustellen. Der Berliner Theologe und Kunst-Kenner Pfarrer Manfred Richter hat sich mit dieser Frage befasst:

5. und 6. O TON Manfred Richter, 0 51“.
Man hat nun, Jahrhundertlange, die erst zwei bis drei Jahrhunderte lang, keine Bilder gehabt. Man hatte keine gebauten Gottesdienststätten. Man ist in den Hauskirchen zusammen gekommen. Und dann hat man ganz andere Motive für Jesus verwendet, wie der gute Hirte, der das Lämmchen auf der Schulter trägt, den verlorenen Menschen. Für die Christenheit, für die Jüngerschaft, war es ein Skandal erster Ordnung, dass der, auf den sie gesetzt hatten, am Kreuz wie ein aufbegehrender Rebell hingerichtet wurde in entehrender Weise. Die Hinrichtung hat ja außerhalb der Stadt stattgefunden, also an einem unreinen Ort.

1. SPR.:
Der elend ans Kreuz Geschlagene, der soll der Erlöser sein? Er soll der Gottmensch sein, dem alle Ehre gebührt? In den ersten Jahrhunderten nach Christus stellten die Gebildeten, vor allem die Philosophen, diese Fragen. Sie fanden die positive Antwort der Christen eher unverständlich, wenn nicht abartig. Erst unter Kaiser Konstantin im 4. Jahrhundert gelang es, die breite Öffentlichkeit umzustimmen und für die Verehrung des Gekreuzigten zu gewinnen. In den neu gebauten Kirchen, den Basiliken, wurde dann ein Kreuz besonderer Art gezeigt: Es verzichtete auf den Corpus, den Leichnam Jesu. Die riesigen Mosaike präsentierten voller Stolz den neuen Herrscher, den Gottmenschen Jesus Christus: In der Apsis der römischen Kirche Santa Pudenziana ist ein entsprechendes Mosaik noch heute zu sehen. Der Kunsthistoriker Horst Schwebel schreibt:

3. SPR.:
Das neue Christusbild des 5. Jahrhunderts greift auf die Darstellungen des Kaiserbildes zurück. Die Kirche, Basilika genannt, wird zur Königshalle des himmlischen Kaisers Christus. In Purpur gekleidet sitzt er auf dem Globus als Symbol für den Kosmos. Bis in die Zeiten der romanischen Kunst wird Jesus hoheitsvoll dargestellt, finster blickend, aber den Sieg Gottes verheißend.

2. SPR.:
Im Mittelalter verlangten die Menschen nach anderen Bildern, seit dem 11. Jahrhundert setzte sich die Überzeugung durch: Dieser machtvoll herrschende Christus ist viel zu abweisend! Er hat kein Mitgefühl. Die Erfahrungen von Leid, Krieg und Gewalt waren so einschneidend, dass nur der mit- leidende Jesus, der Schmerzensmann am Kreuz, eine Antwort auf die letzten Lebensfragen sein konnte.

1. SPR.:
Im Neuen Testament erzählen die Evangelisten von einem demütigen Jesus von Nazareth, sie berichten von seiner Geburt in einer Krippe im Stall. So elend, nackt und bloß wie er geboren wurde, so endete er auch, einsam am Kreuz. Diesem Jesus will Franziskus von Assisi nachfolgen, der Sohn einer reichen Tuchhändlerfamilie. Er befreit sich im Italien des 12. Jahrhunderts von seinen bisherigen Überzeugungen und wirft tatsächlich alles von sich im Moment seiner Bekehrung, berichtet Pater Cornelius Bohl, der Provinzial des Franziskanerordens in München:

7. O TON, Pater Cornelius Bohl, 0 45“.
Franziskus trennt sich von seinem Vater, er gibt ihm also alles zurück, selbst die Kleider, die er hat. Und sagt eben: Bisher habe ich dich meinen Vater genannt, aber jetzt habe ich nur noch den Vater im Himmel. Er steht nackt vor dem Vater und vor der ganzen Stadt, und das wird zum äußeren Zeichen auch seiner radikalen Trennung von seinem bisherigen Leben. Also wenn er sich von den Kleidern trennt, die auch einen Stand ausgedrückt haben, die Reichtum bedeutet haben, die gesellschaftliche Stellung ausgedrückt haben, dann trennt er sich nicht nur vom Vater, sondern von diesem ganzen System, in das er hineingeboren ist; ein System, das auf Macht basiert, auf Geld, all das lässt er los, um etwas ganz Neues zu beginnen.

2. SPR.:
Franziskus von Assisi gründet eine Ordensgemeinschaft von Brüdern und Schwestern, die sich zu einem Leben in radikaler Armut verpflichten. Viel weiter noch reicht seine Anregung, die allen Christen gilt: Sie sollen den leibhaftigen, den historischen Jesus verehren, vor allem sein Leiden am Kreuz. „Nackt dem nackten Jesus nachfolgen“: So umschreibt er selbst das Grundprinzip seines Leben. Bis zu seinem Tod im Jahr 1226 hält Franziskus daran fest.

8. O TON, Pater Cornelius BOHL, 0 19“.
Als er merkt, dass er sterben wird, lässt er sich nackt auf die nackte Erde legen. Er will also ganz bloß und arm, so,wie er geboren ist, auch in den Tod gehen. Er gibt alles von sich, selbst seinen Habit, er liegt nackt auf dem Boden, um geboren zu werden für das ewige Leben.

1. SPR.:
Seit dem 14. Jahrhundert werden Kreuzesdarstellungen immer beliebter, sie zeigen einen von Schmerzen gekrümmten, halbnackten Jesus am Balken des Todes. Diese Tradition setzt sich endgültig durch. Nur einmal und bloß für kurze Zeit, präsentieren Künstler einen schönen Gekreuzigten. Michelangelo zum Beispiel will in der Renaissance, im 15. und 16. Jahrhundert, für einen anderen Christus werben: Er stellt den harmonisch schönen Jüngling am Kreuz dar, den idealen Menschen, der gelassen und vom Schmerz unberührt seinem Tod entgegen sieht. Michelangelo hat als junger Künstler für die Augustinerkirche in Florenz eine viel beachtete Skulptur eines schönen nackten Jesus geschaffen. Auch später noch hat er für die Sixtina in Rom nackte Leiber der Heiligen gemalt. Auch Michelangelo ließ sich von biblischen Impulsen leiten, meint Pater Bohl:

9. O TON, Cornelius Bohl, 0 21“.
Die Nacktheit ist eigentlich der natürliche Zustand, der paradiesische Zustand des Menschen, der Mensch, der so ist, wie er von Gott geschaffen ist, der sich nichts vormacht, der anderen nichts vormacht, der sich nicht verstecken muss, auch durch Kleider nicht verstecken muss. Weil er sich annehmen kann, auch von Gott angenommen ist. Also Nacktheit ist gut und Nacktheit ist paradiesisch.

1. SPR.:
Je mehr sich jedoch die genaue Kenntnis der biblischen Erzählungen durchsetzte, umso deutlicher wurde: Von ästhetisch gefälliger Schönheit kann bei Jesus nicht die Rede sein. Sein Lebensende heißt Leiden, Blut, Schmerz, Einsamkeit. In Zeiten von Pest und Hungersnot stand dieser Schmerzensmann den Menschen näher als ein wohlgeformter Jüngling am Kreuz. Darauf weist der Theologe Gottfried Bachl hin:

10. O TON, Gottfried Bachl, 0 43“
Das, meine ich, müsste man auch sich vergegenwärtigen: Die Hässlichkeit Jesu in ihren verschiedenen Brechungen. Ich meine damit nicht den charakterlichen Mangel oder dass er unsympathisch gewesen sei oder abstoßend gewesen sei. Ich meine damit seine wirkliche Querlage zu dem, was wir gemütlich nennen, hübsch, zu all dem, was wir mit einer gewissen Lust über unser wirkliches Leben hinweg schmieren und zumachen und verniedlichen.

1. SPR.:
Einen gefälligen Jesus, hübsch anzusehen: Davon wollten die Sterbenden im Hospiz von Isenheim im Elsass überhaupt nichts wissen. Sie suchten den verständnisvollen Freund, der im eigenen Todeskampf Vorbild ist und so Hoffnung spendet.

2. SPR.:
Wenn Matthias Grünewald im Jahr 1515 den grauenvollen Leichnam Jesu in Isenheim malte, dann wussten die Sterbenden genau: Wer an Jesus Christus glaubt, wird wie er auch den Tod überwinden. Aber schon damals musste man länger vor dem Bild verweilen, um in dem Gemälde Trost und Hoffnung zu erkennen, betont Pfarrer Manfred Richter:

11. O TON, Manfred Richter, 0 33“.
Wenn man mal beobachtet, gerade bei Grünewald, dass der Lendenschurz, zugleich geschwungen gezeigt wird, dass er nämlich quasi spricht. Das ist das Zeichen, dass sein Leiden sprechend ist und einem Zuspruch bedeutet. Als Trost ja. Als Zuspruch erst mal der Leidenden, die also da im Krankenhaus diesen Christus vor Augen hatten, dass er wie sie leidet, und durch dieses Leiden hindurch die Irdischkeit hinter sich gelassen werden kann.

1.SPR.:
In einer religiös geprägten Kultur gab es für die Menschen keine Zweifel: Die Kreuzesdarstellungen verweisen auf die Lebensgeschichte Jesu. Es gilt also, über den Jesu Tod hinauszuschauen und seinen Alltag in Palästina wahrzunehmen. Dann werden überraschende Erkenntnisse geschenkt, meint der Jesuitenpater Klaus Mertes:

12. O TON, Klaus Mertes, 0 39“
Das ist ein ganz wichtiger Punkt, also dass Jesus ganz offensichtlich jemand ist, der ich sagt. Also er predigt nicht über Dinge, sondern er spricht über sich. Wenn er zum Beispiel sagt: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Dann sagt er nicht: Ich verkündige euch die Auferstehung und das Leben. Sondern er sagt: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Was ich zu sagen habe, zeige ich durch das, was ich bin. Durch mein Sein. Also ich habe nicht etwas im Kopf, was ich euch sagen will, sondern ich zeige euch, was ich lebe, ich zeige euch, welche Menschen ich liebe, ich zeige euch, welche Dinge mich verletzen. Ich zeige euch, was meine Sehnsucht ist. Das ist meine Verkündigung. Es ist ein Sprechen durch Sein mehr als durch Worte. Und das ist die tiefere Nacktheit bei Jesus!

1. SPR.:
Elend, nackt und bloß lebt Jesus von Nazareth bereits während seines ganzen öffentlichen Lebens in Palästina. Da hat er den Mut, sich vorbehaltlos zu zeigen, sein Inneres preiszugeben. So wird sein Wesen klar, nämlich hüllenlos sichtbar:

13. O TON, Klaus Mertes, 0 23“
Sich in die Öffentlichkeit zu stellen, bedeutet auch immer, sich schutzlos zu machen, die Kontrolle über sich aus der Hand zu geben. Und sich aber zugleich von der Öffentlichkeit nicht diktieren zu lassen, sich zu verstecken. Da ist eine ganz starke konfrontative Dimension, einfach nur in diesem Sich Zeigen, wie ich bin, und wie ich fühle und wie ich denke.

4. MUSIK:

1. SPR.:
Vom Kreuz Jesu kommen die Künstler nicht los, selbst wenn sie nicht mehr den Glauben der Kirchen teilen. Seit dreihundert Jahren ist es eher selten, dass ein Bischof und gar ein Papst einen angesehenen, aber kirchenkritischen Maler mit einer Arbeit beauftragt. Und nur selten finden sich Gemeinden bereit, auf den üblichen Gebrauchskitsch der Kunsthandwerker zu verzichten und ein wirkliches Kunstwerk zu bestellen.

2. SPR.:
Wenn seit dem 18. Jahrhundert Künstler ihren Schmerzensmann malen, dann nur aus ihrem eigenem, individuellen spirituellen Interesse. Lovis Corinth hat die Schrecken des Ersten Weltkrieges überstanden. Er sieht das Gemetzel noch Jahre später vor sich, die Leichenberge, die zerfetzten Köpfe der Soldaten. Dann malt er 1922 ein außergewöhnliches Bild. Es zeigt einen Christus mitten der vor Blut triefenden Grausamkeit des Krieges, berichtet Manfred Richter:

14. O TON, Manfred Richter, 0 41“
Lovis Corinth: Der rote Christus, da wird der existentiell bis zum Letzten zerrissene und kaputt gemachte Mensch, wie er im Ersten Weltkrieg erlebt werden konnte, und im zweiten auch erst recht, dargestellt. Und dieser Lovis Corinth Christus ist rot und Fleisch, wie Francis Bacon in drastischerer Weise die Zerrissenheit der menschlichen Figur, darstellt. Da ist noch mal ein neuer Typus der Christusbesinnung da, die ihn aber mit uns, mit unserem zeitgenössischen Schicksal, in engste Verbindung bringt.

1. SPR.:
Lovis Corinth ist nicht der einzige Künstler, der überzeugt ist: Dieser leidende Jesus lebt heute, er ist gegenwärtig. Um nur einige bekannte Namen zu nennen: Der Schmerzensmann wird Max Beckmann oder Arnulf Rainer, Francis Bacon, Georges Rouault, Alfred Hrdlicka und Herbert Falken gemalt.

2. SPR.:
Und etliche Künstler gehen soweit, dass sie sich mit dem sterbenden Jesus identifizieren. Der Schweizer Maler Louis Soutter (sprich Sutär) war dem Ende nahe, seelisch zerrüttet, von der eigenen Familie abgeschoben in ein Heim: Dort hat er seinen persönlichen Heiland Jesus am Kreuz gemalt. Soutter kauerte sich etwa im Jahr 1935 nackt auf den Boden, um seinen nackten Christus am Kreuz zu malen. Davon berichtet der Kunstexperte Pater Friedhelm Mennekes:

15. O TON, Pater Mennekes, O 57“.
Er hat die Christusgestalt immer wieder gemalt, ans Kreuz geheftet. Aber es sind Christusgestalten von einer unglaublichen Spannung und Dichte, bei denen sich zeigt, dass hier an der Gestaltung dieser Figur ein Mensch um sein Überleben als vernünftiger Mensch kämpft, wie ein Mensch im Malen des Christus Trost und Lebensmut erringt, erzeichnet. Am Ende seiner Tage mit bloßen und sogar blutigen Händen. Wir verdanken ihm die ersten Fingermalereien, ohne Pinsel, sondern direkt mit der flachen Hand und den bloßen Fingern gemalt: Das Entscheidende an seinem Christusbild ist, dass hier ein Maler im Zeichen des Christusbildes für sich eine dauerhafte Hoffnung errungen hat und die Therapie: dass er nicht in die völlige geistige Umnachtung zurückfiel.

1. SPR.:
Gehören künstlerische Darstellungen des nackten Jesus am Kreuz in die Mitte eines Kirchengebäudes? Darüber wird kaum noch gestritten: Viele Gemeinden begnügen sich mit einem Kruzifix nach der Art der Schnitzwerkstätten von Oberammergau. Einen anderen Weg geht die evangelische Gemeinde in Berlin – Plötzensee. Ihr damaliger Pfarrer Bringfried Naumann hat den Bildmauer und Maler Alfred Hrdlicka (sprich Hríd-litzschka) aus Wien eingeladen, für diese Berliner Kirche ein umfangreiches Werk zu schaffen, den Plötzenseer Totentanz. Mit diesem Auftrag wollte die Gemeinde auch bezeugen, wie stark sie von der Nachbarschaft zur ehemaligen Hinrichtungsstätte der Nazis in Plötzensee betroffen ist. So entstanden mehrere große Tafeln, in schwarz –weiß gehalten. Auf einer Arbeit wird auch die Kreuzigung Jesu gegenwärtig. Sein Leichnam ist total nackt, berichtet der heutige Pfarrer Michael Maillard:

16. O TON, Michael Maillard, 0 55“
In dem Hinrichtungsschuppen in Plötzensee gibt es einen Stahlträger mit Haken dran. An dem wurden Hitlergegner mit einer Schlinge um den Hals herum gehängt. Ein sehr grausamer Tod. Dann hat Alfred Hrdlicka gesagt, er möchte die Kreuzigung Jesu in diesen Kontext stellen. Obwohl er ansonsten auf diesem Bild Klassisches darstellt,
Jesus in der Mitte mit Dornenkrone und anderen Zeichen, die wir aus der biblischen Überlieferung kennen, rechts und links die beiden Verbrecher, mit denen er zusammen hingerichtet worden ist.
Bei uns ist er völlig nackt dargestellt, die beiden Schächer auch. Es soll dargestellt werden, dass die Leute, die da hingerichtet wurden, aller Würde entblößt worden sind. Und das passiert heute in Gefangenenlagern, Foltercamps, immer noch.

1.SPR.:
Auch hier bricht das Grundmotiv moderner Künstler durch: Jesu Leiden ist keineswegs nur ein Ereignis der Vergangenheit; seine Kreuzigung geschah gestern und geschieht heute in den Hungerregionen Afrikas oder den Todeslagern Nordkoreas. Aber, so will Alfred Hrdlicka sagen, schaut genau hin! Dann werdet ihr Lebensmut empfangen: Denn dieser Jesus, der Gerechte, verhält sich noch sterbend wie ein Erhabener:

17. O Ton, Michael Maillard, 0 46“
Auf der Kreuzigungsdarstellung des Plötzenseeer Totentanzes fällt auf, dass die Christusfigur die Fäuste nach oben reckt, die Hände der beiden anderen Gehängten hängen schlaff nach unten. Aber die Christusfigur hat Kraft in den Händen. Das ist auch sehr wichtig. Da hat Alfred Hrdlicka, das ist überliefert, an Menschen gedacht, die nach dem Todesurteil aufrecht, ungebrochen, in den Hinrichtungsschuppen gegangen sind. Und gewusst habe, eigentlich sind sie die Sieger, und nicht der Freisler, der sie gerade zum Tode verurteilt hat, weil sie das Richtige gemacht haben und den richtigen Weg gegangen sind.

1.SPR.:
Ist das Kreuz das absolute Ende? Diese Frage kann bei der Auseinandersetzung mit dem Kreuz Jesu gar nicht ausbleiben. Aber die Hoffnung auf eine Überwindung des Todes stellt sich bei modernen Künstlern nicht so schnell ein. Hrdlicka denkt zwar an den Auferstanden. Aber er malt eine Szene der Emmausjünger, wie der lebendige, aiuferstandene Jesus mit seinen Freunden das Brot teilt– aber wiederum im Dunkel einer Gefängniszelle.

2. SPR.:
Die übliche, gefällige religiöse Gebrauchskunst mit ihren Schnitzereien vermag vielleicht beruhigendes Opium zu reichen. Aber Künstler wie Hrdlicka sind ehrlicher: Sie sagen: Inmitten des Grauens gibt es Spuren des Lichts, der Hoffnung. An dem Thema hat sich auch der weltweit bekannte Joseph Beuys abgearbeitet. Als spiritueller Mensch war er von der geistigen Präsenz des Gottmenschen Christus in der heutigen Wirklichkeit überzeugt. Selbst noch in den hässlichen Abstellkammern der Kliniken, wo Schwerkranke mit dem Tod kämpfen, gibt es für ihn Hoffnungsschimmer. Eine seiner Installationen nannte Joseph Beuys „Zeig mir deine Wunde“, berichtet Pater Mennekes.

18. O Ton, Pater Mennekes, 0 51“.
Beuys ist ja wirklich einer, der tief davon überzeugt ist, dass auch die Welt der Todeszonen, wie etwa ein Sezierraum, umgriffen ist, von einer Welt, die durchpulst, durchwebt, ist von der Christussubstanz. Beuys hat mir in einem Gespräch gesagt, eines der interessantesten Themen, die es überhaupt für ein Bilderhauer, Maler, Zeichner, gibt, ist das Unsichtbare darzustellen. Das Unsichtbare z.B. des auferstandenen Jesus. Das ist die große Herausforderung eigentlich. Was er möchte, ist, dass der Mensch die eigenen Kräfte zum Leben inmitten von Sterben als Basis der Hoffnung entdeckt.

1. SPR.:
Zu ähnlichen Einsichten gelangt im Jahr 1970 aus der Erfahrung der Philosophie Max Horkheimer. Und das ist wichtig, weil so die Verbundenheit der Künstler mit der allgemeinen Kultur der Moderne wahrzunehmen ist. Max Horkheimer betont:

3. SPR.:
Ich drücke mich bewusst vorsichtig aus: Theologie ist die Hoffnung, dass es bei dem Unrecht, durch das die Welt gekennzeichnet ist, nicht bleibe, dass das Unrecht nicht das letzte Wort sein möge.

1. SPR.:
Wer sich mit dem Kreuz Jesu meditativ betrachtend auseinandersetzt, sucht Antworten auf seine spirituellen Interessen. Es geht um die Frage, wie man angesichts des Todes persönlich reifen und wachsen kann. Die Beschäftigung mit dem nackten Jesus am Kreuz eröffnet dann Möglichkeiten, sich selbst authentisch zu wahrzunehmen, sagt Pater Klaus Mertes:

19. O TON, Klaus Mertes , 0 47“.
Ich kann dem nackten Gott nicht begegnen, wenn ich selbst bekleidet bleibe. Eigentlich habe ich immer das Christentum so verstanden, dass es ein Bekenntnis zur eigenen Nacktheit ist. Und zur Nacktheit Gottes in mir. Und nur in dieser Nacktheit begegne ich Gott. Prunk und Pomp und tolle Gewänder und so sind eben nicht einfach nur eine nette Schwäche, sondern sind ein Symptom.
Und Jesus kritisiert ja die Kleidung und die Funktion von Kleidung. Hinter dieser Fassade wird nämlich das Eigentliche versteckt, worauf es ankommt, nämlich das Leben, das Lebendige. Letztlich begegne ich dem Lebendigen immer nur in der Nacktheit.

1. SPR.:
Wer diesen Spuren folgt, kann definitive, fix und fertige Antworten in der Religion nur verschmähen; er wird im Blick auf den sterbenden Gottmenschen die Fragwürdigkeit des Daseins anerkennen, betont Pfarrer Manfred Richter:

20. O TON Manfred Richter, 0 33“.
Es ist die condition humaine, die Grundbefindlichkeit des Menschen, die und das ist die Stärke der zeitgenössischen Kunst, die darauf verzichtet, jetzt eine definitive Antwort zu geben, sondern das ist ein so lauter Schrei oder eine so totale Stille, dass du selbst aufgerufen wirst, eine Antwort zu suchen. Aber nicht zu schnell, denke erst mal nach.

1. SPR.:
Aus der Kraft des Innehaltens, der Unterbrechung und des Nachdenkens im Angesicht des Kreuzes wächst dann eine neue Spiritualität: Sie braucht keine glanzvollen, keine entzückenden Bilder und wortreiche Lehren. Sie wird als christliche Religion selbst einfach, nackt und bloß! Davon ist der Berliner Kulturwissenschaftler Thomas Macho überzeugt:

21. O TON Thomas Macho, 0 47“.
Den Begriff der nackten Religion – den finde ich ganz wunderbar, ohne historische, ohne theoretische, ohne wortgewaltige Gewänder, sondern ein Stückweit pur. Und dann sind wir bei etwas angekommen, dass wir alle Sterbliche sind. Und weil wir Sterbliche sind, können wir auch miteinander Teilen, Hoffnung, Angst, Bedürfnis nach Trost und Sicherheit und Geborgenheit und Barmherzigkeit. Und diese Gemeinschaft, die anzustreben, das wäre doch ein mögliches Ziel. Ein humanistisches Christentum, das ist ein wunderschöner Begriff und das heißt: Im Grunde eine solidarische Gemeinschaft der Menschen. Der Menschen, die guten Willens sind, die bilden so was wie eine communitas. Die Communitas heißt, wenn man es wörtlich übersetzt, das geteilte Leid. Die geteilte Last, die Last, die wir gemeinsam teilen.

Jordi Savall, Lachrimae Caravaggio. Le Concert des Nations. Hesperion XXI. Edition lia Vox.

Glauben ohne Wunder. Ein Salongespräch bei Rudolf Bultmann

Die Frage nach der Bedeutung der Wunder im christlichen Glauben ist sehr aktuell, weil die katholische Kirche nach wie vor daran festhält: Gott kann, sozusagen aus dem Himmel handelnd eingreifen und in Einzelfällen einmal die von ihm geschaffenen Naturgesetze durchbrechen, also “unnatürlich” handeln. (Sonst ist in römischer Sicht “Unnatürliches” absolut verboten, siehe die Verdammung der Homosexualität). In dieser Situation ist es interessant, sich einmal auch theologisch, warum nicht auch ein wenig unterhaltsam im Rahmen eines fiktiven Salon – Gesprächs, mit den Vorschlägen des protestantischen Theologen Rudolf Bultmann zu befassen. Im folgenden ist der Text einer RADIO Sendung von mir (im RBB) in der für Hörfunkzwecke üblichen Form zum Nachlesen abgedruckt. Dass meine Sympathien in dem Falle Bultmann gelten, brauche ich an dieser Stelle nicht zu verschweigen.

RBB, Gott und die Welt 1.5. 2011
Glauben ohne Wunder?
Ein theologischer Salon bei Rudolf Bultmann
Von Christian Modehn

1. Spr.: Erzähler Text: 175 Zeilen= 12 Min.
2. Spr.: Zitator

28 O TÖNE, zus.13 50“ (es entfallen die eingespielten 3., 24., 27. Zusp.)
3 musikal. Zusp., Mozart Klavier Sonaten, bitte die vorliegende verwenden!

1. musikal. Zuspielung, Mozart Sonate, 0 04 freistehend, dann bis Beginn der Titelsprecherin freistehend:

1. O TON, 015“, Pulsfort
Gott wirkt in der Geschichte. Und von daher wird auch damit gerechnet, dass Gott direkt in die Abläufe der Geschichte und des Menschenschicksals eingreifen kann und sich dabei über Naturgesetzmäßigkeiten hinwegsetzt.

1. musikal. Zuspielung, 0 03“ freistehend

3. O TON, Kürschner – Pelkmann, bitte aus dem 13. O TON diese Worte noch einfügen: (also die eingespielte Nr. 3 entfällt! „Für mich ist es..)
Eine Frau aus dieser Gemeinde erzählte, sie sei verstorben gewesen und sei wieder auferweckt worden durch Jesus. Und das wurde dann auch mit Begeisterung von den Gemeindemitgliedern aufgenommen.

1. musikal. Zuspielung, 0 03“ freistehend.

2. O TON , 0 17“, Kollmann
Man sollte natürlich mit dem Wunderglauben sehr vorsichtig sein, weil sehr vieles, was in der Geschichte der Menschheit für Wunder im Sinne von Durchbrechung physikalischer Gesetze betrachtet wurde, sich denn sehr schnell als etwas entpuppt hat, für das es eine vernünftige Erklärung gibt.

Titelsprecherin:
Glauben ohne Wunder?
Ein theologischer Salon bei Rudolf Bultmann
Von Christian Modehn

1.musikal. Zusp., Mozart Sonate. Bleibt noch einmal ca. 0 07“ freistehen, dann wegblenden:

1. SPR.:
Mit Mozart, seinem liebsten Komponisten, begrüßt der protestantische Theologe Rudolf Bultmann seine Gäste, nicht nur Kollegen aus der evangelischen Kirche, sondern auch Katholiken und Philosophen. Die Gesprächsrunde kann also spannend werden. Er freut sich immer, wenn Menschen von weit her kommen, um mit ihm in seiner Wohnung, oben, auf den Hügeln von Marburg, zu diskutieren. Im Oldenburgischen geboren, ist er schon als Student in die hessische Universitätsstadt gekommen. Später übernahm er hier den Lehrstuhl für Bibelwissenschaften. Der Gastgeber ist alles andere als ein „verbissener Spezialist“ oder gar ein „Kirchenfunktionär“. Vielseitig gebildet, will er modernen Menschen den christlichen Glauben erklären und nahe bringen. Dichtung und Musik spielen dabei eine große Rolle. Sie inspirieren bei der Suche nach dem wahren, dem „eigentlichen“ Leben.

1.musikal. Zusp., Mozart Sonate. Bleibt noch einmal 0 06“ freistehen.
(alle 3 Takes sind von bis 1 bis 3 nummeriert…Und die Startzeiten angegeben).

1.SPR.:
Gleich zu Beginn möchte Rudolf Bultmann an seine theologische Grundüberzeugung erinnern. Er greift zu einer Mappe seiner Vorlesungen, darin hat er notiert:

2. SPR.:
Unsere Aufgabe ist es, die vielen mythischen Bilder der Bibel zu verstehen. Sie verwirren heute, weil sie Göttliches naiv in die Welt hineinziehen, also Gott zu einem greifbaren Objekt machen, etwa bei den Naturwundern, wo Jesus als der Herr der Meere dargestellt wird. Die biblischen Wundererzählungen sollte man als Märchen und Mythen lesen und versuchen, ihren menschlich wertvollen Inhalt aber in eine neue Sprache zu übersetzen.

1. musikal. Zuspielung, noch einmal 0 03“ einblenden, dann sehr leise als Hintergrund für Text.

1. SPR.:
Rudolf Bultmann reicht Tee und Kaffee. Ein Bier mit dem obligaten Schnäpschen, was er als alter Oldenburger besonders schätzt, gebe es erst später. Der leidenschaftliche Pfeifenraucher kann es gut verstehen, wenn seine Gäste zu Zigarren und Zigaretten greifen. Bultmann kommt nun zur Sache: Er erinnert die Teilnehmer an die entscheidende Basis des Christentums, den „einen“ Mittelpunkt des Glaubens:

4. O Ton, 0 30“, Bultmann,
Der christliche Glaube redet von einer Offenbarung. Und meint damit Gottes Handeln als ein Geschehen, das dem objektivierenden Denken der Vernunft nicht sichtbar ist. Ein Geschehen, das als Offenbarung nicht Lehre mitteilt, sondern die Existenz des Menschen trifft und ihn lehrt oder besser ermächtigt, sich zu verstehen als getragen von der transzendenten Macht Gottes.

1. SPR.:
Bultmann schaut in die Runde: Vor allem um dieses eine Wunder gehe es ihm, um die Offenbarung Gottes, die Zuwendung absoluter Liebe. Sie könne den Menschen grundlegende Geborgenheit schenken. Die vielen einzelnen Wundererzählungen seien demgegenüber zweitrangig. Der Gastgeber greift zu seinen Aufzeichnungen, und deutet auf eine Stelle, die einigen Gästen schon bekannt sein dürfte:

2. SPR.:
Bildhafte Jenseitsvorstellungen müssen überwunden werden, ebenso magische Erlösungsvorstellungen. Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparate benutzen, nicht in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister – und weiterhin an die Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.

1. SPR.:
Da meldet sich gleich der Bibelwissenschaftler Bernd Kollmann von der Universität in Siegen zu Wort:

6. O TON, 0 23“, Kollmannn
Bultmann verfolgt ein sehr wichtiges Anliegen, er möchte ja Glaubenshindernisse für den modernen Menschen beseitigen. Und die neutestamentlichen Wundergeschichten sind natürlich in ihrer Sperrigkeit auch ein Stückweit ein Glaubenshindernis. Von daher Anliegen grundsätzlich als sehr positiv zu betrachten.

1. SPR.:
Dem kann der katholische Theologe Gottfried Bachl aus Salzburg nur zustimmen:

25. O TON, 0 36“, Bachl.
Es ist ein grobes Missverständnis zu meinen, dass der Glaube als Glaube die Einladung zur Leichtgläubigkeit ist. Das ist nicht der Fall. Sondern im Sinn der biblischen Überlieferung ist dem Glauben an Gott ein sehr kritisches Moment eingestiftet, dass man Gott nicht mit irgendwelchen Dingen der Welt verwechselt, mit irgendwelchen Einfällen oder Träumen oder auch Wahnvorstellungen, die Bibel verwendet ja auch das Wort Wahn, wenn es um diese Leichtgläubigkeit geht.

1. SPR.:
Rudolf Bultmann wirft nun das entscheidende Stichwort in die Runde, den von ihm geprägten Begriff der „Entmythologisierung“ der biblischen Wunderberichte. Nach zahlreichen Debatten weiß er, wie wichtig es ist zu betonen: In den Mythen, also den bilderreichen Märchen und Erzählungen des Neuen Testaments, werden Vorschläge zur Lebensgestaltung gemacht.

5. O TON Bultmann ,
Das ist ja nun die Frage der so genannten Entmythologisierung, ob mit der Erledigung der mythologischen Vorstellungen das letzte Wort gesprochen ist oder ob in ihnen ein bleibender Sinn Ausdruck gefunden hat. Ob ihnen eine Anschauung, ja ein Wissen vom Wesen der menschlichen Existenz zugrunde liegt, das vielleicht nicht das einzig mögliche Verständnis menschlicher Existenz wäre, das aber eine Möglichkeit ist, die ihr Recht nie verlieren kann.

1. SPR.:
Die Frage nach der Bedeutung der mythischen Erzählungen und der Wunderberichte hat Bultmann in seinem umfangreichen Werk beantwortet: Die biblischen Geschichten, also die Mythen, können nur dann das Leben deuten, wenn die Menschen sich nicht unmittelbar an die Bilder klammern und nur dem Vordergründig – Mysteriösen verhaftet bleiben. Der Evangelist Markus stellt Jesus als Wundertäter vor; er berichtet, wie er eine schwerkranke Frau heilte. Pfarrerin Cornelia Machoni (sprich Makoni) aus Berlin will auf den tieferen Sinn dieser „mythischen Erzählung“ von der „blutflüssigen Frau“ hinweisen:

12. O TON, 0 35“. Machoni, Etwas später rein gehen bei:
Man kann sich vorstellen, welche Aussätzigkeit das bedeutete in jeglicher Hinsicht, also keine Teilhabe an Gesellschaft. Und diese Frau bringt trotzdem die Hoffnung auf, dass sie gesund wird. Und folgt diesem Jesus und berührt ihn. Jesus ist derjenige, der diese Frau letztlich auf diesen Weg ja gebracht hat, und zwar durch sein Menschsein. Er war ja da, er hat gewirkt, er hat gehandelt. Sie wusste davon, und daraufhin hat sie sich ja auf den Weg gemacht und ist zu ihm gegangen und ihn besucht. Und diese Frau fällt in den Staub nieder und legt ihm diese ganze Lebensgeschichte vor, und er entlässt sie mit den Worten. Dein Glaube hat dir geholfen.

1.SPR.:
Auf die innere Einstellung zur Krankheit kommt es an, davon ist die Pfarrerin überzeugt: Der Glaube kann eine Art heilsame Lebensenergie werden, die dem Leiden trotzt. Aber was sagen denn Historiker zu der Behauptung, Jesus von Nazareth sei ein Wundertäter gewesen? Die Blicke der Teilnehmer im Salon richten sich auf den Bibelwissenschaftler Bernd Kollmann:

11. O TON, 0 42, Kollmann
Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Jesus insbesondere auf dem Gebiet der Krankenheilungen und der Dämonenaustreibungen einer der ganz charismatisch begabten Wundertäter seiner Zeit war. Das sind Wunderberichte auch in den Evangelien, die einen ganz festen historischen Kern haben. Bei den Heilungsgeschichten stehen Blindenheilungen und Gelähmtenheilungen im Mittelpunkt der Überlieferung, man hat sich die Krankheitsbilder wohl so vorzustellen, dass es sich hier um Krankheiten psychogener Natur handelt, wo ein charismatisch begabter Heiler nachweislich auch zu Erfolgen kommen kann.

1.SPR.:
Mit dieser Erklärung sind alle einverstanden: Jesus als charismatischen Wunderheiler zu verstehen, das sei noch nachvollziehbar. Aber hat er denn nicht auch so genannte Naturwunder vollbracht? Er soll doch der Herr über Meeresstürme gewesen sein…und einmal habe er sogar Wasser in Wein verwandelt.

7. O Ton, 0 52“, Kollmann
Hier wird aus der Perspektive des nachösterlichen Glaubens Jesus ganz Großes zugeschrieben. Dies sind Wundergeschichten, die keinen direkten historischen Anhalt haben, wo im Lichte des nachösterlichen Glaubens der Gemeinde Jesus solche Wunder zugeschrieben werden, auch um seine Messianität zu untermauern und zu dokumentieren. Um für ihn zu werben auch, also solche Wundergeschichten wurden ja auch von anderen Gestalten in der Umwelt des Neuen Testamentes erzählt, sowohl im Judentum als auch in der griechisch- römischen Welt. Und hier war das Christentum auch in einer Situation, wo es mit entsprechenden Jesuswundern aufwarten musste, um sozusagen im Wettkampf der Religionen konkurrenzfähig zu bleiben.

1. SPR.:
Im Laufe der Kirchengeschichte wurde also der charismatisch begabte Prophet und Heiler Jesus von Nazareth zum Gottmenschen Christus aufgewertet. Er wurde als eine Art überirdisches Wesen dargestellt, das auch die Naturgewalten beherrscht. Nur so konnte das Christentum auf dem „Markt der Religionen“ konkurrenzfähig bleiben. Diese Erkenntnis müssen die Salon-Teilnehmer erst einmal in Ruhe verarbeiten.

2. musikal. Zuspielung, bleibt 0 07“ freistehen, dann wegblenden.

1. SPR.:
Die protestantischen Gäste im Salon möchten gern Näheres über die klassische katholische Wunder – Theologie erfahren und wenden sich an Pfarrer Ernst Pulsfort aus Berlin. Seine Kirche hält schließlich daran fest, dass Wunder bis in unsere Zeit immer wieder geschehen. Diese Überzeugung könne sich auf alte biblische Traditionen berufen, meint der katholische Theologe:

8. O Ton, 0 33“, Pulsfort
Das Christentum und das Judentum auch, das sind ja beides Religionen, die damit rechnen, dass Gott die Geschicke der Welt lenkt. Also Gott wirkt in der Geschichte mit. Er hat Israel aus Ägypten geführt. Wir verstehen unsere Geschichte nicht nur als profane Geschichte, sondern auch als Heilsgeschichte. Gott wirkt in der Geschichte. Und von daher wird auch in diesen Religionen damit gerechnet, dass Gott direkt in die Abläufe der Geschichte und des Menschenschicksals eingreifen kann und sich dabei über Naturgesetzmäßigkeiten hinwegsetzt. Das ist eine Provokation.

1. SPR.:
Wohl wahr, meint der Protestant Bernd Kollmann:

9. O TON, insges. 0 44“. Kollmann
Man sollte natürlich mit dem Wunderglauben sehr vorsichtig sein, weil sehr vieles, was in der Geschichte der Menschheit für Wunder im Sinne von Durchbrechung physikalischer Gesetze betrachtet wurde, sich denn sehr schnell als etwas entpuppt hat, für das es eine vernünftige Erklärung gibt.
Aber auf der anderen Seite wird uns glaube ich, gerade auch in unserer technisierten Welt auch immer deutlicher, dass es doch viele Bereiche gibt, die wir mit naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit nicht erfassen können, und wo wir Dinge in unserem Leben spüren, die über das, was wir vernunftmäßig begreifen können, hinausgehen. Es ist natürlich dann Ansichtssache, ob man solche Dinge für Zufall hält oder für göttliches Einwirken. (ev. hier rausgehen)
Die Frage nach der Bedeutung der mythischen Erzählungen und der Wunderberichte hat Bultmann in seinem umfangreichen Werk beantwortet: Sehr viele Menschen, auch Menschen, die kirchenfern sind, sind aber doch der festen Überzeugung, dass sie hier etwas Wunderbares erfahren haben.

1. SPR.:
Ob ein unerklärliches Ereignis als Wunder zu werten ist oder nicht, liegt also vor allem im Auge des Betrachters. Eindeutige Urteile kann es da nicht geben. Darin sind sich die Salonteilnehmer einig. Aber die Protestanten wollen dann doch wissen: Wie geht die katholische Kirche heute mit so genannten Wunderberichten um, etwa mit den Heilungsberichten im französischen Marienwallfahrtsort Lourdes? Wieder wenden sie sich an Pfarrer Ernst Pulsfort:

10. O TON, 0 23“, Pulsfort
Die Kirche schätzt die Wunder hoch, allerdings geht sie sehr vorsichtig damit um, Dinge als Wunder anzuerkennen, die als solche von den Gläubigen bezeichnet werden. Also, man sieht das ganz deutlich in Lourdes, wo also monatlich Menschen sagen, es geschehen Wunder. Und in den 150 Jahren, in denen Lourdes existiert sind 67 oder 65 Vorgänge als Wunder anerkannt worden.

1. SPR.:
Bischöfe und Päpste achten also darauf, dass sich der Wunderglaube nicht unkontrolliert ausbreitet. Dabei wissen sie sehr gut, wie sehnsüchtig viele Menschen nach Wundern verlangen. In wie vielen Orten Italiens haben nicht schon Marienstatuen wunderbare blutige Tränen geweint? Der Theologe Gottfried Hierzenberger hat allein für Europa 1.128 so genannte Marien Erscheinungen gezählt, in Amerika soll die Gottesmutter 111 mal leibhaftig zu den Menschen gesprochen haben. Der Wunderglaube ist also eine Art „Urgestein“ des Katholizismus. Aktuelle Umfragen in Italien zeigen, dass dort der wundertätige Heilige Pater Pio der beliebteste aller Heiligen ist. Aber auch in der anglikanischen Kirche Afrikas breite sich der Wunderglaube aus, meint der Publizist Frank Kürschner – Pelkmann. Er berichtet von einem Sonntags – Gottesdienst in der Kathedrale von Kampala im ostafrikanischen Staat Uganda:

13. O TON, 0 33, Kürschner Pelkmann,
Eine Frau aus dieser Gemeinde erzählte, sie sei verstorben gewesen und sei wieder auferweckt worden durch Jesus. Und das wurde dann auch mit Begeisterung von den Gemeindemitgliedern aufgenommen. Das war der Wunder der Erweckung. Und vielleicht kann man sagen, dass ein Hintergrund eben ist, dass die meisten afrikanischen Christinnen und Christen die Bibel wortwörtlich verstehen. Also, die Wunder die vor 2000 Jahren passiert sind, können auch heute in Kampala passieren.

1. SPR.:
Und was denken Sie selbst als kritischer Protestant darüber, wollen nun die Katholiken wissen:

14. O TON, 0 29, Kürschner – Pelkmann.
Ich glaube eher, dass sie wirklich schwer krank gewesen war und im Grunde ihr Leben aufgegeben hatte. Und dann wieder gesund geworden ist und dies wirklich nicht naturwissenschaftlich medizinisch erklärte, wir würden vielleicht den Kreislauf prüfen und den Blutdruck feststellen. Aber dass sie überzeugt war, dass das eben ein göttliches Eingreifen in ihr Leben war. Und ich denke schon, dass der Genesungsprozess auch ganz objektiv also durch festen Glauben gefördert werden kann.

1. SPR.:
Bei allem einfühlenden Verstehen: Frank Kürschner – Pelkmann muss eingestehen, dass ihm dieser Gottesdienst noch aus anderen Gründen befremdlich vorkam:

15. O TON, 0 33“, Kürschner – Pelkmann
Während die Wiederbelebung dieser Frau von der Gemeinde positiv aufgenommen wurde, war es zufällig der erste Gottesdienst in der anglikanischen Kirche Ugandas, wo Frauen zu Pfarrerinnen geweiht wurden. Da gab es dann einen Aufstand von Gemeindemitgliedern dagegen. Weil, nach ihrem Verständnis der Bibel, sind Pfarrer Männer. Und da merkte eben auch die Grenze, wo einerseits also die Faszination des Wunderbaren eben auch umschlagen kann in eine fast dogmatische Vorstellung von dem, was christlicher Glaube ist.

1. SPR.:
Rudolf Bultmann ist fast amüsiert über diesen Bericht. Er sieht sich in seiner Forderung nur bestätigt, die Vernunft unter den Frommen zu fördern. Er blickt in die Runde und fragt: Warum denn die katholische Kirche immer noch die Wunder so wichtig nehme, etwa, wenn Menschen selig oder heilig gesprochen werden? Die Teilnehmer denken an die Seligsprechung des polnischen Papstes Johannes Paul des Zweiten. Zuvor mussten alle Wunder geprüft werden, die nach seinem Tod unter Anrufung seines Namens geschehen sein sollen. Zum Schluß konnte der Vatikan nur ein einziges Wunder als echt anerkennen: Die französische Ordensschwester Marie Simon-Pierre wurde im Juni 2005 in Aix –en – Provence plötzlich von der Parkinson-Krankheit geheilt, als sie sich im Bittgebet an den verstorbenen Papst wandte. Ernst Pulsfort will das erklären:

17. O TON, 0 56“, Pulsfort
Wir brauchen Kriterien unabhängig der Verehrung des Volkes, um dieser Verehrung des Volkes Legitimität zu geben. Und da stellt man ganz scharfe Kriterien auf: Ohne Wunder wird keiner selig gesprochen. Also die Akzeptierung für ein Wunder ist: Es muss von einem Moment auf den anderen passieren. Also, dass das Krebsgeschwulst von einem Moment auf den anderen verschwunden ist. Und deswegen werden während der Selig – und Heiligsprechungsverfahren Zeugen gebeten, sich zu melden, die eine Gebetserhörung erfahren haben. Dann wird dieses Zeugnis kontrolliert, geprüft. Dieses Wunder muss physiologisch nachweisbar sein, im Röntgenbild, hätte ich fast gesagt. Wenn das eindeutig ist, dann kann man ernsthaft diese Seligsprechung betreiben, weil man sagt: Das Wunder ist ein Hinweis darauf zumindest, dass diese Person verehrungswürdig ist, dass sie hilfreich ist, dass sie Fürsprecher ist.

1. SPR.:
Aber so einfach sei es doch nicht, ruft der katholische Theologe Gottfried Bachl aus Salzburg in die Runde. Denn andere ebenso höchst verehrungswürdige Frauen und Männer würden eben nicht so schnell selig oder heilig gesprochen werden wie Papst Johannes Paul II.. Man denke etwa an den beliebten Erzbischof Oscar Romero aus El Salvador, den Beschützer der Armen, den Freund der lateinamerikanischen Befreiungstheologen. Seit 30 Jahren gebe es Bemühungen, diesen vorbildlichen Erzbischof heilig zu sprechen, bisher ohne Erfolg. Professor Bachl fährt fort:

18. O Ton, 0 37“, Prof. Bachl
Man muss auch zu diesen Heiligsprechungen sagen, dass sie ja auch kein absoluter Vorgang sind, in der Bedeutung, dass man nun den Maßstab der Heiligkeit genau definiert hätte. Das richtet sich auch gewissermaßen auch nach dem Geschmack des jeweiligen Papstes, nach der kirchenpolitischen Richtung, in der man sich bewegt, nach den Vorlieben, die man hat. Wäre es nicht so, dann gäbe es eine ganze Reihe von Leuten, die längst hätten heilig gesprochen werden müssen und andere wieder, hätten vielleicht kaum eine Chance gehabt.

1. SPR.:
Dass nun katholische Theologen die Heiligsprechungsverfahren kritisieren, erstaunt die protestantischen Gäste im Hause Bultmann. Denn auch der Kapuziner Pater Karl Kleiner aus München distanziert sich vom naiven Wunderglauben:

19. O TON,0 40“ Pater Karl Kleiner
Es gibt Leute, auch meinetwegen fromme Leute, die immer etwas erleben wollen. Also Glauben bedeutet für die schon Schauen. Und nicht Angewiesensein auf eine Botschaft, die ich annehme. Und diese Leute wollen immer, dass sich der Himmel rührt, dass sich die Hölle rührt. Da muss sich immer etwas bewegen, irgendetwas Wunderbares tun. Das sind sehr einfache Leute. Und ohne Zeichen läuft nichts bei denen. Und ich würde sagen, das ist eine Sache, die von den Priestern der Kirche nicht gepflegt werden soll. Sondern Jesus verlangt schon, dass wir glauben, dass wir auf seine Worte setzen, dass wir ihn akzeptieren.

3. musikal. Zuspielung, bleibt ca. 0 07“ freistehen, dann wegziehen.

1.SPR.:
Rudolf Bultmann greift nun wieder zu den Manuskripten seiner Vorlesungen, darin steht mit dickem Ausrufungszeichen der Satz:

2. SPR.:
Wir müssen beim Thema Wunder unseren Blick über die Bibel hinaus weiten. Sicher, das eine und einzige Wunder bleibt, dass sich Gott offenbart und dass Jesus Christus uns Lebensorientierung bietet. Aber das verstehen wir um so eher, wenn wir auch bereit sind, Gottes Wunder in unserem menschlichen Leben zu erfahren, sozusagen auch im Alltag.

1. SPR.:
Auf diesen Satz habe ich die ganze Zeit gewartet, sagt die Augsburger Philosophin Katharina Ceming:

20. O TON, 0 49“, Ceming
Die Option Mensch an sich ist das Wunderbare. Also, er ist ja in alle Richtungen auch offen, und ich denke, dass dieser Mensch das Potential zum größten Schurkentum hat, aber eben auch genau zum größten Heiligen. Und ich denke jetzt wirklich an diese Geschichte von Viktor Frankl, der also diese entsetzliche KZ Zeit überlebt hat, und der eben gesagt hat: Genau dort hat sich auch menschliche Freiheit gezeigt. Also, dass es Menschen gegeben hat, die in der extremsten schrecklichsten Situation ihres Lebens bereit waren, trotzdem mit anderen noch etwas zu teilen. Das ist das wahrhaft Wunderbare. Und ich denke, das Wunderbare steckt in der Liebe, das ist auch nicht erklärbar, warum Menschen Dinge tun. Und das ist genau das Element des Wunderbaren, das sie jetzt niemals im Sinne einer mechanistisch, materialistischen Welterklärung erklären werden.

(Kürzungsvorschlag Anfang.Als Notlösung käme in Frage: NUR den 21. O TON zu entnehmen! CM. )

1. SPR.:
Die menschliche Freiheit ist für viele Philosophen das allerhöchste, fast etwas Göttliches, Wunderbares. Immanuel Kant sprach z.B. von dem geheimnisvollen „Faktum“ der Freiheit, das man nicht beweisen kann… Ja, es gibt das Geheimnis im Leben, ruft der Münchner Philosoph Günter Schiwy in die Runde! Es gibt das Wunderbare in der Welt. Die Schöpfung sei doch nichts Plattes, nichts Banales. Schiwy denkt dabei an sein großes Vorbild, den berühmten Naturforscher und Theologen Teilhard de Chardin; Er studierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Evolution der Welt in ihrem Auf und Ab und konnte dabei natürlich nicht die Katastrophen ignorieren.

21 O TON, 0 28“, Schiwy
Gegen diese Erfahrung hat er die Grunderfahrung des Menschen gesetzt: Er hat gesagt: Gäbe es nicht die Lust am Leben, gäbe es auch nicht die Erfahrung des Unlustigseins. So hat er immer dialektisch gedacht. Aber das Primäre und das Stärkere, ist für ihn letztlich diese positive Energie. Und weil es die gibt, gibt es auch für jeden Menschen die Möglichkeit, die Krisen durchzustehen.

1. SPR.:
Und dieses Potential ,,trotz aller Verzweiflung weiterzuleben“ und für das Wohl der Menschen, besonders der Leidenden, zu arbeiten, diese Kraft habe doch der Mensch nicht aus sich heraus, meint der Philosoph Günter Schiwy. Im Menschen wirke vielmehr eine göttliche Kraft, etwas Wunderbares:

22. O TON, 0 28“, Schiwy
Man muss wissen, dass wir als Geschöpfe nicht allein jetzt auf diesen Weg gesetzt sind. Sondern da ist jemand, der geht nicht nur neben uns her. Sondern der ist unser innerstes Kraftzentrum, es ist etwas, was von Innen her da ist. Und dafür gibt es nun immens viele Zeugnisse, man muss nur in sich selbst hineinhorchen. Das geht über die Kunst, das geht über die großen Forscher, das geht über die vielen Menschen, die sich für andere hinopfern. Das sind doch Energien, die haben wir doch nicht aus uns selbst.

( Kürzungsmögl. Ende).

1. SPR.:
Pfarrerin Cordula Machoni möchte diesen Gedanken aus persönlicher Erfahrung gleich ergänzen:

23. O TON, 0 40“. Machoni:
Zu der Hoffnung, dass Wunder geschehen, gehört: dass ich selbst für eins sorge. Ich kann eben nicht darauf hoffen, dass irgendwas Großes passiert. Sondern Wunder, die ich tun kann, geschehen auch im Kleinen. Der Dienst am Nächsten, also alles, was mit Diakonie zu tun hat oder mit kleinen Handlungen am Nächsten. Und was ist das für ein Wunder, dass Menschen, die hoch belastet sind, hoch engagiert sind in ihrem beruflichen Umfeld, die flexibel, mobil sind, Familie haben, mehrere Tätigkeiten und die dann noch Zeit finden bzw. ihre Zeit erübrigen, Menschen zu helfen! Finden Sie das normal, ist das alltäglich? Da denke ich, das sind schon kleine Wunder, die da passieren.

1. SPR.:
Rudolf Bultmann nickt zustimmend, er blättert in seinen Manuskripten, dort hat er notiert:

2. SPR.:
Ein Mensch, dessen Wesen und Tun von heiterer Liebe getragen ist, wird für andere Menschen zu einem Wunder. Und in solchem Sinne sind wir alle aufgerufen, nicht nur Gottes Wunder zu schauen, sondern auch daran zu wirken, Wunder zu vollbringen. Die Menschen sollten erkennen, dass das menschliche, freie und authentische Leben ein kleines Wunder ist! Wahres menschliches Leben ist kein fernes, kein „eschatologisches“ Zukunftsprojekt irgendwann im Himmel.

1.Spr.:
Dabei beruft sich Bultmann auf die biblischen Lehren des ersten Johannes Briefes; er empfiehlt den Christen, in großer Gelassenheit und Ruhe ihr Leben zu gestalten:

28. O TON, 0 23“, Bultmann
Weil er, der Glaubende, im Grunde schon den Tod hinter sich gelassen hat, und wie Johannes es ausdrückt, aus dem Tode in das Leben hinüber geschritten ist. Das echte, eigentliche Leben ist schon Gegenwart für den, der in Christus neues Geschöpf ist. Die eschatologische Vollendung ist für ihn schon angebrochen.

3. musikal. Zusp., noch einmal 006“ freistehend lassen.

1. SPR.:
Der Gastgeber schaut auf die Uhr. Jetzt sei es doch langsam Zeit, an das versprochene Bier zu denken… Als ökumenisch gesinnter Protestant, bittet Bultmann einen Katholiken um das Schlusswort. Ernst Pulsfort ist dazu gern bereit:

26. O TON, 0 34“, Pulsfort.
Das Wunder ist noch keine Garantie dafür, dass ein Mensch zum Glauben kommt. Wir finden in den Evangelien ja zahlreiche Wundergeschichten. Und diese Wundergeschichten erregen bei Betrachtern eher eine Ablehnung der Person Jesu. Also Wunder garantiert noch nicht die Annahme des Glaubens. Sondern das Wunder ist eigentlich nur verstehbar als eine Verstärkung des Glaubens oder Bestätigung des Glaubens für den, der bereits glaubt. Also der, der nicht glaubt, der nicht an Gott glaubt, der wird niemals eine Sache als Wunder anerkennen.

3. musikal. Zusp. 005“ freistehend:

1. SPR:
Post Scriptum: Rudolf Bultmann wurde 1884 geboren, er ist im Jahr 1976, drei Wochen vor seinem 92. Geburtstag, in Marburg gestorben.

3. Musik wieder hoch, darauf Absage:

Titelsprecherin: Glauben ohne Wunder? Ein theologischer Salon bei Rudolf Bultmann

Sie hörten eine Sendung von Christian Modehn
Redaktion: Anne Winter

Buchempfehlungen:

Eine umfassende historische und kulturwissenschaftliche Einführung zum Thema Wunder bietet das sehr empfehlenswerte Buch „Wunder, Poetik und Politik des Staunens im 20. Jahrhundert“. Hg. von Alexander C.T. Geppert und Till Kössler, Suhrkamp Taschenbuch, 2010, 475 Seiten.

Das Standardwerk zu Bultmann:
Konrad Hammann, Rudolf Bultmann. Eine Biographie. Mohr Siebeck Verlag, Tübingen, 2009, 582 Seiten.

Bernd Kollmann, Neutestamentliche Wundergeschichten.
Biblisch-theologische Zugänge und Impulse für die Praxis
Kohlhammer Urban Taschenbücher, 2010, 224 Seiten.

Gottfried Bachl, Der schwierige Jesus. Tyrolia Verlag, Innsbruck-Wien. 1994, 112 Seiten.

Katharina Ceming, Mystik im interkulturellen Vergleich, Bautz Verlag, Nordhausen, 2005, m133 Seiten,

Josef Imbach, Wunder. Eine existentielle Auslegung. Topos Taschenbuch, 2002. 240 Seiten.